Der singende Physiklehrer - Helmut Wolters - E-Book

Der singende Physiklehrer E-Book

Helmut Wolters

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Beschreibung

Das Buch besteht aus vier Blöcken. Als Einstieg wird der Beginn einer Physikstunde gewählt. Diese lässt eins meiner Lebensprobleme – nicht durchsetzungsstark und zu weich zu sein - anklingen. Am Ende des Buches steht ein Epilog. Im Epilog geht es um den Ausklang meines Lehrerlebens auf einem Sommerfest. "Das Ende meines Lehrerlebens soll mir zufallen wie ein reifer Pfirsich, der vom Baum fällt, ohne dass man daran zieht und zerrt." Der erste Block "Einstieg" beschreibt meinen Werdegang zum Physiklehrer, der ich trotz allen Widerstandes gegen den Lehrberuf doch wurde. Ich starte chronologisch mit meinem Geburtsjahr 1944. Die erste Grundmelodie meines Lebens scheint als die Angst um mein Leben, die dieser Zeit geschuldet ist, auf. Eine Schilderung meiner Schulzeit am Gymnasium, die ich als einen Alptraum von Druck und Getriebensein erlebte, macht klar, weshalb ich zunächst kein Lehrer werden wollte, sondern den Weg eines Forschers in der Physik wählte. Dieser Weg des Forschers, der die Hochschullehre streifte, bewirkte einen Umschwung in meiner Ablehnung gegen den Lehrerberuf. Im zweiten Block "Der singende Physiklehrer: Gib der Welt dein Bestes" geht es um meine Entwicklung als Lehrer. Er startet mit den beiden Liedern, die ich getextet und auf einer Abiturfeier der Schule aufgeführt habe. Diese Episoden rund um die Lieder sind bedeutsam für das Buch und finden sich daher auch im Titel wieder, weil sie die zweite Grundmelodie meines Lebens – Selbstvertrauen – anklingen lassen. Der Rest dieses zweiten Blockes erzählt chronologisch meine Entwicklung als Lehrer und Mensch von 1976 bis heute. Es geht um meine Entwicklung als Lehrer, um meine persönliche Krise und die Gegenmittel Atemübungen, Meditation, Therapiegruppen und Supervision. Der dritte Block "Physik so lehren, dass sie dem Menschen dient" gibt eine Art Handlungsanweisung, wie ich mich darum bemüht habe, das Physiklehren so zu organisieren, dass es dem Menschen dient.

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Seitenzahl: 159

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Helmut Wolters

Der singende Physiklehrer

Eine Rückmeldung aus der Schule

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Leitspruch

Einstieg: Vom Forscher zum Lehrer

Der singende Physiklehrer: Gib der Welt dein Bestes

Physik so lehren, dass sie dem Menschen dient

Ausstieg: Einsichten eines Physiklehrers

Epilog: Der Pfirsich, der vom Baum fällt

Impressum neobooks

Leitspruch

„Jede Lektion, die du lehrst, lernst du.“

Einstieg: Vom Forscher zum Lehrer

Die Chemie stimmt

Ich gehe auf einen grauen Betonbau mit orangefarbigen Fensterrahmen zu. Es ist ein sonniger Spätsommertag. Ich bin als Referendar mit dem Schulleiter meiner zukünftigen Ausbildungsschule verabredet. Viele Gedanken und Fragen schießen durch meinen Kopf, während ich über den Schulhof gehe.

Mir fallen die schlaflosen Nächte vor der Entscheidung, bei Dornier zu kündigen ein. Und musste mein Vater tatsächlich sterben, um diese Entscheidung treffen zu können?

War es klug bei Dornier zu kündigen und in den Referendardienst einzutreten? Ist Physiklehren wirklich meine Sache, der ich mein Leben widmen will? Fragen über Fragen.

Das Schulgebäude rückt näher, meine Gedanken kreisen weiter:Was ist, wenn ich für die Schule wirklich zu weichherzig bin? Wenn die Schüler mich „in die Pfanne hauen“. Mein großer innerer Konflikt - Strenge versus Sanftheit - wie wird er aus gehen? Setze ich mich durch? Gelingt es mir zu kämpfen, oder werde ich untergebuttert? Anders ausgedrückt: Reicht mein Selbstvertrauen, um den Lehrerberuf auszufüllen oder werden meine Ängste mich aus dem Tritt bringen.

Beide Grundmelodien meines Lebens – hier die Angst, dort das Selbstvertrauen – klingen an.

