Die Affäre Agatha Christie - Nina de Gramont - E-Book

Die Affäre Agatha Christie E-Book

Nina de Gramont

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  • Herausgeber: Insel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Agatha Christie ist bereits 1926 eine schillernde, weltbekannte Autorin. Mit ihrem Mann und der kleinen Tochter lebt sie in London, genießt ihren aufkommenden Ruhm, feiert Partys und verbringt die Wochenenden auf exklusiven Landgütern. Als Agatha aus dem Nichts für elf Tage verschwindet, entspannt sich eine Geschichte voller Irrungen, Wirrungen, Täuschungen und Überraschungen, die einzig die geheimnisvolle Nan O‘Dea auflösen kann.

Die junge Nan kommt aus einer anderen Welt: Nach einer schmerzvollen Kindheit und Jugend im erzkatholischen Irland während des Ersten Weltkriegs lässt sie ihre Vergangenheit hinter sich und beginnt ein neues Leben in England – und sucht die Nähe zur Familie Christie. Denn Agatha hat etwas, das Nan zutiefst begehrt …

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Seitenzahl: 495

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Ähnliche


Cover

Titel

Nina de Gramont

DIE AFFÄRE AGATHA CHRISTIE

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel The Christie Affair bei St Martin’s Press, New York.

eBook Insel Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbucht 4956.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© 2022 by Nina de GramontPublished by arrangement with St. Martin’s Publishing Group.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von zero-media.net, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Michael Storrings, Abbildungen: Ilina Simeonova/Trevillion Images, Tartila/Shutterstock

eISBN 978-3-458-77498-3

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Liza Jane Hanson

DIE AFFÄRE AGATHA CHRISTIE

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Teil eins

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Ein Tag zuvor Donnerstag,

2

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Ein Tag zuvor Donnerstag,

2

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Der letzte Tag, an dem Agatha gesehen wurde Freitag,

3

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Der letzte Tag, an dem Agatha gesehen wurde Freitag,

3

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Der letzte Tag, an dem Agatha gesehen wurde Freitag,

3

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag eins Samstag,

4

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag eins Samstag,

4

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag zwei Sonntag,

5

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag drei Montag,

6

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag drei Montag,

6

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag vier Dienstag,

7

. Dezember

1926

Teil zwei

Das Verschwinden. Tag eins Samstag,

4

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag vier Dienstag,

7

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag fünf Mittwoch,

8

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag sechs Donnerstag,

9

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag sieben Freitag,

10

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag sieben Freitag,

10

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Teil drei

Das Verschwinden. Tag acht Samstag,

11

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Letzter Tag, an dem Agatha gesehen wurde Freitag,

3

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag acht Samstag,

11

. Dezember

1926

Hier ruht Schwester Mary

Das Verschwinden. Tag fünf Mittwoch,

8

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag acht Samstag,

11

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag neun und zehn Sonntag,

12

. Dezember und Montag,

13

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Unser letzter Abend Montag,

13

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag der Entdeckung Dienstag,

14

. Dezember

1926

Das Verschwinden. Tag der Entdeckung Dienstag,

14

. Dezember

1926

Ein neues Jahr.

1928

Danksagung

Informationen zum Buch

Teil eins

»Sie macht sich zu viele Gedanken, die Kleine. Das ist nicht gut. Nein, das ist nicht gut.«

HERCULE POIROT

Hier ruht Schwester Mary

Vor langer Zeit, in einem anderen Land, hätte ich fast eine Frau umgebracht.

Es ist ein eigenartiges Gefühl: Mordlust. Zuerst kommt Wut, eine bis dahin ungekannte Wut. Sie bemächtigt sich des Körpers, des Willens, der Glieder, der Psyche so vollkommen wie eine göttliche Gewalt. Verleiht ungeahnte Kräfte. Die sonst so harmlosen Hände schicken sich an, einem anderen Menschen das Leben auszupressen. Und das bereitet Vergnügen. Im Nachhinein wirkt es erschreckend, doch in dem Moment, behaupte ich, ist es höchst befriedigend, es fühlt sich an, als würde der Gerechtigkeit Genüge getan.

Agatha Christie war fasziniert von Morden. Aber sie hatte ein weiches Herz und nie das Bedürfnis, jemanden umzubringen. Niemals. Nicht einmal mich.

»Sagen Sie Agatha zu mir«, forderte sie mich ein ums andere Mal auf und streckte mir ihre schmale Hand hin. Doch ich nahm ihr Angebot nicht an, jedenfalls nicht in jenen frühen Tagen, egal, wie viele Wochenenden ich in einem ihrer Häuser verbrachte, egal, wie oft wir zusammen waren. Eine solche Vertraulichkeit erschien mir unschicklich, obgleich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg schon nicht mehr viel Schicklichkeit herrschte. Als elegante Angehörige der oberen Zehntausend war Agatha durchaus bereit, auf Förmlichkeit und gesellschaftliche Konventionen zu verzichten. Wohingegen ich mir diese Förmlichkeit und Konventionen unter zu großen Mühen angeeignet hatte, um sie einfach außer Acht zu lassen.

Ich mochte sie. Damals weigerte ich mich, allzu viel von ihren Schreibkünsten zu halten. Ihre Person jedoch habe ich stets bewundert, das muss ich zugeben. Ich bewundere sie nach wie vor. Als ich das neulich einer meiner Schwestern gestand, fragte sie mich, ob ich das, was ich getan habe, bedauere, und wie viel Schmerz es mir bereite.

»Natürlich«, antwortete ich, ohne zu zögern. Wer behauptet, er bedauere nichts, ist entweder ein Psychopath oder ein Lügner. Ich bin weder das eine noch das andere, besitze lediglich die Fähigkeit, Geheimnisse zu bewahren. In dieser Hinsicht sind die erste Mrs Christie und die zweite sich sehr ähnlich. Wir wissen beide, dass man die eigene Geschichte nicht erzählen kann, ohne die eines anderen zu enthüllen. Ihr gesamtes Leben lang weigerte Agatha sich, Fragen über die elf Tage zu beantworten, in denen niemand wusste, wo sie sich aufhielt, und zwar nicht nur deshalb, weil sie sich selbst schützen musste.

Auch ich hätte mich geweigert, eine Antwort zu geben, wenn es jemandem eingefallen wäre, mich zu fragen.

Das Verschwinden

Ein Tag zuvorDonnerstag, 2. Dezember 1926

Ich sagte Archie (ohne es ernst zu meinen), dies sei der falsche Moment, seine Frau zu verlassen. Für meinen Geschmack zog sich alles schon viel zu lange hin. Es war Zeit, meinen Trumpf auszuspielen. Da Archie jedoch gern für sich in Anspruch nahm, selbst auf Ideen zu kommen, widersprach ich.

»Sie ist zu labil«, erklärte ich. Agatha war nach wie vor damit beschäftigt, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten.

»Clarissas Tod ist Monate her«, meinte Archie. »Und egal, wann ich es ihr sage: Es wird immer ein Schock sein.« Labil wäre das letzte Wort gewesen, das einem zu Archie einfiel. Er saß an dem riesigen Mahagonischreibtisch in seinem Londoner Büro, ganz Macht und Protz. »Man kann’s nicht allen recht machen«, bemerkte er. »Irgendjemand ist immer unglücklich, und ich mag nicht länger dieser Jemand sein.«

Ich sah ihn von dem Ledersessel aus an, der sonst Finanziers und Geschäftsleuten vorbehalten war.

»Darling.« Den vornehmen Tonfall Agathas würde ich nie treffen, aber mittlerweile war es mir zumindest gelungen, meinen East-End-Einschlag loszuwerden. »Sie benötigt mehr Zeit, sich zu erholen.«

»Sie ist eine erwachsene Frau.«

»Menschen hören nie auf, ihre Mutter zu brauchen.«

»Du bist zu nachsichtig, Nan. Einfach zu nett.«

Ich lächelte, als entspräche das der Wahrheit. Krankheit, Schwäche, Traurigkeit – diese Dinge hasste Archie am meisten. Er hatte keine Geduld mit Menschen, die sich erholen mussten. Als seine Geliebte gab ich mich stets fröhlich. Leicht und nonchalant. Das genaue Gegenteil seiner gramgebeugten, nicht gänzlich ahnungslosen Gattin.

Seine Gesichtszüge wurden weicher, ein Lächeln spielte um seine Lippen. Wie die Franzosen so schön sagen: »Glückliche Menschen haben keine Vergangenheit.« Archie erkundigte sich nie nach der meinen, wollte mich ausschließlich im Jetzt, immer strahlend und allzeit bereit. Er strich sich mit der Hand durch die Haare, ordnete, was nicht unordentlich war. Ich bemerkte einige graue Strähnen an seinen Schläfen, die ihn distinguiert erscheinen ließen. Möglicherweise spielten Geldgier und Eigennutz in meiner Beziehung mit Archie eine Rolle, doch das bedeutete nicht, dass ich seine Gesellschaft nicht genießen konnte, denn er war groß gewachsen, attraktiv und verliebt in mich.

Er erhob sich von seinem Schreibtisch, ging zu mir und kniete vor meinem Sessel nieder.

