Der Traum vom Fremden - Michael Roes - E-Book

Der Traum vom Fremden E-Book

Michael Roes

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Beschreibung

Ostafrika 1883: Arthur Rimbaud, der große Poet der Dritten Französischen Republik, hat dem Dichterleben abgeschworen und arbeitet als Kaffee- und Waffenhändler in der legendären Stadt Harar. Als sein Geschäftspartner Sotiro von einer Erkundungsreise in den Ogaden nicht mehr zurückkehrt, startet Rimbaud eine Rettungsmission. Mit einer kleinen Mannschaft vertrauter Einheimischer dringt er vor in die noch unerforschte Wildnis des Ogaden, wo ihn unerwartet die Poesie einholt. Während der Dichter, der keiner mehr sein will, die gefahrvolle Expedition möglichst nüchtern und wissenschaftlich zu protokollieren versucht, drängen immer öfter die längst vergessen oder überwunden geglaubten Dämonen der Vergangenheit zurück in sein Bewusstsein. Als Grundlage für "Der Traum vom Fremden" dient ein authentischer Bericht, den Rimbaud 1883 über den Ogaden verfasste. Ausgehend von diesem ungewohnt sachlichen Rimbaud-Text taucht Michael Roes ein in die Gedankenwelt des französischen Poeten und lässt ihn Bilanz ziehen. Philosophische Reflexionen über das Reisen, das Dasein und das Schreiben wechseln sich ab mit fiebrigen Erinnerungen an die Amour fou mit Paul Verlaine, Rimbauds kaum erforschte Zeit bei der Fremdenlegion und seinen Neuanfang in Afrika. So ist "Der Traum vom Fremden" Entdeckerroman und poetisches Experiment zugleich.

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DER TRAUM VOM FREMDEN

A. Rimbauds

MICHAEL ROES

DER TRAUM VOM FREMDEN

ROMAN

1. Auflage

© 2021 Albino Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Arthur Rimbauds Originalbericht «Rapport sur l’Ogadine»

folgt der Textfassung: Œuvres complètes, Bibliothèque de

la Pléiade, Gallimard, Paris 1963.

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth

Umschlagabbildung: stocksy.com / Juno

Foto auf Seite 2: Arthur Rimbaud in Harar, etwa 1883

Satz: Robert Schulze

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-86300-323-4

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.albino-verlag.de

Inhalt

CAHIER I

CAHIER II

CAHIER III

CAHIER IV

CAHIER V

CAHIER VI

ANHANG:

RAPPORT SUR L’OGADINE PAR M. ARTHUR RIMBAUD

CAHIER I

MITTWOCH, DEN 3. OKTOBER 1883, EINE HALBE TAGESREISE SÜDÖSTLICH VON HARAR

Aufbruch um sechs Uhr morgens. Wir verlassen Harar durch das südöstliche Stadttor, das Bab as-Salam (das Friedenstor). Neunundneunzig Moscheen, neun mal neunundneunzig Heiligenschreine (Qubbas), fünf Stadttore, eine fast viertausend Schritte lange Mauer, unser Kontor am zentralen Platz, dem Pferdemarkt (Faraz Megala): als ich vor drei Jahren herkam, war ich der einzige Franzose in Harar, und viele Hararis hielten mich gewiß für einen Spion, zumal ich sofort begann, mit Djamis Hilfe die lokalen Sprachen Amhari und Oromo zu erlernen. Mit dem Arabischen war ich bereits von Aden her vertraut.

In Harar gibt es keinen Konsul, keine Post, keine gepflasterten Straßen; man reist mit dem Maultier oder Kamel dorthin und hat fast ausschließlich Umgang mit Einheimischen. Aber hier fühle ich mich unerwartet frei, und das Klima ist im Vergleich mit Aden das eines Luftkurortes.

Unsere erste Etappe ist nach Landessitte eine nur kurze: Wenn jemand hier eine Reise beginnt, will er die Gunst des Himmels nicht schon mit einem zu forschen Aufbruch herausfordern. Es muß die Möglichkeit geben, es sich doch noch mal anders zu überlegen und umkehren zu können; obgleich wir diese Wahl nicht haben! – Al-Hamdulillah, Gott sei Preis und Dank, wir erreichen Kereyu ohne irgendwelche Zwischenfälle zu al-Fikr, dem Nachmittagsgebet, nach etwa vierstündigem Ritt: so bleibt noch ausreichend Restlicht für den Beginn meines Reisejournals.

Laufe Gefahr, mein Wort zu brechen und mich selbst zu verraten. Hatte ich nicht geschworen: Keine leeren Worte mehr! Überhaupt keine Worte mehr! Am besten verstummen; Taubstummensprache für die notwendigen Mitteilungen, Gesten, Gebärden – wie jeder Laut Übelkeit in mir hervorruft, ein ganzer Satz mich zum Erbrechen bringt und ein Gedicht – ein Gedicht ist der Tod! Warum schweigst du dann nicht? Ein anderer schreibt, denkt, murmelt vor sich hin; in sich hinein – laß ihn doch, wen kümmert’s: unverständliches Zeug, es hört doch ohnehin niemand zu! – Außerdem, wer spricht hier schon meine Sprache, spricht mein Schweigen – niemand kennt mich hier; niemand weiß, wer oder woher ich bin; ich könnte jeder sein. Ist das nicht die Freiheit, die Hölle, die ich gesucht habe? jeder und niemand, ohne Familie, ohne Heimat oder Herkunft, ein Vagabund, Brigant, ein Wegelagerer, Halsabschneider, Meuchelmörder – Ach, übertreib nicht, Junge! Das Wort kennt mich nicht und liebt mich nicht. Schau dich doch an, Engel, Dämon, Unsterblicher, es hat keinen Körper; und nur er ist wahr!

