Der Turm - Richard Martin Stern - E-Book

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Richard Martin Stern

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Beschreibung

»Doch der Mensch versuche die Götter nicht ...« Wer aber kümmert sich bei der festlichen Einweihung des Stahl-Glas-Giganten darum? Die Party beginnt. Im 125. Stockwerk des neuen babylonischen Turms trifft sich alles, was Rang und Namen hat. Da erschüttert eine dumpfe Explosion das Gebäude – und die Hölle bricht los. Für zwei Stunden wird das höchste Gebäude der Welt zum Ort ohne Ausweg. In dem Stockwerk auf Wolkenhöhe beginnt eine Tragödie. Von Etage zu Etage frißt sich lodernder Brand nach oben … Minute für Minute erlebt der Leser den Wettlauf zwischen Leben und Tod, das Verhalten von Menschen zwischen Hoffnung und Todesangst. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 344

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Der Turm

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Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner

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Inhalt

Die Gestalten des Romans [...]Prolog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132Epilog

Die Gestalten des Romans sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig.

Prolog

125 Stockwerke hoch, vom Erdgeschoß bis zum Tower Room, erhob sich das mächtige Gebäude, kühn und glänzend. Über dem Tower Room ragte der Antennenmast als stählerne Nadel in den Himmel auf.

Im Vergleich zu dem wuchtigen Doppelblock des benachbarten Trade Centers wirkte das Gebäude schmal, elegant und fast zerbrechlich. Aber seine Fundamente waren acht Kellergeschosse tief im gewachsenen Fels von Manhattan verankert; Kern und Skelett des Gebäudes bestanden aus laminiertem Federstahl.

Nach der Eröffnung sollten hier 15000 Menschen in Büros, Ateliers und Läden arbeiten und täglich etwa 25000 Besucher ein und aus gehen.

Durch seine Telefon-, Fernschreib-, Rundfunk- und Fernsehsysteme, die vom Erdgeschoß aus betrieben wurden, stand das Gebäude über Satelliten mit der ganzen Welt in Verbindung.

Es konnte aber nicht nur mit der Außenwelt, sondern auch mit sich selbst Fühlung nehmen, von Stockwerk zu Stockwerk, vom untersten Kellergeschoß bis zum Tower Room.

Geschoß um Geschoß war der Riesenbau gleichsam organisch gewachsen. Gigantische Kräne hoben Stahlteile in Position und hielten sie dort fest, bis die Elemente miteinander verbunden waren. War ein Geschoß fertiggestellt, hievten die Kräne sich wie intelligente Ungeheuer gegenseitig an neue Arbeitsplätze, um den gleichen Vorgang zu wiederholen.

Während der Bau wuchs, wurden ihm Arterien, Venen, Nerven und Muskeln eingefügt: Hunderte von Kilometern Elektrokabel, Wasserleitungen und Abflußrohre; Schächte, Kanäle und Öffnungen der Klimaanlage … und auch Überwachungssysteme und Anlagen, die diesen Mikrokosmos, seine Gesundheit und sein Leben kontrollieren und steuern sollten.

Meßstationen, die Informationen über Temperatur, Feuchtigkeit, Sauerstoffgehalt und Menge der geförderten Luft lieferten; Computer, die diese Informationen auswerten und entsprechende Anweisungen geben würden.

Überstieg die Temperatur in den obersten zehn, noch von der Abendsonne beschienenen Stockwerken den Optimalwert, würde sich automatisch die Zufuhr von gekühlter Luft erhöhen.

Sank die Raumtemperatur der untersten zehn Stockwerke in der Abenddämmerung zu rasch ab, würde die Zufuhr von gekühlter Luft gedrosselt, später ganz eingestellt und auf Heizung umgeschaltet werden.

Die inneren Systeme des Gebäudes funktionierten, selbsttätig arbeitend, Tag und Nacht.

Die Grundfarbe des Gebäudes war ein stumpfer Silberton: die Fassade war mit eloxierten Aluminiumtafeln verkleidet, in die Zehntausende von Fenstern mit grünem Sonnenschutzglas eingelassen waren.

Es erhob sich auf einer eigenen Plaza und beherrschte durch seine Höhe die Innenstadt. Drei Stockwerke hohe Bogen bildeten die von der Plaza aus zugänglichen umlaufenden Arkaden. Breite Doppeltüren führten in die zweigeschossige Eingangshalle, zu den Fahrstühlen im Gebäudekern und zu den Treppen, Rolltreppen und Geschäften der Ladenetagen.

Männer hatten von diesem Bauwerk geträumt, es entworfen und errichtet – manchmal fast liebevoll, manchmal beinahe haßerfüllt, weil es wie alle großen Projekte schon bald seinen eigenen Charakter entwickelt hatte, mit dem sich jeder, der längere Zeit mit diesem Bau zu tun hatte, auseinandersetzen mußte.

An diesem Morgen war es soweit, das mächtige Gebäude sollte offiziell eingeweiht werden – ein Ereignis, an das sich die Tausende von Männern, die an der Planung und Ausführung des World Towers beteiligt gewesen waren, ihr Leben lang erinnern sollten.

1

09.00–09.33

Der Termin für die Eröffnungsfeier war schon vor Monaten festgelegt worden, obwohl niemand dafür garantieren konnte, daß das Gebäude an diesem Tag ganz fertiggestellt sein würde. Die geladenen Gäste kamen aus Washington, New York und den Hauptstädten der Bundesstaaten. Sie kamen von den Vereinten Nationen und von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Alle hatten zugesagt: Leute, die sehen und gesehen werden wollten, und andere, die lieber weggeblieben wären, wenn die frühe Einladung sie nicht um jede Ausrede gebracht hätte.

Am Freitagmorgen waren auf der Tower Plaza schon vor Tagesanbruch die vielen Absperrgitter gestapelt gewesen. Jetzt waren städtische Arbeiter damit beschäftigt, sie ordentlich ausgerichtet aufzustellen. Bisher hatten sich noch keine Neugierigen angesammelt.

Der Himmel war klar, blau, unendlich weit. Die leichte Brise brachte einen Hauch von Meer mit sich und ließ die Fahnen an den hohen Masten flattern. Zwei wachhabende Polizisten – innerhalb der nächsten Stunde sollten weitere eintreffen – standen unter den Arkaden.

