Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft - Guido Eckert - E-Book

Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft E-Book

Guido Eckert

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Beschreibung

Der erste Ratgeber der zeigt, dass Weisheit erlernbar ist Eine weit verbreitete Ansicht über die Weisheit geht davon aus, dass Weisheit etwas sei, das sich zwar mühsam, aber ganz automatisch mit zunehmendem Alter einstelle. Diese Ansicht ist in zweierlei Hinsicht falsch. Zum einen ist nicht jeder Greis zwangsläufig weise. Zum anderen lässt sich Weisheit durchaus kultivieren und auch schon in jüngeren Jahren praktizieren. Und um diese Praxis geht es in dem neuen Buch von Guido Eckert. Es lehrt Weisheit. Es zeigt konkret, welche Blockaden im Denken gelöst werden müssen, um weise zu werden. In zehn Schritten. Für jeden Bildungsgrad, ohne Vorkenntnisse. In 10 Schritten lernt man beispielsweise ganz konkret, * wie man tatsächlich in der Gegenwart leben kann * wie man endlich mit seinem Unverstehen besser umgeht * wie man sich wirklich aussöhnt mit seinen Verletzungen * wie man richtig hingebungsvoll ist und das eigene Ich vergisst * wie man endgültig loslässt und mit sich selbst in Frieden lebt * wie man unglaubliche Potentiale in sich erweckt Kurz: Eine praktische Anleitung, wie man dem durchtriebenen Verstand seine Grenzen aufzeigt, wenn er es mal wieder übertreibt. Jedes Kapitel pustet das Hirn frei und dient dem Weg zur Weisheit. - Geht das? Und ob!

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Guido Eckert, Jahrgang 1964, hat als Autor unter anderem für Vanity Fair, für die Süddeutsche Zeitung und das Zeit-Magazin geschrieben. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in einem kleinen Dorf im Sauerland. Neben Reportagen schreibt er Romane und Erzählungen. Sein letztes, vieldiskutiertes Sachbuch ist Zickensklaven. Wenn Männer zu sehr lieben (Solibro).

Preise:

1991  Axel-Springer-Preis für junge Journalisten

1997  Theo dor-Wolff-Preis für literarischen Journalismus

1998  Förderpreis des Landes Nordrhein-Westfalen für Literatur

Guido Eckert

DER VERSTAND IST EIN DURCHTRIEBENER SCHUFT

SOLIBRO Verlag Münster

1. Guido Eckert:

Zickensklaven. Wenn Männer zu sehr lieben.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2009

ISBN 978-3-932927-43-0 (Broschur)

ISBN 978-3-932927-59-1 (E-Book)

2. Peter Wiesmeier:

Ich war Günther Jauchs Punching-Ball!

Ein Quizshow-Tourist packt aus.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2010

ISBN 978-3-932927-58-4 (E-Book)

3. Guido Eckert:

Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft.

Wie Sie garantiert weise werden.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2010

ISBN 978-3-932927-47-8 (Broschur)

ISBN 978-3-932927-60-7 (E-Book)

4. Maternus Millett:

Das Schlechte am Guten.

Weshalb die politische Korrektheit scheitern muss.

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2011

ISBN 978-3-932927-46-1 (Broschur)

eISBN 978-3-932927-61-4 (E-Book)

eISBN 978-3-932927-60-7 (E-Book)

1. Auflage 2010 / Originalausgabe

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2010

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagfotos: Getty Images / Li Kim Goh

Foto des Autors: privat

www.solibro.de        verlegt. gefunden. gelesen.

»Was fehlt zu Ihrem Glück?«

»Die Erkenntnis, dass nichts fehlt.«

Helge Timmerberg

INHALT

Vorwort

Erster Schritt: Die Nase

Warum wir keine Voraussetzungen mitbringen müssen, um »Leichtigkeit« zu leben. Und wie wir es schaffen können »das Wesentliche« zu sehen.

Zweiter Schritt: Die Faust

Wie wir lernen uns selbst zu beobachten, um zu sehen, wie wir wirklich sind. Und warum wir nur dann frei sind, wenn wir uns beherrschen. Ohne unsere Leidenschaften zu bekämpfen.

Dritter Schritt: Das Knie

Warum unsere Wunden so wichtig sind. Und wie wir unsere Wut umwandeln können. Über die Abgründe dieser Welt auch in uns und die Aussöhnung mit unseren Schwächen und denen der anderen.

Vierter Schritt: Das Auge

Warum wir unentwegt und ausschließlich in der Gegenwart leben sollten und der Alltag dabei ein ideales Übungsfeld ist. Um einen Zustand von Einheit und von Frieden zu erreichen. Und warum wir unsere Sorgen loslassen müssen.

Fünfter Schritt: Das Ohr

Warum wir alle eine bestimmte Sehnsucht in uns tragen und wir deshalb dualistische Gedanken aufgeben sollten. Denn alles ist miteinander verbunden.

Sechster Schritt: Der Mund

Warum wir uns das Leben auf der Zunge zergehen lassen müssen. Und warum wir für alles danken werden. Ohne Widerstände.

Siebter Schritt: Der Rücken

Warum das Scheitern zum Leben gehört und wie wir uns von Illusionen lösen können. Bis wir uns vor dem Leben verbeugen.

Achter Schritt: Die Zunge

Warum Schweigen ein Heilmittel darstellt, um freizukommen vom pausenlosen Beurteilen und Verurteilen. Und wie wir es schaffen, nicht mehr über andere Menschen zu reden.

Neunter Schritt: Der Po

Warum es das größte Abenteuer ist, sich selbst zu begegnen. Und wie wir lernen ruhig zu bleiben, wenn uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Über die grundlegenden Gemeinsamkeiten der Meditationsformen.

Zehnter Schritt: Die Träne

Warum wir nichts bereuen sollten. Und warum all das, wonach wir uns sehnen, schon Teil unseres Leben ist. Und wie wir es schaffen, uns mit unserer Biografie zu versöhnen.

Nachwort

Quellen

Literaturverzeichnis

Weise hätt ich schon gern sein woll’n, wenn’s net so anstrengend g’wesen wär.

frei nach Karl Valentin

Vorwort

Karl Valentin ist leider nicht mehr zu helfen. Dabei wäre dieses Buch wie für ihn gemacht (wenn er denn überhaupt noch einen Zugang zur Weisheit benötigt hätte). Denn es hilft, ohne anzustrengen.

