Descendent - Filip Alexanderson - E-Book

Descendent E-Book

Filip Alexanderson

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Beschreibung

Ein Geheimbund, das so genannte »Tribunal«, beeinflusst seit langer Zeit die politischen Geschehnisse in Schweden. Um ihre Ziele zu erreichen, ist den Mitgliedern jedes Mittel recht. Doch nun wird die Gemeinschaft von innen heraus erschüttert: Die Männer leiden alle an einer tödlichen Autoimmunkrankheit. Während ihrer verzweifelten Suche nach einem Heilmittel schmieden sie einen skrupellosen Plan, der Tausende von Menschen bedroht. Der einzige, der die Katastrophe aufhalten kann, ist Jonas Hellemyr. Doch sein eigener Vater ist der Anführer des Tribunals und hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ...

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Buch

Jonas Hellemyr versteckt sich unter falscher Identität im Gefängnis, um dem Tribunal zu entkommen – eine einflussreiche Gruppe von bösen Männern, geleitet von seinem eigenen Vater, die ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt haben. Nun begibt er sich auf die Mission, seinen Vater zu finden und das gefährliche Tribunal zu zerstören.

Das Tribunal hat die Geschehnisse in Schweden und der Weltgeschichte seit langer Zeit beeinflusst. Nun steht etwas anderes im Vordergrund: Die Männer der geheimen Gruppierung leiden alle an einer tödlichen Autoimmunkrankheit, und sie suchen verzweifelt nach einem Heilmittel. Aber die Zeit drängt, und so beschließen sie, die Tests voranzutreiben. Doch ihr skrupelloser Plan bedroht Tausende von Menschen. Jonas ist Teil dieses Plans und muss das Tribunal stoppen, bevor noch mehr Menschen ihr Leben verlieren …

Autorin/Autor

Filip Alexanderson, 1975 in Schweden geboren, ist Schauspieler am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Schwedens Hauptstadt.

Filip Alexanderson im Goldmann Verlag:

Firstborn. Der Gejagte. Thriller ( auch als E-Book erhältlich)

Filip Alexanderson

Descendent

Der Überläufer

Aus dem Schwedischen

von Nike Karen Müller

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die schwedische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Elddöpt« bei Norstedts, Stockholm.
Gedicht von Gustaf Fröding übertragen von Klaus-Rüdiger Utschick.
Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2018 Copyright © der Originalausgabe 2017 by Filip Alexanderson Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Dieses Buch wurde vermittelt durch die Ahlander Agency. Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: dowell/getty images; Ebru Sidar/arcangel images Redaktion: Regine Schmitt AG · Herstellung: kw Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach ISBN: 978-3-641-17339-5V002
www.goldmann-verlag.de
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PROLOG

INDERDUNKELHEIT stand ein Auto. Bedrohlich, leise knurrend wie ein Raubtier. Die Lichtkegel der Scheinwerfer erhellten den Schneeregen und strahlten einen Mann an, der in schmutzigem Rollsplitt kniete. Er hielt sich eine Hand vor das Gesicht, weil er geblendet wurde.

»Fahren Sie nicht, bitte. Ich muss es wissen.«

Die Scheibenwischer arbeiteten beharrlich. Ein Taxi stoppte hinter dem Auto, hupte, wechselte die Spur und verschwand in die Stockholmer Nacht. Ein Fernzug donnerte unter der Brücke durch. Die Hochspannungsleitungen knisterten und zischten, füllten die Luft mit einer Ladung dick wie Smog. Die Seitenscheibe glitt hinunter. Der Mann stand auf, trat an die Beifahrerseite und sah durch den Schlitz.

»Meine Tochter ist vor acht Jahren an einer Überdosis gestorben«, sagte er. »Sie ist misshandelt worden, genau wie Ihr Bruder.«

Keine Antwort.

»Sie ist aufgelesen worden auf der Straße, und sie haben Tests mit ihr gemacht. Ihr Körper …« Der Mann verstummte, als die Erinnerungen ihn überwältigten. »Sie war noch ein Kind. Mein kleines Mädchen. Die Überdosis hat sie nicht umgebracht, sie war eine Erlösung.« Seine Tränen vermischten sich mit dem Regen. »Ich muss wissen, wer sie in diesen Abgrund getrieben hat.«

Immer noch keine Antwort.

»Die Bilder im Blog Ihres Bruders. Die Schwellungen, das Weiß der Augen, das Blut. Das habe ich nicht zum ersten Mal gesehen, die gleichen Symptome. Elf Fälle in Bolivien, vierundzwanzig in Bukarest. Einer in Kopenhagen. Alles Junkies, arm, namenlos, ohne Stimme. Die Behörden, die Polizei, keiner will darüber reden. Aber mein Redakteur will die Story bringen, wenn ich mehr Material habe. Gott weiß, wie lange das schon so geht. Helfen Sie mir, die zu stoppen.«

Die Scheibe glitt wieder nach oben.

»Nein! Fahren Sie nicht. Was wissen Sie über Prometheus? Reden Sie!«

Die roten Rücklichter verschwanden im Schneegestöber, und im nächsten Moment wurde der Wagen von der Dunkelheit geschluckt. Der Mann schrie etwas, dann verstummte er. Schneeflocken schmolzen und liefen ihm in den Nacken. Das dumpfe Tuten von einem Lkw-Horn holte ihn ins Jetzt zurück. Der Journalist machte einen Schritt zurück und stolperte über die Bordsteinkante.

Als er sich umdrehte, registrierte er, dass jemand am Brückengeländer stand. Die Gestalt hielt ein Schwert. Unter der Kapuze konnte er eine helle Maske ausmachen, ausdruckslos, aber dennoch lebendig. Als er begriff, was er da sah, nahmen sich Schrecken und Erleichterung nicht viel. Er hatte die ganze Zeit recht gehabt. Die Gestalt legte den Kopf schief und musterte ihn.

Niemand würde je erfahren, was er wusste.

Der Fernzug war das Letzte, was er sah. Wie er kreischend näher kam und die Dunkelheit durchschnitt mit seinen grellen Augen, die immer größer wurden.

JONASSTARRTEAUFDIEZEIGER.Das Plastikgehäuse des Weckers fühlte sich rau an in seinen großen Händen. Er versuchte die Zeiger zu fixieren, wollte, dass sie langsamer gingen. Seine Kiefer zermahlten seine schwarzen Gedanken. Was, wenn sie nicht kamen? Er schloss die Augen und setzte sich auf die Pritsche, zwang sich gleichmäßig zu atmen, noch gab es Hoffnung. Die Ventilation lärmte in seinen Ohren, die trockene Luft schmeckte streng und angebrannt. Das Verlangen scharrte in seinem Brustkorb, rief nach ihm, aber Jonas widersetzte sich. Er würde niemals einer von ihnen werden. Die Tasche war gepackt, alles war parat, in ein paar Stunden hatte das Warten ein Ende. Alles würde wieder erträglich werden, das hatten sie versprochen. Er schlug die Augen auf. Fünf Uhr war schon durch.

Verflucht. Er ballte die Hand in einem letzten Versuch, die Zeit anzuhalten. Der Wecker zersprang in seine Einzelteile, das Uhrwerk und die Plastiksplitter schnitten in seine Handfläche und wurden zusammengeknüllt, bis nichts mehr übrig blieb. Das konnte nicht wahr sein. Er war diesen Idioten egal. Jonas erhob sich von der Pritsche und schlug mit der Faust an die dicke Tür.

Nach einer Ewigkeit schob der Wachmann die Luke auf.

»Was willst du?«

»Ich erwarte Besuch.«

Skeptischer Blick. »Heute auf keinen Fall. Die Besuchszeit ist vorbei, da musst du bis morgen warten.«

Jonas schob rasch seine Hand hindurch, als der Wachmann die Luke wieder schließen wollte.

»Ich muss telefonieren.«

»Nimm die Hand weg.«

»Nur kurz.«

»Nimm die Hand weg, sage ich.«

Der Wachmann versuchte die Luke wieder zuzuschieben, und ein Metallstift bohrte sich in die Haut. Jonas’ Zorn erwachte. Aus seinem Mund wurde ein Strich, der über den Zähnen spannte, der Geschmack von Gewalt kitzelte seine Zungenspitze. Er wappnete sich. Nicht hier. Nicht jetzt. Es gab keine andere Wahl, ihr zuliebe, Mama zuliebe. Er zog die Hand weg, und die Luke ging zu. Aus einem tiefen Schnitt in der Handfläche sprudelte Blut. Was machte er hier? Er sah sie vor sich, die Zigarette in der gewölbten Hand. Mama. Die Decke um die Schultern. Der Balkon. Das Gesicht im Schatten. Trotz der ärmlichen Verhältnisse hatten sie immerhin sich gehabt. Doch jetzt war alles beim Teufel, sie war in die Ecke gedrängt worden, und das war seine Schuld. Jonas sah die Psychiatrische Klinik vor sich, aber er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als ein Schlüssel im Schloss klirrte und die Tür aufging.

»Du hast fünf Minuten.«

Er hatte keine Ahnung, warum der Wachmann seine Meinung geändert hatte, aber das spielte auch keine Rolle. Jonas steckte seine blutige Hand in die Tasche und hastete zum Telefon auf dem Gang, bekam die Telefonkarte zu fassen und steckte sie in den Apparat. Er wählte mit zitternden Fingern die Nummer.