Als Kind leide ich jahrelang unter furchtbaren Kopfschmerzen. Man glaubt mir nicht; unterstellt, ich wolle mich nur vor der Arbeit drücken: bis Doktor Z. mir schließlich den Kopf aufsägt und unter meinem Schädeldach die Föten meiner ungeborenen Geschwister findet. Doktor Z. operiert mich ohne Betäubung; versichert mir, das Gehirn selbst empfinde keinen Schmerz – ich solle während der ganzen Prozedur meine Augen geschlossen halten: weil der Anblick von Messer und Säge schrecklicher sei als das, was sie in Wirklichkeit anrichteten – aber natürlich luge ich durch die nur halbgeschlossenen Lider. Ich wundere mich, wie wenig Blut fließt.

Als Doktor Z. meinen nun von den mumifizierten Föten gereinigten Schädel wieder zusammengeflickt hat, kann ich mich nicht bewegen; nicht einmal die Augenlider. Von der Welt sehe ich nur noch einen schmalen, gräulichen Streifen bei Tage; doch mein Gehör ist um so empfindsamer – das Weinen meiner Schwestern will mir nicht mehr aus dem Kopf. Da ist wohl nichts mehr zu machen: sagt Doktor Z. nach einigen Tagen – oder sind es Wochen, Monate: Ich befürchte, Ihr Sohn wird nicht mehr erwachen; sein Gehirn ist bereits tot, wir sollten auch sein Herz erlösen. – Noch sträubt sich die Päpstin, ich schreie in meinem Körper, schlage mit meinen Fäusten gegen seine tauben Wände – mag sein, die Päpstin spürt etwas davon, auch wenn nichts durch die dicken Mauern der Paralyse nach außen dringt: Am Ende aber muß sie dem Arzt recht geben: Hier quält sich ein Herz vergeblich, zweifellos ist es besser, es endlich zur Ruhe kommen zu lassen.

Bevor Doktor Z. meinen Leib zur Bestattung freigibt, will er noch einen wissenschaftlichen Blick in ihn hineinwerfen: Er schneidet ihn von der Kehle bis zur Scham der Länge nach auf, dann zieht er das Messer von der linken bis zur rechten Schulter, damit er die großen Hautlappen über Brust und Bauch bequem aufklappen kann; daraufhin sägt er das Brustbein auf und reißt die Rippen mit zwei kräftigen Zangen auseinander – mit blutigen Händen schneidet er mir ein Organ nach dem anderen aus dem Leib: Leber Magen Nieren Milz, wiegt sie sorgfältig, untersucht ihren Inhalt, lächelt oder seufzt gelegentlich, hantiert überwiegend aber mit großem dokumentarischen Ernst. Und spart sich das noch zuckende und doch so vergeblich schlagende Herz bis zum Schluß auf: Das sieht doch alles verdammt gesund aus, murmelt er; es muß wohl allein der Kopf sein, der hier versagt hat! Dann stopft er – eher achtlos – die Innereien wieder in ihre Körperhöhlen, vernäht die Hautlappen mit einigen groben Stichen, damit der Leib wenigstens bis zur Grablegung einigermaßen zusammenhält, und denkt dabei schon über den Artikel für das medizinische Fachblatt nach, den er noch heute abend beginnen wird. Im übrigen ist der Friedhof meines Heimatstädtchens ja so feucht und reich an Ungeziefer, daß ein frischer Kadaver kaum zwei Wochen braucht, um bis auf die Knochen und ein paar nutzloser Zähne verwest zu sein: Im Grunde könne er da ja schreiben, was er wolle.

Die Fernen in Charleville wollen, da sie mich nun im Besitz eines photographischen Apparates wissen, ein Bild von mir. Doch ich scheue nicht nur den Aufwand und die unnötigen Kosten: Ich bin hier in den Augen der wenigen Europäer wohl schlecht gekleidet, trage immer nur leichtes Baumwollzeug, das man andernorts für die Lumpen eines Vagabunden halten könnte. Die Kälte eines Ardennenwinters könnte ich wohl kaum noch ertragen. Aber würde ich denn überhaupt noch, und sei es auch nur für einen Besuch, in jenes kalte Land zurückkehren wollen?

Auch hier in den Bergen um Harar ist es in den Wintermonaten regnerisch und kalt; trotzdem trage ich aus Gewohnheit nur eine einfache Tuchhose und das hier übliche weite Hemd: daher vielleicht die arthritischen Beschwerden; manchmal trifft es mich wie ein Hammerschlag unter der rechten Kniescheibe, dann fällt das Gehen mir schwer, als sei das Gelenk vollkommen ausgetrocknet und statt mit einem gleitenden Mittel mit Sand geschmiert. Alles geht nunmehr ein wenig langsamer voran, ich hoffe, Sotiro wird es mir verzeihen. Aber das muß ja nicht zum Schaden dieses Unternehmens sein, meist ist es in diesem Land ja die Ungeduld, die den Eiligen ins Verderben stürzt!

Ich komme bereits krank in Aden an. Dubar stellt mich fürs erste als Werkstattleiter ein. So dankbar ich ihm auch bin, die Aufgabe ist nicht gerade erfüllend: die Entgegennahme der Kaffeebohnen, die Megjee Chapsee und Almass von den Arabern in den Bergen um Mokka angekauft haben und die in unseren Handelsräumen von den Frauen der Soldaten aus dem indischen Eingeborenenregiment sortiert und gereinigt werden – aber bald macht sie mir, für mich selbst überraschend, große Freude. Ich muß wenig denken, und die Firmenchefs scheinen mit mir zufrieden, und bald schon spreche ich genügend Arabisch, daß ich meine Anweisungen in dieser Sprache erteilen kann, was mir sogleich eine gewisse Achtung unter den Arbeiterinnen verschafft, auch wenn sie mich fortan Karani nennen, den Bösen: aber ich mache mir nichts daraus, diesen Namen geben sie jedem leitenden Angestellten, mag er sie auch wie seinesgleichen behandeln.

DONNERSTAG, DEN 4. OKTOBER 1883

Der Abstieg von Ober-Egon nach Ballaoua gestaltet sich äußerst schwierig für die Träger, die bei jedem Stein hinschlagen. Ein Teil der Holzkisten ist schon halb auseinandergebrochen, kaum daß wir unterwegs sind, und die Leute sind vollkommen erledigt. Ich versuche, eine Weile zu Fuß zu gehen, wie ich es gewohnt bin, doch bald schmerzt mein Bein derart, daß ich auf mein Maultier steigen muß.