Es besteht vor allem aus Handlungsvorschlägen und Erklärungen, ist also keine intellektuelle Auseinandersetzung mit philosophischen Denkströmungen der vergangenen Jahrtausende. Jedes Kapitel soll das Hirn freipusten und dient nur dem Weg zur Weisheit.

Geht das? Und ob!

Wir machen gerne den Fehler, Weisheit mit einer stattlichen Bibliothek oder zumindest mit einem beeindruckenden Wissen zu verbinden, dabei waren viele beeindruckende Persönlichkeiten der Vergangenheit, die wir als weise kennen, keine Intellektuellen. Auch die sogenannten Wüstenmönche waren bis auf wenige Ausnahmen keine Gelehrten, sondern von einfacher Herkunft, Bauern oftmals (die mit der berühmten spezifischen Schläue), die weder lesen noch schreiben konnten. Und die oft nur nach wenigen, klaren »Vorschriften« lebten.

Seit mehr als zwanzig Jahren fasziniert mich deshalb schon die Idee eines »Handbuchs der Weisheit«. In der es darum geht, aus möglichst vielen Weisheitstexten der vergangenen Jahrtausende nicht den bekannten inhaltlichen Kern, sondern nur die handwerklichen (mentalen) Grundlagen, sozusagen die »Fingertechnik« herauszufiltern. Wenn ich mit anderen Menschen über diese Idee sprach, gab es stets auch Kritiker, die mir vorhielten, es genüge zu meditieren. Man brauche keine Grundlagen. Jeder Unbedarfte aber, der schon einmal versucht hat »einfach so« zu meditieren, wird wissen, dass es eben nicht möglich ist »einfach so« zu meditieren. Die Gedankenflut erweist sich als zu verwirrend, ein unerwartetes Gefühlschaos wühlt unkontrolliert auf und das Unterbewusstsein drängt sich mit belastenden Inhalten in den Vordergrund.

Erst, wenn wir wirklich begriffen haben, was sich in unserem Inneren abspielt, sind wir in der Lage ruhig und »leer« zu werden. Und deshalb stehen diese mentalen Zusammenhänge in den einzelnen Kapiteln immer wieder im Mittelpunkt.

Aus diesem Grund ist es auch so wichtig, dass dieses Buch »funktioniert«. Alle diese Varianten sind erprobt und haben bei verschiedenen Menschen Wirkung gezeigt (was leider nicht automatisch heißt, dass es bei allen Menschen unbedingt zum Erfolg führt). Ihre Auswahl erfolgte also einzig und allein aus diesem Grund: weil es das Denken, Fühlen und Leben tatsächlich verändern kann.

Anders gesagt: Dieses Buch trainiert das »Fahren«. Unabhängig vom Fortbewegungsmittel und der Richtung. Ob Sie im Sportwagen oder auf hoher See, ob Sie letztlich nach Norden oder Süden, Westen oder Osten, nach links, rechts oder rückwärts steuern, das bleibt Ihnen überlassen.

Für die meisten Menschen ist es wichtig, überhaupt fahren zu lernen. Dieses Buch sagt Ihnen nicht, wohin.

Natürlich gab und gibt es Vorbehalte gegen so ein Vorhaben. Schließlich verbinden wir Weisheit gerne (ungeprüft) mit einem biblischen Alter, möglichst gekoppelt an eine umfangreiche Erfahrungsliste. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Außer vielleicht, dass es eine große Zahl älterer Menschen gibt, die von Weisheit ebenso weit entfernt sind, wie Steinkohle von Schokoladentorte. Unsere Straßen, auffälliger noch: Unsere Fernsehkanäle wimmeln von alten Idioten, die sich für wenige Euro zum Narren machen und deren größtes Ziel zu sein scheint, für jünger gehalten zu werden.

Ebenso gibt es eine große Zahl Menschen, die zwar stetig und emsig durch die Welt brettern, aber außer einer Armada von (digitalen) Fotos und einem Schwall von belanglosen Eindrücken kaum etwas vorzuweisen haben.

»Ich sehe nirgendwo weise Menschen«, sagte kürzlich eine Frau in einem Fernsehinterview. »Eher Leute, die sich von den modernen Kommunikationsmitteln verrückt machen lassen. Wir lesen oberflächlich, wir schreiben keine Briefe mehr, zappen unruhig durch Fernsehen und Internet – aber mit Weisheit hat das alles nichts zu tun.«

Dabei gab es noch nie so viele alte Menschen in unserem Land. Auf der anderen Seite wurde Jesus Christus mit Ende zwanzig tätig. Und auch Buddha, genannt Siddhartha Gautama, erreichte schon mit 35 Jahren das vollkommene Erwachen. Beide übrigens erst nach praktischen Übungen. (Für die theologisch versierten Leser unter uns: Ich will selbstverständlich nicht den Geist unterschlagen, ohne den Christus nicht zum Sohn Gottes geworden wäre bzw. es immer schon war, vor Erschaffung der Welt, gottgleich, und umgekehrt nicht das stets betonte, buddhistische Mantra vergessen, dass ein Buddha sich selbst nicht »erschaffen« kann – aber Fakt ist, dass Jesus vor aller Tätigkeit 40 Tage in die Wüste geführt wurde, fastete, und auch Buddha asketische Übungen vollbringen musste.)

»Um Himmels willen, kommt jetzt so ein Askese-Zeugs?«

Nein.

Im Gegenteil: Dieses Buch mit seinen Einfahrtstoren zur Weisheit kommt zum einen ohne »amtskirchlichen« Hintergrund aus. Weisheit benötigt keine religiöse Unterfütterung. (Leider ist nicht jeder religiöse Mensch »erleuchtet«. Umgekehrt übrigens zeigt sich das Gleiche. Auch Atheismus führt nicht automatisch zur Weisheit.)

Es muss möglich sein, unabhängig von der religiösen Orientierung, eine Form von Weisheit zu erreichen, die international zusammen führt. Und unabhängig von einer diffusen Tiefe eines irgendgearteten Glaubens. Und zum anderen geht es nicht um Kasteiung. Und nicht um irgendwelche Gebetstechniken, allenfalls Meditationsformen. Sondern um: Öffnung.