Es nahm niemand ab.

Zweiter Versuch.

Das Freizeichen verhallte im Äther.

Shit.

Der Wachmann nahm eine Prise Kautabak und musterte Jonas, seine Gnade würde nicht ewig währen.

Noch immer nahm niemand ab. Kein Anrufbeantworter, keine Weiterleitung. Er rief noch mal an. Die Wache trat von einem Bein aufs andere, als hätte Jonas’ Frustration seine Instinkte geweckt. Sein letzter Versuch. Er rief seinen Kontaktmann an.

»Ich hätte heute abgeholt werden sollen«, erklärte er, als endlich jemand abgenommen hatte. »Da muss was schiefgelaufen sein, ich kann sie nicht erreichen, und sie sind immer noch nicht hier.«

»Aha?« Er hörte den Kontaktmann in irgendwelchen Seiten blättern. »Ja, das sehe ich. Aber die Besuchszeit ist heute schon vorbei, da hat sich dann wohl was geändert«, gab er gedehnt zurück.

»Nein, du kapierst es nicht. Ich habe für heute Freigang gekriegt, die Leitung hat das genehmigt.« Jonas zog ein Dokument aus seiner Tasche, als wollte er den Mann am anderen Ende der Leitung so davon überzeugen, dass er die Wahrheit sagte. An dem Dokument klebte Blut. Zu spät begriff er seinen Irrtum und schob das Papier wieder in die Tasche zurück. Aber der Wachmann schien nichts bemerkt zu haben. Jonas schielte auf seine Hand. Die Wunde war schon wieder verheilt, nur eine feine Linie von geronnenem Blut war noch zu sehen, aber nichts mehr von der Verletzung. Das mit anzusehen war immer noch unangenehm, als gäbe es etwas in ihm, das nicht er selbst war.

»Es muss heute sein.«

»Das ist sicher nur vertagt worden. So was kommt schon mal vor, das ist kein großes Ding. Ich kann morgen noch mal nachsehen.«

»Du kapierst es nicht«, zischte Jonas. »Ich muss heute raus.« Er wagte gar nicht daran zu denken was passierte, wenn er die Kyndelsmäss versäumte.

»So funktioniert das nicht.«

»Vielleicht stecken sie im Stau. Ruf an und erkundige dich!«

»Jaja, jetzt reg dich ab.«

Jonas versuchte sich zu beherrschen, aber der folgenschwere Unfall auf der Baustelle vor zwei Jahren hatte Kräfte in ihm freigesetzt, die er nur schwer zügeln konnte. Er war wiedergeboren worden, erlöst von seiner lebenslangen Migräne und ein anderer geworden. Er war so vieles mehr. Und das machte ihm Angst.

»Ruf an und frag nach«, sagte Jonas. »Du musst mir helfen.«

»Ich muss gar nichts.« Der Kontaktmann stellte sich quer. Jonas hatte nur Probleme gemacht, sonst nichts. Er war ein lästiger Fall aufgrund der Schweigepflicht. »Heute ist niemand mehr da. Und ich habe seit zwölf Minuten Feierabend, verstehst du? Ich habe jenseits dieser Mauern auch ein Leben und eine Familie. Ich kann wegen dir nicht Himmel und Hölle in Bewegung setzen, so was braucht Zeit, das ist einfach so. Alles andere würde dir falsche Hoffnungen machen.«

»Hoffnung ist das Einzige, was ich noch habe, verdammt«, schimpfte Jonas. »Was glaubst du denn, wie man sonst hier drinnen durchhält?«

»Jetzt beruhige dich endlich.«

»Ich bin ruhig.« Jonas biss die Zähne zusammen und versuchte den Wachmann zu ignorieren, der näher gekommen war. »Aber ich kann nicht warten. Das geht einfach nicht.«

»Das hättest du dir vorher überlegen müssen, bevor du dich strafbar gemacht hast«, gab der Kontaktmann trocken zurück.

Jonas platzte die Hutschnur. Er wollte Hackfleisch aus ihm machen. Dieser blöde Sadist. Er schleuderte den Hörer gegen die Wand, sodass das Gehäuse splitterte.

»Verdammt! Verdammt! Verdammt!«

Er hämmerte das Telefon gegen den Beton. Schlug mit der Faust gegen die Wand, sodass der Knochen knackte. Dann riss er den ganzen Apparat aus der Wand und katapultierte ihn in den Aufenthaltsraum.

Der Wachmann wich zurück und hantierte mit dem Schlagstock. Ein rothaariger Jungspund, der versuchte, sein Selbstvertrauen im Fitnessstudio aufzublasen. Einen Moment nahm Jonas nur die Konturen seiner Beute wahr. Er machte einen Schritt auf den Wachmann zu, das war Instinkt, da war nichts Rationales. Jonas war groß, fast zwei Meter, und wirkte bedrohlich, er war hager, aber breitschultrig, er füllte den ganzen Korridor aus.

Vera stürmte durch die Tür herein, ihre Unterrichtsräume grenzten an Jonas’ Trakt. »Was ist hier los?«

Jonas stand mit blutigen Händen mitten im Schlachtfeld. Er hasste sich, seine Stärke, seine Kraft, seine Schwäche.

»Aus dem Weg!«, brüllte der Wachmann. »Zurück!«

»Ich kümmere mich, es ist alles gut«, sagte Vera. Jonas hatte sein Juraexamen bei ihr während seiner Haft gemacht, und zwischen ihnen war eine tiefe Freundschaft entstanden. Gefangene wie er waren selten hier drinnen. »Leg den Schlagstock weg, er vertraut mir. Oder? Das tust du doch? Rede mit mir. Was ist los?«

»Geh.«

»Ich habe keine Angst vor dir.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu.

»Keinen Schritt näher, Vera, geh bitte.« Er weinte. Der Druck in ihm war zu groß, er zitterte, als sie eine Hand auf seinen Arm legte. Er konnte sie riechen. Die Angst und die Panik. Die Synapsen liefen Amok, als sein Trieb überhandnahm. Alles in seinem Hirn geriet durcheinander. Der Hunger. Vorsichtig nahm er ihr Gesicht in seine Hände, schloss die Augen und sog die Ausdünstungen ihrer Poren ein.

»Lass sie los!«

Durch die geschlossenen Lider registrierte er einen roten Schatten. Er machte die Augen wieder auf und sah den Wachmann und Vera vor sich. Zwei Energiebündel, zwei Haufen aus Fleisch und Blut, aus Muskeln und Hormonen. Seine Sehkraft war zu anderen Frequenzen übergesprungen, zu einem Lichtspektrum, das normale Menschen nicht wahrnehmen konnten. Er war das Wildtier. Aber tief unter dem Trieb wehrte er sich dagegen. Fleisch, Blut, Augen. Er begegnete Veras panischem Blick. Den ersten Schlag mit dem Stock spürte er nicht, aber der zweite und dritte weckten ihn. Er stoppte den nächsten Hieb mit der Hand, riss den Schlagstock an sich und zerbrach ihn wie ein Streichholz. Jonas sah den Wachmann an und knurrte.

»Lass mich in Ruhe.« Sein Blick war finster, Tränen liefen ihm über die Wangen.

Vera und der Wachmann traten den Rückzug an.

Dann ging er wie ein Berserker auf die Einrichtung los.

DALARNA 1856

GEMEINDEVALLSJÖ.Das Mädchen läuft an den Wirtschaftsgebäuden entlang und quer über das Feld. Der Harsch trägt den schmächtigen Körper, aber auf den Schneerändern rutscht sie aus und schlittert den Weg bei der langen Allee hinab. Sie kommt flink wieder auf die Füße, klopft sich den Schnee ab und rennt weiter. Die gestutzten Linden stehen wie schwarze Wächter in exakter Reihe vor dem Hüttenwerk. Bei dem hohen Tor holt sie ihre Schwester ein, die, ohne von dem Mädchen Notiz zu nehmen, mit dem sperrigen Schlitten kämpft. Obwohl sie die Kohle abgeladen haben, haben sie eine beschwerliche Reise vor sich. An den grob zurechtgehauenen Kufen bleiben Schneeklumpen haften, und die Riemen schneiden in die vor Kälte steifen Finger. Das Mädchen trottet neben ihrer erschöpften Schwester her. Die Sonne ist schon untergegangen, aber die weißen Ackerflächen erhellen den Weg noch, bis sie von der Dunkelheit der Fichten geschluckt werden. Nebel kriecht aus den Gräben, duckt sich an die niedrigen Steinmauern und wallt über die Schneedecke. Die Stoppeln ragen aus dem Harsch wie ein frostiger Herbstgruß. Die Elfen tanzen mit dem Tod, denkt das Mädchen, als sie die Nebelschleier sieht. Sie wischt sich den Rotz mit dem Ärmel von ihrem geflickten Wadmalsmantel ab und lässt ihren wachen Blick schweifen. Das Leben ist ein Abenteuer, ein Spielplatz voller Rätsel, die es zu lösen gilt. Aus Bäumen, Steinen und Schneewällen erwachsen Gestalten, Fantasien und Möglichkeiten.

Die große Schwester ist schweigsam. Sie treibt das Mädchen an und schielt nervös über die Felder zum Gutshaus, das im Dunkeln liegt. Der Schweiß zeichnet Rinnsale in das erdige Gesicht, sie steht in einer Dampfwolke, ihre Augen glänzen.