Ein Mann von bescheidenen Ansprüchen wäre mit einem einzigen Dromedar aufgebrochen und hätte seinen Leibdiener oder Treiber hinter sich gehen lassen. Aber ich will auch Djami beritten, obgleich der Junge sich zunächst sträubt; nur so sind wir jedoch zu Gewaltmärschen fähig, sofern die Lage uns dazu zwingt. Und wer weiß, in welchem Zustand wir Sotiro antreffen!

Der Gouverneur will uns zunächst nicht ziehen lassen, ehe wir nicht einige Papiere unterzeichnet haben, daß wir die Rettung Sotiros auf eigene Verantwortung unternehmen und im Falle einer Notlage nicht auf die Unterstützung der ägyptischen Behörden rechnen dürfen. Daß wir darüber hinaus (sozusagen im Vorübergehen) einige Forschungen hinsichtlich der Natur des Ogaden unternehmen wollen, lasse ich unerwähnt. Nachdem der Gouverneur sich derart abgesichert, bietet er uns eine kleine militärische Eskorte an, wohl kaum nur aus Großzügigkeit, sondern zweifellos, um uns zu überwachen und selbst dafür noch zahlen zu lassen. Da vertraue ich doch eher meinem guten Freund Omar Hussein, der mit einigen wehrbereiten Männern am Erer-Fluß zu uns stoßen will. Im übrigen fühle ich mich ohne martialischen Geleitschutz fast sicherer; daß unsere kleine Expedition durch die uns aufgedrängten Gefährten bereits zu einer veritablen Karawane angeschwollen ist und unserem raschen Fortkommen nur hinderlich sein wird, stößt mir bereits gallenbitter auf.

Die angebliche Straße ins Innere ist ungangbar, zumindest für eine größere Karawane. Am besten käme man wohl zu Fuß voran. Die Siedlungen liegen zerstreut und in weiter Entfernung voneinander. Es scheint: als gehöre alles Land hier noch den wilden Tieren.

Was wollen die beiden Stellvertreter Christi nur in dieser Wildnis? Noch haben sie sich ihre Rotwangigkeit bewahrt, aber die wird ihnen die Wüste, das Wechselfieber und die Dysenterie bald nehmen! – und der Rotwein und die Heilige Kommunion werden sie nur noch traurig stimmen.

Ist es wahr, frage ich den jungen Franziskaner, der sich zwischen Djami und mich gedrängt hat, daß der Priester, wenn er die Hostie austeilt, in dem Moment, wo er sie hochhebt und dem Gläubigen in die Augen schaut, seine Gedanken lesen kann?

Pater Maurice schaut einen Augenblick verdutzt, doch dann erwidert er lächelnd: Es kann zumindest nicht schaden, den Gläubigen in diesem Glauben zu lassen.

Natürlich, selig die Einfältigen, denn ihrer ist das Himmelreich!

Seien Sie herzlich zu unserem kleinen Gottesdienst heute abend eingeladen, Monsieur Rimbaud.

Verzeihen Sie, Vater, Sie sollten sich mit derlei Zeremonien zurückhalten, sie gelten den Menschen hier als heidnisch.

Er nickt und reitet eine Weile still und in Gedanken versunken weiter. Er tut mir ein wenig leid: bei soviel Zuversicht, die er ausstrahlt, bin ich mir fast sicher, daß er in diesen Landen nicht alt wird. Er sieht alles hier verkehrt herum: vom Himmel aus betrachtet; die Flüsse fließen hinauf, die Berge tragen Hosen, die Wolken sind von Öllachen überzogen. Aber wenn man über die nötige Technik verfügt, kann man das alles auf- und wegsprengen: ja, er kommt mir wie einer jener Sprengmeister vor, die ich in den Steinbrüchen auf Zypern kennengelernt habe. Man muß nur wissen, wo man das Dynamit zu deponieren hat; und den Leichengeruch aushalten.

Übrigens ist er stark kurzsichtig, wie alle seine Brüder im Geiste, kurzsichtig zumindest, was das Göttliche betrifft.

Offenbar hat Bischof Taurin meinen Rat, Missionare allenfalls nach Bubassa zu entsenden, als Empfehlung und nicht vielmehr als Warnung aufgefaßt: in Bubassa besteht wenigstens die Hoffnung, daß die Patres lebend zurückkehren werden, wenn sie dort auch wohl so wenig wie im übrigen Ogaden irgendjemanden bekehren werden. Ich wüßte auch keinen Sinn darin zu erkennen: entspricht der Islam nicht vielmehr den Sitten und Lebensgewohnheiten der hiesigen Bewohner; darüber hinaus war das Christentum ja nie fern: gibt es in direkter Nachbarschaft doch christliche Königreiche, um Jahrhunderte älter als die abendländischen.

Aber da ich selbst es war, der Bubassa ins Spiel gebracht hat, kann ich die beiden Franziskanermönche nun nicht als einstweilige Reisegefährten zurückweisen, auch wenn Djami, Hadsch Afi und ich in Eile sind. Hadsch Afi kennt den Weg nach Bubassa, kennt die Noblen der Stadt, unsere Firma unterhält dort bereits eine kleine, von Sotiro und mir ins Leben gerufene Niederlassung, die Bewohner sind mit fremden Besuchern einigermaßen vertraut, alles weitere müssen meine Brüder in Christo mit den Bubassarun selbst aushandeln.

Seit fast drei Jahren teile ich die Wohnung über unserem Kontor mit Constantin Sotiro. Fast könnte ich ihn einen Freund nennen, auch wenn er ein äußerst schweigsamer Mensch ist und wir außerhalb unserer Arbeit kaum Zeit miteinander verbringen. Doch ist er mit den Einheimischen zusammen, taut er sogleich auf und palavert mit ihnen ohne Ende: er hockt oder sitzt in ihrer Runde, und nach einer Weile scheint es, als gehöre er dazu, eingebunden in ihr Gelächter, ihren Streit, ihre Berührungen. Verläßt er sie, fällt er rasch in sein gewöhnliches Brüten zurück, als läge ein naher Verwandter von ihm in unserer Wohnung im Sterben.