Die praktischen Übungen sind durchbrochen von Schilderungen zweier weiser Persönlichkeiten. Ich habe bewusst auf prominente Vorzeigepersönlichkeiten verzichtet, die weit abgehoben den Eindruck entstehen lassen, das Ziel sei ohnehin nicht zu erreichen. Es sind ganz normale Menschen: ein Lebenskünstler und eine bezaubernde Frau, die lange in der Psychiatrie gesessen hat.

»Weisheit garantieren – so eine Unverschämtheit!«

Warum eigentlich?

Vor einigen Jahren erforschte ein Freund von mir geniale Geigenvirtuosen. Wir kennen uns seit der Schulzeit. Während es mich seitdem interessiert, was genau die praktischen, die nachvollziehbaren Grundlagen der Weisheit sind, wollte Benjamin wissen, was konkret der Unterschied zwischen einem Weltklassegeiger und einem begabten Dilettanten ist. Also auf dem Griffbrett. In der Fingerhaltung. Nicht in pathetischen Konzertkritiken.

Und Benjamin träumte davon, das Konzert eines Genies mit Kameras und Computern in Einzelbilder zu zerlegen, wie es zum Beispiel bei Leistungssportlern selbstverständlich ist.

In der Anfangszeit ist Benjamin für diesen Gedankengang verhöhnt worden. (Interessanterweise kaum von professionellen Geigern, sondern von romantisierenden Konzertgängern.) Virtuosen wie Heifetz oder Oistrach seien einfach Jahrhundertbegabungen und damit basta. Es galt als Sakrileg, sich dem Wesen der Musik auf derart »profane« Weise zu nähern.

Der Freund behauptete dabei übrigens gar nicht, dass es keine außergewöhnliche Begabung gäbe, aber er wollte wissenschaftlich aufzeigen, konkret nachweisen, wie ein Genie seine Finger verstellt und verschiebt. Und er entwickelte Videostudien, wie sie bei Leichtathleten zur Selbstverständlichkeit gehören.

Inzwischen ist Benjamin Ramirez mit seinen Analysen weltweit ein gefragter Gesprächspartner.

Wichtig vor diesem Hintergrund ist: Auch die meisten Religionsgründer haben systematisch gearbeitet. Heilige (verwiesen sei zum Beispiel auf Theresa von Avila mit ihren Bildbeschreibungen der »inneren Burg«) versuchten immer wieder, ihre Einblicke zu ordnen und allgemein zugänglich zu machen.

In all diesen »Systemen« werden die Schwerpunkte unterschiedlich gesetzt, und die verschiedenen Verfasser benutzen natürlich auch unterschiedliche Bilder, Beschreibungen und Erklärungen. Im Laufe der Jahrtausende entwickelten sich im Hinduismus die Schulen des Yoga, ansonsten der Buddhismus, der Sufismus, die Kabbala, die christliche Mystik, der Taoismus. Und neben diesen »großen Wegen« gibt es noch eine Menge kleinerer Schulen, die versuchten, ihr Wissen zu strukturieren. Teilweise wurden ihre Erkenntnisse verschlüsselt (in den sogenannten Geheimbünden), damit sie, im Zuge einer Initiation, nur derjenige Schüler erhält, der auch dazu bereit ist und die entsprechenden Voraussetzungen mitbringt.

In diesem Buch nun stellen wir deren »Werkzeuge« zusammen. Es filtert aus Hunderten Büchern den gemeinsamen Grund. Den Bodensatz. Salopp gesagt: das Beste aus Bibel und Bhagavad Gita, von Philosophen und Philanthropen – ohne allerdings den großen Eintopf anzurühren. Es ist falsch zu sagen: »Siehste, is’ eh’ alles das Gleiche«. So einfach ist die Sache nun auch wieder nicht.

Aber es gibt – und das beschäftigt mich eben schon einige Jahre – sehr viele interessante Einsichten in unterschiedliche Religionen, Mythen und Wissenschaften, die sich gleichen und ergänzen. Und die gemeinsam weise machen.

Allerdings gibt es ein Hindernis auf dem Weg (ich will es nicht verschweigen). Man muss das Gelesene auch umsetzen.

HANDELN ist angesagt.

Es reicht nicht, ein wenig zu blättern. Weisheit findet sich leider nicht von alleine ein. Die Stolpersteine, auf die man tritt, weil der Verstand sich wehrt und aufbegehrt, weil er eben »ein durchtriebener Schuft« ist, wie Dostojewski in seinem Roman »Brüder Karamasow« festhält, dürfen uns nicht aufhalten.

Und eine weitere kleine Einschränkung (seriöserweise): Weisheit heilt keine psychischen Krankheiten. Hier sollte man besser vorher ansetzen. Es gibt einen Spruch, der sinngemäß folgendermaßen lautet: Ein Neurotiker kann erleuchtet werden. Aber er wird immer ein neurotischer Erleuchteter bleiben.

Also vorwärts.

Jedes Kapitel wird ihr Hirn freipusten und Sie weiter auf den Weg zur Weisheit bringen!

Unsere größten Dummheiten können sehr weise sein.

Ludwig Wittgenstein

Erster Schritt: Die Nase

Die eigene (versteht sich): antippen.

Um mit dem zu beginnen, was erst einmal an »Material« vorhanden ist.

Das ist nämlich erst mal ausreichend. Denn der Weg zur Weisheit – ganz wichtig – ist ein Pfad, für den man keine Voraussetzungen mitbringen muss, keine Bücherlisten und keine Vorleistungen. Keine Intelligenz, keine Weltreisen, gar nichts.

Es ist ein beliebtes Vorurteil (und gleichzeitig ein Schutz, um nicht tätig werden zu müssen), dass Weisheit sich vielleicht in Ausnahmefällen einstellt, nach einer beeindruckenden Lebensodyssee. (Insofern: Bitte nicht erschrecken, wenn in diesem ersten Kapitel und nur hier ein wenig Bildung ausgebreitet wird. Das wird weder abgefragt, noch muss es gespeichert werden. Aber es zeigt, wie stark wir in der Gegenwart alle mit vergangenen Generationen verbunden und in ihren Erfahrungen verwurzelt sind.)

Der Weg zur Weisheit ist ein Pfad, auf dem wir nichts »wissen« müssen, d. h. mit einer gewissen Unbedarftheit starten können.