Das Mädchen fragt sich, warum die große Schwester so ängstlich ist. Sie überlegt, verscheucht den Gedanken aber wieder. Das Hier und Jetzt nimmt sie vollkommen in Anspruch.

Auf der Landstraße bleiben sie stehen, um zu verschnaufen, aber der Schweiß gefriert nicht zu Eis. Sie haben noch eine lange Reise vor sich, durch das Dorf, an der Kirche vorbei, über das Eis und in den Wald hinein. Der schlimmste Feind ist die Kälte, aber solange sie in Bewegung bleiben, frieren sie nicht. Draußen auf dem Feld das schwache Licht von einem Hof. Der Hinkende Husar. Dort kann man Geschichten hören. Der Krieg in Europa. Napoleon. Das hängende Augenlid des Husaren, sein verdrehtes Bein, seine Narben, die er gerne herzeigt. Das Mädchen ist sowohl fasziniert als auch angewidert. Am liebsten will sie gar nicht hingehen, aber manchmal muss sie Kohlen zu seinem Hof bringen, und dann hat sie keine andere Wahl. Eigentlich gehört dem Patron der Hof, das wissen alle. Alles hier in der Gegend gehört dem Patron. Er hat die Fäden in der Hand. Aber außerhalb der Gemeinde? Der König, der Kaiser, der Bischof, sie versteht nicht, wer wirklich das Sagen hat. Zu Hause redet Vater von Gott. Er schnaubt verächtlich über König Oscar und nennt den Lehnsmann einen Blutsauger, aber über den Propst sagt er kein schlechtes Wort. Die von Gott Auserwählten darf man nicht verunglimpfen, das führt in die Hölle. Mutter sagt kein Wort. Menschen, die bestimmen, mag sie nicht. Wir sind frei, flüstert sie den Mädchen mit leuchtenden Augen zu, uns schreibt keiner etwas vor.

Zum ersten Mal seit sie das Gut verlassen haben, schaut die große Schwester das Mädchen an.

»Wo ist der Sack?«

Das Mädchen erstarrt.

Der Sack.

Die große Schwester sucht ihren Blick, aber das Mädchen blickt in die Ferne, sucht einen Punkt, um die Frage wegzustarren. Die große Schwester atmet hörbar aus, nimmt die widerspenstigen Riemen und setzt ihren Weg auf der Landstraße fort.

Das Mädchen hält inne. Sie sieht den verschlissenen Sack vor sich, zwischen zwei Brennholzkisten im Wirtschaftsgebäude. Vaters Sack. Der dicke Lederboden. Das Kienholz. Die Maus, die sie abgelenkt hat. Mach den Sack leer und nimm ihn mit nach Hause. Sie schiebt seine Ermahnung beiseite. Will sich die Ohren zuhalten.

»Komm jetzt. Wir holen ihn später.«

Das Mädchen kneift den Mund zusammen. Wenn sie nicht antwortet, wird alles einfach verschwinden. Vielleicht kann sie den Sack durch Schweigen herzaubern.

»Komm.« Die große Schwester ist ärgerlich und müde.

Das Schweigen funktioniert nicht. Der Sack lässt dem Mädchen keine Ruhe. Sie weiß, was sie zu Hause in der Kate erwartet. Um diese Zeit ist er dicht. Tränen treten ihr in die Augen. Am Abend schlägt er fester zu.

Die große Schwester versteht die Besorgnis des Mädchens, aber sie hat keine Wärme mehr übrig, sie ist matt, hungrig und muss haushalten mit dem bisschen, was sie noch hat. Sie wird die härtesten Schläge bekommen, das wissen sie beide. Sein Blick, wenn er ausholt. Der Neid.

Die große Schwester dreht sich um, aber das Mädchen ist verschwunden. An der Biegung sieht sie einen kleinen dunklen Schatten an den Schneewällen entlangeilen, auf die schwarzen Reihen der Wächter zu. Ein Stück weiter lauert das Gutshaus in der Dunkelheit und in seltener Stille. Es ist niemand dort. Das Verbotene.

»Wir dürfen nicht hier sein!«, flüstert sie. Jetzt hat sie Angst. »Wir dürfen nicht!« Sie traut sich nicht, lauter zu rufen. Die Furcht übermannt sie, sie kann kaum atmen.

Der Schatten bleibt kurz stehen, dann gleitet er über den Schneewall und verschwindet an einer Steinmauer im Nebel. Die große Schwester ruft das Mädchen beim Namen, ihre Augen tränen, aber die Finsternis hat die kleine Schwester bereits geschluckt.

DIEHANDSCHELLENSCHNITTEN in die Haut ein, während Jonas durch den Gang gezerrt wurde. Seine Augen brannten wie Feuer von dem Pfefferspray, der Schmerz pochte in Schultern und Händen. Vier, fünf Wachmänner bedrängten ihn, drückten ihn weiter vorwärts wie bei einem Rugbyspiel. Aber Jonas kämpfte gegen einen anderen Feind, gegen sich selbst. Er nahm ihre Rufe wahr, ihren Spott, Schlüsselbunde, die gegen seine Oberschenkel schlugen, das verbissene Keuchen der Männer, einer zog ihn an den Haaren. Gewalt und Testosteron füllten die Gänge der Anstalt, vervielfachten sich und rissen alle mit, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Jonas biss die Zähne noch fester zusammen, konzentrierte sich auf den Geschmack von Blut und auf den Schmerz, auf alles andere als das Raubtier, das in ihm wütete, um freizukommen. Schlüssel im Schloss, eine Tür wurde aufgestoßen, und Jonas wurde in einen kalten Raum ohne Fenster geschubst. Sie pressten ihn auf den Boden, Knie im Rücken, und hielten seine Beine fest. Eine heisere Stimme zischte hasserfüllte Flüche in sein Ohr, dann wurden ihm die Handschellen wieder abgenommen. Das Echo der Stahltür, die ins Schloss fiel. Stille. Jetzt war er allein.

Er hatte es geschafft. Für dieses Mal.

Draußen auf dem Gang war es still, der Trakt war für die Nacht abgeschlossen worden. Jonas saß mit dem Rücken gegen den kühlen Beton gelehnt. Er erinnerte sich an seine Kindheit. Er war zwölf und zusammen mit seinem Großvater rausgefahren zur Anstalt, um seine Mutter abzuholen. Sie hatte allein nach Hause fahren wollen, aber Großvater hatte nicht nachgegeben. Jonas erinnerte sich daran, wie der Schnee sich an die grauen Betonmauern geschmiegt hatte. Er saß auf der Rückbank in einem weißen Saab 900 und wartete darauf, dass das große Tor aufging. Freilassung. Das war ein feines Wort. Er musste an Piraten denken und an Das Phantom. Das Wort verhieß Spannung, Abenteuer, der Held, der heraustrat. Mit seinen zwölf Jahren betrachtete Jonas die Eisblumen, die an der Innenseite der Autoscheibe wuchsen. Er drückte seinen Zeigefinger dagegen und sah, wie durch die Körperwärme das Eis kreisförmig um seine Fingerspitze herum schmolz. Er hatte sich vorgestellt, wie die großen Flügel des Tors aufgehen würden, wie das große graue Gefängnis endlich entzweigespalten und sie freigeben würde. Doch stattdessen ging ohne Vorwarnung die Beifahrertür auf, und Mutter stieg ein. Jonas war enttäuscht, das wusste er noch genau, er hatte sich um etwas Großes betrogen gefühlt. Er hatte die enormen Türen aufgleiten sehen wollen. Weder Mutter noch Großvater sagten etwas. Sie mied den Blick ihres Vaters, und er ließ sie in Ruhe. Sie nahm Jonas’ kalte Hand in die ihren und sah aus dem Fenster. Das Auto fuhr an. Sie hielten an einer Tankstelle. Trotz der Kälte aß er ein Eis, ein Nogger. Auf der Heimfahrt wurde wenig gesprochen, ebenso wie in den Jahren danach.

Es waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen. Dachte er zumindest. Das Flackern der Neonröhre war das Einzige, was da drinnen verriet, dass die Zeit verging. Er hätte schon längst verlegt werden sollen, die Verwahrung war nur eine kurze Zwischenstation, damit die Insassen sich beruhigen konnten, aber diesmal sollten sie ihn offensichtlich besonders hart strafen. Jonas war einfach nur dankbar, dass sie ihn in Ruhe ließen. Hier drinnen konnte er nichts kaputt machen. Die dicken Mauern dienten als Schutz vor der Umwelt. Er hatte so lange auf Mariä Lichtmess gewartet, sich so zusammengerissen, aber das war jetzt vorbei, seine letzte Hoffnung war gestorben. Die Gemeinschaft hatte ihn im Stich gelassen, und es gab nichts, was ihn ablenken konnte, wenn sich das Verlangen das nächste Mal bemerkbar machte. Wie lange würde er warten müssen? Noch ein Jahr? Niemals würde er das schaffen. Nie. Hungrige Raubtiere sind am gefährlichsten, sie gehen auf Risiko.