»Gott sei Dank, daß wir heute nichts Politisches zu überwachen haben«, sagte Patrolman Shannon eben. »Eine Kundgebung …« Er schüttelte den Kopf. »Wie manche Leute sich hierzulande über Politik aufregen, ist eine Sünde und eine Schande und dazu bloße Energievergeudung.« Er sah zu dem metallisch glänzenden Gebäude auf. »Es reicht fast bis zum Himmel«, meinte er. »Hoch über die kleinlichen Zwistigkeiten der Menschen hinaus.«

»So spricht der Unbeteiligte«, stellte Patrolman Barnes fest. Barnes war ein Neger. »Wenn man ihn so reden hört, sind alle Iren friedfertig, geduldig, ruhig, freundlich, rücksichtsvoll und niemals gewalttätig.« Barnes hatte Soziologie studiert, war bereits zur Beförderung zum Sergeanten vorgesehen und wollte es mindestens bis zum Captain bringen. »Diese Love-ins bei euch in Londonderry sind nicht gerade Schulausflüge, mein Freund.«

»Nur wenn wir provoziert werden«, antwortete Shannon. Er gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Aber ich gebe zu, daß man die Provokation manchmal suchen muß. Sie verbirgt sich oft wie eine Maus in ihrem Loch.« Das Lächeln verschwand, als ein Mann auf sie zukam. »He, wohin wollen Sie?«

Wie später ermittelt wurde, hieß dieser Mann John Connors. Er trug Arbeitskleidung, hatte einen Schutzhelm aus Aluminium auf dem Kopf und einen Werkzeugkasten bei sich. Barnes und Shannon sagten später übereinstimmend aus, er habe die Arroganz eines Facharbeiters, der mit dummen Fragen belästigt wird, zur Schau getragen.

»Wohin will ich wohl? Natürlich rein.« Connors lächelte mitleidig. »Oder wollt ihr mich etwa nicht durchlassen?« Die Frage klang herausfordernd.

»Heute wird hier nicht gearbeitet«, stellte Barnes fest.

»Ja, ich weiß.«

»Und?«

Connors seufzte. »Eigentlich sollte ich zu Hause im Bett liegen. Alle haben den Tag frei, während die anderen Reden halten und dann nach oben fahren, um Champagner zu trinken. Statt dessen bin ich hier, weil der Boß mich angerufen und hergeschickt hat.«

»Was sollen Sie hier tun?« fragte Barnes weiter.

»Ich bin Elektriker«, sagte Connors. »Was hätten Sie davon, wenn ich Ihnen den Job erklären würde?«

Wahrscheinlich nichts, dachte Barnes. Aber das ist nicht der springende Punkt. Man hat uns keinen klaren Befehl erteilt. Wir sollen die Plaza im Auge behalten – aber dazu gehört nicht, daß wir jemand daran hindern, zur Arbeit zu gehen.

»Haben Sie einen Gewerkschaftsausweis bei sich, Freund?« erkundigte Barnes sich.

»Wer sind Sie eigentlich?« fragte Connors. »Ein Gewerkschaftsinspektor? Klar bin ich bei der Gewerkschaft!« Er zeigte ihnen kurz das Ausweisfach seiner Geldbörse. »Zufrieden?«

Shannon wurde bereits ungeduldig. »Mensch, laß ihn laufen!« forderte er seinen Kollegen auf.

Aber Barnes zögerte noch. Wie er später aussagte, hatte er keinen erklärlichen Grund dafür, sondern nur das Gefühl, eingreifen zu müssen.

»Na?« fragte Connors. »Vielleicht überlegt ihr euch die Sache bald? Auch wenn ich hier bloß rumstehe, koste ich den Chef pro Stunde …«

»Hau ab!« sagte Shannon laut. Er sah zu Barnes hinüber. »Wir haben keinen Befehl, niemand hineinzulassen, Frank. Laß den verdammten Kerl doch laufen. Vielleicht kriegt er einen elektrischen Schlag, so daß er tot liegenbleibt!«

So schilderten sie später diese Szene.

 

In Nat Wilsons Büro, an dessen Wänden Skizzen und Pläne des großen Gebäudes hingen, sagte Will Giddings: »Ich möchte noch fünfzig Dinge ändern. Hundert!«

»Ich auch«, stimmte Nat zu. Er hatte sich Dutzende von Änderungen vorgenommen. Aber dafür war heute keine Zeit mehr.

»Und ich will nicht, daß die Bonzen wie eine Herde gottverdammter Touristen durchs Gebäude laufen!« Giddings machte eine Pause. »Wir sind nicht fertig. Das weißt du so gut wie ich!«

Wird vor jeder Premiere so gejammert? dachte Nat. »Richtig, wir sind nicht fertig«, bestätigte er. »Und?« Er war der jüngere der beiden, Architekt und Ingenieur, mittelgroß, stämmig, schwer aus der Ruhe zu bringen.

»Im hundertfünfundzwanzigsten Stock«, sagte Giddings, »genau unter dem Mast. Drinks, Schulterklopfen, Glückwünsche und Aussicht über Land und Meer. Und das Ganze läßt sich nicht verschieben, weil die Eingeladenen so verdammt wichtig sind – Senatoren, Diplomaten, Filmstars und dergleichen.«

Nat Wilson nickte schweigend.

Giddings war groß und muskulös, hatte aschblondes Haar und blaue Augen und war als Vertreter der Bauherren für die Qualitätskontrolle zuständig gewesen. Er war Anfang 40. Nat hatte ihn gelegentlich mit einem Rechenschieber in der Hand gesehen, aber zu Giddings paßte es besser, wenn er mit einem Schutzhelm auf dem Kopf in einem offenen Aufzugskorb fuhr, über Stahlträger balancierte oder in Kellern und Kanälen herumkroch, um sich davon zu überzeugen, daß einwandfreie Arbeit geleistet wurde. »Ich trinke keine Cocktails«, knurrte er, »und esse keine Happen auf Zahnstochern. Vielleicht macht dir das Spaß.«

»Darauf kommt’s nicht an«, stellte Nat fest. »Grover Frazee hat den Termin bestimmt. Dein Boß, Will.«

Giddings setzte sich endlich. »Ja, mein Boß.« Er nickte. »Wir brauchen Geschäftsleute – aber wir brauchen sie nicht zu mögen.« Er warf Nat einen nachdenklichen Blick zu. »Du mußt noch feucht hinter den Ohren gewesen sein, als du hier angefangen hast. Vor knapp sieben Jahren, stimmt’s?«

»So ziemlich«, antwortete Nat. Er erinnerte sich daran, wie begeistert er damals von Ben Caldwells Visionen gewesen war, wie er sich bemüht hatte, sie zu realisieren. Er sah unwillkürlich zu dem in der Ferne aufragenden Tower hinüber: dem Ergebnis jahrelanger Arbeit. »Und?«

»Das ist mein Bau, verdammt noch mal, Sonny!« betonte Giddings. »Du hast natürlich auch damit zu tun gehabt, aber ich habe aus der Nähe miterlebt, wie er vom Fundament bis zum obersten Stockwerk gewachsen ist. Ich kenne jede Stütze, jeden Träger, jede Strebe und jedes Wandelement so gut, wie ich meine Kinder kennen würde, wenn ich welche hätte.«

Dazu brauchte Nat sich nicht zu äußern.

»Du bist ein schweigsamer Bursche«, stellte Giddings fest. »Aber stille Wasser gründen tief, was?« Er starrte aus dem Fenster. »Ich hab’ dabei auch ein paar Freunde verloren. Damit muß man bei jedem großen Bau rechnen.« Er warf Nat einen fragenden Blick zu. »Erinnerst du dich an Pete Janowski?«

Nat schüttelte den Kopf.