»Der Kern des Glücks«, analysierte Erasmus von Rotterdam schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts, ist es, »der sein zu wollen, der du bist.«

Also eben nicht anders, reicher, schöner, größer, vor allem klüger, sondern dankbar für das zu sein, was uns in die oft beschworene Wiege gelegt wurde. An Fähigkeiten und Grenzen. Mehr braucht es auch nicht, um weise zu werden. Nur den eigenen Instinkt, die eigene Sensibilität, kurz: die eigene Nase.

Und: Es ist gut so, wie es ist.

Einatmen, ausatmen, und dabei das Leben spüren, uns in unserer Einmaligkeit wahrnehmen. Wir müssen nichts gewaltsam oder verbissen ändern, weder an uns noch an unserer Umwelt, wir brauchen auch nicht hart an uns zu arbeiten und zu feilen.

Wir müssen allerdings erst einmal wirklich dumm sein wollen.

Uns verabschieden vom Zynismus, vom Groß-sein-wollen, von Intelligenz, Bildung und Überlegenheit. Und uns stattdessen ein Beispiel an Ludwig Wittgenstein nehmen, einem als genial deklarierten Philosophen, der sich zu Recht beklagte: »Ich bin nicht gescheit, sondern sehr dumm; weil ich nicht sehe, was unter meiner Nase liegt.« (1) (Nur so am Rande: Wittgenstein hätte auch niemals seinen sogenannten Intelligenzquotienten messen lassen. Immer wieder stoßen wir auf Menschen, die mit unverhohlenem Stolz auf ihre vermeintlich »überdurchschnittliche Intelligenz« hinweisen, weil sie in einem solchen IQ-Test einen Wert weit über 100 erreicht haben. Und dabei meist so zweitklassig wirken. Es ist offensichtlich, dass ein IQ-Test nur die Fähigkeit zum Lösen von IQ-Tests bestätigt.)

Trainer für Führungskräfte sind übrigens genau auf der Suche nach diesem Witttgenstein’schen »Nasen-Faktor«, um aus »eingefahrenen Denkstrukturen auszubrechen«. Einer der Pioniere auf diesem Gebiet war Edward de Bono, der in den 1950er Jahren versuchte, Kreativität zu definieren, um sie messbar zu machen. Dazu entwickelte er eine Vielzahl von Techniken, die helfen sollen, neue Ideen zu finden. Unter anderem prägte er auch den Begriff des »Lateral Thinking«, der als »Querdenken« (unlogisch und unkonventionell) Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch gehalten hat.

Und das ist im Prinzip nichts anderes als: dumm zu werden. Einfach mal nur das zu sehen, was zu sehen ist. Nicht klug sein zu wollen. Es soll ein Denken in Gang gesetzt werden, das nicht von bestimmten, festgefahrenen Prinzipien ausgeht und somit nicht nur zu einem einzigen richtigen Schluss kommt. Wissenschaftlich gesprochen werden beim lateralen Denken die Voraussetzungen außer Kraft gesetzt und, etwa durch Gedankensprünge, in ihr Gegenteil verwandelt. Während das vertikale Denken also die herkömmliche Denkweise mit aufeinanderfolgenden und logischen Schritten repräsentiert, beschreibt laterales Denken einen Prozess und steigert die Wirksamkeit des vertikalen Denkens, indem es ihm viele alternative Lösungsansätze aufzeigt. Beide Denkstile schließen sich dabei nicht gegenseitig aus. Laterales Denken verändert Muster und schafft eine Neuanordnung von Informationen. Man sucht nicht nach der richtigen Antwort, sondern nach einer alternativen Anordnung der Informationen.

Dabei muss nicht jeder Schritt richtig sein. Aber alles wird begrüßt, was sich aufdrängt und es gibt keine Festlegungen.

In diesem Sinne wollen wir dumm sein.

Um weise zu werden.

Nehmen wir nur einmal (zum Einstieg) die berühmte Anekdote um Alexander den Großen beziehungsweise den großen Philosophen Diogenes. Der in einer Tonne lebte. Und besagter Feldherr Alexander, Gebieter über Leben und Tod, gewährt dem Einsiedler einen Wunsch. Was wird der daraufhin wohl fordern: Diamanten? Jungfrauen? Eine Villa am Meer?

Nicht ganz. Diogenes bittet Alexander, er möge doch bitte aus der Sonne gehen.

Volltreffer!

Zumindest wirkt Diogenes’ Antwort bis heute und demonstriert eine Lebenshaltung, die »über den Dingen« zu stehen scheint. Eine Einstellung, die durch alle Jahrhunderte hindurch als ein Charakteristikum des Weisen gilt.

»In ihr ist ein Geist«, suchten die Gelehrten im Alten Testament das Wesen der Weisheit zu definieren, »gedankenvoll, heilig, einzigartig, mannigfaltig, zart, beweglich, durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, das Gute liebend, scharf, nicht zu hemmen, wohltätig, menschenfreundlich, fest, sicher, ohne Sorge, alles vermögend, alles überwachend und alle Geister durchdringend, die denkenden, reinen und zartesten. Denn die Weisheit ist beweglicher als alle Bewegung; in ihrer Reinheit durchdringt und erfüllt sie alles.« (2)

Und schon davor, vor etwa 5000 Jahren, beschrieb das älteste schriftliche Epos der Menschheitsgeschichte, das Gilgameschepos aus dem Zweistromland, den steinigen Weg des Königs von Uruk zur Weisheit. In manchen Kulturkreisen wird die Weisheit auch als eigene Göttin oder als eine weibliche Seite Gottes verehrt. So kennt etwa das biblische Judentum die Chokmáh als göttliche Weisheit. Im Griechischen wird diese als Sophia übersetzt und besonders in den orthodoxen Kirchen verehrt (Hagia Sophia). Unabhängig aber vom Geschlecht durchläuft der Suchpfad alle Kulturen und Generationen. Er bestimmt das Denken der abendländischen Philosophie, von Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur, Seneca und Augustinus.