Jonas’ Hände zitterten. Er hatte nichts gegessen und getrunken, der Mund war trocken und ledern, die Zunge geschwollen. An den Hunger in der Anstalt hatte er sich gewöhnt, der Durst war schlimmer. Jonas hatte über zwanzig Kilo abgenommen, seit er hinter den Mauern einsaß. Eierschalen, Gips, Kalk und Streichhölzer, der Hunger hatte ihn dazu gebracht, wie ein Tier in Mülltüten und Essensresten zu wühlen. Paradoxerweise war es einfacher, an Hasch oder Amphetamine zu kommen, als an das, was er wirklich brauchte. Würde er einen Dealer damit beauftragen, ihm industriellen Phosphor zu besorgen, oder würde er sich erwischen lassen, wie er kalte Asche aß oder auf den Reibeflächen von Streichholzbriefchen herumkaute, dann würde das Gerücht schnell die Runde machen. Denn Jonas war kaum der einzige Verborgene, der in einer schwedischen Haftanstalt einsaß, es gab mehr von seiner Sorte an den Rändern der Gesellschaft. Früher oder später würde das Gerede von den falschen Ohren aufgeschnappt, und dann wäre es aus mit ihm.

Die Tür wurde geöffnet, und ein Wachmann stellte ein Tablett herein. Bengtsson war einer von den älteren Bullen, klein, gedrungen, trockene Haut und mit unverhohlener Verachtung für das Verbrecherpack. Er begegnete Jonas’ Blick.

»Hoppla.« Er trat gegen das Tablett, der Plastikbecher kippte um. Das Wasser lief über den Boden. Dann drehte er sich um, stieg mit einem Fuß in das Essen und verließ die Zelle.

Jonas sah das Wasser auf den Abfluss zulaufen. Vor einer Weile hatte er dort pinkeln müssen. Als die Tür endlich zuschlug, stürzte er sich auf das Tablett. Versuchte auf den Knien noch die letzten Wassertropfen aus dem Becher zu ergattern. Er stopfte sich mit den Fingern die fade Frikadelle und die Salzkartoffeln, die Bengtsson zertreten hatte, in den Mund. Aber sein Durst war noch nicht gestillt. Jonas schluckte seinen Widerwillen hinunter und schlürfte die Pfütze vom Boden auf. Der Betongeschmack kitzelte an seinen Lippen. Er schrappte mit dem Löffel über den Boden, sog den Betonstaub auf und hackte am Abfluss herum, bis sich kleine Splitter lösten, die er hinunterschlang. Jonas schloss die Augen. Der herbe Kalk war nur ein Teil von dem, was er brauchte, aber fürs Erste musste es reichen.

Die Luke wurde geöffnet und wieder geschlossen, danach die Tür. Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Eine Pappschachtel und eine Flasche Wasser wurden hereingestellt.

»Wie lange muss ich hierbleiben?« Jonas’ spröde Stimme versagte.

»Frag die Politiker«, gab Bengtsson mit einem Schulterzucken zurück. »Es ist überall voll, du musst hierbleiben, bis wir einen freien Platz gefunden haben.«

Dann war er wieder allein. Die Neonröhre an der Decke flackerte. Auch wenn die schwedischen Haftanstalten zu den humanen zählten, hatte jede ihre eigene Kultur und ihren eigenen Stil, mit dem Chaos umzugehen. Jonas machte niemandem einen Vorwurf. Er trank gierig aus der Wasserflasche und warf einen Blick in die Schachtel. Seine Masterarbeit.

Vera.

Wehmut übermannte ihn. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht, und dennoch hatte sie sich für ihn eingesetzt. Mehrmals. Sie war eine von denen, die sich wirklich kümmerten in der Haftanstalt. Die meisten anderen erledigten nur ihre Arbeit, aber Vera war mit Leib und Seele dabei. Bibliothekarin, Lehrerin, Kuratorin – er war sich nicht sicher bezüglich der korrekten Berufsbezeichnung, aber sie hatte Jonas selbstlos geholfen, seit er dort war. Vera war über vierzig, unsicherer Blick, schmale Hände und ein feines, aber eigenes Lächeln. Er hätte sie beinahe umgebracht, und trotzdem musste sie sich der Gefängnisleitung widersetzt und sein Recht auf ein Selbststudium durchgeboxt haben. Vera hatte die Hoffnung nicht aufgegeben. Der unstete Blick, das unsichere Lächeln, von dem er sich wünschte, es würde bis zu den Lippen reichen. Er wollte weiterkommen, hart arbeiten und seinen Hunger mit seinem Studium betäuben. Denn damit konnte er diejenigen ausfindig machen, die ihn umbringen wollten.

Jonas blätterte in Ordnern und Mappen, nahm ein Schwarz-Weiß-Foto in die Hand und betrachtete es. Es war Mitte des 18. Jahrhunderts in Vallsjö in Dalarna aufgenommen worden. Da stand er auf der breiten Treppe des Herrenhauses, breitbeinig und selbstsicher, leger gekleidet mit Hut und Schnauzbart, der Hüttenwerksbesitzer Patron Anders Svedberg, Jonas’ Vater. Um den Patriarchen herum standen Mägde und Knechte im Sonntagsstaat, blickten ernst in die Kamera. Wie oft hatte er nicht in die Vergangenheit hineingestarrt und nach den Augen gesucht, die im Schatten der Hutkrempe verborgen lagen, nach Antworten gesucht bei dem Mann, der es seit dem Unfall vor zwei Jahren auf ihn abgesehen hatte. Ein einziges Mal nur hatten sie sich getroffen. Und bis dato hatte er keinen Vater gehabt.

Er legte das Foto wieder in die Schachtel. Andere Aufnahmen hatte er nicht gefunden. Jonas wusste, dass er sich vor ein paar Jahren Adrian Savin genannt hatte, aber es gab keine Fotos oder Angaben zu dieser Identität, die offenbar genauso schnell verschwunden war, wie sie erschaffen worden war. Jonas’ einzige Chance war die, gegen das Tribunal ins Feld zu ziehen, eine Handvoll mächtige Verborgene, die seit Langem die Geschicke der Welt lenkten. Sein Vater war einer von ihnen, aber mehr wusste er auch nicht darüber, nicht mal die Gemeinschaft schien von ihrer Existenz Kenntnis zu haben. Jonas wusste nur sehr wenig über das Dasein der Verborgenen. Die Gemeinschaft hatte die Macht, sie sorgte dafür, dass alle unter dem Radar blieben, und leistete mit der nötigen Hilfe Beistand. Obwohl es da oben sicher auch welche gab, die es gut meinten, hatte er auch andere Geschichten gehört. Allerdings konnte er das nicht mit der Mördersekte des Tribunals vergleichen, nichts kam ihr an Bosheit gleich. Und gegen die musste er kämpfen. Jonas hatte angefangen, in der Vergangenheit nach ihnen zu suchen, nach kaum sichtbaren Spuren in einer abgelegenen Gemeinde in Dalarna, und er hatte über die Mächtigen, ihre Politik und ihre Mischkonzerne recherchiert, bis in die Gegenwart. So war seine Masterarbeit entstanden, eine Reise durch die schwedische Wirtschaftsgeschichte. Und er war recht weit gekommen, weiter, als er zu hoffen gewagt hatte.

Er trank die Wasserflasche leer und kramte wieder in der Schachtel, wo er einen kleinen Kalender entdeckte. Bis zu Mariä Lichtmess hatte er genau mitgezählt, ein Ritual daraus gemacht, eine Gedächtnisstütze dafür, dass es ein Ende gab. Aber nun, nach dem zweiten Februar, hatten die Tage keine Bedeutung mehr, alles war überflüssige Zeit. Er riss zwei Seiten raus. Dann erstarrte er. Er hatte Rebeckas Geburtstag vergessen. Sie wäre 27 geworden, wenn er nicht gewesen wäre. Er wollte sich nicht daran erinnern, auf keinen Fall, nicht jetzt. Das war zu viel für ihn. Aber die hohen Wände pressten alles zu einem Konzentrat aus Trauer und Sehnsucht zusammen.

Die Augen brannten, als die Tränen sich mit dem angetrockneten Pfefferspray mischten. Er lehnte die Stirn an die Betonwand und verscheuchte seine Erinnerungen nicht. Sie hatten sich auf dem Gymnasium kennengelernt und dem Wort Liebe Sinn gegeben. Es hatte keine Rolle gespielt, dass Rebecka beschlossen hatte, nach ihrer Trennung ihr Leben mit einem anderen zu teilen. Das leichte Schielen, das heisere Lachen. Sie hatte versucht, ihm in seiner schwersten Stunde zu helfen, sie war für ihn da gewesen, als nichts mehr so war wie vorher. Rebeckas zerschossener Körper auf dem gelben Staubsauger. Ihr Augenlicht, das brach. Der Scharfrichter, der sie mit schief gelegtem Kopf gemustert hatte, den Schwertknauf an seiner Hüfte. Der Jagdhund und Henker des Tribunals, dem Jonas um Haaresbreite entkommen war.

»Verzeih«, flüsterte er, als die Schluchzer abgeebbt waren, griff nach einem Stift und zeichnete eine Kerze neben ihr Datum. Er riss die psalmbuchdünne Seite heraus, küsste sie und stopfte sie in seine Tasche.

Ohne Vorwarnung ging die Tür auf, und zwei Wachen kamen herein.

»Der Chef will dich treffen.«

Die Gefängnisdirektorin saß in einem kleinen dunklen Raum und wartete. Für einen Moment glaubte Jonas zurechtgewiesen zu werden, aber dann würde wohl kaum die Chefin persönlich anwesend sein. Er verwarf den Gedanken.

»Du hast Besuch«, sagte sie und klopfte gegen dickes Fensterglas. Darauf war Jonas nicht vorbereitet.

