Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche - Justus Geilhufe - E-Book

Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche E-Book

Justus Geilhufe

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Beschreibung

„Ich liebe meine Kirche, aber ich verzweifle an ihr.“ – ein bemerkenswerter Satz aus dem Munde eines evangelischen Pfarrers. Justus Geilhufe hat sich an zwei Dinge gewöhnt: an die allzu erwartbaren Äußerungen der EKD und ihre notorische Selbstüberschätzung, aber auch an die lebendige, beinahe anarchische Kraft des Glaubens an der Basis, besonders im Osten Deutschlands. Hier sei bereits Realität, was dem Westen noch bevorstehe, nämlich völliges Desinteresse an Kirchenpolitik. Dafür wächst das Interesse an der Botschaft und dem Vorbild Jesu. Ein ebenso persönlicher wie provokanter Bericht über verdrängte Realitäten der Kirche und neue Chancen für den Glauben.

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Justus Geilhufe

Die atheistische Gesellschaft und ihre Kirche

Justus Geilhufe, Jahrgang 1990, ist Pfarrer in Sachsen. Er hat in Jena, Princeton, München und Leipzig Theologie, Philosophie und Leadership studiert. An der Universität Göttingen wurde er mit einer Dissertation zur Theologie Bruce McCormacks promoviert.

Deutschland ist ein atheistisches Land. Wie der Osten, in dem Justus Geilhufe aufwuchs, ist auch der Westen heute entkirchlicht. Das ist nicht weniger als eine Katastrophe. Die einzige Hoffnung, die dieses Land hat, ist eine Kirche, die derzeit aber selber in der Krise steckt. Geilhufe zeigt einen Ausweg aus dieser Krise – aus der Krise der Kirche und der Krise des Landes, in dem sie existiert. Er tut das mithilfe der Erfahrungen, welche die Christenheit in der DDR und Nachwendezeit im Osten gemacht hat.

Anne, Stephan und Sebastian mit Dank

INHALT

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Epilog

Quellen

„Die Berührung durch uns Menschen hinterlässt einen Makel, ein Zeichen, einen Abdruck.

Unreinheit, Grausamkeit, Missbrauch, Irrtum, Ausscheidung, Samen –

der Makel ist untrennbar mit dem Dasein verbunden.“

Philip Roth

„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.

Paulus

Ähnlichkeiten der in diesem Buch vorkommenden Figuren mit realen Personen sind zufällig

Prolog

Arsch! Ja, es ist ein Arsch. Unmöglich es anders zu sagen. Dieser weiße Teigklumpen, der rotgepunktet aus der zu engen und daher nur mit Mühe ein Stück weit heruntergezogenen Jeans quillt, ist ein Arsch. Kein Po, kein Hintern, nichts weiter als ein widerlicher, ekelerregender Arsch. Und dieser Arsch ist die erste Erinnerung, die ich besitze. Das Erste, was ich von meinem Leben weiß, ist, wie ich an der Hand meines damals schon recht alten Vaters auf dem Dresdner Altmarkt stehe und ein junger glatzköpfiger Mann vor einer Gruppe südamerikanischer Musiker die Hosen runterlässt und sich von seinen Freunden dafür feiern lässt, dass er den Ausländern diese Widerwärtigkeit entgegen streckt.

Das war Ende 1992. Ich erinnere mich, wie ich als Zweijähriger mit meinen sehr stummen Eltern schnell über das alte Kopfsteinpflaster des Dresdner Altmarktes weiterlaufe, an den mächtigen, beinahe schwarzen Sandsteinsäulen der Kreuzkirche vorbei hin zum Pirnaischen Platz in einen Bus, der uns zurück bringt in die Behütung des 300 Jahre alten Pfarrhofes. Dort, in seinem Innenhof unter einer großen Eibe, wo ich nach dem Gottesdienst sah, wie der Abendmahlswein in die Erde, die seine Wurzeln noch heute umgibt, gegossen wurde, liegt der Mittelpunkt der Welt. Und während der Motor den alten Ikarus-Bus laut und rauchend dorthin in Bewegung setzt, merke ich, dass ich nicht nur zum ersten Mal bewusst etwas schrecklich Unmenschliches erlebt habe, sondern ganz offenbar auch unmerklich Zeuge davon geworden bin, wie eine ganze Wirklichkeit um mich herum aufhört zu existieren und keiner weiß, was sie nun ersetzen wird.

Ich habe mich lange gefragt, warum ich diese Begebenheit so genau im Gedächtnis habe. Ich glaube heute, dass es der erste Einbruch von etwas ganz Furchtbarem in ein behütetes Leben war. Der Einbruch von etwas zutiefst Unberechenbarem in etwas, das bis zu diesem Zeitpunkt mittels eindeutiger Trennlinien vermocht hatte, von diesen Dingen zwar berührt und zugleich doch nicht kontaminiert zu werden. Der Nazi auf dem Dresdner Altmarkt überschritt die säuberlich und mühevoll gezogene Trennlinie zwischen Kultur, Behütung, Glauben, Humor, Stolz und der Primitivität, Brutalität, ja: der Kulturlosigkeit. Dort auf dem Altmarkt, in diesem Moment, in dem die Panflöten trotz allem weiterspielten, war kein Pfarrhaus, keine Eibe und damit kein Verständnis, kein Vergeben, kein Hoffen und immer neu Versuchen, sondern eine beängstigend rohe Kraft, der die Kultur meiner Kindheit scheinbar nichts entgegenbringen konnte. Brutal und ohne die Zwischentöne irgendeines Selbstzweifels, irgendetwas Höherem und Schönem. So wurden die Musiker aus Lateinamerika erniedrigt und ich merkte zum ersten Mal in meinem Leben, dass meine Welt und die Menschen in ihr bedroht sind.