Welche Melodie führt, welche begleitet?

Während ich auf den Verwaltungseingang zugehe, führt mein Selbstvertrauen. Ich gehe los, auf das Gespräch mit dem Schulleiter zu. Ich vertraue, dass mein Start gelingen wird.

Ich schaue auf und blicke nach vorne. Wäre mein ästhetisches Empfinden stärker ausgeprägt, würde ich beim Anblick des Schulgebäudes – 70-er Jahre Betonbau - sofort kehrtmachen. Doch meine Neugier auf das, was mich an dieser Schule erwartet, treibt mich vorwärts und lässt meine Angst in den Hintergrund treten.

Unbefangen betrete ich das Gebäude durch den schmalen Verwaltungseingang. Ich spüre eine leichte Anspannung in mir, halte kurz inne und klopfe am Sekretariat. Die Sekretärin bittet mich herein und führt mich ins Schulleiterzimmer. Ein ca. 45-jähriger Mann schaut mich mit klaren Augen an, steht auf und streckt mir seine Hand entgegen.

Nach dem üblichen Vorgeplänkel kommt er zügig zur Sache. Er hat meine Akte offensichtlich gelesen und fragt mich: “Warum wollen sie Lehrer werden. Warum sind sie nicht als Forscher bei Dornier geblieben?“

Ich beginne zu erzählen, und er hört mir wirklich zu, er will wissen, mit wem er es an seiner Schule zu tun bekommt. „Ich habe schon an der RWTH Aachen gerne die Übungen für theoretische Physik gehalten und meine Leidenschaft und mein Talent für das Lehren entdeckt“, erzähle ich ihm.

Ich fühle, wie meine Anspannung nachlässt. Die Frage des Schulleiters zeigt mir, dass er an meinen Motiven interessiert ist. Schwungvoll fahre ich fort: „Ich habe die Firma Dornier und die Forschertätigkeit im Dienste eines Flugzeugunternehmens hinter mir gelassen, weil ich mich lösen wollte von der geheimen Militärforschung – wie tötet man Schweine und später eventuell auch Menschen am Besten mit Infraschall. Für solche Forschung wollte ich meine Arbeitskraft, Energie und mein Können nicht weiter zur Verfügung stellen.“

Meine Ansichten zur Verantwortung eines Wissenschaftlers lassen den Schulleiter aufhorchen. Er findet das Thema Verantwortung und die Frage, wie weit man als Wissenschaftler für sein Handeln verantwortlich ist, für seine Schule bedeutsam. Er meint, dass man diesen Aspekt im fächerübergreifenden Unterricht von Physik und Philosophie in der Oberstufe seines Gymnasiums mit den Schülern diskutieren sollte und könnte.

Diese Idee gefällt mir. „Kreativ, der Schulleiter“, denke ich bei mir.

Eine kurze Gesprächspause entsteht, wir schauen uns an. Der Schulleiter fährt fort: „Welche Vision von Schule haben Sie? Ich habe das bisher alle Lehrer gefragt, die hier anfangen wollten.“

Ich hole tief Luft, mit einer solchen Frage habe ich nicht gerechnet. Ich komme aus einer Branche – der theoretischen Physik -, in der Visionen nicht so im Gespräch waren.

Dennoch fällt mir die Antwort, die spontan aus mir heraus kommt, nicht schwer: „Ich will weg von der autoritären Schule mit Zwang und Schlägen, wie ich sie erlebt habe. Hin zu einem demokratischen Miteinander, in dem Konflikte nicht mit Gewalt gelöst werden, sondern durch Gespräche, die durch Aufeinander - Hören, Toleranz und Kompromissbereitschaft geprägt sind. Auch will ich weg von dem Elitären meiner Schule. Ich will mein Wissen mit den Schülern teilen und sie befähigen, dieses Wissen zu verstehen. Ich will mich für eine Demokratisierung von Wissen einsetzen. Ich glaube daran, dass Schüler Raum zur Selbstentfaltung und zum Lernen brauchen, und ich will helfen, diesen Raum in Schule zu erschaffen“

Der Schulleiter nickt. „Gefällt mir und liegt auf meiner Linie“, antwortet er.

Ich spüre Sympathie und habe das Gefühl, dass wir uns auf gleicher Augenhöhe begegnen. Hier kann und will ich bleiben und mein Lehren der Physik beginnen.