»Denn Weisheit ist letztlich nichts anderes als das Maß unseres Geistes«, schreibt Letzterer, »wodurch dieser im Gleichgewicht gehalten wird, damit er weder ins Übermaß ausschweife, noch in die Unzulänglichkeit falle. Verschwendung, Machtgier, Hochmut und Ähnliches, womit ungefestigte und hilflose Menschen glauben, sich Lust und Macht verschaffen zu können, lassen ihn maßlos aufblähen. Habgier, Furcht, Trauer, Neid und anderes, was ins Unglück führt – wie die Unglücklichen selbst gestehen – engen ihn ein. Hat der Geist jedoch Weisheit gefunden, hält dann den Blick fest auf sie gerichtet ... dann brauchte er weder Unmaß, noch Mangel, noch Unglück zu fürchten. Dann hat er sein Maß, nämlich die Weisheit und ist immer glücklich.« (3)

Thomas von Aquin vertiefte sich in die Weisheit, wie auch Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant suchte seinen Beitrag zu leisten, wie auch Friedrich Nietzsche oder Bertrand Russell, mit dem wir fast schon in der Gegenwart angekommen sind. Gleichzeitig geschah dieses Nachdenken auf allen Kontinenten.

Im Buddhismus beispielsweise bezeichnet Weisheit mit dem Begriff »Shunyata« die Erkenntnis, dass alle erscheinenden Phänomene leer, von einem eigenständigen, ihnen innewohnenden Sein seien. Die Realisation von »Shunyata« in der Wahrnehmung von Phänomenen wird als eine grundlegende Erfahrung bei der Erlangung der Erleuchtung beschrieben. Aber auch im Hinduismus, im Konfuzianismus und im Daoismus sowie in der chinesischen Philosophie hat die Weisheit einen großen Stellenwert. Im Konfuzianismus und in der chinesischen Philosophie ist sie (neben anderen) eine der Kardinaltugenden – und soll bei der Erziehung, beim Lernen und der Bildung einbezogen werden.

Offensichtlich gibt es also Gesetze, Regeln und Werte, die kulturübergreifend, zu allen Zeiten, ihre Gültigkeit behalten haben. »Große Menschen sind Inhaltsverzeichnisse der Menschheit« schrieb Friedrich Hebbel einmal sogar pathetisch. Allerdings haben alle diese Gemeinsamkeiten und alle großen Menschen nur ein einziges Mal dazu geführt, sich in Deutschland systematisch, sogar didaktisch mit dem Thema zu beschäftigen. 1920 gründete Hermann Graf Keyserling (1880 – 1946) eine solche »Schule der Weisheit« in Darmstadt. Sie veranstaltete Tagungen, zu denen auch berühmte Personen wie Tagore, C. G. Jung und Max Scheler eingeladen wurden. Bis dann die Nationalsozialisten ihren öffentlichen Einfluss systematisch einschränkten. Dazu gehörten Rede-, Publikations- und Ausreiseverbote, Hetzkampagnen, Ausbürgerungsversuche, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen. Die Schule der Weisheit musste ihre öffentlichen Aktivitäten einstellen.

Ein wichtiger Schönheitsfehler (der möglicherweise einer erneuten Verschulung im Wege stand) besteht darin, dass Weisheit offensichtlich durch keine Definition zu beschränken ist. Sie verweigert sich einer philosophisch-mathematischen oder gar juristischen Einbalsamierung. Obwohl sich die Weisen aller Epochen als Brüder im Geiste stets »blind« verstanden.

Zu den folgenreichen Schönheitsfehlern muss man ansonsten noch zählen, dass manche Menschen über Einsichten verfügen, die sich auf eigene Erfahrungen beziehen, während andere Erkenntnisse über das Leben »von außen«, aus einer Beobachterperspektive, gewonnen haben. Von daher wurde angemahnt, man müsse unterscheiden zwischen einer selbstbezogenen, persönlichen Weisheit, die auf den Einsichten einer Person über das eigene Leben beruht, und einer eher allgemeinen Weisheit, bei der es sich um Erkenntnisse globaler Art handelt und bei der das eigene Leben nicht direkt betroffen ist.

Ganz abgesehen von der Frage (die in unserer sogenannten aufgeklärten Moderne allerdings nur noch marginal eine Rolle spielt), ob nämlich Weisheit nun göttlich oder menschlich sei.

Es wäre also passender, fasst der Philosoph Malek Hosseini diese Gedanken zusammen, »statt nach dem ›Was‹ der Weisheit zu forschen, einfach zu fragen, ob das und das weise ist oder nicht.« (4) Bei Interesse gefolgt von einer Untersuchung, ob ein bevorzugtes Denksystem oder eine hervorgehobene Lebenseinstellung weise sei. Um letztlich zu beurteilen, ob die Person selbst weise ist.

Denn dieser bestimmte Menschentyp zeigt zeitlose Übereinstimmungen. Obwohl Weisheit sich in jeder Kultur, in jeder Epoche einzigartig darstellt, scheint sie sich andererseits immer in einer charakteristisch zugewandten, manchmal auch widerborstigen Haltung zu zeigen. Zu sich selbst, zu den Nächsten, zur Welt oder auch zu dem, was jeweils als richtig und falsch, gut und böse erkannt und gelebt werden kann. Weise am Weisen sei die Haltung, meinte Bert Brecht.

So eine gelebte Gesinnung wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass sie meilenweit entfernt ist von jeder Besserwisserei und jeglicher Form von Fanatismus, und sich andererseits von machtfixierter Cleverness distanziert.

»Und das zusammengenommen bezeichne ich immer mit: Naivismus«, sagt Tom Doch, ein sechzigjähriger Lebenskünstler, der (unter anderem) als Schriftsetzer, Unternehmer mit kleiner Druckerei und Werbeagentur, Clown und Moderator, Rodeo-Announcer, Zeitungsfotograf, Rundfunkreporter, Speisewagenkellner und Schlafwagenschaffner, Maler, Klangbildner, Schauspieler und Veranstalter gearbeitet und dabei alle denkbaren Hochs und Tiefs sowie diverse lebensbedrohende Krankheiten erlebt und durchlitten hat. »Klar und schlicht in die komplexe Welt gucken, um zu vermeiden, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Sondern: Aha, da hinten stehen 5 Bäume. Darunter sind zwei Buchen. Das ist Durchblick, der enorm hilft.«

Der Weise erkennt mit diesem reduzierten Sehen trotzdem mehr als ein sogenannter gewöhnlicher Mensch. Wahlweise, was nun »hinter« oder »über« den Dingen steht. Die Vogelperspektive – in Gestalt von fliegenden Geschöpfen – symbolisierte in vielen Kulturen die Weisheit. Die Eule von Hellas hat als nachtaktiver Vogel sogar im Dunkeln noch den Überblick. Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange der Azteken, überwachte vom Firmament aus die Geschicke der Menschen. In Ägypten war der Vogel Ibis das Symbol für Weisheit, und in Indonesien, Tibet, Thailand und anderen asiatischen Ländern steht der mythische Vogel Garuda für die Weitsicht der Weisen. Aber all diese Positionen wären nichts ohne die gute Absicht, die hinter weisem Handeln steht.