Ich hingegen, obgleich ich einige ihrer Sprachen inzwischen fast fließend spreche, weiche ihren Zusammenkünften und Geselligkeiten eher aus und verfalle in ihrer Gegenwart in Schweigen; weniger aus Scheu denn aus tiefer Abneigung gegen jede Art belanglosen Geschwätzes. So baut man natürlich kein Vertrauen auf. Bin ich hauptsächlich für die Rechnungsbücher zuständig, so liegt Sotiros Aufgabe im Aufbau und in der Pflege der menschlichen Kontakte.

Mit der Ankunft des katholischen Bischofs bin ich nicht mehr der einzige Franzose in Harar. Die wenigen anderen Kaufleute hier sind vor allem Armenier oder, wie Sotiro, Griechen. Harar gilt als eine der heiligsten Städte des Islam. Erst seit der Besetzung durch die Ägypter ist der Zutritt Ungläubigen, wie ich einer bin, erlaubt, und die Herrschaft Rauf Paschas hat zu weiteren zweifelhaften Freiheiten geführt: Kaffeehäuser, Alkohol und ersten Missionsstationen. Sicher werden andere Kaufleute und Missionare bald folgen. Doch nur der Teufel weiß, was geschehen wird, wenn die ungeliebten Ägypter eines Tages Harar wieder verlassen müssen!

Bischof Taurin Cahagne gibt sich indessen unbesorgt. Er geht wohl schon auf die Sechzig zu, und sein Haar war sicher schon vom Alter gebleicht, zumal er, soweit es eben möglich, die unbarmherzig brennende Äquatorsonne meidet: sein Gesicht ist fast ebenso weiß wie sein Haar, da er tagsüber kaum je sein Haus verläßt und sich auf der Straße stets im Schatten bewegt. Warum ist er, fast am Ende seines Lebens, hierher gekommen, wo es, nicht einmal unter den wenigen Europäern, auch nur einen einzigen Christen gibt und seine Bemühungen, den einen oder anderen doch noch zu bekehren oder in den Schoß der Kirche zurückzuholen, auf alles andere als Gegenliebe stoßen? (Wie wenig verlockend dieser verdorrte Schoß doch ist!) Glaubenseifer kann nicht der Grund gewesen sein: auch wenn er kein geistreicher Mensch ist, besitzt er doch ausreichend Alltagsklugheit, niemandem mit irgendeiner Art von Bekehrungsseifer vor den Kopf zu stoßen. So sind denn auch unsere Gespräche eher von den Schwierigkeiten des alltäglichen Überlebens als von gelehrten Disputen bestimmt und durchaus angenehm; soweit Gespräche mit Landsleuten – gerade in der Fremde – überhaupt je anregend und genußvoll sein können.

Als ich Bischof Taurin frage: wie viele Hararis er schon bekehrt habe, entgegnet er lächelnd: keinen einzigen.

Und was machen Sie den ganzen Tag?

Ich bete und versuche, meinen Glauben nicht zu verlieren.

Gesegnetes Dasein! Rom scheint es wohl nur wichtig, einen weiteren schwarzen Flecken auf der Erdenkarte mit einem apostolischen Vikariat versehen zu haben, mag es auch allein aus dem Herrn Vikar bestehen.

Es gibt Schneider, Sticker und Weber in Harar, Waffen- und Silberschmiede und eine bedeutende Buchbinderei, die das gesamte Land mit dem Koran versorgt.

Mit den Schmieden ist es allerdings eine merkwürdige Sache: Ihnen ist, da sie mit Feuer arbeiten, der Zugang zur Stadt verwehrt. Also verwandeln sie sich des Nachts in Hyänen und dringen, während die fünf Stadttore vom Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung geschlossen sind, durch die weraba nudul, die Abwasserkanäle, in die Stadt ein. Ihre nächtlichen Streifzüge durch die Gassen werden von den Bewohnern geduldet, da sie nicht nur den dortigen Unrat, sondern auch den zurückgelassenen Seelendreck fressen.

Seit einiger Zeit ergänzt indes ein weiterer Europäer unsere abendländische Gemeinschaft: Z., ein Schweizer Ingenieur, der die Bahnlinie von Harar nach Djibouti plant. Mehr noch als die ägyptische Besatzung wird sie dieses Land verändern (falls sie denn je gebaut werden sollte).

Und vor dreißig Jahren soll es einmal einem englischen Abenteurer gelungen sein, als Araber verkleidet in die Stadt zu gelangen. Natürlich wurde er rasch entlarvt und gefangengesetzt. Die älteren Hararis erinnern sich noch gut an dieses denkwürdige Ereignis. Was aus dem leichtsinnigen Mr. Burton geworden ist, wollen sie hingegen vergessen haben oder mir wenigstens nicht mitteilen, vermutlich: um mich nicht unnötig zu beunruhigen. Wahrscheinlich ist sein Kopf wie der so vieler anderer Aufrührer und Eindringlinge auf den Zinnen der Stadtmauer, allen furchtlosen Nachahmern zur Warnung, ausgestellt worden.

Es regnet, als wir endlich in Ballaoua eintreffen, und die ganze Nacht wütet ein scharfer kalter Wind.

FREITAG, DEN 5. OKTOBER 1883

M. Brémonds Kamele weigern sich, die Last aufzunehmen. Er gerät in Streit mit den Treibern, womöglich haben sie sich mit ihren Tieren abgesprochen: Sie verlangen ein höheres Handgeld, da die Waren, die M. Brémond durch den Ogaden schleppen läßt, weit mehr wiegen als abgesprochen. Unmöglich, vor elf Uhr aufzubrechen.

Ich laufe neben meinem Tier. Der Schmerz hält sich in Grenzen.