»Er ist aus dem fünfundsiebzigsten Stock in die Baugrube gestürzt.«

»Ah, den meinst du!« sagte Nat.

»Ein baumlanger Pole«, fuhr Giddings fort. »Ein guter Mann, der immer pünktlich und zuverlässig gearbeitet hat und bestimmt nicht leichtsinnig war. Das hat mich so mitgenommen, weißt du. Wenn man sich einen Unfall nicht erklären kann, fängt man an, sich Sorgen zu machen.«

Nat runzelte die Stirn, weil er merkte, wie nervös der andere war. »Willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?« fragte er langsam.

Giddings schien gar nicht zugehört zu haben. »Normalerweise kann man sich vorstellen, warum jemand etwas tut, aber …« Er zuckte die Achseln. »Hier, sieh dir das an!«

Er holte einen braunen Umschlag aus der Innentasche seiner Cordsamtjacke, warf ihn auf den Schreibtisch und sah zu, wie Nat danach griff, den Umschlag öffnete und Fotokopien technischer Zeichnungen herauszog.

Nat studierte die Pläne schweigend. »Genehmigte Konstruktionsänderungen«, sagte er schließlich. Seine Stimme blieb ruhig, und er hoffte, daß sein Gesicht ebenso ausdruckslos war. »Alle mit meiner Unterschrift. Aber sie betreffen die Elektroinstallation. Dafür bin ich nicht zuständig.«

»Aber niemand würde deine Unterschrift anzweifeln«, stellte Giddings fest. »Caldwell und Partner, leitende Architekten – du bist ihr Mann am Bau, du kannst praktisch alles genehmigen.« Er beobachtete den Jüngeren.

Nats Hand zitterte nicht, als er nach einer der Fotokopien griff. »Sind diese Änderungen ausgeführt worden?«

»Keine Ahnung. Ich habe die Pläne gestern abend zum erstenmal gesehen.«

»Warum ist dir nicht schon früher etwas aufgefallen?«

»Ich kann nicht überall sein«, wehrte Giddings ab. »Ich lasse mir von den Firmen bestätigen, daß die Arbeiten laut Ausschreibung durchgeführt worden sind.« Er machte eine Pause. »Aber bei so was hätte ich Krach geschlagen!«

»Ich auch«, sagte Nat.

»Was soll das heißen?« erkundigte Giddings sich.

»Das sind nicht meine Unterschriften«, antwortete Nat. »Ich weiß nicht, wer diese Änderungen genehmigt hat – ich jedenfalls nicht!«

Giddings stand auf und trat ans Fenster. »Mit dieser Antworte habe ich gerechnet«, murmelte er.

»Natürlich«, bestätigte Nat, dessen Verstand nach dem ersten Schock wieder logisch arbeitete. »Hätte ich die Änderungen genehmigt, würde ich zumindest anfangs leugnen, nicht wahr? Da ich sie aber nicht genehmigt habe, leugne ich aus einem anderen Grund. Die Antwort bleibt die gleiche.«

Giddings wandte sich um. »Alles streng rational, was?« fragte er aufgebracht.

»Warum hätte ich diese Änderungen genehmigen sollen?« Auch Nat wurde allmählich wütend.

»Das kann ich mir eben nicht vorstellen«, gab Giddings zu. »Sonst würde ich jetzt die Wahrheit aus dir herausprügeln …«

»Versuch’s lieber nicht!« warnte ihn Nat.

»Was für Pfusch steckt in den Wänden des Towers?« erkundigte Giddings sich mühsam beherrscht. »Wieviel Murks haben wir gemacht, ohne es zu wissen? Wie tief reicht das alles?«

Nats Hände lagen flach auf dem Schreibtisch. »Das weiß ich auch nicht«, sagte er. »Aber wir müssen es feststellen.«

Giddings nickte langsam. »Du versuchst’s auf deine Weise«, entschied er, »und ich auf meine. Die Kopien kannst du behalten – ich habe neue machen lassen. Dein Chef hat übrigens schon einen Satz, falls du vorhast, ihn zu informieren.« Er ging zur Tür, blieb aber nochmals stehen. »Sollten das doch deine Unterschriften sein, kannst du dich auf was gefaßt machen!« Er verließ den Raum.

Nat blieb sitzen und starrte die Zeichnungen an. Die Unterschriften waren deutlich zu lesen: N.H. Wilson – Nathan Hale Wilson. Er griff nach dem Telefonhörer, wählte eine Nummer und sagte zu Mollie Wu, Caldwells Sekretärin: »Mollie, hier ist Nat. Ich muß den Boß dringend persönlich sprechen.«

»Ich wollte Sie eben anrufen.« Ihre Stimme war ausdruckslos. »Er erwartet Sie.«

Caldwells Büro lag an einer Ecke des Gebäudes: ein riesiger, eindrucksvoller Raum. Ben Caldwell war ein kleiner schlanker Mann mit glatt nach hinten gebürstetem grauem Haar, blaßblauen Augen und kleinen, fast zierlichen Händen. Er war ordentlich, ruhig, nüchtern und in Fragen, die Kunst und Architektur betrafen, geradezu unerbittlich. Als Nat anklopfte und hereinkam, stand er an einem der Fenster, von dem aus er die Skyline Manhattans vor sich hatte. »Nehmen Sie Platz«, forderte er Nat auf und blieb unbeweglich stehen.

Nat setzte sich und wartete.

Caldwell blieb noch eine Minute am Fenster, bevor er an seinen Schreibtisch zurückkam. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Er zeigte auf die Fotokopien, die vor ihm lagen. »Kennen Sie die, Nat?«

»Ja, Sir. Und ich habe mit Giddings gesprochen.« Er machte eine Pause. »Um nochmals festzuhalten: diese Unterschriften stammen nicht von mir. Ich hätte die Elektroinstallation nie ohne Lewis’ Zustimmung geändert.« Joseph Lewis & Co., Elektroingenieure.

»Theoretisch wäre diese Zustimmung für jede Änderung erforderlich gewesen«, stellte Caldwell fest. »Aber jemand hat sie auch so genehmigt – anscheinend mit der Autorität meines Büros.« Klar, logisch, präzise.

»Aber warum gerade mit meinem Namen?« fragte Nat.

»Wie meinen Sie das?«

»Warum nicht mit Lewis’ Unterschrift? Das wäre logischer gewesen. Und bestimmt unauffälliger.«

»Will Giddings hat mir bestätigt, daß niemand etwas aufgefallen ist«, sagte Caldwell. Er zeigte auf die Fotokopien. »Die sind erst jetzt zum Vorschein gekommen.«

»Dann wissen wir nicht einmal, ob die Änderungen wirklich vorgenommen worden sind«, wandte Nat ein. »Die Genehmigungen hätten sonst …«

»Hätten, hätten!« unterbrach Caldwell ihn scharf. »So kommen wir nicht weiter.« Er machte eine Pause. »Gut, Sie haben recht«, stimmte er dann zu. »Wir wissen nicht, ob diese Änderungen vorgenommen worden sind. Wir kennen auch ihre möglichen Auswirkungen nicht.« Er beobachtete Nat. »Dafür sollten wir uns interessieren, nicht wahr?«

»Ja, Sir. Aber nicht nur dafür.«

»Wofür noch?« erkundigte Caldwell sich.