Im Besucherraum auf der anderen Seite ging das Licht an.

»Es werden zwei Wachmänner dabei sein.« Sie fingerte nervös an ihrer Uhr. »Du kannst ablehnen, wenn du willst.«

»Wer ist es?«

Ohne zu antworten, klopfte sie wieder gegen die Scheibe, und die Tür wurde geöffnet. Der Mann, der eintrat, war der Letzte, mit dem Jonas gerechnet hatte.

»Weißt du, wer das ist?«

Er nickte.

»Müssen wir uns Sorgen machen?«

Jonas schüttelte den Kopf.

»Ihr habt fünfundvierzig Minuten.«

DALARNA 1856

DIESCHWARZEN HÄUSER neben dem imposanten Herrenhaus wirken bedrohlich. Diese Häuser scheinen sie anzustarren. Das Mädchen schleicht an den Stallungen entlang. Schnaubende Pferde. Leises Wiehern. Die Pferde stampfen unruhig hinter den geschlossenen Stalltüren. Sie weiß, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte. Das gesamte Gut ist seit gestern menschenleer. Vorarbeiter, Knechte, Mägde und die Dienerschaft, alle haben sie ihre Wohnstätten auf Anweisung des Patrons verlassen. Ihre Schwester hatte ihr möglicherweise erklärt warum, aber sie hatte nicht zugehört. Jetzt schwört sie sich im Stillen, das nie wieder zu tun und ihrer Schwester immer zuzuhören und zu gehorchen.

Überall geschlossene Fensterläden, Schornsteine ohne Rauch, kein einziges Lebenszeichen. Nur Stille.

Das Mädchen hat Angst.

Sie späht lange in die Dunkelheit, ehe sie aus den Schatten der Schmiede tritt und zum nächsten Wirtschaftsgebäude huscht. Ihre leichten Schritte sind im Schnee kaum zu hören. Auf Zehenspitzen reckt sie sich zum Eisenhaspen hoch, er scheppert, sie schiebt die Tür einen Spaltbreit auf und schlüpft hindurch. Tastet sich vor bis zu den Brennholzkisten, jedoch ohne den Sack mit dem Anfeuerholz zu finden. Das Herz pocht in ihrer kleinen Brust, ihr ist zum Weinen zumute, aber das hilft auch nichts, keiner sieht sie schluchzen, keiner hat Mitleid, und der Kloß in ihrem Hals wird immer dicker.

Plötzlich hört sie knarzende Schritte im Schnee direkt vor der Tür. Sie kneift die Augen zusammen, drückt sich an die Wand, will unsichtbar werden, sich in eine Maus verwandeln. Aber die Schritte verschwinden zwischen den Häusern und über den Hof. Sie macht die Augen wieder auf und sieht durch die Ritzen in der Wand, dass es in einem Eisenkorb neben der großen Treppe brennt. Das Feuer lodert, Funken stieben in die Nacht. Eine dunkle Gestalt hebt sich von den Flammen ab. Er trägt Vaters Sack. Der Mann lässt den Blick über die schwarze Landschaft schweifen, und das Mädchen meint, er hätte etwas gesehen da draußen. Dann dreht er sich um, geht die Treppe hinunter und durch eine kleine unscheinbare Tür an der kurzen Seite des Gutshauses. Kurz darauf kommt er wieder heraus, nun ohne den Sack. Er wirft ein paar Scheite ins Feuer und verschwindet zwischen den Hauswänden.

Das Mädchen ergreift ihre Chance. Noch kann sie es schaffen. Sie zwängt sich durch den Türspalt, fürchtet, dass der Haspen klappert und sie verrät. Sie läuft am Wirtschaftsgebäude vorbei, wirft einen raschen Blick über die Schulter und quert den Hof. Sie bekommt die Tür auf, ihr Herz droht zu zerspringen, und sie steigt in einen schmalen Korridor, der in eine Küche führt. Es ist dunkel, aber ihre Augen haben sich daran gewöhnt. Der Raum ist riesig. So etwas hat sie noch nie zuvor gesehen, ihre ganze Kate hätte hier drinnen Platz. Allein die Feuerstelle ist gigantisch, sie würde ein ganzes Pferd schlucken. Der Kessel ist größer als die Wanne, in die Vater sie an Weihnachten hineinsteckt. Hier wird für Riesen gekocht. Oder für Götter. Ihre Angst schlägt in Faszination um. Sie befindet sich in einem Schloss. Die Wände sind weiß gekalkt, alles glänzt und blitzt. Dann fällt ihr der Sack wieder ein. Schöpflöffel, Eimer und Feuergabeln, alles ist aufgereiht, aber den Sack kann sie nicht finden. Wo kann er ihn hingestellt haben? Weiter hinten ist eine Tür angelehnt. Das Mädchen tritt vorsichtig näher. Eine schmale Treppe führt sie hinauf in einen seltsamen Saal. Er ist noch größer. Ist sie in einer Kirche? Ihr Blick streift die Wände. Gemälde, Gobelins, Tapeten, Statuen und Waffen. Erstarrte Tiere aus den Märchen, ein gestreifter Pferdekopf, ein ausgestopftes Wesen mit schwarzem Fell, Schwanz und Reißzähnen, ist das ein Dämon? Sie steht an der Schwelle zu einer neuen Welt. Dinge, die sie nie gesehen, geschweige denn gehört hat. Der Kontrast zu den Holzwänden zu Hause in der Kate könnte größer nicht sein. Mit offenem Mund nimmt das Mädchen den Raum in sich auf. Fenster hoch wie Fichten.

Dumpfes Hufgeklapper lockt sie ans Fenster. Hinter einer Schicht aus Eiskristallen kommt eine Droschke aus der Finsternis angefahren und hält im Hof. Eine dunkle Gestalt im Umhang steigt aus und blickt zum Haus hinauf. Hinter ihr schlägt eine Uhr, und wie vom Schlag getroffen zuckt sie zusammen. Nun ist Eile geboten. An einem offenen Kamin entdeckt sie endlich das, wonach sie gesucht hat. Sie eilt zu dem Sack, leert das Anfeuerholz aus und stürzt zur Tür. Sie ist schon auf der Treppe, als sie Schritte in der Küche hört. Sie macht kehrt, betritt wieder den Saal, sucht vergeblich nach einer Fluchtmöglichkeit. Schritte auf der Treppe. Sie muss sich verstecken, läuft so leise sie kann zum offenen Kamin und klettert in seinen Schlund. Sie drückt sich den Rauchabzug hinauf, bis ihre Füße nicht mehr zu sehen sind. Durch ein kleines Gitter in der Luftklappe kann sie in den Raum sehen. Sie presst die Lippen aufeinander.

Die Tür geht auf, es kommt jemand herein. Sie sind zu zweit, ein Mann im Mantel klopft sich den Schnee von den Schuhen und setzt sich in einen Ledersessel, der andere verschwindet durch die Tür. Der sternenklare Nachthimmel scheint zu den großen Fenstern herein. Der Atemhauch des Mannes ist zu sehen, aber sein Gesicht ist unter einer großen Kapuze verborgen. Erst jetzt wird ihr klar, dass es kalt ist im Schloss, vielleicht genauso kalt wie draußen.

Wieder hört sie Hufe klappern, Wagenräder im Schnee. Dann noch eine Droschke. Und noch eine. Einer nach dem anderen schließt sich der Gesellschaft an. Fünf Männer in Umhängen. Das Gesicht des letzten Mannes leuchtet weiß. Nein, er trägt eine Maske, heller als die der anderen, und die starren, emotionslosen Mienen machen ihr Angst.

Einer der Männer trägt ein großes Bündel unter dem Arm. Zuerst ist ihr nicht klar, was es ist, aber als es sich bewegt, sieht sie, dass es ein Mensch ist. Das Mädchen hält den Atem an. Der Körper wird auf einen Tisch geworfen. Er sieht leicht aus, als würde er kaum etwas wiegen. Jetzt erkennt sie, dass es sich um einen alten Mann handelt, gefesselt an Füßen und Händen. Die Augen weit aufgerissen, steht ihm die nackte Angst ins schmutzige Gesicht geschrieben. Das Mädchen hat ihn schon mal gesehen, es ist einer der Landstreicher, die von Hof zu Hof gehen und um Essen betteln. Er war zwar nie zu ihrer Kate gekommen – natürlich nicht –, aber sie hat ihn auf den Wegen gesehen. Die Männer bilden einen Kreis um ihn. Sie murmeln etwas im Chor und beugen sich über den Körper. Sie hört, dass der Landstreicher zu schreien versucht, aber sie haben ihm einen Lappen in den Mund gestopft. Er japst und röchelt, schnauft verzweifelt durch die Nase. Sein Körper zittert. Sie drängen sich um seinen Kopf. Für einen Moment ist das Zeremonielle wie weggeblasen, sie berauschen sich, schlagen sich voll wie Raubtiere. Das Mädchen schließt die Augen, sie will nichts wissen von alledem, aber dennoch sieht sie vor ihrem inneren Auge die Szene, die sie seit Langem heimsucht. Sie ist drei Jahre alt und bei ihrer ersten Schweineschlachtung dabei. Der Bauch wird aufgeschlitzt, die Eingeweide quellen heraus, Hunde machen sich über die Reste her, blutverschmierte Nasen, aggressives Bellen und die Kabbelei, bis die Rangordnung geklärt ist. Aber hier geht es nicht um Blut, hier stillen sie anders ihren Hunger. Die Backsteine im Schornstein scheuern gegen ihren Brustkorb, aber sie wagt es nicht, sich zu rühren. Nie, nie wieder, denkt sie. Sie weiß eigentlich nicht, was sie damit meint, aber ihr fällt nichts ein, was mehr Nachdruck hätte. Nie, nie wieder. Dann wird es still. Sie hört, wie der Körper achtlos beiseitegeworfen wird. Als sie wieder hinsieht, sitzen die Männer am Tisch und reden. Sie beschließen etwas, als würden sie bestimmen, wer beim Fangenspielen der Fänger ist. Zwei von ihnen stehen auf, kehren den anderen den Rücken zu, nehmen die Masken ab und legen sie auf den Tisch. Die Kapuzen haben sie aufgesetzt, sie verbergen ihre Gesichter. Die beiden Masken wechseln ihren Besitzer. Es wird kein Wort gewechselt, einer der Männer drückt den Rücken durch, setzt die Kapuze ab und tritt an den offenen Kamin. Nun ist er Träger der weißen Maske. 25 Jahre sind eine kurze Zeit, sagt jemand und grinst. Der Kopf des Mädchens ist auf gleicher Höhe mit dem des Mannes, und sie kann durch die Schlitze das Weiß in seinen Augen erahnen. Jetzt will sie nur noch weg. Vater kann sie schlagen, so viel er will.