Jenseits der Gipfel, wo nicht schroffe Granitplatten und steile Felshänge jede Vegetation ausschließen, ist das Gelände zumeist mit Mimosen, Kakteen, Euphorbien und wilden Olivenbäumen schütter bewaldet. Die niederen Böden bilden teils eine mit dicken dornigen Büschen bewachsene sandige Steppe, andere zeigen einen fruchtbaren Grund und werden von den Bewohnern mit Durha und Seifenkraut bebaut. Immer wieder wird das wilde Land von gewaltigen Schluchten aufgerissen, die von den seltenen, dann aber sintflutartigen Regenfällen in die nachgiebige Erde gegraben wurden. Hat ein Fluß nicht seine eigene Quelle, liegt sein Bett in der Dürrezeit trocken.

Pater Maurice erzählt mir, ganz ungefragt, von einem verstörenden Traum, aus dem er am frühen Morgen aufgeschreckt ist: Er habe in einem trüben, nur knietiefen Gewässer eine Schar Kinder – im Traum blieb unklar, ob er nicht selbst gar Erzeuger dieser Schar war – taufen wollen und untergetaucht: und eins nach dem anderen blieb unter Wasser und wurde trotz seiner panischen Suche nicht wiedergefunden. Was dieser Traum wohl besagen wolle? fragt mich der Mönch allen Ernstes. Ich erwidere spöttisch: womöglich habe er von mir und meinesgleichen geträumt.

Wovor sind sie davongelaufen, diese Fremdenlegionäre Gottes? Unter ihnen gibt es zweifellos ebenso viele Schlitzohren, Tagediebe und Bankrotteure wie unter den irdischen Söldnern, mögen meine beiden kuttenbekleideten Gefährten auch eine Ausnahme darstellen und jener Kompanie der wahrhaft Kampfbeseelten angehören; aber ein Kampf so fern der Heimat und ganz und gar ohne Hoffnung auf einen Sieg?

Pater Maurice sprießt gerade erst der Bart: ich ertappe ihn dabei, wie er immer wieder seine zarte Wange und sein beflaumtes Kinn an den Hals seines Maultiers drückt und sie am borstigen Fell des Tieres reibt und mit einer dünnen, düsteren Gespensterstimme seine Psalmen summt. Dann lacht er plötzlich auf, fast lautlos und ein wenig irre. Sein Kopf ist wohlgeformt, doch sein eichelhelles Haar weicht an der Stirn bereits zurück, so daß sie besonders hoch und klug und dem Wahnsinn nah erscheint. Als er meinen Blick bemerkt, gibt er seinem Maultier von nun an einen leichten Schlag, wann immer er es eigentlich liebkosen will: seine Scham ist größer als seine Zärtlichkeit, wie es sich für einen gehorsamen Söldner Gottes gehört.

Ich hocke mich ein wenig abseits des Pfades ins Gras, um meine Notdurft zu verrichten, einer der wenigen Augenblicke des Tages, an denen ich für mich bin und in wirkliche Verbindung mit der Natur, mit dieser Erde komme. Die anderen, das heißt: die anderen Europäer machen sich darüber lustig, daß ich mich selbst zum Urinieren wie die Eingeborenen hinhocke. Die Einheimischen indessen finden (durchaus zu recht), daß nur Hunde im Stehen pinkeln.

Ich studiere den Boden, nur eine Armlänge von meinen Augen entfernt. Zwischen den Halmen rötlicher Sand: eine Karawane großer roter Ameisen bereits im Anmarsch, in Erwartung des frischen Kots, Käfer, Spinnen, Skorpione, Sechs- und Achtbeiner, Geflügelte und Ungeflügelte, Borstige und Fühlerlose, deren Namen ich nicht kenne: was für eine gottverdammte Anmaßung, mich für einen ernstzunehmenden Forscher zu halten! Mag sein, daß noch kein Europäer vor mir auf diesem Flecken Erde seinen Scheißhaufen hinterlassen hat, das aber macht mich noch lange nicht zu einem Magellan oder Cook.

Denken Sie nie an den Tod? – Pater Maurice, zwei Jahre jünger als ich, ist zweifellos die Seele dieses unsinnigen Unternehmens. Er besitzt einige Sprachkenntnisse im Arabischen, die er sich bereits in Frankreich angeeignet hat, und ist darüber hinaus auch in anderen Wissenschaften bewandert, die ihn zu einem förderlichen Ratgeber unserer Expedition hätten machen können, wenn diese Wissenschaften denn das eigentliche Ziel seiner Reise gewesen wären. Im übrigen aber ist er sich nicht zu schade, mit Hand anzulegen, wenn unser beschwerlicher Weg es verlangt.

Indes leidet er seit seiner Ankunft in Harar unter einer sich Tag für Tag verschlimmernden Dysenterie und gehörte eigentlich zur Genesung in die Heimat zurückgesandt. Nur seine kräftige Konstitution und sein Fanatismus halten ihn noch aufrecht.

Ich denke jeden Tag an den Tod! erwidere ich mit unüberhörbarem Spott.

Und diese Gedanken, fährt er mit großem Ernst fort, führen Sie nicht unweigerlich zu Gott?

Diese Gedanken sind rein körperlicher Natur.

Glauben Sie nicht an Gott?

Als Kind habe ich geglaubt, mit Inbrunst, ja Verzweiflung. Aber mit der Kindheit habe ich diesen fast wahnhaften Glauben und jeden anderen abgelegt.

In meinem Leben verhält es sich gerade umgekehrt.

Außer der Angst vor dem Ertrinken scheint der junge Missionsbruder keine Furcht zu kennen. Und in der Tat, so weiß ich inzwischen, ist die Gefahr, der plötzlichen Überflutung eines ausgetrockneten Flußtals in dieser Weltengegend zum Opfer zu fallen, weitaus größer, als von den Zähnen eines Löwen oder Krokodils zerrissen zu werden.

Meine Kindheit war arm, erzählt er weiter: arm vor allem an geistiger Nahrung. Doch das Erwachsenwerden bedeutet auch ein Reifen der Erkenntnis, daß, so reich uns das Leben auch immer beschenken mag, wir doch arm sterben werden, wenn uns nichts als das kalte Grab erwartet.