»Warum diese Genehmigungen überhaupt gefälscht worden sind. Warum mein Name auf ihnen erscheint. Wer …«

»Diese Fragen haben Zeit«, wehrte Caldwell ab. »Ich verstehe Ihre persönliche Betroffenheit, aber ich teile sie nicht. Mir geht es um das Gebäude und die Integrität dieser Firma. Ist das klar?«

»Ja, Sir«, murmelte Nat.

Er verließ das große Büro und ging im Vorzimmer an Mollie Wu vorbei. Mollie, eine hübsche zierliche Chinesin, zog die Augenbrauen hoch. »Probleme, Freund?«

»Haufenweise«, antwortete Nat bedrückt. Ihm wurde allmählich klar, welche Folgen willkürliche Änderungen der komplizierten Elektroinstallation haben konnten. »Und vorläufig weiß ich noch nicht einmal, wo ich anfangen soll«, fügte er hinzu.

»Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt«, sagte Mollie. »Ob das von Konfuzius oder dem Vorsitzenden Mao stammt, weiß ich nicht – aber es ist jedenfalls wahr.«

Nat ging in sein Büro zurück, setzte sich an den Schreibtisch und starrte abwechselnd die Baupläne an den Wänden und die Fotokopien an. Beides zusammen ergab ein hochexplosives Gemisch. Ob er die Änderungen genehmigt hatte oder nicht, spielte keine Rolle. Wichtig war nur, daß sie genehmigt und vielleicht auch ausgeführt worden waren, daß Pfuscharbeit geleistet und Qualitätsnormen bewußt unterschritten worden waren. Warum?

Aber das war die falsche Frage. Vorläufig ging es um die Wirkung, nicht um die Ursache. Und die Wirkung ließ sich nicht hier am Schreibtisch feststellen.

Nat faltete die Fotokopien zusammen, schob sie in den Umschlag und steckte sie ein. Draußen am Empfang blieb er kurz stehen, um Jennie zu sagen, wohin er wollte. »Zum Tower, Kleine. Ich bin wahrscheinlich nicht zu erreichen. Ich werde selbst anrufen.«

2

10.05–10.53

Die Sonne stand jetzt höher am Himmel und beschien die Tower Plaza, wo die Absperrgitter ordnungsgemäß aufgestellt waren und den Platz so halbierten, daß ein breiter Gang von der Straße bis zu der vor den Arkaden errichteten Plattform freiblieb.

»Dort steigen die VIPs aus ihren Limousinen«, sagte Patrolman Shannon, »und lächeln dem Volk zu und schreiten wie Könige und Königinnen zur Plattform …«

»Um dort alle die gleichen Reden zu halten«, warf Barnes ein. »Sie werden die amerikanische Mutter, die Vereinigten Staaten von Amerika und den menschlichen Erfindergeist loben. Die Politiker werden dezent um Wählerstimmen werben und …« Er lächelte entschuldigend.

»Das kommt nur daher«, meinte Shannon lächelnd, »daß du gegen Könige und dergleichen bist, während ich für sie schwärme. Stell dir vor, wie es wäre, wenn es nur kleine farblose Leute gäbe, keine Genies, die Gewaltiges schaffen, keine Heldensagen, keine gigantischen Gebäude wie dieses hier. Wie würde unser Leben dann aussehen?«

»Vielleicht besser.«

»Du liest zuviel«, behauptete Shannon. »Daher kommen deine verrückten Ideen.« Er zeigte auf das silberglänzende Gebäude. »Hättest du nicht gern daran mitgearbeitet? Ein stolzer Bau, der zum Himmel aufragt, und dein Name auf einer Bronzetafel, damit jeder weiß, daß du daran beteiligt warst. Na, wie wär’s damit?«

»Generalunternehmer«, las Barnes vor. »Bertrand McGraw und Companie.« Diesmal grinste er amüsiert. »Die Iren haben doch überall die Finger drin! Glaubst du, daß McGraw sich ehrlich vom Mörtelträger hochgearbeitet hat?«

»Hast du dich etwa ehrlich vom Sklaven hochgearbeitet, du schwarzer Halunke?«

»Ja, Sir, Boß.« Sie grinsten sich an.

»Ich kenne Bert McGraw zufällig«, sagte Shannon. »Ein richtiger Gentleman, kann ich dir sagen! Wenn er am St. Patrick’s Day auf der Fifth Avenue seinen Dudelsack spielt …« Er machte eine Pause. »Heute nachmittag kommt er natürlich auch. Das würde ich an seiner Stelle ebenfalls tun.«

»Ich würde mich irgendwo verstecken, glaube ich«, antwortete Barnes. »Ich hätte Angst vor der Hybris.«

»Du und deine Fremdwörter!«

»Hybris bedeutet frevelhafter Übermut, der die Rache der Götter herausfordert.«

Shannon runzelte nachdenklich die Stirn. Dann lächelte er wieder. »Du liest zuviel, Frank. Was sollten deine Götter diesem Bau anhaben können?«

 

Nat ging die 30 Blocks von seinem Büro bis zum World Tower zu Fuß, um durch körperliche Bewegung einen Teil seines Ärgers abzureagieren.

»Andere Männer spielen aus dem gleichen Grund Golf oder Tennis, glaube ich«, hatte er Zib einmal erklärt. »Um sich abzulenken und ihre Probleme eine Zeitlang dem Unterbewußtsein zu überlassen. Ich gehe statt dessen zu Fuß. Ich habe nichts gegen Golf oder Tennis, aber als Jungen haben wir andere Dinge getan. Wir gingen fischen, jagen, bergsteigen und Ski fahren.« Deshalb hatte er noch immer das Gefühl, nicht hierher in den Osten zu passen. »Ein primitives Leben, weißt du. Was für dich selbstverständlich war, habe ich nie gekannt. Von Golf und Tennis habe ich keine Ahnung. Ich bin kein guter Schwimmer. Ich kann nicht segeln.«

»Früher ist mir das alles wichtig vorgekommen«, hatte Zib zugegeben, »aber darüber bin ich längst hinaus. Ich habe dich aus anderen Gründen geheiratet. Vielleicht hatte ich die reichen Muttersöhnchen satt, mit denen ich aufgewachsen bin.« Sie hatte plötzlich strahlend gelächelt. »Oder vielleicht, weil du nicht schon beim ersten Rendezvous versucht hast, mit mir ins Bett zu gehen.«

»Wie ungehobelt von mir! Wärst du denn mitgegangen?«

»Möglich. Nein, wahrscheinlich. Ich habe dich attraktiv gefunden.«

»Du warst bezaubernd, aber durch deine Selbstsicherheit ein bißchen erschreckend.«

Daran hatte sich auch nach knapp drei Ehejahren nichts geändert.