»Je mehr jemand davon hat«, schreibt Malek Hosseini, von diesem Guten, »desto besser ist er. Der Teilhaber der Weisheit, je nach Grad, hat die Fähigkeit, nach einem guten bzw. richtigen Leben zu streben. Diese Fähigkeit hängt mit dem richtigen Urteilen zusammen, und das fordert seinerseits entsprechende Erkenntnis, und vor allem Selbsterkenntnis. ›Wissen‹ und ›Handeln‹ so verbunden bilden den Kernpunkt der Weisheit, was auch ihre Gegenwörter ›Torheit‹ und ›Dummheit‹ verdeutlichen.« (5)

Die Verkörperung eines solchen Teilhabers zeigt sich dann in einer gewissen »Leichtigkeit« seines Handelns und Strebens. Und in einer »bestechenden Freundlichkeit«, wie es in den Schriften immer wieder heißt. Aus tiefstem Herzen. Der Teilhaber packt sich an die eigene Nase. Allerdings gibt es nirgendwo eine Schriftstelle, die davon spricht, dass er sich brillant, zynisch, fachidiotisch (»Nase hoch«) oder professoral betätigt.

Das ist aber der Wesenszug, der uns oftmals (leider) auszeichnet: Wir wollen vor allem intelligent sein. Und das ausstrahlen. Um Gottes willen nicht dumm wirken!

Die Weisen hingegen haben seit je her die Fahne der (vermeintlichen) Dummheit hochgehalten. »In den Tälern der Dummheit wächst für den Philosophen noch immer mehr Gras als auf den kahlen Höhen der Gescheitheit«, schrieb zum Beispiel Wittgenstein. (6) Und Dostojewski legte einer seiner Romanfiguren geradezu einen flammenden Appell in den Mund:

»Je dümmer man beginnt, umso näher ist man der Sache selber. Je dümmer, umso klarer! Die Dummheit ist kurz angebunden und nicht verschlagen. Der Verstand ist ein durchtriebener Schuft, die Dummheit dagegen offen und ehrlich.« (7)

Um das Wesen dieser wunderbaren Dummheit besser umfassen zu können, scheiden schon die ältesten Texte die Klugheit von der Weisheit. Es handelt sich um die Grenze zwischen dem Geheimnis des Seins – und einer Lebensbewältigungsstrategie, wo es vorrangig darum geht, gewisse Erkenntnisse der Wirklichkeit im praktischen Leben umzusetzen. In letzter Konsequenz sind weise Menschen deshalb auch klug, weil sie in jeder Situation erneut herausfinden, was für sie angemessen ist. Ein interessanter Aspekt zeigt sich dabei, wenn wir in den lateinischen Schriften unserer Vorfahren stöbern. Klugheit heißt dort prudentia. Und das bedeutet in seinem Wortstamm providentia: Vorsicht. Voraussicht. Kluge Menschen handeln also umsichtig und deshalb kommt Mario Erdheim zu der Schlussfolgerung, von der Weisheit könne man sicherlich sagen, sie sei »ein Wissen, das zum Unbewussten durchlässig ist«. (8)

Der Weise ist eben kein Vielwisser, kein »Klugscheißer«, sondern ein Mensch, der das Wesentliche erkennt und bedenkt. Und er ist trotzdem klug, weil er immer wieder eine Lösung findet, die für den jeweiligen Augenblick angemessen ist.

Wir verbinden die Klugheit allerdings inzwischen oft mit dem Begriff »Gerissenheit«. Umso überraschender auch hier ein Blick auf den Wortstamm. Das deutsche Wort »klug« bedeutet eigentlich: fein, zart, zierlich, gebildet, geistig gewandt, mutig, beherzt. Ein »kluger Mensch« steht ursprünglich also für eine »Herzensangelegenheit« und keinen Kreidestaubdozenten. Ein kluger Mensch ergreift beherzt eine Gelegenheit, die sich im bietet. Und er ist fein genug, auf eben jene Zwischentöne zu achten, die den meisten Holzköpfen verborgen bleiben.

Insofern konnte also auch und gerade ein Medizinmann weise sein, notiert Erdheim, »weil er sich um das Leiden des Subjekts kümmerte und dieses in das größere Ganze der Symbolsysteme seiner Kultur einordnen konnte. Der Mediziner des 18. und 19. Jahrhunderts wusste zwar mehr über den Körper und seine Physiologie, aber er interessierte sich nicht für dessen Symbolik. Über die Bedeutung, die die Krankheit für das Subjekt hatte, wollte er nichts wissen.« (9)

Und was ist stattdessen der Bildungsstand des Weisen?

Vor allem ist sein Wissen übersichtlich. Wenn auch umfassend. Um sich nicht zu verzetteln. Und dazu muss das Wissen des Weisen auf unwichtige Details verzichten und »die Versuchungen der Vielwisserei überwinden«, wie Hosseini schreibt, »sich mit dem Wesentlichen begnügen und versuchen, das Ganze tief zu begreifen.« (10) Allerdings ist das für eine sogenannte Hochtechnologiegesellschaft kein Spaziergang. Tagtäglich stehen Hunderttausende Fachkräfte vor der Aufgabe, irrsinnige Datenpakete, Wissensmengen und Informationen zu sortierten und zu analysieren. Und dabei sollen sie nicht nur das Richtige wissen, sondern auch noch jede Form von Wichtigkeit erkennen.

Bekanntermaßen hat sich die Welt rasend verändert. Wir lesen in der Zeitung von genetischen Experimenten und neuartigen Computermöglichkeiten. Wie soll dieses merkwürdige Mysterium der Weisheit sich da noch als Gemeinsamkeit quer durch alle Epochen auswirken? Was verbindet uns Webwesen noch mit einem Menschen des Mittelalters, der nicht einmal eine Uhr kannte?