Wie als Dreingabe, um meine innere Entscheidung zu bestärken, kamen wir im weiteren Gespräch darauf, dass wir an der gleichen Schule in Uerdingen Abitur gemacht haben. Zufällig war es auch dieselbe Schule, an der mein Vater seinen mittleren Schulabschluss absolviert hatte. Kann es solche Zufälle geben?

Die Chemie stimmte, wie es so schön heißt, obwohl ich Physiklehrer war, und er die Fächer Geschichte und Englisch vertrat. Dieses Mal wurde mir vom Schicksal ein leichter Start beschert.

Zu der Zeit weiß ich noch nicht, dass 20 Jahre intensiver Zusammenarbeit vor uns liegen, die sich durch gegenseitige Wertschätzung auszeichneten. Vieles spricht für meinen Weg als Physiklehrer. Ob es ausreichen wird, als Lehrer zu bestehen und meine Vision zu verwirklichen, wird sich zeigen.

Wo ich herkomme

Die erste Grundmelodie

Mein Vater Josef Wolters war im Januar 1944 als Major der Wehrmacht in Frankreich stationiert.

Ich erblickte in Deggendorf das Licht der Welt. Meine Mutter erzählte, dass es draußen sehr kalt war.

Meine Eltern hatten 1929 in der kleinen Stadt Uerdingen am Rhein ein Haus gebaut, das ich erst später kennenlernen sollte. Da es in Deggendorf vermeintlich sicherer war, hatte mein Vater uns vier (meine Mutter, meine Schwester, meinen Bruder und mich) bei Tante Leni, einer Verwandten meines Vaters, untergebracht.

Als ich ungefähr ein Jahr alt war, unterhielt sich meine Mutter Karoline mit Tante Leni: “Du, Leni, hast du heute schon den Briefträger gesehen?” Nein, Karoline, er kommt doch immer erst um 12 Uhr. Was für einen Brief erwartest du denn?” “Na ja, der Josef hat sich schon zwei Monate nicht mehr gemeldet, und ich mache mir große Sorgen um sein Leben.” Leni: “ Mei was klagst du denn, der Maria ihrer hat sich schon drei Monate nicht mehr gemeldet und von der Ruath der, da hat die Ruath erst nach einem halben Jahr erfahren, dass er gefallen ist. Da geht es dir doch noch gut.”

Die Angst meiner Mutter um das Leben meines Vaters, um ihr Leben und das ihrer Kinder habe ich wie  mit der Muttermilch eingesogen. Angst blieb eine Grundmelodie in meinem Leben. Aber es gab noch andere Melodien. Wie greifen sie ineinander zu meinem Lebenslied?

Uerdingen, den 24.2.1954

Zehn Jahre später. Mein Vater hatte den Krieg wie auch seine mehrere Monate währende Flucht aus dem Berliner Raum nach Deggendorf,  körperlich unbeschadet und mit viel Glück überlebt. Er hatte sich seine alte Stelle als Leiter der Kassenärtztlichen Vereinigung Duisburg wieder erkämpft, so dass die Zeiten des Mangels an Essbarem und auch an Geld langsam zu Ende gingen. Die Lok des Wirtschaftswunders nahm Fahrt auf, ich kam in die Volksschule und nach vier Jahren ging es für mich darum, wie meine schulische Laufbahn weitergeht. Wenn ich gefragt worden wäre, hätte ich gesagt:” Ich bleibe auf der Volksschule und werde danach Schreiner.” Denn ich mochte den Geruch von Holz, hatte es mit Vergnügen in meinen Händen und bastelte oft damit.

Doch mein Vater hatte andere Pläne mit mir. Er war ganz klar der Chef der Familie, ein Patriarch alter Schule, der seine Familie mit strenger Hand führte, der - preußisch erzogen - zehn Jahre lang als Soldat diente und beide Weltkriege mit Glück überlebt hatte. Er wollte für mich seinen jüngsten Sohn eine akademische Ausbildung organisieren. Deshalb sollte ich auf das Gymnasium gehen und als Erster und Einziger der Familie Abitur machen. Diesem Ziel meines Vaters ordnete ich mich unter, wie es sich für einen gehorsamen Sohn, der ich ohne Zweifel war, gehörte.

Als Zehnjähriger stehe ich vor dem roten Backsteinbau, Lyzeum Uerdingen. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gehe ich die Treppe hinauf und durch die quietschende Glastüre in eine große Eingangshalle. Es riecht nach Bohnerwachs. Anspannung ist in mir. Meine Gedanken kreisen um ein Thema: Hoffentlich packe ich die Prüfung. Werde ich es schaffen? Mein Volksschullehrer Dr. Abel glaubte an mich. Er riet meinen Eltern: „Melden sie den Jungen am Gymnasium an, der schafft das.“ Was wird mein Vater sagen, wenn ich es nicht schaffe?