Nat behielt sein gleichmäßiges Tempo bei und blieb nur stehen, wenn eine Fußgängerampel Rot zeigte. New York gefiel ihm nicht, aber er fand sich mit der Stadt ab, weil er sie beruflich brauchte. Sie schenkte ihm Anregungen, Abwechslung und die Möglichkeit, Gleichgesinnte zu finden und mit ihnen diskutieren zu können.

Aber vor allem gab es hier Ben Caldwell mit seinem künstlerischen Einfühlungsvermögen und dem sicheren Blick für Details, den manche als Genie bezeichneten. Die sieben Jahre, die Nat mit ihm zusammengearbeitet hatte, machten alles andere reichlich wett.

Eines Tages würde er New York den Rücken kehren; darüber war er sich von Anfang an im klaren gewesen. Aber würde Zib ihn in seine Heimat begleiten oder es vorziehen, in ihrer eigenen vertrauten Umgebung zu bleiben? Schwer zu sagen und kein Thema, über das Nat gern nachdachte.

Auf der Tower Plaza waren Polizisten verteilt. Nat starrte sie zunächst überrascht an und machte sich dann wegen seiner Naivität Vorwürfe. In einer Großstadt, in der Verbrechen und Bombenandrohungen an der Tagesordnung waren, mußte selbst zu diesem Anlaß Polizei aufgeboten werden. Das hätte er sich eigentlich denken können.

Am Eingang unterhielt sich ein farbiger Polizist mit einem irischen Kollegen. Der Farbige lächelte höflich, als Nat herankam. »Ja, Sir?«

Nat wies die Plakette vor, die er auf der Baustelle getragen hatte. »Architekt«, sagte er. »Caldwell und Partner.« Er deutete auf die Bronzetafel am Eingang hin. »Ich will mich ja nur kurz umsehen.«

Der Neger lächelte nicht mehr. »Ist etwas passiert, Mr. … Mr. Wilson?« Er las den Namen von der Plakette ab, hob wieder den Kopf und studierte Nats Gesichtsausdruck.

»Routine«, wehrte Nat ab und dachte: Verdammt noch mal, du redest wie ein Held in einem Fernsehkrimi.

»Das hat mich wirklich nachdenklich gemacht«, sagte Patrolman Barnes später, »aber ich hatte noch immer nur das vage Gefühl, wir hätten den Mann mit dem Werkzeugkasten aufhalten sollen. Aber so was kann leicht zu einem Polizeiskandal aufgebauscht werden. Amtsmißbrauch durch Polizeibeamte, harmlose Bürger als Opfer polizeilicher Willkür und so weiter …« Eine Pause. »Trotzdem hätte ich meinem Instinkt folgen sollen.«

Jetzt sagte er nur: »Falls irgend etwas nicht in Ordnung ist, Mr. Wilson … Ich meine, falls wir etwas für Sie tun können …«

Nat blieb in der großen Eingangshalle stehen, weil er kein bestimmtes Ziel hatte. Daß er hierhergekommen war, ließ sich mit der instinktiven Reaktion eines Mannes vergleichen, dem sein Pferd gestohlen wurde und der den leeren Pferdestall mit eigenen Augen sehen will. Nat wußte, daß er nichts ausrichten konnte, solange die Sache nicht von Elektrikern gründlich überprüft worden war.

Aber er war nun einmal hier, und sein Instinkt trieb ihn weiter. Er durchquerte die leere Halle, um zu den Aufzügen zu gelangen, und drückte auf den Knopf eines Aufzugs zum 14. Stock.

Er hörte das leise Summen der Drahtseile, als der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte. Die grünen Ziffern auf der Anzeigetafel leuchteten nacheinander auf, während die Kabine nach unten glitt. Nat betrat die Kabine, als die Tür sich öffnete – und blieb einen Moment wie angewurzelt stehen.

Irgendwo im hohlen Kern des Gebäudes, der die vielen Fahrstuhlschächte enthielt, hörte er ein anderes Kabel surren. Es mußte ein zweiter Aufzug in Betrieb sein.

Automatisch schloß sich die Kabinentür hinter Nat, und er stand im Dunkeln. Er tastete nach dem Lichtschalter und horchte noch einige Sekunden lang. Das andere Drahtseil summte noch, aber dann hielt der Aufzug, und man hörte nichts mehr.

Wer könnte das gewesen sein? Nat konnte nur Vermutungen anstellen. Vielleicht ein Arbeiter, der noch etwas zu erledigen hatte. Er konnte irgendwo in einem der 125 Stockwerke sein. Du bist nervös, Nathan Hale; die Fälschungen haben dich erschreckt.

Er fuhr in den achten Stock hinauf und stieg eine kurze Treppe hinunter, um das zweite der insgesamt fünf Installationsgeschosse zu erreichen.

Hier wie auch im Keller und im 45., 85. und 123. Stock hätte selbst ein Nichtfachmann begriffen, wie komplex und weitverzweigt dieses Gebäude und seine Versorgungseinrichtungen waren.

Dicke Elektrokabel leiteten den Strom weiter, der aus einer nahen Umspannstation ins Kellergeschoß eingespeist wurde: 14000 Volt, mehr als genug für einen tödlichen Schlag.

Und hier erzeugten Transformatoren die Stromspannungen, die benötigt wurden, um die vertikalen Abschnitte des Gebäudes zu beheizen, zu kühlen, zu belüften und mit Haushaltstrom zu beliefern.

Ohne Elektrizität war dieser große Bau mit seiner verwirrenden Kompliziertheit eine nutzlose Anhäufung von Stahl und Beton, von Glas und Aluminium, von Kabeln, Schächten und Leitungen. Ohne Elektrizität war das Gebäude ohne Licht, Heizung, Belüftung, Aufzüge, Rolltreppen, Computer und Überwachungsanlagen. Ohne Elektrizität war der Tower blind und stumm und nicht einmal imstande, noch zu atmen – eine tote Stadt innerhalb einer Millionenstadt, ein Denkmal menschlichen Erfindergeistes, menschlicher Eitelkeit und menschlichen Versagens, ein zweites Stonehenge oder Angkor Wat.

Nat starrte das große Hauptkabel an, das die Energie bis in das oberste Installationsgeschoß weiterleitete. Hier lag der Lebensnerv des Gebäudes ungeschützt vor ihm, und dieser Anblick erinnerte Nat an die gefälschten Pläne in seiner Jackentasche.