So wird es am Ende wohl sein.

Erschreckt es Sie nicht?

Natürlich erschreckt es mich. Aber ich lasse mich von diesem Schrecken nicht zurück in die erstickenden Arme der Kirche treiben. Sie weiß von diesen Dingen ebenso wenig wie ich, auch wenn sie etwas anderes behauptet. Ja, ich denke: die Menschen hier wissen mehr vom Leben und Sterben als wir, und anstatt sie bekehren zu wollen, sollten wir ihnen erst einmal zuhören.

Beide Patres reisen, wie es sich dem Gelübde der Armut ziemt, ohne Dienerschaft und haben nur je einen Eselstreiber für einen so überhöhten Lohn gemietet, der zukünftigen Reisenden nicht wenig Verhandlungsgeschick abverlangen wird.

Beleidigt es denn nicht Ihren gesunden Menschenverstand, daß die Eingeborenen hier ihrem Bekenntnis zu dem einen Gott zum Trotz immer noch ihre Fetische, Masken und Rasseln anbeten?

Es beleidigt mich nicht mehr als das Holz, das Rauschgold, die Knochensplitter der Märtyrer und die unzähligen Vorhäute unseres Herrn, vor denen Christen in unseren Kathedralen sich niederwerfen.

Monsieur Brémond hingegen hat sich um so reicher mit allem zu einer beweglichen Haushaltung Nötigem versehen, vom Kissen bis zur Nähnadel, denn alle Bedürfnisse müssen bedacht werden, will man hernach nicht empfindlichen Mangel leiden. Er trägt einen schwarzen Rock und eine lange schwarze Hose aus schwerem Tuch, dazu ein Paar schwarzer, blankpolierter Stiefel. Und neben dem Eigenen an Kleidern, Eßwaren, Arzneien und Waffen führt er nicht weniger als fünf Lastkamele mit Handelsgütern bei sich, haushoch beladen mit Äxten, Sägen, Hämmern und Nägeln, Schußwaffen und Patronen (die hier auch als allgemeines Zahlungsmittel gelten), Stoffe, Perlen und Gewürze, Branntwein und Tabak und vermutlich auch eine Menge Dinge, derer hier niemand bedarf, aber einen geschäftstüchtigen Mann wie ihn zu raschem Reichtum zu führen versprechen.

Eine solchermaßen umfangreiche Karawane dient womöglich dem Schutze des Einzelnen, aber ist der Erforschung der Völkerschaften, ihrer Sitten und Gebräuche und ihrer Lebensumstände gewiß nicht förderlich, diktiert doch die Gemeinschaft und nicht wissenschaftliche Notwendigkeit den Rhythmus der Reise. So marschiere ich nun dahin, Haut an Haut mit Unbekannten, fast schon gelangweilt, wäre der Schmerz in meinem rechten Bein nicht, die ledrigen, leicht säuerlichen Gerüche, die sehnigen Bewegungen der Träger, nackt, barfuß, schweißglänzend, während mir das schweißnasse Hemd am mageren Leibe klebt und mein Schuhwerk im Dreck versinkt. Das Einerlei der Landschaft (was gibt es hier zu erforschen?); als wären wir beständig in einen Nebel aus Staub gehüllt. Vielleicht wäre es anders: wenn sie mich zurückließen, oder ich sie; dann könnten sich meine Augen an das trübe Licht gewöhnen und sehen, wohin ich den Fuß setze. Vielleicht könnte ich dann sogar wie sie, die Träger und Treiber, barfuß gehen und nackt und würde weniger schwitzen und weniger hinken; das mich plagende Knie wäre nur ein Schmerz unter anderen. Stattdessen verfluche ich diese Wildnis: Kein Wort bringt sie mir näher, kein Name, die rote Erde stinkt so sehr nach Pisse und Verwesung, daß ich mich selbst nicht mehr rieche. Ich schreie den armen Djami an, gebe einige unsinnige Befehle, damit mir der Zweck dieser Reise nicht abhanden kommt: die Rettung Sotiros; der Bericht für die Geographische Gesellschaft.

Natürlich sollte auch Sotiro die Augen offenhalten und soviel wie möglich über dieses noch unbekannte Gebiet in Erfahrung bringen. Aber vor allem sollte er seine eigentliche Aufgabe nicht aus den Augen verlieren: die Erschließung neuer Handelsquellen, Gummi, Elfenbein, Moschus, und neuer, gewinnbringender Handelsniederlassungen für die Gebrüder Bardey. Er reist, wie auch zuvor schon, in der landesüblichen Tracht unter dem Namen Hadsch Abdallah und nur in Begleitung seines Dieners, Hadsch Afi; er kennt sich mit den hiesigen Gebräuchen aus und ist sogar mit dem Koran vertraut, so daß man ihn gemeinhin für einen wodad, einen islamischen Gelehrten hält.

Aber im Ogaden gibt es nicht nur Stämme, die mit den Bewohnern der heiligen Stadt Harar den Glauben an Allah teilen, sondern auch noch jene, die Bäume, Berge oder Fabelwesen anbeten und in den Mohammedanern nur Besatzer und Sklavenjäger erkennen wollen. Sie sind Fremden so feindlich gesinnt, daß sie auch Perlen, Porzellan oder anderer abendländischer Flitter nicht verführt. Womöglich ist der infame Mkuënda einer von ihnen. Seine Götter mögen ihm gnädig sein, sollte er Sotiro etwas angetan haben!

SAMSTAG, DEN 6. OKTOBER 1883

Nächtliches Gewitter. Wir können den Fluß nicht überqueren. Es regnet sechzehn Stunden, ich verbringe die Zeit in meinem Zelt, fürchte um die Apparate. Nicht alle Kisten finden im Trockenen Platz. – Das Essen bleibt heute kalt.

Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß sich M. Brémond mit seinen überladenen Kamelen unserer Karawane anschließt, um seine zweifelhaften Waren in den Dörfern des Ogaden zu verhökern oder gegen Felle und Elfenbein zu tauschen. Er hat ein Dutzend Träger angeheuert, die unsere Reise nicht nur schrecklich verlangsamen, sondern auch allenthalben für Schwierigkeiten sorgen, denn Brémond ist kein Dienstherr, wie man sich ihn wünscht, sondern ein wahrer Menschenschinder. Im Grunde betreibt er nur dasselbe Geschäft wie Bardey & Co., indessen ohne den Mut oder den Ehrgeiz, feste Niederlassungen zu gründen. Er sucht allein den raschen Gewinn, ehe die Einheimischen bemerken, daß dieser Hausierer sie mit ihren Glasperlen übers Ohr gehauen hat.

Aus schierer Langeweile (vielleicht auch Mordlust) will M. Brémond sich offenbar auf Hyänenjagd begeben, obgleich unter den Einheimischen ihr Fleisch als ungenießbar gilt. In Harar läßt man sie in Frieden, nicht nur, weil sie die Stadt von Aas und Unrat reinhalten, sondern weil viele Hararis – ihres Glaubens an den einen Gott und seinen Propheten ungeachtet – die Hyänen für verwandelte Menschen, für Zauberer oder Marabus halten. Solche Hexenmeister, so ihre Überzeugung, könnten allein durch ihren bösen Blick das Blut in den Adern eines Angreifers gefrieren, das Herz ihrer Feinde stillstehen und seine Eingeweide austrocknen lassen.

M. Brémond gibt nichts auf diesen Aberglauben, doch keiner seiner Bedienten oder Sklaven will ihn auf seiner Pirsch begleiten. Selbst Djami schaut beunruhigt

Indessen hält es M. Brémonds edles Reitkamel für angemessen, mit seinem gewichtigen Reiter durchzugehen und ihn in einem eine Viertelmeile entfernten Kakteenfeld abzuwerfen.

Nun sucht er Zuflucht in meinem Zelt und jammert mir die Ohren voll: Daß man bei all der Niedertracht und dem Ärger nicht auseinanderfällt! Eine Rotte aufsässiger, nichtsnutziger und nur auf ihren Vorteil bedachter Hunde sind diese Träger und Treiber! Scheuen kein Mittel, ihren Herrn und Brotgeber zu übervorteilen! Jedes freundliche Wort, das man ihnen gönnt, wird benutzt, um neue Forderungen zu stellen, jedes Lächeln als ein Zeichen von Schwäche angesehen. Mir scheint, dieses Gesindel ist zu keiner höheren Regung fähig. Nie Zufriedenheit, nie Arbeitseifer, nur Streitlust und Faulheit …

Djami sitzt an meiner Seite, läßt sich aber nichts anmerken von dem, was Antoine Brémonds Tirade in ihm auslöst. Was erwartet Brémond von seinen Trägern und Treibern: Männer, manche Knaben noch, die allein aus Zwang oder durch ihre Angehörigen gedrängt ihrer Heimat entrissen sind und diese schwere Arbeit zu leisten haben; die in unbekannte, furchterregende Regionen geführt werden und unsere Ziele und Zwecke nicht verstehen können, da wir uns nicht einmal die Mühe geben, sie ihnen erklären zu wollen?

Doch nicht nur ihr inneres Gleichgewicht ist gestört und ihre Gesundheit zerrüttet, auch Brémonds Kräfte schwinden, sein Haß gegen dieses Land und seine Bewohner nimmt ein unglaubliches Maß an: Sie trügen an allen Unfällen und Mißerfolgen die Schuld, als ob der reisende Kaufmann alles so behaglich und geebnet für seine Handelsreise vorfinden müsse wie daheim in der Bretagne. Ist es diese Art von Geschäft, die einen Ehrenmann am Ende zu einem Geschäftsmann macht? Möge Djami mich in Ketten legen und in die Sklaverei verkaufen, sollte ich je ein weiterer Brémond werden!

Brémond bekennt, daß ihm einige, längst verheilt geglaubte Geschwüre an delikater Stelle durch den langen, ungewohnten Aufenthalt im Sattel erneut zu peinigen begonnen hätten, außerdem mache ihn das unerwartet kalte und feuchte Klima hier in den Bergen zu schaffen: und tatsächlich wirkt sein Gesicht ein wenig fiebrig. Das erklärt allerdings, daß ihm jeder Zank und Lärm zum Aufruhr wird, der seine herausgeforderte Gesundheit noch mehr reizt.

Tatsächlich ist es wohl so: nicht nur Antoine Brémond, sondern alle in Abessinien ansässigen Europäer, so gering ihre Zahl auch sein mag, und selbst viele Ägypter und Osmanen hegen gemeinhin recht abfällige Ansichten über die Afrikaner. Wo immer ein ägyptischer Söldner zu Schaden kommt, ist die Rache der Besatzer schrecklich: der Ort des Geschehens – ganz gleich, ob die Bewohner unmittelbar beteiligt waren – wird mit Feuer und Pulver dem Erdboden gleichgemacht, und allen, die vor der Strafexpedition nicht rechtzeitig fliehen konnten (vornehmlich die zurückgelassenen Säuglinge, Schwangeren und Greise) werden niedergemacht und die geschändeten Leichen zur Warnung auf der blutgetränkten Erde liegengelassen. Das ist der Boden, auf dem wir unsere Geschäfte tätigen.

Vor allem verhärtet sind die Händlerseelen, und ich selbst spüre ja nicht selten die Ungeduld und den Ärger angesichts der Trägheit und Bequemlichkeit vornehmlich der Männer hier. Aber niemals würde ich einem Angestellten oder Hausdiener, der ein wenig Tabak oder Baumwollstoff gestohlen hat, die Ohren abschneiden, wie ich es gelegentlich an der Küste bei den Händlern gesehen, oder einen jungen Mann eigenhändig kastrieren, weil er eine europäische Frau (von denen es in Harar indessen noch keine gibt) zu lange angesehen, wie es hier unter Ägyptern und Osmanen durchaus üblich ist. Der Stock und die Peitsche fehlen in keinem Herrenhaushalt. Und auf der Überfahrt – ich habe es mit eigenen Augen beobachtet – wurden gefangengenommene Piraten einfach mit gefesselten Händen über Bord geworfen. Schon in Aden hieß es, wenn auch nicht aus dem Munde Bardeys oder seines Bruders, daß die Neger Güte am allerwenigsten verstünden. Was wäre mein Alltag in Harar ohne Djami?