Ich frage mich, wo er wohl sein mag, der Raum, in dem die Aufnahmeprüfung stattfinden soll. Keine Hinweisschilder, nichts. Doch da hinten sehe ich eine geöffnete Türe, da wird es sein. Ich gehe in den Raum hinein. Viele Schüler meines Alters ca. 60 an der Zahl sitzen dort an Einzeltischen und warten auf das Aufnahmeritual, das jedes Jahr hier abläuft. Nur die Besten eines Jahrganges sind eingeladen. Die anderen landen auf der Volksschule, wie diese Schulform damals hieß.

Ein Lehrer raunzt mich unfreundlich an:“ Steh nicht so rum, setz dich da an den Tisch.“ Ich folge seiner Anweisung und bald geht sie los die Prüfung. Ich kann mich heute nicht mehr an die Aufgaben erinnern, wohl noch an die Erleichterung, als ich es geschafft hatte. Die Gefühle klangen allmählich ab und der Alltag kehrte ein. Nach dieser glücklich bestandenen Prüfung begann die mühsame Reise durch meine Gymnasialzeit. Was machte die Schule aus mir? Auf welchen Weg führte mich dieser Ritt durch die Gymnasialzeit?

Warum ich kein Lehrer werden wollte

Uerdingen, den 21.2.1963

Nach neun langen Jahren stand ich nach bestandenem Abitur da und wusste, dass ich eines nicht werden wollte, nämlich Lehrer.Dies hatte mehrere Gründe. Ich erfuhr meine Schule zuallererst als autoritär, es ging dort um Unterordnung und Gehorsam. Schläge von den Lehrern gab es auch hin und wieder; natürlich nur zu unserem Besten.

Außerdem war meine Schule elitär. Es ging auch um gesellschaftlichen Aufstieg und darum, zur Eliteschicht zu gehören. Für mich war meine Schule kein Ort, an den ich gerne zurückdenke. Zur Ehrenrettung muss jedoch gesagt werden, dass ich einige richtig gute Lehrer hatte, an die ich mich auch heute noch mit Respekt und Hochachtung erinnere.

Ich hatte auf dieser Schule Lernen als etwas erlebt, das wenig Freude macht, das viel Mühe und Anstrengung kostet. Und ich hatte verinnerlicht, dass Lernen mit Erfolgsdruck verbunden ist. Immerzu diese Angst im Nacken, zu versagen, nicht gut genug zu sein, mangelhaft zu sein, zu viele Mängel zu haben, ausgesiebt, ausgelesen zu werden. Und das hätte ich dann meinem Vater beibringen müssen. Ein Alptraum. Eine Katastrophe. Dann wollte ich mich lieber anstrengen und noch mehr anstrengen, auch wenn es alles so sinnlos erschien. Denn ich fragte mich tatsächlich immer wieder: Wozu das alles? Wozu brauche ich all dieses Zeugs. Diese Hamstermethode des Lernens auf Vorrat, um im Winter des Lebens, um in der Winterzeit gerüstet zu sein, leuchtete mir nicht ein. Ich fühlte mich gezwungen, ich erfüllte gehorsam meine Pflicht und machte das Beste daraus. Die Frage, wozu das alles, blieb eine ungelöste Preisfrage meiner Schulzeit.

Dass Lernen auch im Flow möglich ist, dass es Freude machen und dass es mit Begeisterung einhergehen kann, war mir damals ein fremder Gedanke.

Ich fand zu dieser Zeit die Idee absurd, einem solchen System als Lehrer zu dienen. Ich wählte einen anderen Pfad als das Lehren.

Vom Forscher zum Lehrer

Physik studieren

Nach dem Abitur war  klar, dass ich studieren wollte. Drei Möglichkeiten standen mir zur Auswahl: Germanistik, Musik, Physik. Ich entschied mich im Sinne meines Vaters für das Handfesteste, die Physik. War es auch meine tiefste Wahl?  Es zog mich nach Aachen an die RWTH zum Studium.

Ich sehe mich als Neunzehnjährigen  wieder vor einem für mich wichtigen Bau, dem Hauptgebäude der RWTH Aachen, stehen. Ich bin angespannt. Wird alles klappen. Ich will mich einschreiben, wie es so schön heißt.