»Irgendein Schweinehund hat sich an diesem Job zu schaffen gemacht«, sagte er laut. »Wir müssen erst feststellen, wie groß der Schaden ist. Und danach finden wir den Kerl und machen ihn fertig!«

Es war natürlich unsinnig, sich mit leblosen Dingen zu unterhalten, aber nachdem Nat dieses Versprechen abgelegt hatte, fühlte er sich bedeutend wohler. Er fuhr ins nächste Installationsgeschoß hinauf, fand auch dort nichts – hatte auch gar nicht erwartet, etwas zu finden. Seine Besuche in den Transformatorenräumen waren nur Routine. Er benahm sich wie ein Hausbesitzer, der jeden Abend einen Blick in die Veranda wirft.

Er fuhr immer höher hinauf, und die Skyline von Manhattan blieb allmählich unter ihm zurück, bis er schließlich im 123. Stock sogar auf die Flachdächer der beiden Trade-Center-Türme hinabsehen konnte.

Er benützte noch einen Aufzug und betrat dann den Tower Room. Die Kabinentür schloß sich, und er hörte das Surren, als der Aufzug sich nach unten in Bewegung setzte. Nat runzelte die Stirn. Wer konnte da unten auf den Knopf gedrückt haben? Er wußte es nicht.

Aufmerksam beobachtete er das rote Licht, horchte auf das Surren des Kabels und versuchte zu schätzen, wo der Aufzug hielt. Zehn, fünfzehn Stockwerke tiefer? Schwer zu sagen.

Dann fuhr der Aufzug weiter. Diesmal mußte Nat lange warten, bis das Surren aufhörte. War jemand ganz nach unten gefahren? Darum brauchst du dich nicht zu kümmern, sagte er sich und trat ans nächste Fenster, um die Aussicht zu bewundern, die ihn noch immer fesselte.

Er drehte sich um, als der Aufzug wieder zu hören war. Diesmal brannte das grüne Licht über der Tür. Nat beobachtete es und wunderte sich über seine aufkommende Nervosität.

Das Surren verstummte. Das grüne Licht erlosch. Die Tür öffnete sich, und Giddings trat aus der Kabine. »Ich hab’ mich gefragt, ob ich dich hier finden würde«, sagte er langsam.

»Und warum nicht?«

Giddings zuckte die Achseln. Er sah sich im Tower Room um. An einer Wand waren bereits Tische aufgestellt worden. Bald würden Tabletts mit Kanapees, Flaschen, Gläsern und Schalen mit Nüßchen und Chips heraufgebracht werden – das Standardzubehör jeder Cocktailparty. Gleichzeitig würde Personal eintreffen: Barkeeper, Kellner und Serviererinnen die Aschenbecher ausleeren und leere Gläser einsammeln würden, während die Gäste endlos weiterredeten. Giddings warf Nat einen fragenden Blick zu. »Suchst du was?« erkundigte er sich.

»Und du?«

»Hör zu, Sonny, ich …«, begann der andere.

Nat schüttelte den Kopf. »Nein, so nicht. Wenn du eine Frage stellen willst, kannst du sie stellen. Wenn du etwas sagen willst, kannst du’s tun. Mir ist vorhin nach sieben Jahren zum erstenmal klargeworden, daß ich dich nicht sonderlich mag, Will. Ich habe dich noch nie recht leiden können, glaube ich.«

»Und seitdem ich dir die genehmigten Änderungen auf den Schreibtisch geknallt habe, hast du einen Grund dafür entdeckt, was?« fragte Giddings.

»Glaubst du das wirklich?«

»Und wenn ich’s täte?«

»Dann kannst du mich mal«, sagte Nat.

Giddings machte ein nachdenkliches Gesicht. »Keine elegante Ausdrucksweise für einen Architekten«, stellte er gelassen fest.

Der kritische Augenblick war vorüber. Aber es würde weitere geben; das war unvermeidbar. »Ich war nicht immer Architekt«, antwortete Nat. Cowboy, Fallschirmjäger, Feuerspringer, Student. »Bist du eben von ganz unten heraufgekommen?« fragte er Giddings.

Der andere ließ sich Zeit. »Warum?«

»Bist du schon vorher mit dem Aufzug gefahren?«

»Warum?« wiederholte Giddings.

»Weil jemand hier im Gebäude unterwegs war.« Das war Nat von Anfang an unerklärlich gewesen; jetzt wollte er mit jemand darüber sprechen. »Ich habe Aufzüge gehört«, sagte er. Nach einer Pause fragte er weiter: »Bist du unten auf der Plaza von der Polizei aufgehalten worden?«

Giddings runzelte die Stirn. »Ja«, bestätigte er.

»Ich bin auch kontrolliert worden.« Das stimmte nicht ganz, aber er hatte immerhin mit zwei Beamten gesprochen.

»Und du fragst dich jetzt, wer außer uns noch im Gebäude ist«, stellte Giddings fest, »und warum?«

»Richtig.«

»Vielleicht«, meinte Giddings langsam, »hast du dir das nur ausgedacht. Vielleicht ist …«

Giddings sprach nicht weiter. Er drehte sich um. Beide Männer starrten das rote Licht an, das jetzt über den Aufzugstüren brannte; beide hörten ein Kabel surren. Sie wechselten einen Blick.

»Ich erzählte keine Märchen«, sagte Nat.

»Diesmal glaube ich dir sogar«, antwortete Giddings.

»Hoffentlich erinnerst du dich nächstes Mal daran.«

Sie fuhren in die leere Eingangshalle hinunter und traten auf die Plaza hinaus. Nat sah den farbigen Polizisten und dessen irischen Kollegen am Eingang stehen. Giddings hörte ihnen schweigend zu. Nat wandte sich an die Polizisten. »Ist außer uns beiden noch jemand hineingegangen, seit Sie hier stehen?«

»Warum fragen Sie danach, Mr. Wilson?« erkundigte sich Barnes, der schwarze Polizist.

»Großes Gebäude«, sagte Shannon, der Ire. »Nicht der einzige Eingang.« Er zuckte mit den Schultern. »Hausmeister, Techniker, Monteure und so weiter.«

»Ist jemand hineingegangen?« wiederholte Nat.

»Ja, ein Elektriker«, antwortete Barnes. »Er hatte eine dringende Reparatur auszuführen.«

»Von wem hat er den Auftrag bekommen?« warf Giddings ein.

»Daran habe ich auch gedacht.« Barnes zögerte. »Vielleicht etwas zu spät.« Er machte eine Pause. »Ist das wichtig, Mr. Wilson?«

»Das weiß ich nicht«, gab Nat zu. Er dachte an die geänderten Pläne in seiner Tasche und war sich darüber im klaren, daß sie an seiner Nervosität schuld waren. Aber es konnte keinen Zusammenhang zwischen ihnen und dem Mann geben, der sich in dem Gebäude aufhielt, weil die Pläne längst fertiggestellte und abgenommene Arbeiten betrafen. »Er fährt mit den Aufzügen«, sagte er.

Shannon grinste breit. »Na, was macht das schon? Er hat eben Lust, ein bißchen spazierenzufahren.«

»Ein Elektriker«, wiederholte Giddings. »Hat er irgend etwas getragen?«

»Einen Werkzeugkasten«, antwortete Barnes.