Zu allererst: Wir sind gemeinsam Menschen.

Wir atmen. Essen, trinken. Lieben.

Wir haben alle eine Nase.

Und schon ein kleiner Blick zurück zeigt, dass das Leiden an der Moderne bereits zu Zeiten auftrat, die wir gemeinhin mit Gemütlichkeit und Übersichtlichkeit verbinden. »Noch für unsere Großeltern«, beklagt sich beispielsweise Rainer Maria Rilke zu Beginn des 20. Jahrhunderts (also in der »guten, alten Zeit« unserer Urururomas), »war ein ›Haus‹, ein ›Brunnen‹, ein ihnen vertrauter Turm, ja ihr eigenes Kleid, ihr Mantel: unendlich mehr, unendlich vertrauter; fast jedes Ding ein Gefäß, in dem sie Menschliches vorfanden und Menschliches hinzufügten. Nun drängen von Amerika her leere, gleichgültige Dinge herüber, Scheindinge, Lebensattrappen … Ein Haus, nach amerikanischem Begriff, ein amerikanischer Apfel oder eine dortige Rebe, hat nichts gemein mit dem Haus, der Frucht, der Traube, in welche Hoffnung und Nachdenklichkeit unserer Vorväter eingegangen war … Die belebten, die erlebten, die uns mitwissenden Dinge gehen zur Neige und können nicht mehr ersetzt werden. Wir sind vielleicht die Letzten, die noch solche Dinge gekannt haben. Auf uns ruht die Verantwortung, nicht allein ihr Andenken zu erhalten (das wäre wenig und unzuverlässig), sondern ihren humanen und larischen Wert (›Larisch‹ im Sinne der Hausgottheiten).« (11)

Der Verzicht auf das Vielwissen ist also nicht ein Verzicht aus dem Blickwinkel der Ignoranz, vom Standpunkt dessen, der zu faul, zu ungebildet oder schlichtweg zu dumm ist und nicht weiß, was Wissen überhaupt heißt. Nein, der Standpunkt des Weisen übergeht die Menge des täglich Neuen, er sucht im Meer der Fakten das Entscheidende, aber er verweigert sich nicht dem Wissen. Schon Heraklit hat das gesagt: »Das Gegenteil der Weisheit ist die Vielwisserei, die polymathia. Genauer gesagt, ist die Quelle der Vielwisserei die eigentliche ›Unweisheit‹.« (12)

Das Entscheidende, das wichtige Wissen, braucht nicht ein gelesenes oder gelehrtes zu sein – es ist ein gelerntes Wissen (in einem nichtschulischen Sinne), das oft eher aus der praktischen Erfahrung stammt als aus der theoretischen Bildung. Mit Rückendeckung von Genius Wittgenstein können wir also aus den Schriften schließen, dass ein sogenannter »ungebildeter« Mensch mehr Weisheit besitzen kann als viele Intellektuelle.

Wie gesagt, Wissen und Weisheit sind Freunde, sie mögen einander auch, es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Aber die Summierung allen Wissens, aller Fakten und Daten in unserer technologischen Moderne ergibt eben keine Weisheit. Und »ein Wissen, das man zerstückeln kann«, schreibt Raimon Panikkar, »dessen Fortgang immer weitere Zerstückelung erzwingt, sobald man einmal damit angefangen hat, ist nicht Weisheit. Wir finden mehr und mehr Teilgebiete, Entdeckungen, interessante und anziehende Ergebnisse. Doch am Ende können wir die Dinge nicht mehr zusammenbringen – wie das Kind, das sein Spielzeug zerlegt hat.« (13)

Und darum geht es: um den Zusammenhang allen Seins.

Es geht um den Durchblick.

Und letztlich auch um ein Geheimnis. Zumindest klingt so etwas durch, wenn wir von einem Menschen sagen, dass er weise sei. Dass er eingeweiht ist in die Urgründe des Lebens. Interessanterweise kommt das deutsche Wort »wissen« von »sehen«, sagt der Duden. Ein Zusammenhang, der schon in den ältesten Schriften benannt wird. Der Weise, sagen die Texte, sieht »tiefer«. Er sieht das Eigentliche, das Wesen, die wahre Gestalt allen Seins.

Und diesen Blick kann man lernen. Das ist die feste Überzeugung der griechischen Philosophen. Ihre Sagen erzählen davon, dass die Weisheit ursprünglich im Besitz der Götter war. Und deren auffälligste Vertreter, Athene und Apollon, sind bis heute ein Begriff. Ohne deren Geschichte im Einzelnen auszubreiten, sei gesagt, dass Athene als Verkörperung des Geistes gilt, weil sie dem zerspaltenen Schädel des Zeus entsprang. Daher auch der Begriff »Kopfgeburt«. Als Schutzherrin der Künste steht sie in enger Verbindung zu den Musen, die wiederum die Weisheit an die Dichter vermittelten. Apollon dagegen tötete vor allem gerne, war aber in seiner Eigenschaft als Heilgott auch mit Weissagungen und Orakelstätten verbunden.

Leider (oder folgerichtig?) ist die Geschichte des visuellen Lernens innerhalb der griechischen Philosophie ähnlich gespalten. Am erfolgreichsten haben wahrscheinlich die sogenannten Sophisten den Kampf um die Weisheitsausbildung in die Hand genommen. Zumindest ist deren Vorstellung von Weisheit als eines Talents zum geschickten Reden bis heute hin schädlich. Und das gern benutzte Bonmot »Wissen ist Macht« wurde inhaltlich von ihnen vorbereitet.