Ich gehe die Treppe hoch ins Sekretariat hinein. Es ist völlig überfüllt. Eine unfreundliche Sekretärin drückt mir zahlreiche Formulare in die Hand und sagt kurz:“ Ausfüllen!“ Als ich alles ausgefüllt und abgegeben habe, prüft die Sekretärin die von mir ausgefüllten Formulare und - hurra, der orangefarbene Studentenausweis ist meiner.

Ich war begeistert und konnte mit dem Studieren der Physik loslegen.

Der Start ist hart

Obgleich ich fest entschlossen war, allen und vor allem meinem Vater zu zeigen, dass ich es schaffen würde, Diplomphysiker zu werden, blieb mein Start hart. Meine schulische Ausbildung konzentrierte sich auf die drei Fremdsprachen (Latein, Englisch, Französisch), jedoch weniger auf Mathematik und Physik. Ich wusste nicht einmal, was Ungleichungen sind und wie man mit ihnen rechnet.

Die Mathematikprofessoren hauten mir bei ihren Beweisen mit der Epsilontik eine Ungleichung nach der anderen um die Ohren. Ich musste sehen, wie ich zurechtkam. Ich half mir mit hartem Arbeiten und das hieß: Üben, Üben, Üben.

Ich werde Diplomphysiker und forsche weiter

Auf der Schule wird dir das Wissen löffelweise serviert – ein Löffelchen für Onkel Päppi … An der Uni kommen sie kübelweise und kippen die Kübel des Wissens gnadenlos über dich aus, nach dem Motto: friss oder stirb. Selektion war das Prinzip. Nach nur einem Semester studierten von ca. 90 Anfängern des Studienganges Diplomphysik noch ca. 30 weiter, und ich zählte zu den Ausgewählten. Denn ich hatte Ausdauer und Disziplin von meinem Vater und in der Schule gelernt.

Ich biss mich durch und machte 1965 meine Vordiplomprüfung und 1968 mein Diplom in Physik. Das Diplomzeugnis wurde mir 1968 überreicht, was mich mit Stolz erfüllte und mein Selbstvertrauen stärkte. Ich beschloss, in Theoretischer Physik zu promovieren und bekam bald eine Assistentenstelle am Institut für Theoretische Physik der RWTH Aachen. Jetzt verdiente ich mein eigenes Geld und war  von meinem Vater finanziell unabhängig.

Forschung mit Professor Stahl

Jeden Freitag von 9.00 Uhr bis 13.00 Uhr trafen wir uns in unserem Zimmer mit unserem Betreuer und Doktorvater Stahl und diskutierten über den Fortgang unserer Arbeiten„Wir“, das waren mein tschechischer Kollege J. und ich. J. befasste sich mit der Waldmann-Snider-Gleichung, die auf der Boltzmann-Gleichung aufbaut und den Spin der Teilchen mit berücksichtigt.

Bei meiner Arbeit ging es um die Frage, wie die elektrischen Felder, die jeder auf einer Temperatur T befindliche Körper in den Raum hinaus ausstrahlt, in den Maxwellschen Gleichungen Berücksichtigung finden können. Es handelte sich also um eine Fragestellung an der Schnittstelle zwischen Elektrodynamik und Thermodynamik bzw. Statistischer Physik.

Die freitäglichen Treffen waren nur von der Sache bestimmt; wir führten physikalische Diskussionen, wie ich sie in dieser Tiefe und Schärfe vorher noch nicht kennengelernt hatte. Dieses Ringen um die Sache gefiel mir und auch meinem Kollegen außerordentlich. Stahl in seiner strengen und klaren Art war unser Vorbild, und er spornte uns immer wieder zu wissenschaftlichen Höchstleistungen an. Obwohl unsere Arbeiten noch nicht ganz seinem hohen Ideal entsprachen, entließ er uns nach ca. drei Jahren harter und befriedigender Arbeit, damit wir unsere Ergebnisse in einer Doktorarbeit schriftlich darlegen konnten. Meine Arbeit stellte mich zwar ebenfalls nicht ganz zufrieden, erhielt aber mit der Wüllner-Medaille der RWTH Aachen eine äußere Auszeichnung, die zeigt, dass die Qualität okay war.

Die Perelman Projektion

2013 las ich beim Griechen einen spannenden Artikel in der SZ. Er handelte von dem russischen Mathematiker Perelman, der die Poincaré-Vermutung bewiesen hat. Beim Lesen kam mir der Gedanke, dass ich damals, als ich promovierte, die Sehnsucht in mir spürte, der Welt physikalische Gleichungen zu liefern, die vor mir noch kein anderer aufgestellt hat. Ich wollte in wissenschaftliches Neuland eindringen, wie Perelman es geschafft hat.