»Nein, Frank, das war eine Atombombe!« widersprach Shannon. Er deutete die Größe mit den Händen an. »Auf einer Seite grün, auf der anderen purpurrot mit …«

»Schon gut, Mike«, wehrte Barnes ab. Er wandte sich an Nat. »Nur einen Werkzeugkasten. Und er hat seinen Schutzhelm aufgehabt.«

»Ist er wieder herausgekommen?«

»Hier nicht«, sagte Barnes. »Vielleicht durch einen anderen Ausgang …« Er zögerte. »Aber die anderen sind abgeschlossen, stimmt’s, Mr. Wilson?«

»Sie sollten jedenfalls geschlossen sein«, stellte Giddings fest. Er sah zu Nat hinüber. »Am besten sehen wir nach.«

Die anderen Türen waren alle zugesperrt. »Keine Nachtwächter?« fragte Nat. »Kein Sicherheitsdienst?«

»An jedem anderen Tag wären hier um diese Zeit Dutzende von Kolonnen unterwegs«, antwortete Giddings. »Das weißt du so gut wie ich. Und wer nicht hierhergehört …«

»Hmmm«, meinte Nat nachdenklich. »Das habe ich mir noch nie überlegt, aber in einem so großen Gebäude, in dem so viele Leute durcheinanderlaufen …« Er schüttelte den Kopf. »Fische im Meer, völlig unauffällig.« Nat sah sich schweigend in der Eingangshalle um. »Daran habe ich noch nie gedacht«, erklärte Giddings. »Ist dir das nicht klar?«

Der andere schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß nicht einmal, wovon du redest.«

»Wir bauen ein Gebäude möglichst offen, damit die Leute ungehindert kommen und gehen können«, sagte Nat.

»Und?«

»Deshalb ist es seiner Konstruktion nach sehr gefährdet«, antwortete Nat.

»Wodurch?«

Nat zuckte die Schultern. »Durch alles. Durch jeden.«

3

11.10–12.14

Für John Connors war die Herumfahrerei in den Aufzügen eine interessante, ja sogar angenehme Beschäftigung, denn glatt und tadellos funktionierende Maschinen hatten ihn schon immer fasziniert. Sollte man nach ihm suchen, was irgendwann der Fall sein würde, gab es kaum eine bessere Methode, die Suchenden irrezuführen, als wahllos Aufzüge zu benutzen und leere Kabinen hinauf- und hinunterzuschicken.

Er kannte das Gebäude, hatte sich aber nicht überlegt, wie es sein würde, wenn es menschenleer und nur von Echos erfüllt war. Es erschien ihm wie eine Kathedrale, in der er der einzige Besucher war – ja noch gewaltiger. Er versuchte, eine Analogie zu finden. Wie ein menschenleeres Yankee-Stadion, sagte er sich.

Wenn er seine Schritte durch einen Korridor hallen hörte, aus den Fensterreihen sah, wo die Welt unter ihm lag, und daran dachte, daß er nur eine einzige Chance hatte, das zu tun, was getan werden mußte, hatte er das Gefühl, betend auf den Knien zu liegen, und spürte tief in seinem Inneren, daß sich etwas Großes anbahnte.

»Einige entschlossene Männer können den Ablauf großer Ereignisse verändern.« Er wußte nicht mehr, wo er das gehört hatte, aber das Zitat gefiel ihm. Es klang irgendwie großartig. Entschlossene Männer. Helden. Ein Flugzeug entführen und damit durchkommen. Ein ganzes Olympisches Dorf terrorisieren. Einige entschlossene Männer. Oder ein einzelner Mann. Das verschafft einem Gehör; dann ist man plötzlich wer.

Hier war natürlich Elektrizität entscheidend. Elektrizität schien heutzutage überall eine Schlüsselrolle zu spielen. Connors erinnerte sich an den New Yorker Stromausfall vor einigen Jahren, wo alles, wirklich alles zum Stillstand gekommen war und manche Leute sogar geglaubt hatten, das Ende der Welt sei da. Natürlich nicht alle, denn der genau neun Monate später einsetzende Babyboom bewies, daß viele die Dunkelheit ausgenützt hatten. Aber zuerst wäre fast eine Panik ausgebrochen – und daran mußte man sich erinnern.

Er verstand nicht viel von Elektrotechnik, obwohl er sich dem schwarzen Polizisten gegenüber als Elektriker ausgegeben hatte, aber er hatte hier im Gebäude gearbeitet und wußte ungefähr, wie die Stromversorgung funktionierte. In jedem Installationsgeschoß gab es einen Verteilerraum, und Connors hatte den Elektrikern dort oft bei der Arbeit zugesehen. Er erinnerte sich, wie sie zuerst den Stahlmantel und dann die schwarze Isolierung aufgeschnitten hatten, um zum Kupferkabel zu gelangen, durch das der Strom floß.

Connors wußte, daß in jedem Installationsgeschoß Transformatoren standen, die für je einen Vertikalabschnitt des Gebäudes die Spannung regulierten. Außerdem wurde von hier aus der Strom in unverminderter Stärke ins nächsthöhere Installationsgeschoß weitergeleitet. Die ursprüngliche Stromspannung mußte sehr hoch sein – vielleicht sogar 500 Volt, denn wozu wären sonst Transformatoren nötig?

Sein Plan war, die Stromversorgung im obersten Installationsgeschoß zu unterbrechen, um den Tower Room, in dem der Empfang stattfinden sollte, zu isolieren. In seinem Werkzeugkasten hatte er ein kurzes Brecheisen und etwas gestohlenen Plastiksprengstoff. Das würde genügen, um ein richtiges Feuerwerk – wie am Unabhängigkeitstag – zu veranstalten.

Aber je länger Connors darüber nachdachte, desto mehr drängte sich ihm die Frage auf, warum er sich auf die oberen Stockwerke beschränken sollte. Warum demolierte er nicht gleich die Schaltzentrale unten im Keller, wo die Erdkabel von der Umspannstaion hereinkamen? Warum sich mit einem Teilerfolg zufriedengeben, wenn man alles erreichen konnte? Eine ausgezeichnete Idee!

Bis dahin mußte er allerdings außer Sicht bleiben, was nicht allzu schwierig sein konnte. Und falls er wirklich Pech haben sollte, war es besser, darauf vorbereitet zu sein.

Er öffnete seinen Werkzeugkasten, nahm das Brecheisen heraus und wog es prüfend in der Hand. Die richtige Waffe für einen Mann, und er war entschlossen, sie notfalls rücksichtslos zu benützen.