Der Mann reißt ein Streichholz am Kaminsims an und wirft es in die Holzscheite. Rauch steigt kräuselnd auf und sucht sich seinen Weg in ihre Lunge. Ihre Augen tränen. Sie kämpft gegen den Hustenreiz an, aber das Gas will wieder raus. Die ersten Flammen schlagen gegen ihre Füße, sie kann den Husten nicht länger unterdrücken. Langsam dreht der Mann den Kopf zu dem kleinen Gitter. Die Bewegung dauert eine Ewigkeit. Ihre Blicke treffen sich.

Die Panik lässt ihr Gesichtsfeld explodieren, löst etwas in ihr aus. Sie plumpst in das Feuer. Mit einem durchdringenden Schrei kommt sie auf die Füße und rennt auf den einzigen Ausgang zu, den sie kennt. Glut und Rauch wirbeln auf. Wandläuse? Jemand lacht, aber das Mädchen hört nichts. Sie bekommt die Tür auf, stolpert die Treppe hinunter und in die Küche hinein. Alles sieht anders aus, die glühenden Wanzen aus der Kleidung malen Linien in die Luft, die weiß gekalkten Wände blenden. Überall ist es hell. Der Mann ist direkt hinter ihr, sie entwischt ihm und zwängt sich hinter einen Kessel. Aus der Halle schallt Gelächter hinunter. Er schiebt den riesigen Eisenkessel zur Seite und sieht sie an, als wäre das ein Versteckspiel. Kann jemand so stark sein? Der dunkle Umhang steht in scharfem Kontrast zur Wand, mitten im schwarzen Stoff schwebt die weiße Maske wie ein böser Traum. Sie kreischt auf und hastet weiter, reißt die Tür auf und gelangt in einen fensterlosen Raum. Draußen Schritte. Ihr Herz droht zu zerspringen, als sie begreift, dass sie nicht weiterkommt. Sie entdeckt einen Griff in der Sitzfläche der Bank und öffnet einen kleinen runden Deckel. Gestank schlägt ihr entgegen, und sie weiß, wo sie gelandet ist. Sie zwängt sich durch das knapp bemessene Loch, als die Tür aufgeht. Ihre glühenden Kleider zischen. Als ihre Füße den Boden in der schmierigen Pampe erreichen, schaut nur noch ihr Kopf heraus. Sie vernimmt ein missmutiges Grunzen und presst sich durch die Fäkalien. Sie erahnt eine Luke und drückt sie auf. Sie kriecht aus der Öffnung und sackt in den Schnee. Benebelt torkelt sie über das weiße Stoppelfeld. Der Mond strahlt wie eine Sonne, die Sterne blenden sie, die Nacht ist zum Tag geworden, alles ist in Schieflage geraten. Sie kann im Dunkeln sehen. Die Welt steht Kopf.

JONASBLIEBIM TÜRRAHMENSTEHEN. Seit über einem Jahr hatte er lediglich von seiner Anwältin Besuch bekommen, aber jetzt war das Eis gebrochen. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte Jonas diesen Besucher im Tessinparken in dem welken Laub niedergerungen. Hatte versucht, ihm klarzumachen, dass nicht er, Jonas, seine Rebecka umgebracht hatte, egal was die Schlagzeilen sagten. Da war er ein gejagter Amokläufer gewesen. Das war damals.

Adam Liljegren saß da und starrte auf die Tischplatte. Er hob den Kopf, als Jonas eintrat.

Ihre Blicke trafen sich.

Adam wirkte ernst. Entschlossenheit, Trauer, vielleicht Wut. Nicht die unschuldige Jungenhaftigkeit, die Jonas stets mit ihm verbunden hatte.

Die Wachmänner bezogen je in einer Ecke ihre Posten.

Jonas nahm abwartend ihm gegenüber Platz.

Der Abgrund, der sich zwischen ihnen befand, hatte einen Namen, einen leicht schielenden Blick und ein heiseres Lachen.

Adam rutschte umständlich auf dem mit Bolzen festgeschraubten Stuhl hin und her, während sich die Stille ausbreitete. Das Gefängnis war etwas Neues für ihn.

»Gestern hatte Rebecka Geburtstag«, sagte er schließlich.

Jonas nickte. Das dünne Papier brannte ein Loch in seine Hosentasche.

»Ich war an ihrem Grab«, fuhr Adam fort und schielte zu den Wachmännern. »Es sind mehr, als man denkt, die nicht bis über die dreißig kommen. Ist das nicht komisch, wie man da zwischen den Grabsteinen hin und her läuft und rechnet? Zählt, wie viele Jahre sie geschafft haben. Alle unter sechs, sieben Jahren packe ich nicht. Allein der Gedanke an die Eltern, Geschwister und Kuscheltiere schreckt mich ab, selbst auch mal Kinder zu haben. Das Leben ist ein elendiges Pokerspiel. Für manche ist gleich wieder Schluss.« Er bohrte seinen Blick in Jonas’. Die Tränensäcke unter seinen geröteten Augen schienen jemand anderem zu gehören, der viel älter war. »Mit den Alten habe ich kein Problem, jeder, der älter wird als siebzig, ist in Ordnung für mich. Achtzig, neunzig, da wird mir warm ums Herz, das macht mich froh. Großfamilien, Weihnachtsabende, Fanny und Alexander, du weißt schon. Der Tod als Teil des Lebens. Aber die Jahre in der Mitte, zwanzig, dreißig, was ist das? Unfall? Krankheit? Selbstmord? Die Todesursache sollte auch eingraviert werden, für alle, die sich fragen. Das fragt sich doch jeder, die ganze Zeit. Krebs? Welcher? Ist sie still und leise im Bett verstorben? Oder unter Schmerzensschreien? Im Drogenrausch?« Adam spuckte die Worte förmlich aus. »Oder wurde sie erschossen?«

»Was machst du hier, Adam?«

»Ich versuche zu verstehen.«

»Da gibt’s nichts zu verstehen.«

»Sie war nicht kriminell, sie hat sich nicht umgebracht, und trotzdem ist sie erschossen worden«, zischte er mit gepresster Stimme. »Niedergemäht. Ermordet. Von Kugeln durchsiebt. Weil sie mit dir zusammen war.«

»Hör auf.«

»Nein, ich höre nicht auf.« Adam hatte so viel unterschwellige Wut in sich, er war ausgezehrt und verbraucht, hatte noch immer keine Antworten gefunden. Er hatte sich ausgeweint, der banalen Trauer freien Lauf gelassen und Dunkelheit, Hass und Zweifel Platz gemacht. »Ich werde noch verrückt. Wo sind die Antworten? Alle reden um die Wahrheit herum, geben mir Häppchen, machen vage Andeutungen, aber ich glaube das alles nicht. Das macht keinen Sinn. Die Polizei, die Presse. Das geht nicht zusammen. Sie soll in einer fremden Wohnung erschossen worden sein, wo sie sich mit dir zufällig aufgehalten hat? Durch Zufall? Das glaube ich nicht.«

»Ich kann dir nicht helfen.« Jonas schielte zu den Wachen hinüber, er wollte nicht, dass es Gerede gab, er hatte hier drinnen einen anderen Namen bekommen und eine andere Geschichte als die, die Adam auswalzte. Er hatte mit seinem Ausbruch schon für genug Aufsehen gesorgt. Er wusste nicht, ob die Gefängnisdirektorin noch hinter dem Fenster saß. Die Wachen hörten anscheinend nicht zu, einer von ihnen spielte mit seinem Handy.