Dieses unbedingte, idealistische Suchen nach Gleichungen, die noch keiner vorher formuliert hatte oder nach Lösungen von Gleichungen, die noch keiner gefunden oder erfunden hatte, fühlte ich in mir brennen.

Man kann diese Geisteshaltung Selbstüberschätzung nennen – oder Motivation. Sie hat gewiss einen idealistischen Zug, der typisch für mich war und immer noch ist.

Leider hatte mein Suchen damals den bitteren Beigeschmack, dass ich an diese erstrebte „Leistung“ meinen Wert als Mensch koppelte. Ich wusste zu der Zeit nicht oder nicht mehr, dass mein Wert unabhängig von allen Leistungen feststeht; in der Sprache des „Course in Miracles“ erhalte ich meinen Wert von Gott. Eine Feststellung, die mir zu Zeiten meiner Rebirthing-Ausbildung in den 90er-Jahren sehr geholfen hat, obwohl ich - inzwischen zum Agnostiker mutiert -  nicht mehr an Gott glaubte.

Sehe ich davon ab, dass ich damals, als ich an der RWTH forschte, meinen Wert an der Leistung festmachte, war es ein schönes Gefühl – diese Sehnsucht nach dem Absoluten, die vorwärts treibt.

Meine eigene Suchbewegung, die sich auf Neues richtete, etwas Neues erforschen wollte, war eingebettet in die Suchbewegung der Theoretiker des Institutes, an dem ich promovierte. Auch sie gingen neue Wege, sie wollten weg von der Elementarteilchentheorie, in deren Kontext sie vor meiner Zeit geforscht hatten, und hin zur Statistischen Physik, die sie sich als neues Arbeitsgebiet auserkoren hatten.

Dieses Ungesicherte des Suchenden, das ja auch dem Pubertierenden eigen ist, gefiel mir. Vielleicht erklärt dies auch, dass ich später als Klassenlehrer am Gymnasium nur achte Klassen übernommen habe und sie durch die Pubertätszeit in die Oberstufe geführt habe.

Dieses Suchen nach dem Unbedingten, nach dem eigenen Weg, diese Sehnsucht nach Leben, nach Werten, die dauern können, nach Raum, nach Grenzen, sehe ich  in Perelman. Bei ihm ist dieses Streben jedoch verknüpft mit einem Desinteresse an Ruhm und Geld. Bei mir ist das anders. Mir ging und geht es auch immer um Anerkennung. Geld ist eine bestätigende Zutat, die ich gerne mitnehme; bisher kam ich allerdings nie in die glückliche Lage, wie Perelman einen Preis oder Geld ausschlagen zu können. Ich sehe in Perelmans eigenwilliger Widerborstigkeit auch eine gewisse Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber, die mir so gar nicht eigen war.

Mein Streben nach höchsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie Perelman gelungen waren, wurde durch die Ergebnisse meiner Doktorarbeit zurechtgerückt. Ich musste mir eingestehen, dass ich als theoretischer Physiker Mittelmaß war – fußballerisch gesprochen eben nicht Bundesliga, sondern eher Landesliga. Es fiel mir nicht leicht, von meinen Ansprüchen nach wissenschaftlichen Höchstleistungen abzulassen und mit meinem Mittelmaß Frieden zu schließen. Ein unausrottbarer Rest von „perelmanschem Streben” bleibt in meinem Leben, und das ist gut so.

Das Lehren gefällt mir

Die forschende Tätigkeit machte mir viel Freude. Geprägt hat mich jedoch nicht nur die Forschung selbst, sondern auch mein Engagement in der Lehre. Professor Stahl, der meine Dissertation betreute, war ein begeisterter Hochschullehrer, der sich wohltuend von vielen anderen Professoren abhob. Er bereitete sich auf seine Vorlesungen und Seminare gewissenhaft und mit hohem Einsatz vor. Seine Studienveranstaltungen waren dementsprechend gut besucht, so dass wir, die helfenden Assistenten und Hilfsassistenten, mit der Betreuung der Studenten gut zu tun hatten. Ich konnte auf diese Weise mein in der Schulzeit erworbenes Vorurteil – „Lehren ist furchtbar“ – revidieren und begann, Gefallen an der Lehre zu finden.