Unerschütterlichkeit (Ataraxie) unter allen Umständen. »Trotz moderner Kritik an den Stoikern«, schreibt Schloeman, »etwa bei Nietzsche, Brecht oder auch bei Sigmund Freud, für den die stoische Affektbeherrschung ein ›Kulturopfer‹ war, das nur zur Neurose führen kann – was man also heute noch von den Stoikern lernen könnte, beispielsweise, dass es nichts bringt, ›Dinge zu Ersatzmenschen zu stilisieren‹, oder dass eine Akzeptanz der Sterblichkeit das Leben in seiner Beschränkung aufwertet. Ja, wäre das nicht Glück, sich von der Angst, dem Gewinnstreben, der ›Echtzeit‹-Rastlosigkeit der Gegenwart freizumachen?« (15)

Zumindest gibt es in den USA eine rege Onlinecommunity für Neostoiker. Aber der Kern dieses Glücksstrebens ist etwas, was in allen Religionen und Weisheitsströmungen zu finden ist. Und dieser zeitlose Gedanke der Seelenruhe ist für unser Buch wichtig, nicht eine einzelne Richtung. Letztlich stoßen wir immer nur wieder auf dieselben alten Fragen, die mit dem Tod, mit Leiden, Angst, Beunruhigungen und Spannungen aller Art zu tun haben. Und deren Beantwortung zur Weisheit führen.

»Ein Gramm Handeln ist mehr wert als eine Tonne der Predigt«, warnt Mahatma Gandhi dennoch. Zurecht: Denn wenn wir uns nicht bewegen, bleiben wir im Keller sitzen. Für den Rest unseres Lebens. Aber »handeln« bedeutet oftmals innere Überwindung. Es verlangt meist eine Verhaltensänderung, das Eingehen eines Risikos, sodass sogar eine Niederlage droht, es verlangt den einen Schritt heraus aus der Komfortzone. Lieber schlendern wir da auf und ab und gehen unseren Nächsten auf die Nerven, »predigen«, wie Gandhi sagt, oder wir lesen und unterstreichen und bilden uns ein, dass wir uns vorwärts bewegen.

»Ein Gramm Handeln ist mehr wert als eine Tonne der Predigt.«

Am Ende geht es darum, wie wir diesen Fragen entgegentreten und nicht nur wie wir darüber nachdenken. »Dem Handeln wird das Attribut ›gut‹ zugeschrieben«, erklärt Hosseini, »darf hier aber nicht religiös oder gar moralisch im engen mit der Religion verbundenen Sinne verstanden werden, obwohl die religiösen und moralischen Elemente in der Geschichte der Weisheit keineswegs zu übersehen sind. ›Gut‹ liegt hier nahe bei ›richtig‹; es besitzt also neben seinem praktischen Element auch ein Kenntniselement. ›Gut‹ meint also gutes Handeln: den erfolgreichen Umgang mit den Situationen, mit der Mitwelt und mit sich selbst.« (16)

Im Gegensatz zu einer Moderne, für die ein stetiger Wissenszuwachs mit einer permanenten Veränderbarkeit der Welt zusammengehören, für die Stillstand Tod bedeutet, sieht der Weise (in allen Epochen) die Welt aber, wie sie ist. Ohne Masterplan, ohne Stufendiagramm. Er will nur die Akzente richtig setzen. Und sein wichtigstes Ziel besteht darin, das Leben immer klarer zu durchschauen.

Aber dadurch ändert sich nichts in der Realität.

Wissen sei etwas, »was man hat«, schreibt Walter Haug, Weisheit dagegen ist eigentlich nicht zu haben. »Wenn jemand Weisheit hat, so heißt das, dass er weise ist«. (17) Anders formuliert: Weisheit lässt sich nicht sagen, sie muss sich zeigen.

»Es muss aber etwas geben, das sich zeigt«, bringt Malek Hosseini das Ganze auf den Punkt. »Nicht alles ist weisheitlich, was dunkel, besser: unverständlich und daher nichts ist. Und worin liegt der Unterschied? Er liegt am Eindruck, den man davon erhält und als weise fühlt.« (18)

Früher, zumindest im Klischee, war es einfach einen solchen Eindruck zu festigen. Der Weise war alt, weißhaarig, trug einen Bart, konnte männlich oder weiblich sein (dann ohne Bart), und wusste mit wenigen, einfachen Sätzen eine komplizierte Situation zu entwirren. Früher ging man auch davon aus, dass Weisheit sich »quasi« von selbst einstellt nach etlichen Erfahrungen. Mit den Jahren. Inzwischen wissen wir wohl alle, dass diese Gleichung so nicht stimmen kann. Unsere älteren Mitbürger scheinen zunehmend damit beschäftigt zunehmend jünger zu wirken. Und je häufiger sie durch die Welt gondeln, desto provinzieller kommen sie oftmals zurück.

Am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat man diesen Eindruck sogar wissenschaftlich bestätigt. Dort konnten Paul Baltes und Ursula Staudinger zudem ermitteln, dass das Fundament für Weisheit zwischen dem 14. und 25. Lebensjahr angelegt wird. In diesen Jahren beobachteten die Wissenschaftler den ersten Erwerb von relevantem Weisheitswissen.

»In mir war immer schon ein Interesse an Weisheit«, bestätigt Tom Doch die Forscher, »ich wusste es aber nicht. In mir war eine Knospe, die ich nicht bemerkt hatte.« Allerdings betont er auch die Wichtigkeit tatsächlicher Erfahrungen. »Bei meiner Geburt wurde ich schon weggelegt«, erzählt er, »weil man die Mutter retten wollte. Bis eine erfahrene Hebamme mich unter kaltes Wasser hielt und ich meinen ersten Schrei tat. Ich hatte mir die Nabelschnur um den Hals gewickelt, was damals ein großes Problem war, und dabei ist dann der Satz gefallen: ›Das Kind schaffen wir nicht, wir müssen die Mutter retten.‹ Mit zwei Jahren Keuchhusten, was 1949 schwierig war. Mit 16 Jahren Pfeiffersches Drüsenfieber, was auch sehr ungemütlich ist. Dann hatte ich Mumps, meine Mutter erzählte, ich bräuchte deshalb nicht zu verhüten. So ist mein Kind entstanden. Und dann: mit 27 Jahren Herzinfarkt. Und später Dickdarmkrebs.«

Korrekt, heißt es auch aus Berlin. Weise Persönlichkeiten sind keine »happy-go-lucky-Typen«, wie es Ute Kunzmann vom Max-Planck-Institut umschreibt. Lebenskluge Persönlichkeiten kennen viele Probleme, sie wissen um die Unwägbarkeiten des Lebens und sie kennen viele Emotionen. Deshalb zählen sie nicht gerade zu den Menschen, die von Glück überfließen und auf einer Welle des positiven Lebensgefühls reiten.