 

Als Nat Wilson und Giddings das Gebäude verließen, wurde auf der Plaza eben die niedrige Plattform errichtet. Giddings betrachtete sie angewidert. »Ansprachen«, sagte er. »Der Gouverneur gratuliert dem Oberbürgermeister, und der Oberbürgermeister gratuliert Grover Frazee, und ein Senator versucht zu beweisen, daß dieser Bau ein Segen für die Menschheit ist, weil …«

»Vielleicht ist er das wirklich«, warf Nat ein. Er dachte an Ben Caldwell, der den World Tower einmal mit dem Leuchtturm auf der Insel Pharos, dem siebten Weltwunder, verglichen hatte. »Ein Kommunikationszentrum für die ganze Welt und …«

»Blödsinn!« unterbrach Giddings ihn. »Der Tower ist ganz einfach ein riesiges Gebäude, wie’s ohnehin schon zu viele gibt.«

Er leidet unter seiner Haßliebe zu diesem Bau, an dem er selbst mitbeteiligt war, dachte Nat. »Du kannst ja hierbleiben und den Tower beschimpfen«, schlug er ironisch vor.

»Und wohin willst du?«

Die Sticheleien, mit denen sie sich bisher begnügt hatten, drohten in offenen Streit auszuarten. Nat hatte nichts dagegen, aber er wollte diese Entwicklung nicht gerade fördern. »Zu einem Mann, zu dem längst jemand hätte gehen müssen«, antwortete er. »Ich will zu Joe Lewis, um ihn nach den Änderungen zu fragen.« Er ging über die Plaza davon und nahm dabei seine Ansteckplakette ab.

Diesmal fuhr er mit der U-Bahn zur Grand Central Station, ging zwei Blocks weit die Park Avenue zurück zum Architects Building und fuhr mit dem Aufzug in den neunten Stock hinauf. Dort stand an einer Glastür JOSEPH LEWIS & CO. – ELEKTROINGENIEURE.

Die Büros und Zeichensäle der Firma nahmen fast ein ganzes Stockwerk ein.

Joe Lewis arbeitete in Hemdsärmeln in seinem großen, unaufgeräumten Büro. Er war untersetzt, stämmig, energisch und direkt. »Falls Sie mit einem neuen Auftrag kommen«, sagte er abwehrend, »können Sie Ben ausrichten, daß ich noch mindestens ein halbes Jahr lang bis über beide Ohren in der Arbeit stecke. Wenn er so lange warten kann, bin ich …«

Nat warf den braunen Umschlag auf den Schreibtisch. Er sah zu, wie Joe danach griff, die geänderten Pläne herauszog, die Zeichnungen prüfend betrachtete und die Fotokopien nacheinander fallen ließ, als stünden sie unter Strom. Dann sah Joe wütend zu ihm auf. »Haben Sie das alles genehmigt?« fragte er aufgebracht. »Wer hat Ihnen das Recht dazu gegeben, verdammt noch mal?«

»Ich habe die Kopien heute morgen zum erstenmal gesehen.«

»Das ist Ihre Unterschrift!«

Nat schüttelte den Kopf. »Jemand muß sie gefälscht haben«, antwortete er. Das klang von Mal zu Mal weniger überzeugend. Irgendwann werde ich’s selbst nicht mehr glauben, dachte er.

»Wer?« wollte Joe wissen.

»Keine Ahnung«, gab Nat zu.

Joe tippte mit dem Zeigefinger auf die Pläne. »Sind diese Änderungen tatsächlich ausgeführt worden?«

»Das müssen wir erst feststellen.« Bisher war ihr Gespräch etwas ziellos, aber Nat mußte erst die Grundlagen schaffen.

»Und was wollen Sie von mir? Ich habe einwandfreie Pläne für die gesamte Elektroinstallation geliefert. Wenn danach gearbeitet worden ist, anstatt …«

»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, Joe.« Im Augenblick nicht, dachte Nat, aber vorerst hat noch keiner seinen Freispruch in der Tasche. »Ich möchte von Ihnen eine Einteilung in Dringlichkeitsstufen. Welche Änderungen müssen vordringlich geprüft werden, welche …«

»Alle! Jede einzelne verdammte Änderung – und wenn Sie dabei den halben Bau demontieren müssen! Ich bestehe darauf!« Er holte tief Luft. »Verdammt noch mal, Mann, für die Elektroinstallation muß schließlich ich geradestehen!«

»Und wir. Ja, das ist mir klar.« Warum begriff Lewis noch immer nicht, worauf es jetzt ankam? »Aber welche sollen wir als erste überprüfen? Welche als zweite? Und so weiter. Sie sind der Fachmann. Stellen Sie uns eine nach Dringlichkeit geordnete Liste auf, damit wir McGraws Leute darauf ansetzen können.«

Lewis sank in seinen Bürosessel zurück. »McGraw«, wiederholte er. »Nein, Bert kann nichts damit zu tun gehabt haben.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ausgeschlossen! Wer für Bert McGraw arbeitet und Schund liefert, nach Provisionen angelt oder Baukontrolleure zu schmieren versucht, kann sich darauf verlassen, daß der Alte ihn mit einem Tritt in den Hintern auf die Straße befördert.«

Nat setzte sich ebenfalls. »Richtig, das habe ich auch gehört«, bestätigte er. »Aber ich kann natürlich nicht beurteilen, ob es stimmt.« Im Grunde genommen glaubte er allerdings selbst nicht recht, daß Bert McGraw etwas mit dieser Sache zu tun gehabt haben sollte.

»Der alte McGraw ist in Ordnung!« versicherte Joe Lewis ihm. »Für den lege ich die Hand ins Feuer!«

Nat nickte langsam. »Haben Sie schon früher mit Paul Simmons zusammengearbeitet?« erkundigte er sich dann.

»Seitdem er McGraws Tochter geheiratet und sein Schwiegervater ihm geholfen hat, eine eigene Firma zu gründen.«

»War das damals so? Das habe ich nicht gewußt.«

»Paul ist ein kluger Junge.« Lewis starrte die geänderten Pläne nachdenklich an. »Glauben Sie, daß er diese Änderungen vorgenommen hat? Daß er Ihre Unterschrift gefälscht hat?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist unwahrscheinlich. So etwas kommt früher oder später wie in diesem Fall zum Vorschein, und dann fragt jeder: ›Wer hat den Nutzen gehabt?‹ Der Subunternehmer für die Elektroinstallation gerät logischerweise als erster in Verdacht: er erbringt weniger als die vertraglich vereinbarte Leistung und verdient dadurch mehr. Aber das ist zu offensichtlich, zu einfach. Und wozu soll er das Geld brauchen? Er hat vielleicht sogar Geld geerbt und hat vor allem Bert McGraw als Schwiegervater. Warum sollte er sich mit solchen Sachen abgeben?«

»Dann hat also niemand Grund gehabt, diese Änderungen zu genehmigen«, stellte Nat fest. Er lächelte humorlos. »Aber sie tragen jedenfalls meinen Namen. Wunderbar! Lassen Sie bitte die Liste aufstellen? Das Wichtigste zuerst, auch wenn wir alles wieder aufreißen müssen. Diese Sache muß einfach in Ordnung gebracht werden.«

Er ging wieder zu Fuß; für ihn war das eine ganz automatische Reaktion. Die Park Avenue entlang bis zur 42