»Als wir uns letztens im Tessinparken getroffen haben, hast du was gesagt. Von einem Krieg.«

»Ich stand unter extremem Druck, ich hätte alles Mögliche erzählt.«

»Aber das hast du nicht. Ich weiß, was du gesagt hast, das geht mir seit jenem Abend durch den Kopf. Wir sind in einen Krieg geraten, sie und ich, und diese Idioten haben sie einfach kaltgemacht. Genau das hast du gesagt. Ich erinnere mich an jedes Wort.« Er musterte Jonas. »Wen hast du damit gemeint? Wer hat sie auf dem Gewissen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Lüg mich nicht an! Nicht du auch noch. Wen hast du gemeint? Welcher Krieg? Bitte, Jonas. Welcher Krieg?« Seine Wut schlug in Verzweiflung um. »Warum bist du nach Tallinn gefahren? War da jemand? Du hast gesagt, dass du Vergeltung wolltest. Bist du deshalb nach Tallinn gefahren? Bitte, sag doch was.«

»Was soll das, Adam? Ist das ein Verhör? Du weißt, dass ich Rebecka nicht umgebracht habe, das war Seth Hall, und der ist tot. Die Polizei weiß das, die Presse weiß das, alle wissen das. Aber es ist meine Schuld, dass sie tot ist, so ist das. Bist du jetzt zufrieden? Ich bereue es jeden Tag, dass ich sie um Hilfe gebeten habe. Jeden Tag. Ist es das, was du hören willst? Bist du deswegen hier? Um sicherzugehen, dass ich auch leide?« Seine Stimme überschlug sich, er hatte einen Kloß im Hals.

Jonas erhob sich und trat ans Fenster. Es gab nichts Ungesagtes zwischen ihm und Adam. Dass das Tribunal Rebecka getötet hatte, konnte er niemals sagen. Sie hatten dieselbe Frau geliebt, das war alles, denselben Traum geteilt. Adam war der einzige Link zu den besten Erinnerungen seines Lebens, und die wollte er nicht auch noch zerstören, das wäre, als würde er Rebecka entehren, sie noch mal im Stich lassen. Aber er konnte die Fragen nicht beantworten, nicht ohne Adams Leben zu riskieren. Besser verrückt als tot, das war er ihr schuldig.

»Ich bin hergekommen, um den Sinn zu finden«, sagte Adam leise. Die Entschlossenheit, mit der er gekommen war, schien ihn verlassen zu haben.

»Jeden Tag werden Menschen überfahren, das ergibt auch keinen Sinn.« Jonas hatte genug. Schließlich waren sie trotz allem irgendwie noch Rivalen. Er nickte den Wachmännern zu, die die Tür öffneten. »Ich weiß nicht, warum du hier bist, Adam, aber ich kann dir nicht helfen. Glaub, was du willst, mir ist das egal, aber es bringt nichts, wenn du zurückkommst.«

DER TODHATTEDIE FALTEN des Mannes noch nicht aus seinem Gesicht ausradiert. Der Stoff auf der Innenseite des Sarges glänzte. Der Mann war rasiert, sein Leinenanzug saß tadellos, die Eitelkeit der alten Italiener würde für ein ganzes Leben nach dem Tod reichen. Ein paar Chorknaben sangen neben dem Altar, der Pfarrer las die Messe. Adrian sah sich um. Selbst hier unten am Mittelmeer waren die Dorfkirchen halb leer. In den Bankreihen saßen vereinzelt alte Frauen und Männer, gut gekleidet und runzlig, mit großen Sonnenbrillen; kleine Kinder spielten mit Mobiltelefonen. Adrian mochte Beerdigungen. Das Gefühl, die Trauer, wie das Gedenken an die Toten und die Unausweichlichkeit des Todes die Angehörigen einte. Vielleicht neidete er ihnen ihre simple Wahrheit, weil sie nicht ihn betraf. Auf Beerdigungen fühlte Adrian sich menschlich.

Dennoch vermisste er die Predigten von Pastor Hult zu Hause in der Kapelle von Vallsjö. Eine heilige Mischung aus Furcht und Alkohol hatte die Arbeiter der Hütte in den Bankreihen festgenagelt und sie gegen ihren Willen eingepfercht. Das war, bevor die Suffragetten und Verbände die Möglichkeiten, Ordnung zu schaffen zunichtegemacht hatten. Derzeit brodelte der schwedische Protestantismus noch vor Scham, Schuld und unverstelltem Schrecken. Nun war es ärmlicher dort oben im geistlosen Norden. Aber die Katholiken konnten noch immer ihren Untertanen Furcht einflößen. Er sog den Weihrauchgeruch ein.

Die Trauernden traten an den Sarg. Zerdrückten eine Träne, schwankten auf hohen Absätzen, die Kinder gestriegelt und gebügelt, die Haare im Nacken ordentlich geschnitten, mit gespielter Feierlichkeit. Die Kinder. Etwas Ungesagtes versuchte in seinem Inneren Form anzunehmen. Gefühle, die er bisher nie benennen musste. Kinder. Saß er deswegen hier?

Adrian wartete, bis die Trauergemeinde die Kirche verlassen hatte, und ging dann nach vorn, um den Toten im Sarg zu betrachten. Der Geruch von Fisch und Diesel, der durch die Jahre auf See seine Haut imprägniert hatte, drang zu Adrians empfindlichen Sinnen vor. Erinnerungen wurden lebendig. Das Boot, die Netze, das Salz, die sengende Sonne. In einem Anfall von Kriegsüberdruss hatte Adrian ein paar Jahre lang Mensch gespielt, Freunde gefunden, zwischen Autowracks und Säulen nach Schwämmen und Perlen getaucht. Giovanni, Mani und er, das Tuckern des Dieselmotors. Jungs, die Familien gründeten und Väter wurden. Zehn Jahre war er in dem kleinen Fischerdorf geblieben, hatte Giovanni in die Villa eingeladen und ihm Schach beigebracht. Adrian zog Menschen ohne Ausbildung vor. Die ungeschliffenen Diamanten, einfache Leute, die ihre Weisheiten aus dem Alltag schöpften. Von ihnen gab es immer weniger, sie wurden durch Leiterplatten und Bildschirme dezimiert. Das 20. Jahrhundert hatte den Menschen in einen Wohlfahrtskäfig gesperrt, der allmählich zu eng wurde. Die Welt, der Abstand, die Gedanken. Die graue Masse. Die Entropie der Menschheit. Giovanni war einer der Letzten gewesen. Ein Fischer, so einfach war das. Adrian stellte eine weiße Schachfigur aus Elfenbein neben den Sarg.

»D4 auf E3«, sagte er und warf den weißen König um.

Er querte die Piazza und ging ins Café für einen Espresso. Nebenan hatte sich eine amerikanische Supermarktkette etabliert. Adrian blätterte in einer Zeitung, zahlte, und der Inhaber reichte ihm ein wattiertes Kuvert. Er ließ den verschlafenen Ortskern hinter sich und ging zum Strand hinunter. Der Poststempel war aus Belgien. Es gab zwei Wege zur Villa, einen durch den Ort und einen vom Meer hinauf. Mehrere Hotels hatten sich in der Gegend angesiedelt und den Strand in Abschnitte mit bunten Sonnenschirmen unterteilt. Die Hochsaison würde die reinste Plage werden. Ein Ferrari mit russischem Kennzeichen blockierte die Treppe zur Strandpromenade. Adrian zwängte sich vorbei, machte sich sein Hemd schmutzig und fluchte innerlich.

Die besten Geschäfte wurden in Kriegszeiten gemacht, wenn es keine langen Fristen gab. Ein Adelsgeschlecht aus Verona war gezwungen gewesen, im Ersten Weltkrieg ihr Vermögen abzustoßen, und er hatte die Immobilie zu einem Spottpreis ergattert. Es hieß, ein römischer Senator habe die Villa erbaut, Quirinius oder so ähnlich. Das Rauschen der Wellen drang bis zu den Pinien und Zypressen vor. Er ließ sich auf einer ausgesetzten Marmorbank nieder, atmete tief durch und nahm den Salzgeschmack des Meeres wahr. Mare Nostrum, dieses historische Gewässer, das den Aufstieg und Fall der Zivilisation gesehen hatte. Handel, Krieg und Flucht, ein turbulentes Meer. Er hatte diesen Platz immer gemocht, er war ein willkommener Zufluchtsort, wenn der Ententeich an der Ostsee zu klein wurde. Zwischen den Weltkriegen hatte er fast zwei Jahrzehnte in der Villa verbracht. Das war, bevor die moderne Welt sich endgültig zwischen die Ruinen und die mageren Hirtenjungen gedrängt und alles bis zur Gleichgültigkeit ausgemerzt hatte. Auch wenn der Grundstein für seine Liebe zur sonnenverbrannten italienischen Landschaft viel früher gelegt worden war, lernte er erst zwischen den Kriegen die Sprache. Er hatte angefangen, auf Italienisch zu träumen. Zeitlose, historische Träume mit der Patina vergangener Zeiten.

Ein Motorboot störte seine Gedanken.

Adrian sah der weißen Kielwelle nach und öffnete mit einem Seufzer das Kuvert. Darin lag ein zweiter Brief aus Schweden, keiner von ihnen trug seinen Namen, und beide waren durch vertrauenswürdige Hände gegangen, um zu ihm zu gelangen. Telefon und Internet benutzte er schon lange nicht mehr, es war zu kostspielig, die digitalen Spuren zu verwischen, und man wusste heutzutage nie, wer mithörte.

Der Brief enthielt mehrere Zeitungsartikel über den Prozess eines schwedischen Amokläufers, Jonas Hellemyr. Die Fotos zeigten einen jungen Mann mit festem Blick und breiter Stirn. Sein Sohn. Er studierte die Fotos akribisch. Das Boot preschte wieder vorbei, näher am Ufer. Das alles war unbegreiflich, er hatte einen Sohn. Wie war das möglich? In den Achtzigern war irgendwas komplett schiefgelaufen, und das hatte ihn beinahe das Leben gekostet. Doch das meiste war noch immer in dichte Nebelschleier gehüllt. Nun galt es zu warten, Informationen zu sammeln und zu analysieren, die Zeit war auf seiner Seite. Die Zeit war immer auf ihrer Seite. Aber konnte er sich wirklich auf die Brüder des Tribunals verlassen? Es gab so viele lose Enden. Was Jonas Hellemyr betraf, würde er sich früher oder später selbst verraten. Alle wurden unvorsichtig, besonders die Halbwüchsigen ohne Perspektive, und dann würde der Fehltritt korrigiert werden. Aber es gab andere Fragen, die nach Antworten verlangten.

Die unausgesprochenen Befürchtungen wurden von dem Boot unterbrochen, das wieder vorbeidonnerte. Es fuhr einen weiten Bogen durch die Bucht und legte an einem neuen Steg ein Stück weiter weg an. Ein wohlgenährter Russe ging mit zwei Frauen von Bord. Adrians neuer Nachbar. Harter Techno scholl über den Strand und ertränkte seinen inneren Frieden. Er blickte über das Meer, versuchte sich wieder zu beruhigen, aber die Musik gewährte ihm keine Ruhe. Die Mädels johlten, der Russe sprach in sein Mobiltelefon. Er seufzte hörbar, dieses Exil hatte nicht gut angefangen. Wenn er die nächsten fünfundzwanzig Jahre hierbleiben sollte, musste er neue Nachbarn organisieren. Adrian stand auf und klopfte sich die Hose ab. Ein paar Leichen mehr oder weniger machten auch keinen Unterschied. Das Mittelmeer war unersättlich.

»WARUMSEIDIHRNICHTGEKOMMEN?« Jonas’ Stimme hatte Mühe, ihm zu gehorchen.

»Wir waren verhindert.«

»Verhindert? Machst du Witze? Soll ich ein ganzes Jahr hier warten, damit ihr dann verhindert seid? Weißt du überhaupt, was ich durchmache?« Er lehnte sich über den Tisch und tippte der Anwältin gegen die Brust. »Hier drinnen, hier schlägt und brennt es, verstehst du?«

»Glaub mir, ich verstehe das.«

»Ich hatte ein Übereinkommen mit Borg wegen der Kyndelsmäss. Er hat gesagt, dass die Gemeinschaft …«

Die Anwältin legte ihm drei Finger auf den Mund. Ihre Flinkheit überraschte ihn. Vorsichtig nahm sie ihre Hand wieder weg, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Sie zog einen Stiefel aus und rollte den Strumpf hinunter. Ging barfüßig zu einer Steckdose im Besucherraum, ging in die Hocke, nahm einen ihrer Ohrringe und schob den Haken hinter die Plastikverschalung. Die Neonröhre flackerte, als die Elektronen durch den Körper sausten und im Fußboden verschwanden. Das kurze Kräuselhaar sprühte Funken, der Flaum auf ihren Armen stellte sich auf, und die Zähne funkelten. Dann wurde alles dunkel.

»So, jetzt können wir ungestört reden.«

»Werde ich abgehört?«

»Möglich.« Zoës Augen glühten noch immer.

Das schwache Licht unter dem Türspalt war vollkommen ausreichend für ihre empfindlichen Augen.

Zoë Saint-Marc war ein Mysterium. Die Mischung aus schwedischer Bürokratie und westindischer Anarchie machte eine brillante Anwältin aus ihr, belesen, aber total unvorhersehbar. Dunkler Typ, klein und selbstsicher. Elegant, fast etwas zu gewagt gekleidet. Sie mochte die Blicke. Aber unter der Oberfläche war etwas anderes, etwas Widerspenstiges, Schwarzes, eine andere Zoë, als die, in der Jonas sich gespiegelt hatte. Eine Unverwüstliche, zu der er instinktiv eine Nähe spürte.

Sie ging zu dem festgeschraubten Stuhl zurück und zog den Strumpf und den hohen Lederstiefel wieder an.

»Es wird eine Weile dauern, bis jemand was ahnt, nur dieser Kreis hier ist kurzgeschlossen.«

»Ich bring bald jemanden um.«

»Beruhige dich, ich kann dich nicht unter dem Radar halten, wenn du dich nicht zusammenreißt.« Sie blickte genervt zur Decke. »Die suchen immer noch nach dir, weißt du das?«

Jonas war ohne ein Wort im Stich gelassen worden, und jetzt, zehn Tage später, tauchte sie wieder auf und tat, als wäre nichts gewesen. Das war unverzeihlich.

»Was soll das, ich hatte Freigang.«

»Jetzt komm mal runter, ohne uns hättest du den nie gekriegt.«

»Ich soll runterkommen?« Jonas erhob sich. Danach war ihm jetzt überhaupt nicht zumute.

Zoë betrachtete ihn schweigend aus ihren dunklen Augen, bis er sich wieder setzte.

»Die Kyndelsmäss ist aufgeschoben«, sagte sie schließlich.

»Was?«

»Du hast richtig gehört.«

War Mariä Lichtmess eingestellt worden? Jonas war nicht sicher, was das bedeutete. War das überhaupt möglich? Ein schrecklicher Unfall hatte ihn in eine Welt voll dunkler Geheimnisse katapultiert. Er war einer von den Verborgenen, Individuen mit außergewöhnlichen Eigenschaften, die versteckt mitten in der Gemeinschaft lebten. Und er hatte lediglich an der Oberfläche ihrer ungeschriebenen Gesetze gekratzt. Sie hatten im Laufe der Geschichte viele Namen erhalten, waren Jäger und Gejagte gewesen. Aber nicht entdeckt zu werden war wichtiger als alles andere, andernfalls würden sie nicht überleben. Über hundert Jahre waren vergangen, seit die Verborgenen eine Freistatt in Stockholm gegründet hatten, und Jonas war Teil der Gemeinschaft, ob er wollte oder nicht.

»Kommt es vor, dass die Messe nicht stattfindet?« Jonas versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Nicht seit 1942. Aber uns fehlen die Mittel. Die Menschen haben Hunger, das ganze Jahr lang haben sie gewartet. Wenn sich nicht bald eine Lösung findet, ist die Hölle los, glaub mir.«

Jonas begriff. Mit Hunger kannte er sich aus.

»Wie lange dauert es, das zu regeln?«

»Das weiß keiner. Aber es wird daran gearbeitet. Dafür muss viel Geld lockergemacht werden. Und rein technisch gesehen, macht es die Sache nicht unbedingt leichter, dass du den Mann, der das alles ins Leben gerufen hat, um die Ecke gebracht hast«, sagte sie mit spitzem Unterton. »Aber das wird sich alles klären.«

Jonas schwieg. Es gab vieles, was er bereute, aber das nicht. Paul Kron waren die Leiden anderer gleichgültig, im Namen der Wissenschaft hatte er sowohl an Menschen als auch an Verborgenen herumexperimentiert. Hatte sich hinter seiner Forscherrolle versteckt, um seine Übergriffe zu rechtfertigen. Er hatte Jonas dieses verfluchte Implantat in den Kopf gepflanzt, als er noch ein Kind war, um sein Erbe zu vertuschen und seine Fähigkeiten zu hemmen. Kron hatte grauenerregende Tests an Obdachlosen durchgeführt. Jonas hatte Bilder davon gesehen und impulsiv reagiert. Er war nicht stolz darauf, aber das hielt ihn nicht wach.

Paul Krons Hinscheiden hatte zu Problemen mit Mariä Lichtmess geführt. Aber Jonas konnte kaum glauben, dass die moderne Existenz der Verborgenen von einem einzigen Mann abhing. Die Gemeinschaft war entstanden, um ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen, und er war überzeugt, dass es einen Plan B gab. Er hatte einfach keine andere Wahl, er nicht und die anderen auch nicht.

»Wir können nur hoffen, dass sich alles klärt«, sagte sie. »Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen, du wohnst ja förmlich in der Speisekammer.«

»Das ist kein Scherz, Zoë.« Er stand wieder auf. »Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll.«

»Du hast keine Wahl, mon cher«, entgegnete sie und legte ihre Hand auf die seine. »Und ich auch nicht.«

Die dunklen Augen musterten ihn in aller Ruhe. Ihr Blick hatte eine Tiefe, eine kompakte Dunkelheit, die von vielschichtigen Erfahrungen zeugte. Zoë war ein stolzer Emporkömmling. Die Gemeinschaft hatte sie von der Straße aufgesammelt, das hatte sie ohne Umschweife erzählt. Sie war unter anderem in den Slums von Port-au-Prince aufgewachsen, und obwohl sie für die Gemeinschaft arbeitete, umgab sie eine Aura der Unabhängigkeit. Zoë Saint-Marc ließ sich nicht von anderen gängeln. Er fragte sich, wie alt sie sein mochte, sicher um einiges älter als die fünfunddreißig Jahre, die sie zu sein schien.

»Wenn wir nicht bald den Reaktor in Gang kriegen, bist du nicht unser größtes Problem, Jonas. Wenn wir die da draußen nicht zufriedenstellen, fangen sie zu jagen an, und früher oder später wird jemand auf frischer Tat