Die Ära Adenauer - Dominik Geppert - E-Book

Die Ära Adenauer E-Book

Dominik Geppert

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Beschreibung

Die Bundesrepublik, ein Kind des Kalten Krieges, wurde in den ersten beiden Jahrzehnten ihres Bestehens vom wirtschaftlichen Wiederaufbau, von der Etablierung der parlamentarischen Demokratie, von den Anfängen einer zivilen Kultur und dem Ausgleich mit den Westmächten geprägt. Dominik Geppert legt die Kontinuitäten wie die vielfältigen Neuanfänge der Adenauer-Ära dar und entwirft in vier Blöcken ein klares Bild der jungen Republik: Neuanfang und Kontinuität: Die Gründung der Bundesrepublik 1949; Kalter Krieg und Westbindung: Die Außen- und Deutschlandpolitik; Stabilisierung und Wiederaufbau: Wirtschaft und Innenpolitik; Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik.

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Geschichte kompakt

Herausgegeben vonKai Brodersen, Martin Kintzinger,Uwe Puschner, Volker Reinhardt

Herausgeber für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Uwe Puschner

Beratung für den Bereich 19./20. Jahrhundert:Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze

Dominik Geppert

Die Ära Adenauer

3. Auflage

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung inund Verarbeitung durch elektronische Systeme.

3., bibliographisch aktualisierte Auflage 2012© 2012 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt1. Auflage 2002Die Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht.Einbandgestaltung: schreiberVIS, SeeheimSatz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-24900-8

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-72662-2eBook (epub): 978-3-534-72663-9

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Inhalt

Geschichte kompakt

   I. Die Gründung der Bundesrepublik 1949

1. Deutschland und der Kalte Krieg

a) Von der Potsdamer Konferenz zur Bizone

b) Blockbildung und Berlin-Blockade

c) Bonn ist nicht Weimar

d) Die Chancen des Neuanfangs

2. Die Anfänge von Adenauers Kanzlerdemokratie

a) Adenauers Weg an die Macht

b) Regierungsbildung und Aufbau des Kanzleramtes

c) Die Grundlagen der Kanzlerdemokratie

3. Ludwig Erhard und das Wagnis der Marktwirtschaft

a) Erhard und der Neo-Liberalismus

b) Währungsreform und Marshallplan

c) Die Marktwirtschaft in der Krise

4. Kurt Schumacher und die Grundlegung der parlamentarischen Opposition

a) Der Weg der SPD in die Opposition

b) Die antikommunistische Ausrichtung der SPD

c) Der historisch-moralische Führungsanspruch der SPD

  II. Außen- und Deutschlandpolitik 1949–1955

1. Außenpolitische Alternativen

a) Jakob Kaiser und der „Dritte Weg“

b) Schumacher und der Primat der Wiedervereinigung

c) Adenauers Politik der Westintegration

2. Adenauer und die Alliierten

a) Demontagen und die Kontrolle der Ruhrindustrie

b) Der Beitritt zum Europarat und die Saar-Frage

c) Der Schuman-Plan

3. Die Verteidigung Westeuropas

a) Der Korea-Krieg und die Frage der Wiederbewaffnung

b) Vom Plevenplan zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft

c) Das Scheitern der EVG und der Nato-Beitritt der Bundesrepublik

4. Die Sowjetunion und die deutsche Frage

a) Die Stalin-Note

b) Enttäuschte Entspannungshoffnungen

c) Adenauers Reise nach Moskau

 III. Wirtschaft und Innenpolitik 1949–1955

1. Die Anfänge des Wirtschaftsbooms

a) Die Korea-Krise

b) Die Ursachen des Wirtschaftsaufschwungs

c) Die Gewerkschaften und das Mitbestimmungsgesetz

2. Die Rückgewinnung wirtschaftlicher Souveränität

a) Erste Schritte auf dem Weg zur wirtschaftlichen Handlungsfreiheit

b) Das Londoner Schuldenabkommen

c) Das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel

3. Innenpolitische Konsolidierung

a) Die Vertriebenenproblematik

b) Die Eingliederung der Vertriebenen

c) Der Wahlsieg der Union 1953

4. Der politische Umgang mit der NS-Vergangenheit

a) Die Entnazifizierungspolitik der Alliierten

b) Amnestierung und Integration ehemaliger NS-Anhänger

c) Die politische Distanzierung vom NS-Regime

 IV. Gesellschaft und Kultur 1949–1963

1. Eine Gesellschaft im Umbruch

a) Soziale Verwerfungen

b) Eine „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“?

c) Motorisierung und Massenmedien

2. Mentalitäten im Wandel

a) Desinteresse an der Politik und Rückzug ins Private

b) Der Umbruch am Ende der fünfziger Jahre

c) Ein veränderter Umgang mit der NS-Vergangenheit

3. Ideen und Ideologien im Zeitalter des Kalten Krieges

a) Ein antitotalitärer Grundkonsens und seine antikommunistische Stoßrichtung

b) Die Mission eines christlichen Abendlands

c) Der Konsensliberalismus des Kalten Krieges

4. Gesellschaftlicher Protest

a) Die „Ohne mich“-Welle und die Opposition gegen den deutschen Wehrbeitrag

b) Der Widerstand gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr

c) Die Unzufriedenheit der Intellektuellen

  V. Außen- und Deutschlandpolitik 1955–1963

1. Erfolge im Westen

a) Die Lösung der Saarfrage

b) Der Weg zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

c) Die Römischen Verträge

2. Berlin-Krise und Mauerbau

a) Die Sowjetunion in der Offensive

b) Das Tauziehen um Berlin

c) Die Folgen des Mauerbaus

3. Die Verständigungskrise mit den Vereinigten Staaten

a) Diskussionen über die Entspannungspolitik

b) Adenauers Misstrauen gegenüber den USA

c) Kennedys Berlin-Besuch und das Atomteststoppabkommen

4. Die Anlehnung an Frankreich

a) Charles de Gaulle, Deutschland und Europa

b) Der Plan einer „Europäischen Politischen Union“

c) Der Elysée-Vertrag von 1963

 VI. Innen- und Sozialpolitik 1955–1963

1. Der Ausbau des Sozialstaates

a) Die Grundlagen des westdeutschen Sozialstaates

b) Die Rentenreform

c) Die Bundestagswahl von 1957

2. Verschiebungen in der Parteienlandschaft

a) Die FDP zwischen Koalition und Konfrontation mit der Union

b) Die Erneuerung der SPD und das Godesberger Programm

c) Die SPD auf Gemeinsamkeitskurs mit der Regierung

3. Innenpolitische Rückschläge für Adenauer

a) Die Präsidentschaftskrise 1959

b) Der Streit um den zweiten deutschen Fernsehsender

c) Die Bundestagswahl von 1961

4. Ein Abschied auf Raten

a) Eine schwierige Regierungsbildung

b) Die „Spiegel“-Krise

c) Das Ende einer Ära

VII. Schlussbetrachtung

Auswahlbibliographie

Personen- und Sachregister

Geschichte kompakt

In der Geschichte, wie auch sonst,dürfen Ursachen nicht postuliert werden,man muss sie suchen. (Marc Bloch)

Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. Historische Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zuspruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der Geschichte, und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, veränderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden.

Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersichtlich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe „Geschichte kompakt“ bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen Forschung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen, europäischen und globalen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Erläuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandelten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. „Geschichte kompakt“ ist daher ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvorbereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte.

Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen gemeinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe „Geschichte kompakt“ soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wissensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festgelegt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit erweitert werden.

Kai Brodersen      

Martin Kintzinger

Uwe Puschner     

Volker Reinhardt 

I.   Die Gründung der Bundesrepublik 1949

4.–11.2.1945

Konferenz von Jalta (Roosevelt, Churchill, Stalin)

7/.8.5.1945

Deutsche Kapitulation in Reims und in Berlin-Karlshorst

17.7.–2.8.1945

Potsdamer Konferenz (Truman, Churchill/Attlee, Stalin)

6.9.1946

Byrnes-Rede in Stuttgart

1.1.1947

Offizieller Beginn der Bizone

12.3.1947

Verkündung der „Truman-Doktrin“

20.6.1948

Währungsreform in den drei Westzonen

3.4.1948

Inkrafttreten des Marshallplans

20.4.–2.6.1948

Londoner Sechs-Mächte-Konferenz über Deutschland

21.6.1948–12.5.1949

Berlin-Blockade

1.9.1948

Konstituierung des Parlamentarischen Rats in Bonn

23.5.1949

Verkündung des Grundgesetzes: Konstituierung der Bundesrepublik Deutschland

14.8.1949

Wahlen zum 1. Bundestag

7.9.1949

Konstituierende Sitzungen von Bundestag und Bundesrat

15.9.1949

Wahl Adenauers zum 1. Bundeskanzler

21.9.1949

Inkrafttreten des Besatzungsstatuts für die Bundesrepublik

1. Deutschland und der Kalte Krieg

a) Von der Potsdamer Konferenz zur Bizone

Die Bundesrepublik war ein Kind des Kalten Krieges. Ihm verdankte sie ihre Entstehung 1949, als der Ost-West-Konflikt seinem ersten Höhepunkt zustrebte. Auch zu der folgenden raschen Konsolidierung des Weststaates und zu seiner – in der jüngeren deutschen Geschichte außergewöhnlich langen – Stabilitätsphase hat der Systemgegensatz maßgeblich beigetragen. Erstaunliches wirtschaftliches Wachstum, die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie, die Anfänge einer zivilen Kultur und der Ausgleich mit den westeuropäischen Nachbarn prägten in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die westdeutsche Geschichte. Sie wären unter anderen weltpolitischen Bedingungen, wenn überhaupt, dann nur unter größeren Mühen und Unwägbarkeiten möglich gewesen. Die Konfrontation der beiden Supermächte USA und UdSSR war aber auch für die Grenzen der Bonner Republik verantwortlich – im geographischen wie im übertragenen Sinne. Wo die Bundesrepublik endete, war keine Entscheidung der Deutschen, sondern ein Ergebnis des amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes. Was in Westdeutschland in der Ära Adenauer politisch machbar und gesellschaftlich akzeptabel war, was öffentlich gesagt werden konnte und was mit Denkverboten belegt war, hing ebenso sehr von der weltpolitischen Konstellation ab wie von überkommenen deutschen Traditionen und Mentalitäten. Wer die Geschichte der Bundesrepublik verstehen will, muss daher zunächst einen Blick auf die Entwicklung des amerikanisch-sowjetischen Gegensatzes werfen.

Dessen Wurzeln reichten bis zur russischen Oktoberrevolution zurück. Erst nach dem gemeinsamen Sieg über Nazi-Deutschland jedoch spitzte sich der Antagonismus derart zu, dass er alle anderen politischen Erwägungen überlagerte. In der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wurde immer deutlicher, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion unvereinbare Schlussfolgerungen aus der neuen Lage in Europa zogen. Die Amerikaner hatten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs ihre traditionelle außenpolitische Strategie aufgegeben, sich nicht in europäische Angelegenheiten einzumischen. An die Stelle des Isolationismus trat die Überzeugung, jede Macht, die ganz Europa dominiere, bedrohe auch die USA tödlich. 1941 führte diese Überlegung zu einem informellen, später zu einem förmlichen Bündnis mit Großbritannien und Russland gegen das nationalsozialistische Deutschland. Nach dem Sieg über Hitler zog die US-Führung aus den gleichen Prinzipien andere Konsequenzen. Nun sah sie in der Eindämmung des ehemaligen sowjetischen Verbündeten zunehmend das wichtigste Ziel amerikanischer Politik. Die Bedrohung, die man in den USA wahrnahm, ging freilich nicht allein von der Sowjetunion aus, sondern ebenso sehr von den Folgen des Krieges in Europa. Die Vertreibung ganzer Bevölkerungsgruppen, die Zersplitterung von Familien und andere soziale Auflösungserscheinungen bereiteten nach amerikanischer Ansicht den Boden für eine Ausbreitung des Sozialismus nicht nur in Ost-, sondern auch in Mittel- und Westeuropa. Dem galt es durch die Errichtung stabiler politischer und ökonomischer Verhältnisse entgegenzuwirken.

Die bolschewistische Führung unter Stalin leitete aus dem Sieg über Deutschland andere Schlussfolgerungen ab. In ihrer Sicht hatte die UdSSR den größten Beitrag zum Sieg über den Nationalsozialismus geleistet. Sie hatte allein in der Schlacht um Stalingrad so viele Soldaten verloren, wie die USA im gesamten Kriegsverlauf. Insgesamt waren etwa 27 Mio. sowjetische Soldaten und Zivilisten im Krieg ums Leben gekommen. Das verlangte nach Schutzmaßnahmen für die Zukunft und nach Zeit zum Wiederaufbau. Hinzu kam, dass den westlich-kapitalistischen Verbündeten in Stalins ideologischer Weltsicht langfristig nicht zu trauen war. Der Gegensatz zwischen Kommunismus und Kapitalismus bestimmte seiner Meinung nach weiterhin die Außenpolitik der Staaten. Dies legte den Gedanken nahe, nicht nur die Gebietsverluste, die Russland im Ersten Weltkrieg vom Baltikum bis Bessarabien erlitten hatte, rückgängig zu machen, sondern auch eine eigene Einflusszone in Ost- und Ostmitteleuropa zu schaffen und sie mit Hilfe pro-sowjetischer Regime abzusichern. Eine sowjetisch dominierte Zone im europäischen Osten würde nicht nur Sicherheit vor Deutschland gewähren, sondern langfristig, nach dem erwarteten Abzug der USA, auch Einflussmöglichkeiten in Mittel- und Westeuropa eröffnen.

Die Spannungen zwischen den Siegermächten hatten Auswirkungen auf ihre Deutschlandpolitik. Zunächst überwog die Auffassung, das besiegte Deutschland aufzuteilen, unter strikte Kontrolle zu stellen und als machtstaatliches Zentrum auszuschalten. Auf der Konferenz von Teheran 1943 sprachen sich sowohl Stalin als auch US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882–1945) und der britische Premierminister Winston Churchill (1874–1965) für eine Zerstückelung des Landes aus. Frankreich unter Charles de Gaulle (1890–1970), das zu diesem Zeitpunkt noch nicht dem Kreis der Siegermächte angehörte, machte sich für eine Abtrennung der Rheinlande und des Ruhrgebiets sowie für eine Dezentralisierung Restdeutschlands stark.

Nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Misstrauens unter den Alliierten wurden diese Pläne in den Folgejahren revidiert. V.a. Churchill und die britische Regierung begannen schon 1944 von den Aufteilungsplänen Abstand zu nehmen, weil sie zu der Einsicht gelangt waren, dass ein einheitliches Deutschland vonnöten sei, um das zu erwartende Übergewicht der Sowjetunion auf dem Kontinent auszubalancieren. Auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hintertrieb Großbritannien die von Stalin vorgeschlagene Diskussion über eine Zerstückelung des Kriegsgegners. Der sowjetische Diktator selbst schwenkte wenig später ebenfalls auf eine gesamtdeutsche Lösung um. Auf diese Weise wollte er vermeiden, dass die Westmächte einen dominierenden Einfluss in der Mitte Europas gewännen. Zugleich galt es aus seiner Sicht, den Zugriff auf das Ruhrgebiet und dessen Industrie zu sichern, was für die Lösung der enormen sowjetischen Wiederaufbauprobleme wichtig war.

Stalin (1878–1953), eigentlich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, stammte aus Georgien und gehörte seit 1917 dem Politbüro der russischen Bolschewiki an. Nach Lenins Tod gelang es ihm, seine Konkurrenten einen nach dem anderen auszuschalten und unumschränkte Macht als Diktator zu gewinnen. Er sicherte seine Position durch rücksichtslose Vernichtung tatsächlicher und vermeintlicher Gegner in allen Bereichen der Gesellschaft. Diese fand ihren Höhepunkt im Ausbau eines verzweigten Netzes von Straf- und Arbeitslagern und in den „Säuberungen“ der dreißiger Jahre, in deren Verlauf Millionen Menschen ermordet wurden. Stalins erbarmungsloser Industrialisierungspolitik fielen ebenfalls Millionen Sowjetbürger zum Opfer. In der Außenpolitik schloss er im Sommer 1939 einen Nichtangriffspakt mit Hitler ab, der auf der Aufteilung Polens beruhte und den deutschen Angriff im September 1939 erleichterte. Nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR 1941 ging er ein Bündnis mit Großbritannien ein und kämpfte im Verein mit den Westmächten gegen Deutschland. Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ ermöglichte Stalin den weiteren Ausbau des Kults um seine Person. In den Jahren 1945 bis 1953 befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht.

Im Sommer 1945 vereinbarte man auf der Konferenz von Potsdam eine Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen und einigte sich mühsam auf Grundregeln einer gemeinsamen Besatzungspolitik. Die Ansichten über die Konkretisierung dieser Bestimmungen sowie die generelle Ausrichtung der Politik im besetzten Deutschland liefen jedoch in der Folgezeit immer weiter auseinander. Anfangs schien Frankreich, das an der Konferenz nicht teilgenommen, den Potsdamer Beschlüssen aber im Nachhinein zugestimmt hatte, der größte Störfaktor zu sein. Es hielt an der Idee einer Aufteilung Deutschlands fest, beharrte auf Grenzkorrekturen im Westen, die Abtrennung des Rheinlands, Westfalens sowie des Ruhrgebietes und arbeitete auf eine Angliederung des Saargebiets an Frankreich hin. Die französischen Vertreter widersetzten sich zunächst konsequent der Errichtung zentraler deutscher Verwaltungsstellen.

Der eigentliche Bruch verlief jedoch zwischen den drei Westmächten und der Sowjetunion. Diese nutzte den Hinweis auf die französische Obstruktionspolitik, um in ihrer eigenen Zone Veränderungen durchzusetzen, auf die man deutsche Exil-Kommunisten in Moskau vorbereitet hatte. Im September 1945 führte die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) mit Hilfe der deutschen Kommunistischen Partei (KPD) eine Bodenreform durch, die allen Großgrundbesitz über hundert Hektar entschädigungslos enteignete. Es folgten der Aufbau einer bewaffneten „Volkspolizei“, die Verstaatlichung der Schwer- und Schlüsselindustrien, eine Schulreform zur „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“ sowie schließlich im April 1946 die Zwangsfusionierung der KPD mit der sozialdemokratischen Partei (SPD) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Obwohl ein Mehrparteiensystem, das demjenigen in den Westzonen ähnelte, offiziell erhalten blieb, erfolgte unter dem Deckmantel der antifaschistischen Einheitsfront eine allmähliche Gleichschaltung der Parteien und die Etablierung einer Parteidiktatur der SED.

Diese Entwicklung erschien den USA und Großbritannien umso bedrohlicher, als sie zum Verhalten der Sowjetunion in Ost- und Südosteuropa zu passen schien. Besonders wichtig für die beginnende strategische Umorientierung der Vereinigten Staaten wurde das Lange Telegramm, das der Botschaftsrat an der US-Botschaft in Moskau, George F. Kennan (geb. 1904), im Februar 1946 an das amerikanische Außenministerium schickte.

Langes TelegrammIn seinem Langen Telegramm beschrieb Kennan, der sich seit Anfang 1945 für ein Ende der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ausgesprochen hatte, die UdSSR als eine von ihrer polizeistaatlichen Struktur und ihrer asiatischen Tradition her notwendigerweise misstrauische und aggressive Macht. Sie sei darauf aus, „die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unsere traditionellen Lebensgewohnheiten und das internationale Ansehen unseres Staates zu zerstören“. Moskau bediene sich dabei sowohl militärisch-politischen Drucks als auch der subversiven Agitation kommunistischer Parteien oder – wenn die Aussichten auf Erfolg groß genug erschienen – offener militärischer Intervention. Kennans Schlussfolgerung lautete, dass Kompromissbereitschaft von der Sowjetführung als Einladung zur weiteren Ausdehnung ihrer Macht verstanden werde. Nur eine Politik der Stärke würde respektiert. Die westliche Welt müsse deswegen unter amerikanischer Führung stabilisiert werden. Zwei Wochen später dehnte der Diplomat seine Analyse in einem zweiten Telegramm auf die sowjetische Deutschlandpolitik aus. Als deren Ziel glaubte er den Aufbau einer „antifaschistischen deutschen Republik“ und langfristig eines sozialistischen deutschen Staates nach sowjetischem Vorbild zu erkennen.

Kennans Ausführungen legten den Grundstein zur amerikanischen Politik der Eindämmung der UdSSR, die unter der Bezeichnung containment policy bekannt wurde. Auch in Großbritannien bereitete man sich inzwischen auf die Möglichkeit einer Teilung Deutschlands in eine sowjetisch dominierte und eine westliche Zone vor. Lediglich US-Außenminister James F. Byrnes (1897–1972) hielt zunächst an der Idee einer gemeinsamen Besatzungspolitik fest und bemühte sich, Kompromisslösungen mit der UdSSR zu erreichen. Erst nach dem Scheitern dieser Pläne auf der Pariser Außenministerkonferenz im Frühjahr 1946 schwenkte auch er auf die neue Linie ein. Bestärkt wurde dieser Entschluss durch eine Denkschrift, die der stellvertretende US-Militärgouverneur in Deutschland, Lucius D. Clay (1897–1978), in Paris vorgelegte. Darin hieß es, nach einjähriger Besatzung seien die verschiedenen Zonen „zu luftdichten Territorien geworden, nahezu ohne jeden Austausch von Waren, Personen und Ideen“. Es könne jeden Moment „zu einer galoppierenden Inflation mit einer Lähmung des Wirtschaftslebens kommen“. Als Ausweg schlug Clay die wirtschaftliche Vereinigung der amerikanischen mit der britischen Zone vor.

Der US-Vorschlag zur wirtschaftlichen Vereinigung der Besatzungszonen, den Byrnes noch vor Ende der Konferenz unterbreitete, richtete sich formal gesehen an alle Besatzungsmächte – in der Praxis kam jedoch nur eine Fusion mit der britischen, später womöglich auch mit der französischen Zone in Betracht. Ende Juli nahm die britische Regierung das amerikanische Angebot an. Zum 1. Januar 1947 trat die Bizone, die Keimzelle der späteren Bundesrepublik, ins Leben. In einer programmatischen Rede in Stuttgart im September 1946 legte der US-Außenminister dar, welche Implikationen die Gründung der Bizone mit sich brachte: die baldige Bildung einer „vorläufigen deutschen Regierung“ und den Aufbau der „notwendigen deutschen Zentralverwaltungskörper“. Das amerikanische Volk wolle dem deutschen Volk die Regierung seines Landes zurückgeben, schloss Byrnes: „Das amerikanische Volk will dem deutschen Volk helfen, seinen Weg zurückzufinden zu einem ehrenvollen Platz unter den freien und friedliebenden Nationen der Welt.“

b) Blockbildung und Berlin-Blockade

Das Scheitern der Zusammenarbeit der Weltkriegsalliierten in Deutschland verdeutlichte, dass die Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten eine neue Qualität erreicht hatten. An die Stelle des latenten Konflikts trat die offene Konfrontation. Das traditionelle europäische Staatensystem, dies wurde immer deutlicher, war im Zweiten Weltkrieg untergegangen und wurde zunehmend durch die neue weltpolitische Konstellation zweier antagonistischer Blöcke in Ost und West ersetzt. Stalin konnte nicht nur seine Position in Ostdeutschland absichern, sondern brachte darüber hinaus kommunistische Regimes in Polen, Rumänien und Bulgarien an die Macht. In Ungarn und der Tschechoslowakei arbeitete er auf kommunistische Staatsstreiche hin, die 1948 stattfanden. Gleichzeitig versuchte der Diktator die sowjetische Einflusszone in Richtung der Türkei und Griechenlands auszudehnen. Er meldete Ansprüche auf die Grenzgebiete um die Städte Ardahan und Kars im armenischen Hochland der Nordost-Türkei an, die bis 1917 bzw. 1920 zu Russland gehört hatten. Im griechischen Bürgerkrieg kämpften kommunistische Partisanen gegen die zurückgekehrte Exilregierung, die von britischen Verbänden unterstützt wurde.

Die Blockbildung von westlicher Seite verlief auf mehreren Ebenen. Die kommunistischen Parteien schieden aus den breit gefächerten Koalitionen aus, die sich nach Kriegsende in Frankreich, Italien und Belgien gebildet hatten. Nachdem klar geworden war, dass Großbritannien seine Positionen in Griechenland und der Türkei nicht halten konnte, entschloss sich die US-Regierung zu einem direkten Engagement jenseits des Atlantiks. Die kommunistische Bürgerkriegspartei in Griechenland wurde mit US-Unterstützung schärfer bekämpft, und der türkischen Regierung wurden in einem Hilfsabkommen amerikanische Waffenlieferungen und Kredite gewährt. Im März 1947 verkündete Präsident Truman vor dem US-Kongress, die weltpolitische Landschaft sei in zwei Lager aufgeteilt: in die freie Welt und die totalitäre Welt. Jede Nation müsse wählen, zu welchem Lager sie gehören wolle, lautete seine als „Truman-Doktrin“ bekannt gewordene Botschaft. Die Aufgabe der USA sei es, die freien Völker – vorwiegend wirtschaftlich und finanziell – zu unterstützen, damit das von der Sowjetunion geführte totalitäre Lager den Status quo nicht erschüttere.

Trumans Erklärung blieb von sowjetischer Seite nicht unbeantwortet. Sechs Monate später teilte Andrej Shdanow (1896–1948), ein Vertrauer Stalins, die Welt ebenfalls in zwei antagonistische Lager ein: das imperialistische unter Führung der USA und das antiimperialistische der sozialistischen Staaten. Shdanow hielt seine Rede auf der Gründungskonferenz des Kominform (Informationsbüro der kommunistischen und Arbeiterparteien), das im September 1947 auf Stalins Initiative in Schreiberhau im Erzgebirge ins Leben gerufen wurde. Es war die Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Internationale (Komintern), die Stalin 1943 im Interesse seines Bündnisses mit den Westmächten aufgelöst hatte. Beide Organisationen dienten in der Praxis dazu, die Hegemonie und Kontrolle der sowjetischen kommunistischen Partei (KPdSU) gegenüber den kommunistischen Parteien anderer Länder sicherzustellen.

Harry S. Truman (1884–1972) war soeben erst amerikanischer Vize-Präsident unter Roosevelt geworden, als er nach dessen Tod am 12. April 1945 unerwartet zum 33. Präsidenten der USA avancierte. Zu diesem Zeitpunkt war der Demokrat aus Missouri, der seinen Heimatstaat zwischen 1934 und 1944 im US-Senat vertreten hatte, ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Viele unterschätzten ihn zunächst wegen seiner schlichten Sprache und seines einfachen Auftretens, die gegenüber der Eloquenz und Eleganz seines Vorgängers abzufallen schienen. Doch Truman strafte die Skeptiker Lügen. Er ging als einer der bedeutendsten und tatkräftigsten US-Präsidenten des 20. Jahrhunderts in die Geschichte ein und bewies vor allem in der Außenpolitik, dass er umstrittene Entscheidungen nicht scheute. Im August 1945 beendete er durch den Einsatz der Atombombe den Krieg mit Japan im Pazifik und damit den Zweiten Weltkrieg, in dem er bis zum Schluss die Zusammenarbeit mit der UdSSR fortsetzte. 1946/47 entschied er, der Sowjetunion in Europa entgegenzutreten, und suchte zu diesem Zweck ein Bündnis mit den demokratischen Staaten Westeuropas. Auf diese Weise wurde er zum Vater der NATO und zum Begründer eines dauerhaften Engagements der USA in Europa. In der Innenpolitik bemühte sich der 1948 wiedergewählte Truman, der bis 1953 Präsident blieb, Roosevelts Erbe durch eine Fortführung der moderat staatsinterventionistischen, auf sozialen Ausgleich bedachten Wirtschaftspolitik fortzusetzen.

Sowohl Truman als auch Shdanow zogen aus ihrer Analyse der weltpolitischen Situation den Schluss, das eigene Lager müsse sich fester zusammenschließen, um den bedrohlichen Einfluss der anderen Seite einzudämmen. Die US-Regierung entschloss sich, den Wiederaufbau Europas durch amerikanische Hilfsmaßnahmen zu unterstützen und voranzutreiben. „Ohne schnelle und gründliche Hilfe der Vereinigten Staaten“, schrieb ein Unterstaatssekretär im State Department 1947, „wird Europa von wirtschaftlicher, sozialer und politischer Auflösung überwältigt werden.“ Das wichtigste Mittel, mit dessen Hilfe die USA diesen Auflösungserscheinungen entgegenarbeiten und eine Weltwirtschaftskrise mit ihren unberechenbaren Auswirkungen auf Europa und Amerika verhindern wollten, war der Marshallplan. Er trug dazu bei, die Zusammenarbeit zwischen den Staaten Westeuropas zu stärken und die Anfänge der westeuropäischen Integration zu beschleunigen. Die Amerikaner hatten Wert darauf gelegt, ihre Wirtschaftshilfe nicht jedem Land einzeln zu gewähren. Vielmehr forderten sie als europäische Vorleistung die Einigung auf ein gemeinsames Wirtschaftsprogramm sowie das fortgesetzte Bemühen um wirtschaftspolitische Kooperation.

Die Staaten, die am Marshallplanprogramm teilnehmen wollten, griffen diese Initiative auf und gründeten nach längeren Querelen im Frühjahr 1948 die „Organization for European Economic Cooperation“. Die OEEC hatte drei Aufgaben: Sie sollte erstens – als Gegenstück zur amerikanischen Marshallplan-Behörde – das Programm in Europa koordinieren und durchführen. Zweitens diente sie der Beseitigung von Handelsschranken, der Herabsetzung von Zöllen und der Abschaffung anderer Hindernisse für einen freien Handel innerhalb Westeuropas. Die dritte Aufgabe bezog sich auf die Liberalisierung des Zahlungsverkehrs in Europa. Die OEEC sollte dafür sorgen, dass Währungen konvertibel und stabile Wechselkurse eingerichtet wurden. In Bezug auf die Entwicklung in Deutschland hatte der Marshallplan einen weiteren – indirekten – Effekt. Die Amerikaner gingen davon aus, dass wirtschaftliche Hilfe nicht genüge, um den ökonomischen Wiederaufbau der deutschen Westzonen zu erreichen. Ebenso wichtig war ihrer Meinung nach eine Währungsreform als flankierende Maßnahme (siehe unten Kap. I.3.b), wenn der zu gründende Weststaat auf einer soliden Basis stehen sollte. Gegen sowjetischen Widerstand fochten sie die Reform im Juni 1948 durch und ersetzten in den Westzonen die Reichsmark durch ein neues Zahlungsmittel: die D-Mark. Moskau reagierte, indem es seinerseits eine Währungsreform für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und ganz Berlin anordnete. Nachdem Verhandlungen der Vier Mächte über eine gemeinsame Währung in Berlin – die sog. Bären-Mark – gescheitert waren, führten die Westalliierten die DM auch in Berlin ein.

MarshallplanÜber die Marshallplanhilfe ließen die USA Westeuropa bis Ende 1952 insgesamt 14 Mrd. $ zukommen – meist in Form von Warenlieferungen. Den größten Anteil erhielten Großbritannien (3,4 Mrd.), Frankreich (2,8 Mrd.) und Italien (1,5 Mrd.); die deutschen Westzonen und Berlin erhielten insgesamt 1,4 Mrd. Für die Westintegration der deutschen Westzonen war der Marshallplan von entscheidender Bedeutung, basierte er doch auf der Erkenntnis, dass die europäische nicht ohne die deutsche Wirtschaft – insbesondere nicht ohne das Ruhrgebiet – wieder aufgebaut werden konnte. Westdeutschland wurde deswegen ganz bewusst in das Programm einbezogen. Seinen Namen verdankte der Plan seinem Initiator George C. Marshall (1880–1959), der 1947 als Nachfolger von Byrnes Außenminister geworden war. Zuvor hatte Marshall von 1939 bis 1945 als Generalstabschef den Ausbau der amerikanischen Streitkräfte und die strategischen Planungen der USA geleitet. Nach seinem Abschied vom State Department 1949 war Marshall, der 1953 den Friedensnobelpreis erhielt, von 1951 bis 1952 Verteidigungsminister. Clay, der voller Bewunderung für ihn war, sagte später einmal, die Größe Marshalls habe darin bestanden, dass er in Milliarden dachte, wo das übrige Washington nur in Millionen rechnete, um Europa zu sanieren.

Dies wiederum veranlasste die Sowjetunion im Juni 1948, den Westteil Berlins von der Außenwelt abzuschnüren. Ab dem 21. Juni blockierte sie alle Eisenbahn-, Straßen- und Schiffsverbindungen zwischen Berlin und den Westzonen. Die Stromversorgung wurde ebenfalls gekappt. Nur die Luftverkehrswege blieben unangetastet. Zunächst begründeten die sowjetischen Stellen die Unterbrechung mit „technischen Schwierigkeiten“. Wenig später ließen sie jedoch durchblicken, die technischen Probleme würden so lange anhalten, bis der Westen seine Pläne für eine westdeutsche Regierung begraben hätte.

Die Sowjetunion verfolgte mit der Blockade West-Berlins zwei Ziele: Zunächst sollten die USA und Großbritannien gezwungen werden, zu den Potsdamer Vereinbarungen über eine gemeinsame Vier-Mächte-Verantwortung für ganz Deutschland zurückzukehren. Sollte sich dies als nicht durchsetzbar erweisen, wollte man den Westen wenigstens zwingen, West-Berlin aufzugeben, das als Insel mitten in der SBZ lag. Die Amerikaner, für die nicht nur ihre Rechte in Berlin, sondern auch ihre Glaubwürdigkeit in Deutschland und Europa auf dem Spiel standen, erwogen zwei verschiedene Reaktionen auf die sowjetische Herausforderung. Der politische Planungsstab im State Department entwickelte unter der Leitung Kennans ein Konzept, demzufolge die UdSSR und der Westen einen beiderseitigen Truppenabzug aus Deutschland vereinbaren und die Wiederherstellung eines unabhängigen gesamtdeutschen Staates aushandeln sollten. „Wir könnten dann ohne Prestigeverlust aus Berlin abziehen“, hieß es in einem Memorandum vom August 1948, „und die Bevölkerung der Westsektoren würde nicht unter sowjetische Herrschaft fallen, weil die Russen die Stadt ebenfalls verlassen würden.“ Eine entgegengesetzte Position vertrat General Clay, der davor warnte, in Berlin Nachgiebigkeit zu zeigen. „Nach Berlin wird Westdeutschland kommen, und unsere Machtstellung ist dort nicht größer und unsere Position nicht haltbarer als in Berlin“, hatte er bereits im April düster bemerkt. „Wenn wir der Ansicht sind, dass wir Europa gegen den Kommunismus halten müssen, dann dürfen wir uns nicht vom Fleck rühren.“ Statt einer Neutralisierung Deutschlands, wie das Außenministerium sie erwog, befürwortete Clay ein Festhalten an den Weststaatsplänen und eine Versorgung der Stadt über eine Luftbrücke – eine Position, mit der er sich schließlich bei Präsident Truman durchsetzte.

LuftbrückeFast ein Jahr lang – vom Juni 1948 bis zum Mai 1949 – hing das Schicksal der Berliner Bevölkerung von der sog. Luftbrücke der Westmächte und den Flügen der alliierten „Rosinenbomber“ ab. Diese brachten in mehr als 270.000 Flügen fast zwei Mio. Tonnen Versorgungsgüter nach Berlin: Kohle, Lebensmittel, Industriegüter, sogar Bauteile für ein Kraftwerk. Während dieser Zeit veränderte sich nicht nur das Image der Westmächte in Deutschland. Auch das amerikanische Bild, wenn nicht von den Deutschen insgesamt, so doch von Berlin und den Berlinern wandelte sich: Aus der Hauptstadt des „Dritten Reiches“ wurde ein „Bollwerk der Freiheit“, ein Symbol des Selbstbehauptungswillens der „freien Welt“ im Kampf gegen die Sowjetunion.

Während die Sowjetunion versuchte, die Westmächte in Berlin zur Aufgabe zu zwingen, liefen in den deutschen Westzonen die Vorbereitung für die Gründung der Bundesrepublik auf Hochtouren. Schon im März 1948 hatten die USA und Großbritannien auf der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz die zunächst widerstrebenden Benelux-Staaten und Frankreich dazu gebracht, einer Umwandlung der westdeutschen Wirtschaftszone in einen regelrechten Staat zuzustimmen. Vier Monate später riefen die Besatzungsmächte in Frankfurt am Main die elf westdeutschen Ministerpräsidenten zusammen – zu diesem Zeitpunkt die einzigen demokratisch legitimierten Vertreter des deutschen Volkes –, um ihnen die Beschlüsse von London mitzuteilen. Jeder der drei Militärgouverneure verlas in seiner Muttersprache ein Dokument. Clay gab Richtlinien für die Verfassung des künftigen Staates bekannt, die die Deutschen selbst ausarbeiten sollten. Sir Brian Robertson (1896–1974), der Brite, verkündete die Prinzipien einer Neuordnung der Länder. Der Franzose Pierre Koenig (1898–1970) trug Grundzüge eines Besatzungsstatuts vor, das die Rechte der Siegermächte in Deutschland regeln würde. Alle drei machten deutlich, dass sie diese „Frankfurter Dokumente“ für ein großzügiges Angebot hielten.

Die Ministerpräsidenten waren jedoch keineswegs nur erfreut. Zwar boten die Dokumente den Deutschen die Chance, ihre Zukunft selbst mitzugestalten – freilich unter strikter Aufsicht der Alliierten. Zugleich fürchteten die deutschen Politiker aber, die Teilung des Landes zu zementieren, wenn sie das in den Dokumenten Festgeschriebene umsetzten. Entsprechend hinhaltend reagierten sie zunächst. Die Bedenkenträger setzten sich aber nicht durch. V.a. amerikanischer Druck sorgte dafür, dass noch im August ein Sachverständigenausschuss, der sog. Herrenchiemseer Verfassungskonvent, zusammentrat, um im Auftrag der Ministerpräsidenten den Entwurf einer provisorischen Verfassung – des „Grundgesetzes“ – zu erarbeiten. Am 1. September kam dann in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen, dem die weitere Verfassungsarbeit oblag. Der Rat tagte und beriet neun Monate lang – immer wieder unterbrochen von den Besatzungsmächten, die durch Memoranden und Verbindungsoffiziere eingriffen. Am 12. Mai 1949 genehmigten die drei alliierten Militärgouverneure das Grundgesetz. Am selben Tag gab die Sowjetunion nach elf Monaten die Zufahrtswege nach Berlin wieder frei. Stalin gestand damit sein Scheitern ein. Die sowjetische Aktion hatte die Gründung des Weststaates verhindern oder zumindest die Westmächte aus Berlin vertreiben sollen. Stattdessen hatte sie das Gegenteil bewirkt. Die Gründung der Bundesrepublik war nicht mehr aufzuhalten, und die Präsenz der westlichen Alliierten in Berlin bestand fort.

Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass 1949 die dauerhafte Teilung Deutschlands absehbar gewesen sei. Viele rechneten mit kurzlebigen Provisorien. Wer glaube, von nun an würden die beiden Teile Deutschlands getrennte Wege gehen, sitze einem gefährlichen Irrtum auf, konnte man anlässlich der Gründung der DDR am 7. Oktober in der britischen Zeitschrift Observer lesen: „Niemand hat zu irgendeinem Zeitpunkt einer Teilung Deutschlands zugestimmt oder sie stillschweigend akzeptiert, weder die Westalliierten noch die Russen noch die Deutschen. Die Bonner Regierung betrachtet sich nicht als Regierung Westdeutschlands, und die von den Russen geförderte Regierung, die sich nun in Ost-Berlin formiert, versteht sich auch nicht als Regierung Ostdeutschlands. Beide erheben den Anspruch Gesamtdeutschland zu vertreten. … Auch die Masse des deutschen Volkes, das sich rapide aus der Erstarrung nach der Niederlage erholt, denkt keinen Moment daran, sich mit dem Gedanken an eine geteilte Nation abzufinden.“

c) Bonn ist nicht Weimar

Nationen, deren Geschichte durch Umbrüche, Verfassungswechsel und den Sturz politischer Regimes gekennzeichnet ist, stehen vor der Notwendigkeit, mit Namen und Begriffen Ordnung zu schaffen. In Frankreich, wo man die Republiken nummeriert, begann 1958 die fünfte. In Deutschland setzte sich die Verbindung mit Städtenamen durch. Das thüringische Weimar, von Februar bis September 1919 Tagungsort der verfassunggebenden Nationalversammlung, verschaffte der ersten deutschen Republik ihren Namen. Das Universitätsstädtchen Bonn, wo der Parlamentarische Rat zusammenkam und später Regierung und Parlament des westdeutschen Teilstaates ihren Sitz nahmen, avancierte zum Synonym für die Bundesrepublik zwischen 1949 und 1990. Die Bezeichnung „Bonner Republik“ wurde zwar erst im Rückblick populär – nach der Wiedervereinigung, dem Umzug der Bundesregierung an die Spree und dem Beginn der „Berliner Republik“. Der Begriff ist jedoch mehr als ein bloßes Konstrukt von Historikern. Bereits Zeitgenossen sprachen von „Bonn“, wenn sie das westdeutsche Staatswesen insgesamt meinten. „Bonn ist nicht Weimar“, lautete zum Beispiel der Titel eines 1956 erschienen Buches des Schweizer Publizisten Fritz René Allemann (1910–96). Darin behauptete dieser, die Entwicklung der zweiten deutschen Demokratie unterscheide sich in wesentlichen Punkten positiv von der 1933 untergegangenen ersten.

Allemanns These überzeugte nicht alle Leser. Fielen nicht auf den ersten Blick wichtige Gemeinsamkeiten ins Auge? Beide Male wurde die Republik aus Krieg und Niederlage geboren. Beide Male markierte sie das Ende eines deutschen Reiches – im einen Fall des Kaiserreichs der Hohenzollernmonarchie, im anderen Fall des angeblich tausendjährigen „Dritten Reichs“ der Nationalsozialisten. Im Hinblick auf die privatkapitalistische Wirtschaftsverfassung und die politische Grundordnung einer repräsentativen parlamentarischen Demokratie ähnelten sich Bonn und Weimar ebenfalls. Zudem fiel auf, dass große Teile der politischen Elite Nachkriegsdeutschlands jener Generation angehörten, die bereits in der Weimarer Republik aktiv gewesen war. Der CDU-Politiker Konrad Adenauer (1876–1967), der Sozialdemokrat Kurt Schumacher (1895–1952) und der Liberale Theodor Heuss (1884–1963), um nur drei prominente Beispiele zu nennen, hatten allesamt zum politischen Establishment der ersten deutschen Republik gehört – der erste als Kölner Oberbürgermeister und Präsident des preußischen Staatsrats, die beiden anderen als Reichstagsabgeordnete der SPD bzw. der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Angesichts derartiger personeller Verbindungslinien verwundert es kaum, wenn sozialistische und linksliberale Intellektuelle den konservativen Geist der Epoche kritisierten. „Unser Traum von einer Erneuerung Deutschlands ist zu Ende“, schrieb im Oktober 1949 der damals noch in Ost-Berlin lebende Schriftsteller Alfred Kantorowicz (1899–1979). „Die Politiker von gestern haben das Heft nun wieder fest in der Hand, drüben und hüben.“ Der Publizist Walter Dirks (1901–91) sprach ein Jahr später in einem Aufsatz in den „Frankfurter Heften“ von einer regelrechten „Restauration“, die Formen, Symbole und Mächte der Vergangenheit heraufbeschwöre. Männern wie Kantorowicz und Dirks schien der Gedanke abwegig, in Bonn könne gelingen, was in Weimar gescheitert war.

Tatsächlich sprach manches dafür, dass die Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg schlechter war als nach dem Ersten. Zwischen 1914 und 1918 hatten deutsche Soldaten bis zum Schluss auf fremdem Boden gekämpft. Seit 1942 kam der Krieg nach Deutschland. Zuerst durch die Luftangriffe, später mit den Soldaten der Alliierten. Allein in den letzten vier Monaten des Krieges wurden 7 Mio. Deutsche durch Bombardements obdachlos. Rund die Hälfte des Wohnraums lag in Trümmern, 20 % der Industrieanlagen, 40 % der Straßen und Eisenbahnlinien waren zerstört. Entsprechend groß war die Not – besonders in den Städten. Das Durchschnittsgewicht von männlichen Erwachsenen lag Mitte 1946 in der amerikanischen Besatzungszone bei 51 Kilogramm. In Köln erreichten Ende 1945 nur 12 % der Kinder das ihrem Alter entsprechende Normalgewicht.

Besonders schlecht ging es den Vertriebenen, die aus den Ostgebieten des untergegangenen Deutschen Reiches, aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn flohen und in langen Trecks nach Westen strömten. Ende 1946 waren es 5,6 Mio., bis 1950 stieg ihre Zahl im Gebiet der Bundesrepublik auf mehr als 8 Mio. Ihre auch nur notdürftige Unterbringung und Versorgung stellte die Verwaltungen vor enorme Probleme. „Rein praktisch“, hieß es im August 1945 pessimistisch in einer britischen Sonntagszeitung, „kann Deutschland, zur Zeit eher ein Land von Höhlenbewohnern, nicht sieben Millionen Neuankömmlinge aufnehmen. Ökonomisch kann es sie auf keinen Fall integrieren – schon gar nicht in eine Wirtschaft, die durch die Demontage von Industrieanlagen, Reparationszahlungen und den Verlust einiger ihrer reichsten Provinzen drastisch reduziert ist. Die Zuwanderer würden für immer arbeitslos, für immer Not leidend und – für immer politischer Sprengstoff sein. Die Ankunft dieser sieben Millionen könnte für ein schwer ausgeblutetes, schwaches, auf dem Weg der Erholung befindliches Land tödlich sein.

Ähnliche Sorgen lösten die gewaltigen Gebietsverluste aus, die Deutschland nach 1945 hinnehmen musste. Pommern, Schlesien und das südliche Ostpreußen fielen an Polen. Der nördliche Teil Ostpreußens mit Königsberg wurde in die Sowjetunion eingegliedert. Auch nach dem Ersten Weltkrieg hatte Deutschland Provinzen verloren, war jedoch ein einheitlicher Staat geblieben. 1949 hingegen war es bereits vor der Gründung der Bundesrepublik und der DDR de facto zweigeteilt. Vorpommern, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Thüringen und Sachsen bildeten einen separaten, von der kommunistischen SED dominierten Staat unter sowjetischer Oberhoheit. Alles in allem bedeckte das Territorium der Bundesrepublik nicht mehr als die Hälfte des früheren Deutschen Reiches – 53 % des Staatsgebietes von 1937, 46 % des Territoriums von 1871. Der verbliebene Rest umfasste im Verhältnis deutlich weniger landwirtschaftliche Nutzfläche als die Weimarer Republik. Nicht wenige Ökonomen sorgten sich, wie die westdeutsche Bevölkerung, geschweige denn die Flüchtlinge aus dem Osten ernährt werden könnten.

Auch im Hinblick auf den völkerrechtlichen Status war Bonns Ausgangssituation ungünstiger als diejenige Weimars. Als die Nationalversammlung im Februar 1919 erstmals zusammentrat, war nur das Rheinland von französischen und britischen Einheiten besetzt. Nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Mai 1945 hingegen standen Truppen der Alliierten im ganzen Land und herrschten dort mit der uneingeschränkten Macht der Sieger. Diese Situation änderte sich erst, als der amerikanische, britische und französische Militärgouverneur im Mai 1949 ein Besatzungsstatut verkündeten, das mit der Konstituierung der ersten Bundesregierung im September wirksam wurde. In diesem Statut, das Vorrang vor dem Grundgesetz hatte, definierten und begrenzten die Westmächte ihre Befugnisse, behielten sich aber wichtige Zuständigkeiten und Vetorechte vor: für Abrüstungsfragen und wirtschaftliche Entflechtung, für Restitutionen und Reparationen, für Auswärtige Angelegenheiten im Allgemeinen, für die Überwachung des Außenhandels und der Devisenwirtschaft im besonderen. In erster Linie aber sicherten sie sich in der sog. Notfallklausel das Recht, „die Ausübung der vollen Gewalt ganz oder teilweise wieder zu übernehmen, wenn sie zu der Auffassung gelangen, dass dies für die Sicherheit, zur Bewahrung einer demokratischen Regierung in Deutschland und in der Verfolgung der internationalen Verpflichtungen ihrer Regierungen nötig ist“. Rechtlich betrachtet, war die Bundesrepublik zunächst nicht viel mehr als ein gemeinsames Protektorat der drei Westmächte.

d) Die Chancen des Neuanfangs

Der Zustand der Machtlosigkeit barg für die künftige politische Führung der Bundesrepublik aber auch Vorteile, die erst im Rückblick richtig deutlich wurden. So war die Frage der Kriegsschuld diesmal unstrittig. Das NS-Regime hatte 1939 einen Eroberungskrieg in Europa begonnen und 1941 zum Weltkrieg ausgeweitet, der sich durch nichts rechtfertigen ließ. Im Unterschied zu 1918 erlaubten die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation sowie Hitlers wahnwitzige Weigerung aufzugeben keinen Zweifel am Ausmaß und an der Unausweichlichkeit der Niederlage. Anders als nach dem Waffenstillstand 1918 konnte im Mai 1945 niemand behaupten, die deutsche Armee sei im Felde unbesiegt geblieben und nur einem angeblichen Verrat durch die Heimatfront zum Opfer gefallen. Es gab keine Vorwürfe gegen irgendwelche „Novemberverbrecher“ und keine zweite Dolchstoßlegende. Das Problem einer Neuauflage der „Schmach von Versailles“ stellte sich nicht, weil aufgrund der Uneinigkeit der Sieger und wegen des Kalten Kriegs überhaupt kein Frieden ausgehandelt wurde.

Langfristig noch wichtiger war die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, die nach Kriegsende immer deutlicher zutage trat. Die organisierte Ausrottung des größten Teils der europäischen Juden, die systematische Vernichtungspolitik gegen Polen, Russen, Zigeuner, Homosexuelle und andere als rassisch minderwertig Erachtete war derart ungeheuerlich, dass eine unverhüllt positive Bezugnahme auf das „Dritte Reich“ in der deutschen Öffentlichkeit fortan unmöglich war. Zwar mochte das hinter verschlossenen Türen, in Privatgesprächen noch längere Zeit hindurch anders sein (siehe Kap. IV.2.c). Dennoch konnte es kein deutscher Politiker, der ernst genommen werden wollte, nach 1945 wagen, Hitler und den Nationalsozialismus gegen die bestehende Ordnung auszuspielen, wie das mit Kaiser Wilhelm II. und der Hohenzollernmonarchie in der Weimarer Republik möglich gewesen war. Hinzu kam, dass nach dem Zweiten Weltkrieg anders als nach 1918 die Siegermächte die Aburteilung der Protagonisten des untergegangenen Regimes übernahmen. Weder in den Hauptkriegsverbrecherprozessen in Nürnberg noch in den insgesamt 5035 anderen Prozessen, die bis 1949 unter alliierter Regie stattfanden, spielten Deutsche als Ankläger oder Richter eine herausgehobene Rolle. Auf diese Weise blieb es dem westdeutschen politischen Establishment der Nachkriegszeit erspart, sich gegen Vorwürfe des „Vaterlandsverrats“ zu Wehr setzen zu müssen, wie sie gegen die Protagonisten der Weimarer Republik erhoben worden waren.

Ein weiterer Vorteil der Besatzungsherrschaft bestand darin, dass die schlimmen Jahre des Hungers, der Zerstörung, der rationierten Lebensmittel und Hamsterfahrten zwischen 1945 und 1948 nicht mit der neuen westdeutschen Regierung, sondern mit den Siegermächten assoziiert wurden. Die Alliierten trafen die meisten der harten, häufig unpopulären Entscheidungen, die für den wirtschaftlichen Neuanfang notwendig waren. Die Währungsreform fand auf ihre Initiative und unter ihrer Kontrolle statt ebenso wie im März 1948 die Gründung der „Bank deutscher Länder“, die 1957 in „Bundesbank“ umbenannt wurde. Ein zonenübergreifendes, westdeutsches Parlament existierte bis zum Sommer 1949 nicht. Am nächsten kam der Idee einer repräsentativen Volksvertretung noch der Wirtschaftsrat der Bi-, später der Trizone, der seit Juni 1947 in Frankfurt tagte und dessen Mitglieder von den Landesparlamenten gewählt wurden. Auch wenn die Tätigkeit des Wirtschaftsrats in der Praxis bald von den deutschen Parteien bestimmt wurde, sollte er doch nach dem Willen der Besatzungsmächte bewusst ein unpolitisches, lediglich mit Verwaltungsaufgaben betrautes Gremium sein. So kam es, dass die Westdeutschen die heftigsten Geburtswehen der wirtschaftlichen Erholung hinter sich hatten, als der erste Bundestag zusammentrat. Die Weimarer Parlamente und Regierungen hingegen hatten selbst mit schwierigen Problemen wie der Demobilmachung, einer galoppierenden Inflation sowie allgegenwärtigen Kohle- und Lebensmittelengpässen kämpfen müssen, was die Legitimation der jungen Republik von Anfang an schwer beeinträchtigt hatte.

Ein weiterer Vorteil bestand darin, dass die 61 Väter und vier Mütter des Grundgesetzes aus dem lernen konnten, was sie rückblickend als die Fehler Weimars erachteten. Den meisten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates, deren Durchschnittsalter 56 Jahre betrug, war das Scheitern der ersten deutschen Republik aus persönlichem Erleben bekannt. Viele führten den Untergang v.a. auf das Versagen der Verfassung zurück, die es zu verbessern galt, wollte man eine Wiederholung der deutschen Katastrophe verhindern. Ob eine optimierte Verfassung tatsächlich den Mangel an überzeugten Demokraten hätte wettmachen können, an dem Deutschland in der Zwischenkriegszeit litt, erscheint fraglich. Entscheidend ist aber, dass man die Entstehung des Grundgesetzes ohne den Hintergrund der „Lehren von Weimar“ nicht verstehen kann.

Die wichtigste dieser Lehren lautete, dass sich die Demokratie rechtzeitig vor ihren Feinden schützen müsse. Sie müsse „den Mut zur Intoleranz denen gegenüber haben, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie selbst umzubringen“, wie der Sozialdemokrat Carlo Schmid (1896–1970), der spätere Vorsitzende des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, am Beginn der Verfassungsberatungen erklärte. Schmid drückte aus, was die meisten dachten. Über den Grundsatz der „streitbaren“ oder „wehrhaften“ Demokratie, der das Grundgesetz von der Weimarer Verfassung unterschied, herrschte weitgehend Einvernehmen. Konkret bedeutete dies dreierlei: Erstens durften die klassischen Grundrechte auch von einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages in ihrem Wesensgehalt nicht verändert werden. Sie wurden dem Grundgesetz vorangestellt und hatten den Status unmittelbar geltenden Rechts – anders als in Weimar, wo sie als bloße „Programmsätze“ vom Reichstag prinzipiell verändert werden konnten. Zweitens sah das Grundgesetz die Möglichkeit vor, politische Parteien zu verbieten, wenn diese nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgingen, die freiheitlich demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik zu gefährden (Art. 21 II). Drittens wurden die Grundsätze wie Demokratie, Gewaltenteilung, Föderalismus, Sozial- und Rechtsstaatlichkeit für unabänderlich erklärt (Art. 79 III).

FöderalismusAuch im Hinblick auf die ausgeprägt föderalistische Struktur unterschied sich die Bonner von der Weimarer Republik. Es war nicht ohne Bedeutung, dass die Bildung der Länder durch die Siegermächte der Gründung der Bundesrepublik zeitlich vorausgegangen war. Im Parlamentarischen Rat herrschte Konsens über die – ohnehin von den Alliierten nachdrücklich verlangte – Errichtung eines Bundesstaates. Nicht nur der Zentralstaat, sondern auch die Gliedstaaten sollten legislative, exekutive und judikative Kompetenzen und Institutionen besitzen; Art. 30 des Grundgesetzes bestimmte sogar, dass die Ausübung der staatlichen Befugnisse und die Erfüllung der staatlichen Aufgaben den Ländern obliegen, soweit keine anderen Regelungen getroffen würden.Umstritten war im Parlamentarischen Rat die Frage, in welcher Form die Bundesländer an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken sollten. Schließlich setzte sich die von Sozialdemokraten und der CSU befürwortete „Bundesratslösung“ durch. Diese sah eine aus Vertretern der Landesregierungen gebildete Länderkammer vor, während die CDU eine „Senatslösung“ mit einer nach dem Vorbild des US-Senats gewählten Zweiten Kammer favorisiert hatte. Die Sozialdemokraten erhofften sich von dieser Regelung v.a. eine relative Stärkung der Zentralgewalt, weil der Bundesrat über weniger verfassungsmäßige Befugnisse verfügen würde als der amerikanische Senat. Die CSU versprach sich von der Bundesratslösung einen stärkeren Einfluss der Länder auf die Bundespolitik. Der bundesdeutsche Föderalismus profitierte von dem Umstand, dass nach der Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 das Verhältnis der verschiedenen Regionen zueinander ausgeglichener und spannunsgfreier war als im Reich, wo mehr als 60 % der Bevölkerung in Preußen gelebt hatten. Zudem erwiesen sich die ‚künstlich‘ neugebildeten Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Rheinland-Pfalz als stabil und dauerhaft. Nur einmal wurde von der im Grundgesetz eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, per Volksabstimmung die Ländergrenzen zu verändern. Das war im Dezember 1951, als die Südwestdeutschen dafür votierten, die Länder Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern und Baden zum neuen Bundesland Baden-Württemberg zusammenzufassen.

Eine weitere Konsequenz aus dem Scheitern der Weimarer Republik bestand in dem Verzicht auf die plebiszitären Elemente der Weimarer Reichsverfassung. Man fürchtete, dass Volksbegehren und Volksentscheid zu einer Wiederholung jener politischen Radikalisierung führen könnten, an der Weimar zugrunde gegangen war. Das Grundgesetz sah sie lediglich im Falle einer Neugliederung von Bundesländern vor.