»Archie«, sagte ich in gespielt tadelndem Tonfall. »Was, wenn jemand hereinkommt?«

»Es kommt niemand herein.« Er legte die Arme um meine Taille und den Kopf in meinen Schoß. Ich trug einen Faltenrock, eine Hemdbluse, eine locker sitzende Strickjacke und Strümpfe. Dazu eine Kunstperlenkette und einen schicken neuen Hut. Zuerst streichelte ich Archies Kopf, doch als er das Gesicht gegen meinen Körper presste, schob ich ihn sanft weg.

»Nicht hier«, ermahnte ich ihn, ohne allzu großen Nachdruck. Stets fröhlich, fröhlich, fröhlich. Eine junge Frau, die in ihrem Leben noch keinen einzigen Tag krank oder traurig gewesen ist.

Archie küsste mich. Er schmeckte nach Pfeifentabak. Ich schloss die Finger um das Revers seines Jacketts und wehrte mich nicht, als er seine Hand auf meine Brust legte. Am Abend würde er zu seiner Frau nach Hause gehen. Und wenn die Angelegenheit sich so weiterentwickelte, wie ich sie sorgfältig geplant hatte, war es das Beste, wenn er mit der Erinnerung an mich zu ihr zurückkehrte. Ein mit Spermiziden getränkter Schwamm in meinem Bauch – den meine verheiratete jüngere Schwester mir beschafft hatte – schützte mich vor einer Schwangerschaft. Ich traf mich nie mit Archie, ohne dergestalt gewappnet zu sein, doch für den Augenblick erwies sich meine Vorsicht als unnötig. Er strich meinen Rock züchtig glatt, ordnete die Falten, erhob sich und trat wieder hinter seinen Schreibtisch.

In dem Moment, in dem er seinen Sessel erreichte, kam Agatha herein. Sie hatte leise an der Tür geklopft und sie gleichzeitig aufgedrückt. Ihre bequemen Schuhe verursachten so gut wie kein Geräusch auf dem Teppich. Im Alter von sechsunddreißig Jahren begannen Agathas Haare den rötlichen Ton zu verlieren; sie wirkten jetzt eher braun. Sie war einige Zentimeter größer als ich und fast zehn Jahre älter.

»Agatha«, herrschte Archie sie an. »Du hättest lauter klopfen können.«

»Ach, Archie, dein Büro ist doch keine Umkleide.« Sie wandte sich mir zu. »Miss O’Dea. Sie hatte ich hier nicht erwartet.«

Archies Strategie war es von Anfang an gewesen, mich in aller Öffentlichkeit zu verbergen. Ich wurde regelmäßig zu Festen und sogar Wochenenden bei den Christies eingeladen. Noch sechs Monate zuvor hätte er sich immerhin eine Erklärung für meine Anwesenheit in seinem Büro einfallen lassen. Ich habe mir Nan von Stan zum Stenografieren ausgeliehen, hätte er zum Beispiel gesagt. Stan war mein Chef bei der Imperial British Rubber Company, ein Freund Archies, und lieh niemals jemandem etwas.

Diesmal bot Archie keinerlei Erklärung dafür, warum ich saß, wo ich nichts verloren hatte. Agatha hob die Augenbrauen, als ihr klar wurde, dass ihr Ehemann sich nicht mehr die Mühe für die üblichen Ausflüchte machte. Sie versuchte sich zu fassen, indem sie das Wort an mich richtete.

»Sieh mal einer an.« Sie deutete auf ihre Kleidung, dann auf die meine. »Wir könnten Zwillinge sein.«

Es kostete mich Beherrschung, mein Gesicht nicht zu berühren, denn ich wurde tiefrot. Was, wenn sie zwei Minuten früher eingetreten wäre? Hätte sie trotz der delikaten Situation genauso beharrlich unbeteiligt getan wie jetzt?

»Ja«, pflichtete ich ihr bei. »Das stimmt.«

In jener Saison sahen praktisch sämtliche Londoner Frauen gleich aus; fast alle trugen ähnliche Kleidung und die Haare schulterlang. Doch Agathas Kostüm war von Chanel, und ihre Kette bestand nicht aus Kunstperlen. Sie registrierte diese Unterschiede nicht mit Verachtung, falls überhaupt. Das entsprach nicht ihrem Wesen, eine Tugend, die ihr im Hinblick auf mich schadete. Kein einziges Mal äußerte Agatha Kritik daran, dass die Tochter eines kleinen Angestellten, eine einfache Sekretärin, sich in ihren Kreisen bewegte. »Sie ist mit Stans Tochter befreundet«, hatte Archie ihr mitgeteilt. »Spielt ausgezeichnet Golf.« Eine weitergehende Erklärung hatte sie nie verlangt.

Auf Fotos aus dieser Zeit wirkt Agatha viel dunkler und weniger hübsch, als sie tatsächlich war. Ihre blauen Augen strahlten. Auf ihrer Nase prangten wie bei einem kleinen Mädchen Sommersprossen, und ihr Gesichtsausdruck konnte in Sekundenschnelle wechseln. Endlich erhob sich Archie, um sie zu begrüßen. Er streckte ihr die Hand hin, als wäre sie eine Geschäftspartnerin. Ich kam zu dem Schluss – wie Menschen, die etwas Grausames tun, es gern machen –, dass alles auch sein Gutes hatte: Diese hübsche, ehrgeizige Frau hatte etwas Besseres verdient als Archie. Jemanden, der sie mit unverhohlener Bewunderung in die Arme schloss und ihr treu war. Als Schuldgefühle drohten, mir den Mut zu rauben, rief ich mir ins Gedächtnis, dass Agatha mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen war und immer wieder auf die Füße fallen würde.

Vermutlich bereits zum zweiten oder dritten Mal teilte sie Archie mit, sie habe sich mit ihrem neuen Literaturagenten Donald Fraser getroffen. »Da ich schon mal in der Stadt bin, dachte ich mir, wir könnten zusammen zu Mittag essen. Bevor du am Wochenende wegfährst.«

»Heute geht’s nicht.« Archie deutete wenig überzeugend auf seinen leeren Schreibtisch. »Ich habe jede Menge Arbeit.«

»Ach. Bist du sicher? Ich habe bei Simpson’s reserviert.«

»Ja, ich bin sicher«, antwortete er. »Ich fürchte, du bist völlig umsonst hergekommen.«

»Möchten Sie mich begleiten, Miss O’Dea? Ein Lunch unter Frauen?«

Eine zweite Abfuhr wollte ich ihr ersparen. »Ja, gern.«

Archie hüstelte verärgert. Ein anderer Mann wäre angesichts dieser Zusammenkunft von Ehefrau und Geliebter möglicherweise nervös geworden. Doch ihm war schon alles egal. Er würde seine Ehe beenden, und wenn das geschah, weil Agatha uns mehr oder minder in flagranti erwischte, war es eben so. Während seine Gattin und ich miteinander speisten, würde er bei Garrard & Co. einen wunderschönen Ring, meinen ersten echten Diamantring, erwerben.

»Sie müssen mir von Ihrem neuen Literaturagenten erzählen«, forderte ich Agatha auf und erhob mich. »Wie aufregend, Mrs Christie!« Das war durchaus keine Schmeichelei. Ich fand ihre Erfolge bedeutend interessanter als Archies Tätigkeit im Finanzwesen, obwohl damals noch nicht so viele Leute sie kannten wie später. Ihr Stern war erst im Aufgehen begriffen. Ich beneidete sie.

Agatha hakte sich bei mir unter. Diese Geste bereitete mir keine Probleme. Vertraulichkeiten unter Frauen waren für mich ganz natürlich, denn ich hatte drei Schwestern. Agatha verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das gleichzeitig verträumt und entschlossen wirkte. Archie beklagte sich bisweilen darüber, dass sie in den vergangenen sieben Jahren seit Teddys Ankunft zugenommen habe, aber ihr Arm fühlte sich schmal und zart an. Ich ließ mich von ihr durch die Büros und hinaus auf die belebte Londoner Straße geleiten. Draußen röteten sich meine Wangen ob der Kälte. Unvermittelt löste sich Agatha von mir und hob die Hand an die Stirn, als müsste sie das Gleichgewicht wiedererlangen.

»Alles in Ordnung, Mrs Christie?«

»Agatha«, korrigierte sie mich in schärferem Tonfall als zuvor in Archies Büro. »Bitte sagen Sie Agatha zu mir.«

Ich nickte. Und tat das, was ich jedes Mal machte, wenn sie mich darum bat: Den größten Teil der Zeit, die wir an jenem Nachmittag miteinander verbrachten, vermied ich ihr gegenüber jegliche Anrede.

Kennen Sie eine Frau, die später einmal berühmt wurde? Dann lassen sich im Rückblick Dinge erkennen, nicht wahr? Zum Beispiel welche Körperhaltung sie hatte. Oder dass sie mit Bestimmtheit sprach. Bis zu ihrem Tod. Agatha behauptete, kein ehrgeiziger Mensch zu sein. Sie glaubte, ihre Gefühle unter Verschluss halten zu können, doch ich nahm ihre Emotionalität in der Art und Weise wahr, wie ihr Blick über einen Raum schweifte. Wie sie jeden taxierte, der ihr begegnete, wie sie für die betreffende Person eine Geschichte ersann, die sie in einem einzigen Satz zusammenfassen konnte. Anders als Archie wollte Agatha stets etwas über die Vergangenheit eines anderen Menschen erfahren. Wenn dieser nicht bereit war, sie ihr zu enthüllen, dachte sie sich selbst etwas aus und redete sich ein, dass es der Wahrheit entsprach.

Bei Simpson’s wurden Agatha und ich nach oben in den Speisesaal für die Damen geleitet. Sobald wir saßen, nahm sie ihren Hut ab, und ich tat es ihr gleich, obschon viele der anderen anwesenden Frauen ihren aufbehielten. Sie zupfte ihre hübschen Haare zurecht. Diese Geste schien weniger mit Eitelkeit zu tun zu haben als sie zu trösten. Natürlich hätte sie mich fragen können, was ich in Archies Büro getan habe. Aber ihr war klar, dass ich um eine Lüge nicht verlegen sein würde, und die wollte sie nicht hören.

Stattdessen sagte sie: »Ihre Mutter lebt noch, nicht wahr, Miss O’Dea?«

»Ja, beide Eltern.«

Sie musterte mich unverhohlen. Versuchte, sich ein Urteil über mich zu bilden. Im Rückblick darf ich behaupten: Ich war hübsch. Schlank, jung, sportlich, wenn auch keine schöne Helena. Wäre ich eine gewesen, hätte meine Beziehung mit Archie sie vielleicht weniger beunruhigt, denn mein Mangel an offensichtlichen Reizen ließ darauf schließen, dass er mich am Ende tatsächlich liebte.

»Wie geht es Teddy?«, erkundigte ich mich.

»Gut.«

»Und wie kommen Sie mit dem Schreiben voran?«

»Ebenfalls gut.« Sie winkte ab, als gäbe es kein unwichtigeres Thema. »Es ist reine Augenwischerei. Glänzende Oberflächen und falsche Fährten.« Ihr Gesicht nahm einen belustigten Ausdruck an. Obwohl sie abwiegelte, wusste ich, wie stolz sie auf ihre Arbeit war.

Ein Knall. Ein weiß gekleideter Kellner hatte sein Tablett voll leerer Teller fallen gelassen. Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Am Nachbartisch bedeckte ein Mann, der mit seiner Frau speiste, reflexartig den Kopf mit den Armen. Vor nicht allzu langer Zeit hatten laute Geräusche in London von etwas deutlich Bedrohlicherem gekündet als von zerbrochenem Geschirr, und viele unserer Männer hatten schlimme Zeiten durchlebt.

Agatha nippte an ihrem Tee. »Mir fehlt die Ruhe, die wir vor dem Krieg hatten. Glauben Sie, wir werden uns je wieder davon erholen, Miss O’Dea?«

»Ich wüsste nicht wie.«

»Vermutlich waren Sie zu jung, um als Krankenschwester eingesetzt zu werden.«

Ich nickte. Während des Krieges hatten hauptsächlich ältere Frauen die verwundeten Soldaten versorgt, damit sich keine unschicklichen Romanzen entwickelten. Agatha war in einer Krankenhausapotheke in Torquay tätig gewesen, wo sie viel über Gifte lernte.

»Meine Schwester Megs wurde Krankenschwester«, erzählte ich. »Nach dem Krieg, das ist ihr Beruf. Sie arbeitet in einer Klinik in Torquay.«

Agatha stellte keine weiteren Fragen zu diesem Thema. Jemanden wie meine Schwester kannte sie nicht. Stattdessen erkundigte sie sich: »Haben Sie jemanden verloren, der Ihnen nahestand?«

»Einen Jungen, den ich kannte. In Irland.«

»Ist er gefallen?«

»Lassen Sie es mich so ausdrücken: Er ist nicht nach Hause gekommen. Nicht im eigentlichen Sinn.«

»Archie war beim Flying Corps. Das wissen Sie natürlich. Für die Männer in den Flugzeugen war es wahrscheinlich anders.«

Fasst das nicht in kurzen Worten der Welten Lauf zusammen? Stets waren es die Armen, die für alle litten. Agatha zitierte gern William Blake: »Manchen schenkt das Leben süße Lust, andren stets nur Last.« Ich für meinen Teil erachtete sogar in dieser Situation – wir speisten bei Simpson’s, während ihr Gatte einen Verlobungsring für mich erstand – Agatha als der ersten Gruppe zugehörig und mich als der zweiten.

Ein ums andere Mal huschte ein Ausdruck über Agathas Gesicht, den sie zu kaschieren versuchte. Als wollte sie etwas sagen, könnte sich aber nicht dazu durchringen. Sie hatte mich zum Mittagessen eingeladen, um mich zur Rede zu stellen, dessen war ich mir sicher. Möglicherweise auch, weil sie um Erbarmen flehen wollte. Doch es ist leicht, Gespräche der unangenehmeren Sorte aufzuschieben, wenn man Auseinandersetzungen scheut.

Deshalb und weil es ihr tatsächlich am Herzen lag, bemerkte Agatha: »Krieg: Wie sinnlos. Jeder Krieg. Schrecklich, was Männer dabei ertragen müssen. Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn davon fernzuhalten. Der Grund wäre mir egal, selbst, wenn das Wohl und Wehe Englands auf dem Spiel stünde.«

»Ich denke, ich würde das Gleiche tun. Falls ich jemals einen Sohn haben sollte.«

Das Fleisch, das wir bestellt hatten, wurde am Tisch tranchiert. Ich wählte ein Stück, das blutiger war, als ich es eigentlich mochte. Wahrscheinlich wollte ich Agatha beeindrucken. Je reicher die Menschen, desto blutiger liebten sie ihr Steak. Als ich es anschnitt, drehte es mir beim Anblick des heraustretenden roten Safts fast den Magen um.

»Denken Sie noch an den Jungen in Irland?«, fragte Agatha.

»Jeden Tag aufs Neue.«

»Heiraten Sie deshalb nicht?«

Nicht heiraten. Als hätte ich das niemals vor. »Vermutlich.«

»Sie sind noch jung. Wer weiß? Vielleicht taucht er ja eines Tages wieder auf, genesen.«

»Das wage ich zu bezweifeln.«

»Während des Krieges gab es eine Zeit, in der ich dachte, Archie und ich würden nie heiraten können. Aber dann haben wir es doch geschafft, und wir sind sehr glücklich. Das sind wir wirklich. Sehr glücklich.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Kurz und knapp. Das Gespräch über den Krieg hatte mich vorbereitet. Einem Menschen, der nichts hat, mag man verzeihen, wenn er jemandem, der alles hat, etwas – zum Beispiel den Ehemann – nimmt.

Der Kellner trat an unseren Tisch und erkundigte sich, ob wir einen Käsegang wollten. Wir winkten beide ab. Agatha legte die Gabel weg, obwohl sie nur die Hälfte von ihrem Fleisch gegessen hatte. Eine Frau mit weniger guten Manieren hätte ihren Teller weggeschoben. »Ich darf nicht mehr so viel essen. Archie beklagt sich, dass ich zu dick bin.«

»Ich finde, Sie sind genau richtig«, erwiderte ich, um sie zu beruhigen, und weil es der Wahrheit entsprach. »Sie sehen wunderschön aus.«

Agatha lachte, ein wenig spöttisch, über sich selbst, nicht über mich, was mich milder stimmte. Es bereitete mir kein Vergnügen, jemandem Schmerz zu verursachen. Der Tod ihrer Mutter war zur Unzeit eingetreten, zu kurz vor Archies Trennung von ihr. So hatte ich das nicht geplant. Agathas Vater war in ihrem elften Lebensjahr verstorben, weswegen sie nun nach dem Tod ihrer Mutter viel zu jung der ältesten Generation ihrer Familie angehörte.

Nachdem Agatha darauf bestanden hatte, die Rechnung zu begleichen, verließen wir gemeinsam das Restaurant. Auf der Straße wandte sie sich mir zu, streckte die Hand nach meinem Gesicht aus und umfasste mein Kinn mit Zeigefinger und Daumen.

»Haben Sie Pläne für dieses Wochenende, Miss O’Dea?« Ihr Tonfall ließ ahnen, dass sie über meine Pläne Bescheid wusste.

»Nein. Aber nächste Woche mache ich Urlaub. Im Bellefort Hotel in Harrogate.« Warum erzählte ich ihr das? Das hatte ich nicht einmal Archie verraten. Sich den Mann mit einer Frau zu teilen, gibt einem ein Gefühl der Nähe zu ihr. Manchmal sogar größerer Nähe als zu ihm.

»Sie gönnen sich etwas«, stellte sie fest, als würde das ihrem pragmatischen Wesen nicht zusagen. »Wie schön für Sie.«

Zum Glück fragte sie mich nicht, wie ich mir einen solchen Luxus leisten könne.

Sie ließ mein Kinn los und sah mich mit einem schwer zu deutenden Blick an. »Dann also auf Wiedersehen. Schönen Urlaub.«

Sie wandte sich ab, ging ein paar Schritte, hielt inne und kehrte zu mir zurück. »Sie lieben ihn nicht.« Ihr Gesichtsausdruck hatte sich vollkommen verändert: von beherrscht und ruhig zu großäugig und nervös. »Es wäre schlimm genug, wenn Sie es täten. Aber da Sie ihn nicht lieben, überlassen Sie ihn bitte der Person, die es tut.«

Da schwand der letzte Rest meiner Härte. Ich schwieg schuldbewusst, kam mir vor wie ein Geist, als würde ich mich auflösen, in Einzelteilen davonfliegen. Agatha berührte mich kein zweites Mal. Stattdessen fixierte sie mich mit dem Blick, bewertete meine Reaktion. Das Blut wich aus meinen Wangen, ich bewegte mich nicht, atmete nicht einmal.

»Mrs Christie.« Etwas anderes brachte ich nicht hervor. Sie forderte eine Beichte von mir, die abzulegen mir nicht gestattet war.

»Miss O’Dea.« Kurz und endgültig. Wieder ganz ihr gewohntes Ich. Ihr Name auf meinen Lippen hätte ein Leugnen eingeleitet, mein Name auf ihren war eine brutale Abfuhr.

Ich sah ihr vom Restaurant aus nach. In meiner Erinnerung verschwindet sie im dichten Nebel, doch das kann nicht sein. Es war helllichter Tag, der Himmel klar und blau. Höchstwahrscheinlich ging sie einfach um eine Ecke oder tauchte in die Menschenmenge ein.

Eigentlich hätte ich an meinen Arbeitsplatz zurückkehren müssen, doch ich machte mich auf den Weg zu Archies Büro. Meine Tätigkeit als Sekretärin bedeutete mir nicht mehr sonderlich viel, da Archie einen immer größeren Teil meiner Kosten übernahm. Ich wusste, er würde über mein Lunch mit Agatha nachgrübeln, und wenn er ihr am Abend tatsächlich mitteilte, er werde sie verlassen, würde sie möglicherweise gegen mich anführen, dass ich ihn nicht liebe. Folglich war es wichtig, ihm das Gefühl zu geben, ich tue das sehr wohl.

Unterwegs kam ich an einem Laden vorbei, in dem ein Stapel eines rosafarbenen Kinderbuchs mit einem kleinen Teddybären darauf auslag, der sich, an die Schnur eines Ballons geklammert, in die Luft erhob. Pu der Bär. Es war so ungewöhnlich, dass ich ein Exemplar für Teddy kaufte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, es ihr als Weihnachtsgeschenk selbst zu überreichen. Bis dahin würden ihre Eltern vielleicht getrennt leben, und Teddy würde Weihnachten bei ihrem Vater und mir verbringen. Wir drei, wie wir gemütlich unterm Christbaum Geschenke austauschten. Bisweilen hörte man, dass Kinder nach einer Scheidung beim Vater lebten. Und Archie behauptete immer, Teddy liebe ihn mehr als Agatha. Es sah Archie ähnlich, so etwas nicht nur zu behaupten, sondern es auch zu glauben.

Ich gab ihm das Buch für Teddy in seinem Büro. Er verschloss die Tür, zog mich auf seinen Schoß, öffnete die Knöpfe an meinem Rock und schob ihn mir bis zur Taille hoch.

»So wird es nicht mehr lange sein«, hauchte er mir ins Ohr, obgleich ihm wohl genau das gefiel. War es nicht bei allen Männern so?

Ich löste mich von ihm und strich meinen Rock glatt. Der Hut saß nach wie vor auf meinem Kopf; er war kaum verrutscht.

»Wie hat sie auf dich gewirkt?«, erkundigte er sich und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

»Traurig« Falls sie ihm jemals verraten sollte, dass sie mich zur Rede gestellt hatte, würde ich es leugnen. »Und besorgt.«

»Sei ihr gegenüber nicht zu freundlich. Es ist menschlicher, den Stoß schnell zu führen.«

»Bestimmt hast du recht.«

Ich warf ihm eine Kusshand zu, ging zur Tür, hoffte, seine Entscheidung mit meinen Beteuerungen nicht ins Wanken gebracht zu haben. Nach meiner Unterhaltung mit Agatha erschien es mir noch dringlicher, dass er sie verließ. Ich löste den Riegel an der Tür.

»Nan«, sagte Archie, bevor ich hinaustreten konnte. »Wenn wir uns das nächste Mal treffen, bin ich ein freier Mann.«

»Keineswegs«, widersprach ich. »Dann gehörst du mir.«

Er schmunzelte. Da wusste ich: Ich musste mir keine Gedanken machen, jedenfalls nicht im Hinblick darauf, dass Archie Agatha reinen Wein einschenken würde. Der Mann hatte eine Mission. Sobald er einen Entschluss fasste, führte er ihn kühl und überlegt aus wie ein Pilot, der, selbst unangreifbar in der Luft, Bomben abwirft und auf dem Boden Tod und Verwüstung anrichtet.

Das Verschwinden

Ein Tag zuvorDonnerstag, 2. Dezember 1926

Männer haben eine Standardgeschichte, die sie ihrer Geliebten erzählen: Er liebt seine Frau nicht, hat sie vielleicht nie geliebt. Sie schlafen seit Jahren nicht mehr miteinander, denken nicht einmal daran. In seiner Ehe fehlen Leidenschaft, Zuneigung, Freude. Sie ist öde und trist. Er bleibt lediglich der Kinder oder des Geldes oder der Schicklichkeit wegen bei seiner Frau. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Die Geliebte ist sein einziges Glück.

Wie oft entspricht diese Geschichte der Wahrheit? Meiner Einschätzung nach nicht allzu oft. Bei den Christies stimmte sie nicht, das war mir klar.

An jenem Abend pendelte Archie wie üblich von London nach Sunningdale. Das Paar hatte sein Heim nach dem Herrenhaus in Agathas erstem Roman »Styles« genannt. Es handelte sich um ein hübsches viktorianisches Gebäude mit ansehnlichem Garten. Als Archie zur Tür hereinkam, wartete Agatha, fürs Abendessen gekleidet, bereits auf ihn. Er hat mir nie erzählt, was sie trug, aber ich weiß, dass es ein meerschaumgrünes Chiffonkleid war, dessen Schnitt die Wölbung ihres Busens wohl gut zur Geltung brachte. Archie teilte mir lediglich mit, sie habe so außer sich gewirkt, dass er beschloss, mit der Eröffnung, er werde sie verlassen, bis zum Morgen zu warten. »In der Nacht ist man einfach emotionaler, nicht wahr?«, stellte er fest.

Agatha, die ahnte, was er ihr sagen wollte, beschloss, wortlos zu kämpfen. Für gewöhnlich wich ihr der kleine Terrier Peter niemals von der Seite, doch an jenem Abend schickte sie den Hund mit Teddy schlafen, damit er nicht störte. Und sie bemühte sich, so fröhlich zu sein, wie ihr Mann es sich von ihr wünschte.

Manchmal denke ich mir, Agatha habe Hercule Poirot als Gegenpol zu Archie erfunden. Poirot entging nicht der kleinste emotionale Hinweis; es gab kein noch so abwegiges Gefühl, das er nicht nachvollziehen konnte. Poirot war in der Lage, die Traurigkeit eines Menschen wahrzunehmen, zu bewerten und zu vergeben. Archie hingegen sagte einfach »Kopf hoch« und erwartete, dass sein Gegenüber diese Anweisung befolgte.

Nachdem Archie beschlossen hatte, die unvermeidliche Szene zu verschieben, setzte er sich mit seiner Frau zu einem ruhigen Abendessen an die gegenüberliegenden Enden des langen Tischs. Als ich ihn später fragte, worüber sie gesprochen hätten, antwortete er: »Nur Small Talk.«

»Wie hat sie auf dich gewirkt?«

»Mürrisch.« Archie sprach das Wort aus, als handelte es sich um einen persönlichen Affront. »Hemmungslos verdrießlich.«

Nach der Mahlzeit bat Agatha ihn, sich mit ihr auf einen Brandy ins Wohnzimmer zu begeben. Er winkte ab und ging nach oben zu Teddy. Honoria, die einerseits als Agathas Sekretärin und andererseits als Teddys Kindermädchen fungierte, war gerade dabei, die Kleine ins Bett zu bringen.

Der Terrier sauste in dem Moment zur Tür hinaus, in dem Archie hereinkam, worauf Teddy lauthals protestierte. »Mutter hat mir versprochen, dass Peter heute Nacht bei mir bleiben darf!«

Glücklicherweise konnte Archie sie mit dem Pu-der-Bär-Buch von mir besänftigen. Sobald Teddy es aufgeregt ausgepackt hatte, las er ihr das erste Kapitel daraus vor. Sie bettelte ihn an weiterzulesen, sodass Agatha, als er endlich selbst ins Bett ging, bereits schlief – und gar nicht merkte, dass dies ihre letzte Gelegenheit gewesen wäre, ihn bei sich zu halten. »Wie eine Tote«, erzählte Archie mir.

Als ich am folgenden Samstag nach Styles kam, um Archies Wagen von Godalming zurückzubringen, entdeckte ich jedoch Pu der Bär, nach wie vor in braunes Papier gewickelt, auf einem Tischchen im Vestibül. Und beim Lunch im Simpson’s hatte Agatha jenen verwaschenen, müden Blick einer unter Schlaflosigkeit Leidenden gehabt, die sich nach zu vielen Nächten ohne Erholung durch den Tag quält. Sie liebte ihren Mann. Nach zwölf Jahren Ehe liebte sie ihn blind und voller Hoffnung, als hätte sie in ihrem sechsunddreißigjährigen Leben nichts über die Welt gelernt.

Ich wusste, dass sie niemals eingeschlafen wäre, bevor Archie sich zu ihr ins Bett legte. Hier also nun, wie es sich meiner Meinung nach tatsächlich zugetragen hat:

Agatha begrüßte Archie, als dieser nach Hause kam. So weit stimmte die Geschichte wohl. Ihre Wangen waren gerötet, sie wirkte entschlossen. Sie hatte sich entschieden, ihn nicht mit Wut und Drohungen zurückzugewinnen, sondern durch die bloße Kraft ihrer hingebungsvollen Liebe, und sich entsprechend angezogen. Ich weiß genau, was sie trug, weil ihr Kleid am Samstagmorgen verknittert auf dem Boden ihres Schlafzimmers lag. Das Hausmädchen war zu verstört gewesen, um es wegzunehmen und zu waschen. Als ich es dort bemerkte, kniete ich nieder, hob es auf und hielt es mir an den Körper, als wollte ich es anprobieren. Es war mir viel zu lang; der meerschaumgrüne Chiffon umspülte meine Füße. Das Gewand roch nach Yardley-Parfüm, Old English Lavender, leicht und angenehm.

Wie albern, ein solches Kleidungsstück mitten im Winter, aber nun ja. Wie hübsch sie darin bestimmt ausgesehen hatte, als sie ihn empfing. Sommersprossen auf ihrer Nase und ihrem üppigen, sich deutlich abzeichnenden Busen. Vielleicht hielt sie einen Drink in der Hand, nicht für sich selbst (sie trank fast nie Alkohol), sondern für ihn, seinen Lieblingsscotch.

»AC.« Sie trat nahe an ihn heran, legte eine Hand auf seine Brust, nahm ihm den Wintermantel ab und reichte ihm den Scotch. Seit der Hochzeitsnacht nannten sie einander so: AC.

Archie erwiderte den Kosenamen nicht und gab ihr das eingepackte Kinderbuch. »Für Teddy.« Er sagte ihr nicht, dass ich es gekauft hatte, wahrscheinlich ahnte sie es. Archie interessierte sich nicht für Bücher – er hatte nicht einmal die von ihr verfassten gelesen, kein einziges. Agatha legte das Paket ungeöffnet auf das Tischchen.

Im Wohnzimmer schenkte sie sich ein Glas Wasser ein. Sie beherrschte es meisterlich, Dinge auszusitzen. Agatha hatte Jahre auf die Heirat mit Archie und dann auch noch auf das Ende des Krieges gewartet, bis sie zusammenleben konnten. Sie schickte ihr erstes Buch an einen Verlag und wartete zwei Jahre, bevor der es annahm – sodass sie es, als sie die Nachricht schließlich erhielt, schon beinahe vergessen hatte. Für ihre ersten fünf Romane unterzeichnete sie einen erbärmlich schlechten Vertrag bei Bodley Head, erkannte ihren Fehler fast sofort und saß es aus, statt die zahlreichen Angebote des Verlags für Neuverhandlungen anzunehmen. Inzwischen war sie frei und zu einem sehr viel besseren Verlagshaus gewechselt. Man musste sich etwas in den Kopf setzen und das Beste hoffen. Geduld haben.

Im Haus war es zu kalt. Als sie eine Gänsehaut an den nackten Armen bekam, trat sie näher an Archie heran. Er war stark und unergründlich und strahlte Wärme aus, nicht der emotionalen, sondern der körperlichen Art.

»Wo ist Teddy?«, erkundigte er sich.

»Oben, mit Honoria. Sie badet, und dann geht’s ins Bett.«

Er nickte, atmete ihren Lavendelduft ein. Männer haben es gern, wenn eine Frau sich Mühe gibt, besonders wenn sie ihnen fremd geworden ist wie Agatha ihm, seitdem er beschlossen hatte, sie zu verlassen. Agatha hatte die Köchin angewiesen, seine Lieblingsspeise, Filet Wellington, zuzubereiten, ein ideales Winteressen. Sie zündete Kerzen an. Nur sie beide und eine Flasche guter französischer Wein. Agatha schenkte sich ein Glas ein, um ihm Gesellschaft zu leisten, nippte jedoch nur daran. Sie setzte sich, nicht ans andere Ende des Tisches, wie Archie es mir erzählte, sondern neben ihn. Er links, sie rechts, sodass ihre Ellbogen mit der Vertrautheit von Menschen gegeneinanderstießen, die viele Stunden im selben Haus verbracht und im selben Bett geschlafen haben. Archie war nur ein Mensch, und schlimmer noch: nur ein Mann. Ein sentimentales Gefühl überkam ihn. Schließlich war es nicht so, dass er sie nie geliebt hätte. Seine Entschlossenheit, mich zu heiraten, erinnerte ihn an die Dringlichkeit, mit der er Agatha hatte ehelichen wollen, obwohl der Krieg tobte, sie kein Geld besaßen und ihrer beider Familien – besonders seine Mutter – darauf bestanden, dass sie warteten. Im Licht der Kerzen sah sie fast wieder so aus wie in ihrer Hochzeitsnacht. Bald wäre ihr Hochzeitstag. Der Heilige Abend. Unmöglich, sich in dieser Jahreszeit nicht solchen Erinnerungen hinzugeben.

Nachdem er seinen Teller geleert hatte, schaute er nicht mehr im Kinderzimmer vorbei, um Teddy eine gute Nacht zu wünschen. Schließlich war es spät, sie würde bereits schlafen.

Ich weiß, dass Archie Agatha auszog und das Kleid verknittert auf dem Boden liegen ließ. Er liebte es, die Frau nackt zu sehen, während er selbst voll bekleidet blieb. Und das war seine letzte Gelegenheit bei dieser speziellen Frau. Allein mit ihm im ehelichen Schlafzimmer, zitterte seine Gattin vor Erleichterung und Freude und Kälte. Das Hausmädchen hatte den Kamin angezündet. In dem schummerigen, flackernden Licht wirkte Agatha in all ihrer Liebe verletzlich.

Die Ehe. Zwei Leben, die sich verquicken. Sie ist ein störrisch Ding, schwer aufzugeben. Archie war nicht gänzlich gefühlskalt, und in jener finalen Nacht mit seiner Frau brachen nach so vielen Monaten, in denen er seine Emotionen beherrscht hatte, ein letztes Mal alle Dämme.

»Agatha«, murmelte er wieder und wieder. Und vermutlich auch: Ich liebe dich. Sie erwiderte seine Worte, Tränen liefen ihr übers Gesicht, als hätte sie ihn endgültig zurückgewonnen. Und während es später und später wurde und die Laken sich beim Liebesspiel immer weiter verhedderten, erkannte sie nicht, dass sie diese eine Nacht die Geliebte war und nie mehr seine Ehefrau sein würde.

Das Verschwinden

Der letzte Tag, an dem Agatha gesehen wurdeFreitag, 3. Dezember 1926

Als Agatha die Augen aufschlug, war sie allein. Archie war vor der Morgendämmerung aufgestanden und hatte einen Strich unter ihre gemeinsame Nacht gemacht, wie es nur ein Mann vermag. Er hatte gebadet, den Geruch seiner Frau weggewaschen und welche Gefühle er auch immer für sie hegen mochte, im Schlafzimmer zurückgelassen. Wogegen Agatha, als sie sich regte, durch die ungewohnte Nacktheit ihres Körpers zwischen den Laken sofort an all das erinnert wurde, was sich ereignet hatte. Sie lächelte triumphierend, streckte sich. Archie war wieder der Ihre. Sie hatte ihn zurückgewonnen.

Vor sich hinsummend schlüpfte sie in ein langes Seidennachthemd, in dem sie normalerweise geschlafen hätte. Bevor sie nach unten ging, zog sie einen Flanellmorgenmantel darüber. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie nur schnell mit den Fingern durch ihre verblassenden roten Haare fahren musste. Sogar sie, die so selbstkritisch war, musste zugeben, dass sie hübsch aussah. Die Wangen vor Glück gerötet. Vor Glück. Was Archie am meisten bewunderte. Heute würde sein erster Blick auf ihr strahlendes Ich ihn mit Liebe, sichtbarer Liebe erfüllen. Sie eilte nach unten, um ihn noch zu erwischen, bevor er sich auf den Weg ins Büro machte.

Man stelle sich ihre Bestürzung vor, als sie Archie am Fuß der Treppe antraf, ausgehfertig gekleidet, die Wochenendtasche gepackt, die Miene hart.

»Du willst nach wie vor wegfahren?« Die Farbe wich aus ihrem Gesicht. Ihre Freude verschwand, bevor Archie sie registrieren konnte.

»Agatha.« Seine Stimme nahm einen warnenden Tonfall an. Eine Rüge. Als wäre sie ein ungezogenes Kind.

»Agatha«, wiederholte sie schrill, ein Ton, der sich die Stufen hinaufzuschwingen schien. Möglicherweise drang er durch die Tür des Kinderzimmers, wo Teddy schlief oder auch nicht – keiner von ihnen hatte nach ihr gesehen. »Agatha«, sagte sie ein weiteres Mal. »Das klingt, als wäre ich diejenige, die sich etwas zuschulden hat kommen lassen. Als wäre ich diejenige, die Probleme macht. Aber du bist der Schuldige. Du. Archie. Archie. Archie.«

Er schaute seufzend in Richtung Küche, wo die Köchin das Frühstück zubereitete. Jeden Moment würde Honoria Teddy herunterbringen. Archie wollte nicht, dass irgendjemand Agatha hörte, deren Hysterie sich unweigerlich verschlimmern würde, sobald er das Unvermeidliche aussprach. Er hatte einen Plan, und den würde er durchziehen. Mein Verlobungsring befand sich in seiner Wochenendtasche, der stolze Preis auf dem Schildchen daran vollständig bezahlt.

»Komm.« Er behielt den Tonfall eines Vaters bei, der ein unartiges Kind schilt. »Unterhalten wir uns in meinem Arbeitszimmer.« Archie trat einen Schritt vor und packte sie am Ellbogen.

Agatha verfügte über keinen eigenen Arbeitsraum. Sie verfasste ihre Romane, wo sie sich gerade aufhielt, solange ein Tisch und eine Schreibmaschine vorhanden waren. Letztlich betrachtete sie sich gar nicht als Schriftstellerin. Gattin, das war ihre primäre Berufung und Identität. Sie war verheiratet. Mit Archie. Wer wäre sie, wenn das nicht mehr galt?

Sie setzte sich auf das mit Seide bezogene Sofa in Archies Arbeitszimmer. Peter trottete herein und sprang zu ihr hinauf. Archie mochte keine Hunde auf den Möbeln, doch im Moment gab es Wichtigeres zu besprechen, also äußerte er sich nicht dazu und schloss die Tür mit einem Klicken.

Agatha erzählte mir einmal, dass sie mit bebenden Lippen zu ihrer Mutter gelaufen war, als ihr das erste Mal das Herz gebrochen wurde von einem Jungen, den sie anhimmelte. Clarissa Miller hatte ihr mit einer Hand ein Taschentuch gereicht und die andere mit erhobenem Zeigefinger auf und ab bewegt, als wollte sie den Takt zu dem vorgeben, was sie sagte. »Wage es ja nicht zu weinen. Das verbiete ich dir.« Da Agatha von Natur aus gehorsam war und nichts mehr wollte, als ihrer Mutter zu gefallen, hatte sie sich lediglich ein einziges kurzes Zittern zugestanden und die Tränen heruntergeschluckt, die über ihre Wangen zu rollen drohten.

Aber es hatte nicht nur gebrochene Herzen gegeben. In ihrer Jugend war sie fröhlich und lebhaft gewesen und hatte einen Heiratsantrag nach dem anderen ausgeschlagen. Als schließlich Archie mit Nachdruck um sie warb, war sie bereits mit Tommy, einem bescheidenen und netten jungen Mann, verlobt, der sie niemals – da war sie sich sicher – in eine Situation gebracht hätte, in der sie sich bemühen musste, den Rat ihrer Mutter zu beherzigen.

Archie gesellte sich nicht zu ihr aufs Sofa, sondern nahm auf einem Ohrensessel Platz, so nah bei ihr, dass sie ihn berühren konnte. Nach der Nacht, die sie miteinander verbracht hatten, war das eine natürliche Geste, die sie sich gestattete. Sie streckte die Hand nach ihm aus.

»Agatha.« Er klang streng, nun folgten die Worte, vor denen sie sich schon seit Monaten fürchtete. »Es gibt keine leichte Art, es zu sagen.«

»Dann sag es nicht«, flehte sie, ließ die erbärmlich ausgestreckten Arme sinken, zog Peter auf ihren Schoß und streichelte den Hund, um sich zu beruhigen. »Behalt es einfach für dich.«

»Ich spreche nur aus, was du ohnehin schon wissen müsstest. Ich liebe Nan O’Dea und werde sie heiraten.«

»Nein, das lasse ich nicht zu. Das kann nicht sein. Du liebst mich.« Die Erinnerung an die vergangene Nacht war so klar und präsent, als wäre sie noch nicht vorüber. Anders als Archie hatte sie kein Bad genommen. Sein Geruch haftete nach wie vor an ihr; er war stärker als das Lavendelparfüm. »Ich bin deine Frau.«

»Scheidung«, erwiderte Archie. Es war am leichtesten, das Wort einfach herauszuschleudern – die simple Feststellung einer Tatsache. Das Ziel, so offensichtlich, dass es keinen Kontext benötigte, nicht einmal einen vollständigen Satz. Was für ein Triumph über das Gefühl! Archie empfand nichts, nicht einmal Angst davor, dass seine Ehefrau vor ihm zusammenbrechen könnte. Ein schlichtes Bekenntnis zu dem Wort: Scheidung.

Agatha schwieg. Ihre Hand strich schneller und schneller über das weiche Fell des Terriers; ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Archie, der sich unklugerweise ermutigt fühlte, begann zu reden und gestand, dass unsere Beziehung bereits seit fast zwei Jahren existierte.

(»Das hättest du ihr nicht auf die Nase binden müssen«, rügte ich ihn später, obwohl ich wusste, dass er es hasste, gescholten zu werden.

»Du hast recht«, gab er zu. »Ihr Schweigen hat mich dazu verleitet. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es war fast, als könnte sie mich nicht hören.«)

Zu schnell wandte er sich den Details zu und wies Agatha an, die Scheidung einzureichen. »Der Grund wird Ehebruch sein.« In jenen Tagen war das der Standard, den die Gerichte akzeptierten. »Ich habe mit Brunskill gesprochen.«

»Brunskill?« Mr Brunskill war Archies etwas wirrer, schnurrbärtiger Anwalt. Ein weiterer Affront, dass dieser Mann bereits wusste, was ihr bevorstand.

»Ja. Brunskill meint, du sollst einfach ›ungenannte dritte Person‹ angeben. Es ist wichtig, Nan aus der Sache herauszuhalten.«

Agatha hörte abrupt auf, Peter hektisch zu streicheln. »Das ist dir wichtig?«

Eigentlich hätte Archie seinen Fehler bemerken müssen, doch er redete weiter. »Deiner Bücher wegen könnten die Zeitungen sich für die Angelegenheit interessieren. Dein Name ist ja mittlerweile einigermaßen bekannt.«

Sie erhob sich. Peter rutschte mit einem vorwurfsvollen Jaulen auf den Boden. Agatha, sonst so besorgt um den Hund, schien das kaum zu bemerken.

Archie blieb sitzen. Wie er mir später erklärte: »Es hat keinen Sinn, vernünftig mit einer Frau zu reden, die den Verstand verloren hat.«

Agathas Mann liebte eine andere. Eine lebensverändernde Verletzung, so nonchalant dahingesagt wie die Uhrzeit. Und von ihr wurde erwartet, dass sie diese Information ruhig und voller Würde aufnahm. Archie hatte sich, Leidenschaft als Entschuldigung, über Abmachungen hinweggesetzt, und forderte nun von ihr, dass sie ganz rational die Trümmer aufsammelte. Sie sollte den Ruf ihrer Rivalin schützen. Das war zu viel. Agatha ballte die Fäuste und stieß einen lauten, wuterfüllten Schrei aus.

»Agatha. Bitte. Die Bediensteten können dich hören. Und das Kind.«

»Das Kind. Das Kind? Red du mir nicht von dem Kind.« Weil er sich weigerte aufzustehen, musste sie sich zu ihm hinunterbeugen, um ihn mit den Fäusten zu bearbeiten, gegen seine durch den Anzug geschützte Brust zu trommeln. Ihre Schläge verursachten Archie keinen Schmerz. Er gestand mir, er habe sich beherrschen müssen, nicht zu lachen.

»Wie grausam du bist«, stellte ich ein wenig belustigt fest, als würde Grausamkeit mich nicht im Geringsten berühren.

Arme Agatha. Sie war aus ihrem schönsten Traum in ihren schlimmsten Albtraum erwacht. Und nichts, was sie sagte oder tat, konnte ihrem Gatten irgendein Gefühl abringen.

Endlich erhob sich Archie. Er ergriff ihre Handgelenke, um sie an weiteren Schlägen zu hindern. »Genug. Ich gehe. Nach der Arbeit mache ich mich auf den Weg zu den Owens. Dort verbringe ich das Wochenende. Alles andere können wir nächste Woche besprechen.«

»Sie wird auch dort sein, oder?«

»Nein«, antwortete Archie, weil dies seiner Ansicht nach die Antwort war, die die geringste Reaktion hervorrufen würde. Und weil er sich seit Beginn unserer Beziehung zu einem ausgezeichneten Lügner entwickelt hatte.

»Sie wird dort sein, das weiß ich. Eine Hausparty, Paare verbringen ein Wochenende miteinander. Nur dass du nicht in Begleitung deiner Frau bist, sondern in der dieser Nutte. Dieser schäbigen kleinen Nutte.«

Ein weit verbreiteter Fehler, den Ehefrauen machen, wenn sie mitansehen müssen, wie ihr Mann sie verlässt. Der Weg zurück zu Archies Zuneigung war nicht mit Beleidigungen gegen mich gepflastert. Archie war jenes unerschütterlichste aller Wesen, ein liebender Mann. Seine Miene verfinsterte sich, er packte ihre Handgelenke fester.

»So darfst du nicht über Nan reden.«

»Du willst mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe? Du solltest nicht mit einer Frau wegfahren, mit der du nicht verheiratet bist. Du solltest mich nicht verlassen, wenn ich dich am dringendsten brauche. Ich rede über Nan, wie ich will.«

»Beruhige dich, Agatha.«

Sie versetzte ihm einen Tritt gegen das Schienbein. Da sie nur Hausschuhe trug, zuckte er kaum zusammen. Wie ihre Ohnmacht sie in den Wahnsinn treiben musste! Sie entwand ihm ihre Handgelenke mit einer so heftigen Geste, dass sie, als er sie losließ, rückwärts fiel. Archie bemerkte die Striemen, die sich bereits auf ihrer Haut abzuzeichnen begannen, als Agatha die Gelenke massierte, doch er war nicht fähig, sein Tun zu bedauern, so sehr erfüllte ihn seine Überzeugung, dass sie sich das selbst zuzuschreiben hatte. Er sah ein einziges Ziel, und das bestand darin, sie loszuwerden.

In der Nacht war er nostalgischen Gefühlen und fleischlichem Verlangen erlegen. Doch nun kehrte er zu seiner Mission zurück. Wie jeder gute Fanatiker würde er sich nicht davon abbringen lassen. Mit weit ausgreifenden Schritten durchquerte er das Arbeitszimmer zum Eingangsbereich. Dort nahm er seine Wochenendtasche und marschierte zum Auto hinaus, dem gebrauchten Delage, den Agatha ihm mit Geld aus ihrem neuen Vertrag gekauft hatte. Ein prächtiger Wagen. Archie prahlte damit, als hätte er ihn mit eigenen Mitteln erworben. Der Delage hatte einen elektrischen Anlasser, es war kein Ankurbeln nötig. Archie konnte einfach hineinspringen und damit fliehen. Wie wütend Agatha gewesen sein musste, als sie zur Tür hinaushastete und ihn in ihrem extravaganten Geschenk davonbrausen sah!

»Archie!«, rief sie ihm nach und rannte die lange Auffahrt entlang. »Archie!«

Die Reifen wirbelten Staub auf, der sich in einer Wolke vor ihr erhob. Archie drehte sich nicht einmal um, schaute nicht durch die hintere Windschutzscheibe. Seine Schultern blieben starr. Er war fort, für sie unerreichbar.

Unerreichbar ist auch das Wort, das Honoria später verwendete, um Agatha zu beschreiben. Es war Honorias Aufgabe, Teddy zu wecken und für die Schule fertig zu machen. Nachdem Honoria aufgestanden war, hörte sie laute Stimmen aus Mr Christies Arbeitsraum, ein Ehestreit, und zwar ein ziemlich heftiger. Also ging sie ins Kinderzimmer, wo Teddy bereits in einer Ecke mit ihren Puppen spielte. So ein Kind war Teddy, eine Siebenjährige, die aufwachte und sich mit sich selbst beschäftigte, ohne jemandem zur Last zu fallen.

»Hallo, Teddy.«

»Guten Morgen.« Teddy schob sich die dunklen Haare aus der Stirn. Es überraschte sie nicht, Honoria zu sehen. Oft stellte Teddy beim Aufwachen fest, dass Vater und Mutter bereits das Haus verlassen hatten. Noch vor ihrem fünften Geburtstag hatten ihre Eltern eine Weltreise gemacht und sie ein ganzes Jahr daheim gelassen. Agatha war selbst von einer heiß geliebten Bediensteten aufgezogen worden, die sie Nursie nannte. Ihrer Erfahrung nach handelte es sich um eine absolut vernünftige Methode, ein Kind aufzuziehen.

»Komm.« Honoria streckte Teddy die Hand hin. »Auf zum Frühstück. Und dann schlüpfst du in deine Sachen und gehst in die Schule.«

Teddy stand auf und ließ ihre Hand in die von Honoria gleiten. Die beiden erreichten das obere Ende der Treppe gerade in dem Moment, als Archie vor Agathas hysterischem Anfall im Arbeitszimmer floh. Teddy hob die Finger, als wollte sie ihm zuwinken, doch Archie bemerkte sie nicht. Er schloss die Tür hinter sich. Sie blieb nur eine Sekunde geschlossen, bis Agatha herausstürzte, die Luft um sie herum so aufgeladen, dass Honoria einen kurzen Augenblick glaubte, sie sei angegriffen worden. Als Agatha die Tür aufriss und nach draußen lief, trat Honoria einen Schritt vor. Teddy packte den Saum ihrer Strickjacke, hielt sie bei sich zurück, worauf Honoria das Kind gegen ihre breite Hüfte drückte und der Kleinen tröstend über den Kopf strich, während Agatha »Archie! Archie!« rief.

Honoria wartete diskret im Haus, tat so, als ereignete sich das alles gar nicht. Sie hörte den Wagen wegfahren, aber Agatha kehrte nicht zurück. Also scheuchte Honoria Teddy nach unten und in die Küche. Anschließend begab sie sich in den Eingangsbereich. Styles hatte große Fenster an der Vorder- und Rückseite. Durch die vorderen konnte Honoria Agatha in Morgenmantel und Hausschuhen erkennen. Ihre Haare flatterten leicht im Wind, sie stand inmitten einer Staubwolke, die sich im matten Licht des Morgens allmählich verflüchtigte. Honoria hatte noch nie einen Menschen so bewegungslos dastehen und gleichzeitig einen so dynamischen Eindruck von Zerrüttung ausstrahlen sehen.

»Agatha?« Honoria trat hinaus. Die beiden Frauen waren vertraut genug, um die Förmlichkeit zwischen Bediensteter und großer Dame außer Acht lassen zu können. Honoria streckte die Hand aus und berührte Agathas Schulter. »Agatha, alles in Ordnung?«

Agatha verharrte, als hörte sie nichts. Sie blickte dem längst verschwundenen Wagen ungläubig nach. Als Honoria wieder etwas sagte, antwortete Agatha nicht. Honoria hätte kein gutes Gefühl dabei gehabt, ins Haus zurückzukehren und sie allein zu lassen, doch es fühlte sich auch ziemlich merkwürdig an, wie sie beide so dastanden. Die eine voll bekleidet und bereit für den Tag, die andere starr wie eine Statue, angezogen wie eine Kranke, die noch einen langen Weg der Genesung vor sich hatte.

Kurze Zeit später gewann Agatha die Fassung wieder und ging in Archies Arbeitszimmer, wo sie sich hinsetzte, um ihrem Mann einen Brief zu schreiben. Eine Bitte. Oder eine Kriegserklärung. Niemand würde das je erfahren außer Archie, der das Schreiben einmal las und es dann ins Feuer warf.

Inzwischen frage ich mich, ob Agatha einen Plan hatte. Als Schriftstellerin machte sie sich gewiss Gedanken über jede Prosazeile, die sie verfasste, und über alle Möglichkeiten, die sich aus ihrer nächsten Aktion ergaben. Wenn ich sie mir am Schreibtisch vorstelle, sehe ich keine Frau mit krankhaftem Wandertrieb und auch keinen Menschen, dem ein Gedächtnisverlust droht. Ich sehe Entschlossenheit, die man nur dann erkennt, wenn man sie selbst empfunden hat. Entschlossenheit, geboren aus Verzweiflung, verwandelt in Zielstrebigkeit. Als ich kurz darauf von ihrem Verschwinden erfuhr, war ich kein bisschen überrascht. Ich verstand sie.

Ich war selbst einmal verschwunden.

Hier ruht Schwester Mary

Möglicherweise fällt es Ihnen schwer, einer Frau wie mir, die eine Ehe zerstört hat, freundliche Gefühle entgegenzubringen. Ich brauche Ihre Zuneigung nicht, ich bitte Sie nun lediglich, sich vorzustellen, wie ich an einem winterlichen Tag in Irland mit neunzehn Jahren auf einem geborgten Milchwagen sitze.

Ein – meinem damaligen Gefühl nach alter – Ire mit traurigem Gesicht hielt die Zügel von zwei zotteligen Pferden, die den Karren zogen, in der Hand. Mein Mantel war nicht warm genug in der feuchten Kälte. Hätte Finbarr mich gefahren, nicht sein Vater, hätte ich mich an ihn schmiegen können, um mich zu wärmen. Aber Finbarr hätte mich niemals zu jenem Ort gebracht. Immerhin war Mr Mahoney nicht ganz unfreundlich. Hin und wieder löste er eine Hand von den Zügeln und tätschelte meine Schulter. Ihn beruhigte das vielleicht, mir nützte es nichts. Als wir über die zerfurchten Feldwege holperten, klapperten die Milchflaschen. Wären sie voll gewesen, wäre die Milch vermutlich gefroren, bevor wir das Kloster erreichten. Es war ein langer Weg von Ballycotton nach Sunday’s Corner.

»Lang werd ich dort nicht bleiben«, erklärte ich, den irischen Sprachrhythmus meines Vaters imitierend, als könnte ich dadurch die Zuneigung von Mr Mahoney gewinnen. »Sobald Finbarr wieder gesund ist, holt er mich da raus.«

»Falls er wieder gesund wird.« Mr Mahoneys Blick war grimmig, er sah mich nicht an. Was wäre schlimmer?, fragte ich mich. Wenn sein einziger Sohn starb? Oder wenn er sich erholte und Anspruch auf mich und die Schande, die ich über uns gebracht hatte, erhob? Für Mr Mahoney wäre es die beste Lösung, wenn Finbarr genas und vergaß, dass er mir je begegnet war. Fürs Erste war es Mr Mahoney jedenfalls wichtig, dass ich sicher verwahrt wäre, damit er nach Hause fahren und seinen Sohn wenigstens noch einmal lebend sehen könnte.

»Er wird wieder gesund«, sagte ich mit Nachdruck. Mein Glaube an das Unmögliche war so stark, wie er nur bei den ganz Jungen sein kann. Das Kleid, das ich unter meinem Mantel trug, wies leichte Blutspritzer von Finbarrs Husten auf.

»Du klingst wie eine Irin. Keine schlechte Idee, mach das ruhig weiter so. In dieser Gegend sind die Engländer gerade nicht sonderlich beliebt.«

Ich nickte. Den Sinn seiner Worte begreife ich erst jetzt. Mit »Sinn Féin« hätte ich damals nichts anfangen können. Ich hätte keine Ahnung gehabt, wofür »IRA« stand. Mein Irland, das waren das Meer, die Vögel am Strand, die Schafe. Grüne Hügel und Finbarr. Nichts, was mit irgendeiner Regierung zu tun hatte, weder mit der irischen noch mit der meinen.

»Du kannst von Glück reden«, bemerkte Mr Mahoney. »Vor noch nicht allzu langer Zeit hättest du nur ins Arbeitshaus gekonnt. Die Nonnen kümmern sich um Mütter und ihre kleinen Kinder.«

Mir wäre das Arbeitshaus als die bessere Alternative erschienen. Mr Mahoney wäre nicht so herzlos gewesen, mich an einen Ort für Kriminelle zu bringen, und hätte mich bei seiner Familie bleiben lassen müssen. Ich hatte meinen letzten Penny für die Reise zu ihm ausgegeben. Wahrscheinlich begleitete ich ihn aus freien Stücken; allerdings halte ich diesen Ausdruck für unpassend, wenn man keine andere Zuflucht hat.

Schließlich erreichten wir das Kloster in Sunday’s Corner. Mr Mahoney sprang vom Karren und streckte mir seine große schwielige Hand hin, um mir herunterzuhelfen. Das weitläufige, prächtige Gebäude mit den roten Ziegeln und Türmen ragte hoch vor uns auf. Es wirkte wie eine Mischung aus Universität und Schloss, beides Orte, die ich nie von innen zu sehen erwartete. Auf dem Rasen davor stand eine geflügelte Engelsfigur, die Hände nicht zum Gebet erhoben, sondern starr an den Seiten. Über dem Eingang, in einer gewölbten Nische, in der man eigentlich ein Fenster vermutet hätte, befand sich eine weitere Statue aus Gips – eine Nonne im blauweißen Habit, die Handflächen ein wenig ausgestreckt, als wollte sie den Eintretenden Schutz gewähren.

Meine Eltern waren nie religiös gewesen. »Der Sonntag ist zum Rasten da«, pflegte mein Vater zu sagen, seine Erklärung, warum er den Gottesdienst nicht besuchte. Meine Mutter war Protestantin. Ich ging meistens mit Tante Rosie und Onkel Jack in die Kirche.

»Das ist sicher die Jungfrau Maria«, murmelte ich.

Mr Mahoney stieß ein freudlos-spöttisches Lachen darüber aus, wie wenig ich über die Welt wusste. Ich war in der Hoffnung nach Irland gekommen, in seinem bescheidenen Heim mit dem Lehmfußboden wohnen zu können. Mr Mahoney hatte tiefe Ringe unter den matten Augen, die früher wie die von Finbarr gewesen sein mussten. Ich schaute ihn an, wollte ihn dazu bringen, meinen Blick zu erwidern und es sich anders zu überlegen.

»Die Schwestern werden sich gut um dich kümmern.« Möglicherweise glaubte er das wirklich. Seine Stimme klang sanft, fast bedauernd. Vielleicht würde er die Straße ein Stück entlangfahren und irgendwann umdrehen, um mich wieder zu holen, bevor ich noch meine Sachen auspacken konnte. »Wir halten dich über Finbarr auf dem Laufenden, das verspreche ich dir.«

Er hievte meinen Koffer vom hinteren Teil des Karrens – den Koffer meiner Mutter. Den hatte ich ihr entwendet, bevor ich mich auf den Weg machte. Hätte ich sie darum gebeten, hätte sie ihn mir sicher überlassen. Oder noch besser: Sie hätte mich angefleht zu bleiben oder mich begleiten zu dürfen. »Wieso hast du mir nichts gesagt?«, hätte sie mich, zu spät, gefragt. »Ich hätte alles in meiner Macht Stehende getan, gegen jeden gekämpft, auch gegen deinen Vater, um nicht noch eine Tochter zu verlieren.«

Wenn ich seinerzeit gewusst hätte, was ich heute weiß, wäre ich von dem Kloster geflohen. Ich wäre die lange Auffahrt entlang und über die Hügel gelaufen und über die eiskalte Irische See zurück nach England geschwommen.

Drinnen tauschten die Nonnen mein Kleid gegen ein tristes, formloses Gewand aus, das man nicht ersetzen musste, egal, wie dick mein Bauch wurde, dazu ein Paar schlecht passender Holzschuhe. Eine junge Nonne mit freundlichem Gesicht nahm meinen Koffer. Lächelnd versprach sie mir: »Wir passen gut für dich darauf auf.« Den Koffer habe ich nie wiedergesehen. Eine ältere Nonne setzte mich auf einen Stuhl und schnitt mir die Haare so kurz, dass sie mir kaum noch über die Ohren reichten. Bis dahin hatte ich sie stets lang getragen. Was Finbarr wohl davon halten würde, wenn er kam, um mich zu holen?

Ich befolgte Mr Mahoneys Rat nicht, sprach nicht im irischen Tonfall. Sobald die Nonnen mir die Regeln meines neuen Zuhauses erklärt hatten, sagte ich wochenlang fast überhaupt nichts mehr.

Ein junger Mensch kann nichts über sein Leben wissen, wie es sein oder sich entfalten wird. Im Lauf der Zeit beginnt man zu ahnen, dass manche Phasen von Leid erfüllt sind, das nach und nach wieder verschwindet. Doch in der Jugend erscheint einem ein einzelner Augenblick wie das Universum. Unveränderlich. Jahre später führte ich ein größeres Leben, bereiste die Welt. In jenem Winter war ich kaum mehr als ein Kind. Ich kannte lediglich zwei Orte: London und County Cork, und jeweils nur winzige Ausschnitte davon. Ich wusste, dass ich jung war, aber nicht, wie jung oder dass es sich bei der Jugend um einen vergänglichen Zustand handelt. Ich wusste, dass der Krieg vorüber war, konnte es jedoch noch nicht glauben. Der Erste Weltkrieg war mir weniger wie ein Ereignis erschienen, eher wie ein Ort, unbeweglich wie England, wenn auch längst nicht so angreifbar. Das Londoner Lieblingspub meines Vaters lag in Schutt und Asche, Fässer mit Ale waren auf die Straße gerollt, als die Bomben fielen. Den Rest seines Lebens behauptete mein Vater, die Welt habe im Ersten Weltkrieg ihre Unschuld verloren.

Nachdem man mir die Haare geschnitten und meine Sachen weggenommen hatte, wurde ich angewiesen, mich um den Friedhof der Nonnen zu kümmern. Mit zwei anderen Mädchen, beide hochschwanger, ging ich hinaus, um zu harken und zu rechen und die Grabsteine von Flechten zu befreien. Die kalte Luft hätte nach Freiheit riechen können, wären da nicht die Metallstäbe um das Gelände gewesen, so weit das Auge reichte. Rechts befand sich eine hohe Steinmauer. Von der anderen Seite drangen schwache Geräusche herüber. Ich identifizierte sie nicht als die Stimmen kleiner Kinder, die vor dem Abendessen an die frische Luft durften. Durch die Gitterstäbe hindurch war die Straße zu erkennen, die vom Kloster wegführte, leider ohne das geringste Anzeichen, dass Mr Mahoney es sich anders überlegt hatte und mich abholen wollte. Keines der Mädchen redete mit mir. Wir durften nicht miteinander sprechen oder auch nur die Namen der anderen wissen.

Die Grabsteine der Nonnen hatten die Form breiter Kreuze, auf jedem die Worte HIER RUHT SCHWESTER MARY. Als wäre eine einzige Frau gestorben, die aus unerfindlichen Gründen fünfzig Gräber benötigte. Ich wischte mit einem groben Tuch über die Steine und ließ die Finger in die eingemeißelten grauen Buchstaben gleiten. In dem Moment wurde mir klar: Die Welt war niemals unschuldig gewesen.

Ich hingegen schon.