Es existiert ein Bild meines sechs oder sieben Jahre alten Bruders aus dieser Zeit. Er, der viele Jahre ältere Pfarrerssohn, steht in alter abgelegter Kleidung vor einer braun-grau verputzen Mauer. Er hält einen blauen Luftballon in seiner Hand, strahlt über das ganze Gesicht und hinter ihm steht an die Wand gesprüht: „40 Jahre Schlaf, 6 Monate Traum, 1 böses Erwachen“. Mein böses Erwachen ereignete sich an jenem Herbsttag auf dem Dresdner Altmarkt. Traumata wie diese waren der Alltag unserer Kindheit in den 1990er-Jahren in Ostdeutschland. Für mich waren sie verstörend, für meine Eltern waren sie beschämend, für Jorge Gomondai und hundert andere in Dresden und anderen ostdeutschen Städten waren sie tödlich. Es gibt zahllose andere Traumata aus dieser Zeit, aus dieser Gesellschaft, die auf einmal eine so andere war. Ich merke, wie sie mich durch die neue Zeit und ihre Gesellschaft drängen und mich unfähig machen, in dieser neuen Zeit und Gesellschaft nicht das Alte und Schmerzvolle wiederzuerkennen.

Das Alte und Schmerzvolle, was ich 30 Jahre später nun sehe, ist, dass nicht mehr nur meine ostdeutsche, sondern die gesamtdeutsche Gesellschaft, in die wir damals hineingeworfen wurden, aufgehört hat zu existieren und auch heute niemand weiß, was sie ersetzen wird. Ich erkenne wieder den Einbruch einer neuen Wirklichkeit. Leiser, weniger roh, recht sauber, aber doch katastrophal wie damals. So wie ich als Kind an der Hand meines Vaters merkte, wie sich die gewohnte und geliebte Sphäre der Kirche als Schutzraum um mich und andere herum auflöste und die einfachen, glatten Pflastersteine, auf denen ich stand, genauso wie die zum steinernen Gotteslob ziselierten Fassaden des Dresdner Barocks zur stummen Kulisse für Hass und Ignoranz wurden, erlebe ich jetzt erneut, wie sich alles um uns herum auflöst und etwas Gewaltvolles in meine Welt zurückkehrt.

Das Alte und Schmerzvolle für den sächsischen Pfarrersohn damals war die atheistische Gesellschaft im Osten. Das Alte und Schmerzvolle für den sächsischen Pfarrer, der ich heute bin, ist die atheistische Gesellschaft im Osten – und im Westen. Erst spät habe ich begriffen, dass ich heute nicht etwa in dieser Gesellschaft aufwache. Vielmehr bin ich sie seit dem Arsch auf dem Dresdner Altmarkt gewohnt. Aber das verstand ich erst, als ich mich immer mehr wunderte, warum die anderen noch schlafen. Die erste Erinnerung meines Lebens ist die Wahrnehmung der atheistischen Welt um mich herum. Ab diesem Moment war sie meine Welt. Und meine Kirche war die Kirche in dieser atheistischen Wirklichkeit. Das schloss die Traumata nicht aus, aber das Leben in der atheistischen Gesellschaft ist seit meiner Geburt meine christliche Existenz. Die Kirche in der atheistischen Gesellschaft ist meine Herkunft. Und diese Herkunft ist die Zukunft!

Ich habe die atheistische Gesellschaft im Osten erlebt – und sie war furchtbar! Niemand kann wollen, dass dies die Wirklichkeit unseres heutigen Lebens in Ost und West wird, denn die atheistische Gesellschaft hat nichts zu bieten. Trotzdem weicht das Christliche aus unserer Welt und eine neue Rohheit, Kulturlosigkeit, Härte und Hässlichkeit, die schon der Horror meiner Kindheit war, hält Einzug. Unsere Gesellschaft braucht die Kirche. Tatsächlich kann nur sie etwas von der Zartheit, der Hoffnung und Vergebung, etwas von der Wahrheit, Güte und Schönheit, die wir Menschen nun einmal brauchen, hier bewahren. Damit aber die Kirche all das in unserer Gesellschaft heute erhalten kann, muss sie im Gegenzug davor bewahrt werden, das aufzugeben, was sie selbst in der atheistischen Gesellschaft der DDR und Nachwendezeit zum Überleben gebraucht hat. Denn nur, indem sie etwas von der alten Wahrheit, der alten Güte und Schönheit des Glaubens mitten in der Widersprüchlichkeit der Diktatur aufrechterhielt, konnte sie die Welt um sich herum lieben. Damit blieb sie in einer unmenschlichen Umgebung ein Ort der Freiheit und Offenheit und lebte mit all dem, was heute in unserer Kirche als verzichtbar gilt, mitten im Piefkesozialismus der DDR einen Protestantismus, den wir in der atheistischen Gesellschaft heute, in einer Wirklichkeit mit vielen Widersprüchen, dringend benötigen.