Ein großer Teil der Bevölkerung Harars ist sehr arm, und die Bedingungen haben sich durch die ägyptische Besatzung noch verschärft, da der Handel mit verschiedenen Regionen des Hinterlandes abgebrochen ist. Die neuen Freiheiten bedeuten noch keinen Zugewinn an Wohlstand: so sind denn nicht nur die Armen unzufrieden mit den neuen Herren aus dem Norden.

Schon wenige Tage nach meiner Ankunft fällt mir der Junge ins Auge, schwarz wie poliertes Ebenholz, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, den alle Welt Djami ruft. Hin und wieder kommt er in unser Kontor, um Sotiro im Lager zu helfen, und ist schon dankbar, dafür nur mit uns speisen zu dürfen. Er sieht recht verhungert aus und trägt an seinen Beinen und womöglich auch an anderen Körperstellen, die durch sein langes Hemd verborgen, viele Narben und frische Wunden des Sambok, der langschwänzigen Peitsche aus Flußpferdhaut. Sotiro hat über ihn bereits in Erfahrung gebracht, daß er von seinem Stamme weit im Westen entführt wurde, noch bevor die Ägypter das Land besetzten und den Sklavenhandel verboten. Eigentlich sei er, den neuen Gesetzen nach, ein freier Mann. Aber die Witwe seines ehemaligen Herrn, unsere Nachbarsfrau, die Sotiro anfänglich für Djamis Mutter gehalten, erweise sich als noch grausamer als ihr Gatte und betrachte den Jungen nach wie vor als ihr Eigentum. Für sie sei er vor allem ein unnötiger Esser, und wären die Ägypter nicht, hätte sie ihn längst verkauft.

Ich gehe hinüber zu dem mürrischen Weib und sage ihr: Du hast da diesen Jungen, Djami, der uns des öfteren zur Hand geht. Er hat sich als recht anstellig erwiesen. Würdest du gestatten, daß er in meinen Dienst tritt? Ich könnte einen verständigen Burschen wie ihn gut in unserem Kontor gebrauchen.

Er ist ein fauler und verschlagener Kerl, Sahib, und er hat mich in den vergangenen Jahren unzählige Mahlzeiten gekostet.

Ich brauche durchaus einen schlauen Burschen; und die Faulheit werde ich ihm schon austreiben, uchti.

Meinetwegen nimm ihn, wenn du mir das eine oder andere Geschenk gibst. Der Junge hat mir ja nur Unkosten bereitet.

Ich bringe ihr zwei Baumwolltücher, eine Schere, Nadeln und Zwirn, und da sie noch immer ein mißmutiges Gesicht zeigt, lege ich zwei Schnüre mit Glasperlen dazu.

Gut, sagt sie endlich: aber bring mir den Knaben nicht zurück, wenn er sich als Nichtsnutz und Schmarotzer erweist.

So ist Djami zu mir gekommen. Abgesehen von der Meidung gewisser Wörter darf man diesen Tausch durchaus als Menschenhandel begreifen.

Auch wenn Djami sich nur noch an wenige Dinge vor seinem Raub erinnert, so entstammt er doch einer noblen Familie, beherrscht vielerlei Sprachen und die Jagd- und Kriegskunst. Nur im Rechnen braucht er einige Nachhilfe, die ich ihm gerne gewähre. Dabei zeigt er eine Ergebenheit, die am Anfang wohl vor allem der Dankbarkeit geschuldet ist, ihn von der unwirschen Witwe fortgenommen zu haben.

Ich weise ihn an, seine Sachen aus dem Nachbarhaus zu holen und in die Kammer zu bringen, die er nun in unserer Wohnung beziehen soll. Er erwidert: daß er nichts besitze als jene Fetzen, die er am Leibe trage. Ich gebe ihm einstweilen einige Kleidung von mir, die ihm auf Anhieb paßt, da er groß gewachsen, bis er sich von seinem ersten Lohn nach eigenem Geschmack und Vermögen selbst einzukleiden vermag.

Nach der Arbeit verbringt jeder seine Zeit, wie er will. Aber in Harar gibt es wenig zu tun außer zu lesen und zu träumen. Im Sommer ist die Hitze ungeheuer groß, selbst in der Nacht kühlt es dann kaum ab. Sicher, Aden war noch unerträglicher: Nicht einen Tropfen sauberes Wasser findet man auf diesem kargen Felsen, man trinkt dort destilliertes Meerwasser; kein einziger Baum, kein Strauch, kein Grashalm wächst in diesem Vulkankrater. Wer nicht dort war, kann sich diesen Ort nicht vorstellen: die dunklen, schroffen Kraterwände lassen keine frische Luft hinein – so brennen die Bewohner auf dem Grund dieses Schlunds wie in einem Ziegelofen.

Doch am Ende mochte ich dieses höllische Klima fast: Regen, Morast und Kälte und das satte Grün der Ardennen waren mir immer ein Greuel. Täglich verliere ich den Geschmack an den Lebensweisen und Umgangsformen, ja selbst den Sprachen Europas ein wenig mehr. Hier geht es mir gut, auch wenn man hier schneller altert als unter der milderen Sonne des Nordens. Mit jedem Augenblick wird mir ein Haar weiß. Da es nun schon so lange geht, fürchte ich, bald einen Kopf wie eine gepuderte Perücke zu haben. Dieser Verrat meiner Kopfhaut ist in der Tat sehr betrüblich, aber was kann ich dagegen tun?

Nachdem M. Brémond endlich gegangen ist, versuche ich mich an einigen ersten Notizen für den Rapport: