Die blaue Trommel - Daniy Anouk Summerwood - E-Book
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Die blaue Trommel E-Book

Daniy Anouk Summerwood

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Beschreibung

Und alles nur, weil ihr das mit der Glühbirne passiert war. Mari strich dem Nachbarsjungen das blonde Haar aus dem Gesicht: Da war das bunt schimmernde Stirnband. Alles deutete darauf hin, dass sie beide es tatsächlich waren: Die Key-Tas. Wirklich? Sie, die junge Allgäuerin mit dem chaotischen Leben und der Leo vom Bauernhof nebenan. Sollten sie tatsächlich die neun Stufen meistern und damit wieder das Gleichgewicht auf diesem Planeten herstellen können? Zweifelnd blickte sie zu dem tibetischen Mönch und der peruanischen Frau, die ihr gegenüberstanden. Sie wirkten so optimistisch und überzeugt. Dann sah sie zu Leo. Dieser nickte ihr freundlich zu, als ob es das Einfachste der Welt wäre, nun die Orte der Initiationen zu suchen. Würden sie die Aufgaben wirklich meistern können? Und was, wenn nicht? Mari fuhr sich nachdenklich über die Stirn. In ihrem Bauch fühlte sie ein klares Ja, doch ihr Kopf rebellierte. Sie beschloss, ihrem starken Gefühl zu folgen, und nickte. Es war ihr Weg, jetzt diese Abenteuerreise anzutreten. Beyond Munay Ki - es gibt immer einen Weg und die Reise beginnt jetzt.

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Inhalt

Kapitel 1 Die Glühbirne

Kapitel 2 Venedig bei Nacht

Kapitel 3 Das Allgäuer Bergtal

Kapitel 4 Der Mönch im Himalaja

Kapitel 5 Die Wüsten der Erde

Kapitel 6 Das tibetische Wolkenkloster

Kapitel 7 Sternenglanz

Kapitel 8 Das Kleine Volk

Kapitel 9 Stille Nacht, Heilige Nacht

Kapitel 10 Zwei Wege – ein Weg

Kapitel 11 Der Faden

Kapitel 12 Die Suche nach der Vergangenheit

Kapitel 13 Direkte Umwege

Kapitel 14 Zu zweit

Kapitel 15 Im Dorf ohne Namen

Kapitel 16 Die Sternenhüter

Kapitel 17 Der Schwebezustand

Kapitel 18 Spiritual Walk – Die Wanderung

Kapitel 19 Schöpferkraft

Epilog

Nachwort

Kapitel 1

Die Glühbirne

Bis ihr die Sache mit der Glühbirne passierte, lebte sie einfach nur ein Leben. Doch jetzt fand sie sich wieder in einer Geschichte, in der sie gesehen wurde, ob sie wollte oder nicht.

Es war ein regnerischer Tag im Allgäu und Mari ging wie immer am frühen Nachmittag über die weiten Wiesen und Felder. »Komm, Tara, wir gehen am Bach entlang nach Hause.« Wie selbstverständlich sprach Mari mit ihrem Hund den Weg ab, war doch das große weiße Tier das Wesen, mit dem sie am häufigsten sprach.

Die Häuseransammlung ohne Namen, in welcher die beiden einen ausgebauten Bauwagen bewohnten, lag in Sichtweite auf einem Hügel vor ihr. Dort gab es mehr Kühe als Menschen.

Als sie den heranfahrenden Schulbus bemerkte, freute sie sich. Würde sie wohl wieder einmal Leo treffen? Der elfjährige Junge lebte in dem großen Bauernhof in der Nähe des Bauwagens und irgendwie mochte sie ihn.

Einzelne Regentropfen trafen Mari und sie schob sich die blonden Locken unter die bunte Häkelmütze. Sie beschleunigte ihre Schritte, um auf Leo am Bus zu treffen.

Als sich die Bustür öffnete, sah sie ihn bereits. Ein älterer Schüler gab ihm von hinten einen Schubs und lachte dem stolpernden Jungen hinterher. Am liebsten hätte Mari dem frechen Schüler etwas an den Kopf geworfen. Aber sie warf lediglich dem Busfahrer einen vorwurfsvollen Blick zu, schließlich hätte dieser den älteren Schüler ermahnen können. Doch er schloss ohne jegliche Reaktion die Bustür und fuhr weiter.

»Hey Leo, das war nicht okay, dass der dich geschubst hat!«

»Ach, ist schon okay.« Leos Blick schien vor ihm auf den Boden genagelt zu sein.

»Darf ich mit dir mitlaufen?«

»Klar.«

»Wie geht es dir?«

»Gut.«

Mari betrachtete den blassen und schlaksigen Jungen neben sich, wie er mit dem schweren Schulranzen und seinem Turnbeutel neben ihr herlief. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und ein Auge war wie so oft abgeklebt. Er kickte einzelne Steine vor sich her.

Als sie die Stelle erreichten, an der der kleine Trampelpfad zum Bauwagen abging, tippte Mari kurz auf Leos Schulter. »Du weißt, ich bin für dich da, ja?«

Er hob den Kopf, während er nickte. Aus seinem Auge machte sich eine Träne auf den Weg über seine Wange. Einen Moment versank ihr Blick in seinem, bis er sich wegdrehte und nach Hause rannte.

In Mari war etwas erschüttert. Wie konnte ein Kind nur so traurig sein? Sie lief zwischen den Obstbäumen hindurch zu ihrem Bauwagen. Der Abstand zum Hof betrug gut zweihundert Meter. Sie warf einen Blick hinüber. Häufig hörte sie Streitgespräche der Eltern oder laute Anweisungen der Mutter an Leo. Am schlimmsten war ihr eine Diskussion in Erinnerung geblieben, in der Leos Mutter klar gesagt hatte, dass sie ihren Sohn für dumm halte.

Doch Mari hatte bereits bei ihrer ersten Begegnung in Leos gesundes Zauberauge geblickt und sie wusste es ganz genau: Er war ein besonderer Junge.

Sie erreichte ihre Veranda und ließ wie so oft den Blick über das Allgäuer Voralpenland schweifen. Die Berge standen in leichtem Nebel, auf den Gipfeln lag schon der erste Schnee. Das Allgäu hatte eine besondere Schönheit und sie lebte gerne hier.

Ihre schlammigen Stiefel schleudert sie in die Ecke und die nasse Gassikleidung blieb im Eingangsbereich zurück. Sie zog sich ihre Lieblingsjeans und ihren pinken Kapuzenpullover an. Danach setzte sie wie jeden Nachmittag Kaffee auf und machte es sich vor ihrem Computer gemütlich. Es gab noch einiges zu erledigen und für eine Weile konnte sie sich mit der Arbeit von der traurigen Begegnung mit Leo und den tristen Gedanken des Tages ablenken.

Später an diesem Novemberabend saß sie still mit Tara auf ihrer Couch vor dem kleinen Schwedenofen, in dem ein munteres Feuer brannte. Die gemütliche und warme Atmosphäre des fein ausgebauten Bauwagens entsprach nicht ihren Gefühlen. Sie war verwirrt und ihre Gedanken rasten umher. Wie konnte es nur sein, dass ein Kind so traurig war? Sie hätte ihn so gerne gefragt. Am liebsten würde sie einmal etwas mit ihm unternehmen, ihn einfach aus seinem tristen Alltag herausholen, ihn Kind sein lassen. Denn draußen beim Spielen sah sie den Jungen nie. Stets hatte er einen ernsten Ausdruck im Gesicht. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie ein freudiges kindliches Lachen auf seinem Gesicht aussehen würde. Sie verstand die Intensität ihres Wunsches selbst nicht.

Je länger sie nachdachte, umso auswegloser erschien ihr die Situation. Die Eltern des Jungen würden ihr, der Nachbarin mit dem eigenartigen Lebensstil, nie erlauben, etwas mit ihm zu unternehmen. Sie stand auf und lief unruhig hin und her. Woher kam nur ihre Unruhe?

Während sie das Feuer im Ofen betrachtete, spürte sie überraschend Wut in sich aufsteigen. Eine Wut über verpasste Chancen und verschwendetes Potenzial – sie konnte es einfach nicht ausstehen, wenn Menschen ihr Leben nicht so leben konnten, wie sie sollten, war sie doch selbst das beste Beispiel dafür. Die Flammen des Feuers spiegelten sich in ihren Augen.

Mut war für sie bislang nur ein Wort gewesen, das sie aus Büchern kannte. Doch an diesem Novemberabend wurde ihre Wut plötzlich zu Mut.

Ihr Blick fiel auf die Glühbirne über dem Küchentisch und dann verfolgte sie gedanklich den Verlauf ihres Stromkabels hinüber zu dem Haus des Jungen. Das war eine Verbindung – ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.

Plötzlich trug sich ein eigenartiges Schauspiel zu, welches seine Schatten vorauswarf, nicht nur in dem Ort ohne Namen, sondern auch an den entlegensten Ecken der Welt.

Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, die Glühbirne platzte und der Hund und sie waren verschwunden.

Sie schrie aus der Tiefe, doch war der Schrei nur zu sehen und nicht zu hören. Der Junge beobachtete sie und ihren Schrei von seinem Bett aus.

Leo lächelte sie verschlafen an. »Mari, bist du es? Was macht ihr beide denn hier? Träume ich von euch?«

Sie blickte sich verwundert im Zimmer von Leo um. War sie wirklich hier oder träumte sie?

»Unsere Glühbirne hat uns verschluckt und deine hat uns wieder ausgespuckt. Ich wollte zu dir! Meine letzten Gedanken drehten sich darum, dass die Stromleitung ja schließlich eine Verbindung zu eurem Haus ist«, erzählte sie ihm etwas peinlich berührt.

Da lachte er von Herzen und scherzte: »Das ist ja prima, dann können wir ja jetzt auch an andere Orte durch den Strom reisen!«

Seine spontane und freudige Reaktion überraschte sie, so hatte sie ihn noch nie erlebt. In ihr überschlugen sich die Gedanken und sie überlegte laut: »Es hat immerhin einmal funktioniert, aber ob ich dich auch mitnehmen kann?« Sofort überkamen sie Zweifel, wahrscheinlich war sie wieder einmal übergeschnappt.

Leo beobachtete sie und sagte: »Lass es uns doch versuchen. Wieso trägst du ein buntes Stirnband?«

»Was meinst du damit?«, erwiderte sie und tastete ihre Stirn ab.

»Na, deine Stirn schimmert bunt in Regenbogenfarben. Das sieht wunderschön aus.«

Sie warf ihm einen ratlosen Blick zu und versank wieder in ihren Gedanken. Träumte sie? Sie konnte unmöglich durch den Strom hier hergekommen sein. Gab es Gefahren? Doch sie war nun einmal hier und alles fühlte sich real an, sehr real. Sie könnten es einfach versuchen. Der Hund schmiegte sich fröhlich an ihre Beine, als ob er Mari in ihrer Entscheidung bestärken wollte.

»Willst du einmal hier raus, Leo?«, fragte sie den Jungen ernst.

Er warf ihr einen Zauberblick zu und nickte.

Sie traf die Entscheidung und nahm ihn bei der Hand. Mari blickte zur Lampe in seinem Zimmer und schlug kurz auf seinen kleinen Schreibtisch.

Und tatsächlich funktionierte es erneut. Nachdem Mari auf den Tisch geschlagen hatte, drehten sich alle drei in einem bunten Wirbel ähnlich einer Zuckerstange und der Wirbel verschwand in der Fassung der Glühbirne. Zurück blieb der reglose Körper des Jungen, der in seinem Bett lag, als ob jemand die Luft aus ihm herausgelassen hätte.

So kam es, dass plötzlich eine junge Frau, ein Junge und ein Hund aus einer Glühlampe an der Nebelhornbahn in den Allgäuer Alpen fielen. Leo rannte zum Geländer und betrachtete erst die Sterne und dann die Aussicht auf die Berggipfel.

Mari nahm das erste Mal etwas an ihm wahr, was man als kindliche Freude interpretieren konnte. Er hüpfte und lief ungeduldig hin und her und hob dann plötzlich einen Meter vom Boden ab. Sie rannte zu ihm und packte ihn an seinem Bein.

Er lachte und rief: »Ich hab mir gedacht, wenn wir durch Glühbirnen reisen können, dann können wir bestimmt auch fliegen.« Und er sollte recht behalten.

Die Reise durch den Strom musste ihnen die Fähigkeit verliehen haben, Unmögliches kraft ihrer Gedanken anstellen zu können. Mari war sich sicher, dass sie selbst nicht fliegen konnte, doch der Junge und der Hund hoben erneut ab. Sie drehten Pirouetten in der Luft und entfernten sich immer weiter, sie flogen höher, wurden übermütiger. Sie bestaunte die Szenerie: Die Nebelhorn-Gipfelstation lag 2200 Meter hoch in den Alpen und war von mächtigen Bergspitzen umgeben. Am Himmel leuchtete und funkelte es in dieser Nacht.

Der Junge lebte sein Glück ohne Kompromisse, stürzte sich die verschneiten Hänge hinab, jagte den Hund, wenn der nicht gerade ihn jagte, und sie verschwanden in den steil abfallenden Nordwänden. Mari war plötzlich allein in der Stille.

Die Minuten vergingen. Nichts geschah.

Panik stieg in ihr auf. Was, wenn Leo oder dem Hund etwas passierte? Was, wenn sie plötzlich nicht mehr fliegen konnten? Sie rief laut nach ihrem Hund: »Tara, komm! Hier!«

Ihre Stimme verklang in der Weite, der Hund kam nicht zurück. Das war wieder einmal typisch für dieses große weiße Tier, dachte sie angespannt. Es blieb ihr nichts anderes übrig und sie stieg unwillig über das Geländer, fiel in den tiefen Schnee und kämpfte sich nach oben. Sie wischte sich die Schneeflocken aus dem Gesicht und schnaubte angestrengt. Sie entschied sich, es mit dem Fliegen zu versuchen. Kaum hatte sie diesen Entschluss gefasst, hob sie plötzlich ab, strauchelte kurz in der Luft und schwebte dann zum Rand des Abgrunds. Sie starrte in tiefe Dunkelheit und fühlte Angst. Doch sie musste hinunterblicken – wo waren die beiden nur geblieben? Sie beugte sich nach vorne und plötzlich trafen sie harte Schneebälle. Der Junge flog lachend in sie hinein und warf sie zurück in den Schnee. Sie packte ihn und warf Schnee in sein glückliches Gesicht.

Die Nacht war ein einziges Wunder für die drei. Sie flogen an der Alpenkette entlang, ruhten an Gipfelkreuzen und beobachteten schlafende Steinböcke. Als sich im Osten bereits der Morgen ankündigte, kehrten sie über die Glühlampe an der Nebelhornbahn in Leos Zimmer zurück.

Er kuschelte sich glücklich in sein Bett und fragte: »Ziehen wir heute Abend wieder los?«

Sie begann, bereits den Kopf zu schütteln, während ihr Blick auf seine Brille fiel, die er bei ihrem Ausflug nicht dabeigehabt hatte. Dann sah sie den Hund an, der sie ebenfalls bittend anzustarren schien. Sie spürte in sich hinein und versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, ob sie eine weitere Reise planen sollten. Ihr Kopf schrie ein lautes Nein, doch sie spürte ein warmes Gefühl im Herzen. Langsam begann sie zu nicken, obwohl sie auch ein wenig Unbehagen verspürte. Oder war es Aufregung? Es war, als wenn sie gewusst hätte, dass sich aufgrund ihrer Glühbirnenreise ihr Leben verändern würde.

Während sie nachdachte und an Leos Bettkante saß, fielen ihm die Augen zu. Sie strich ihm die dunkelblonden Haare aus der Stirn, so wie es ihr Vater immer bei ihr getan hatte, und zuckte zurück. Auch der Junge trug ein leuchtendes buntes Stirnband. Es sah aus, als wenn es nicht von dieser Welt war, und einige der Farben leuchteten in einer unglaublichen Intensität.

»Das war ein schöner Traum«, flüsterte der Junge plötzlich und drehte sich um.

Mari blickte zu der Glühbirne an Leos Zimmerdecke und ehe sie sichs versah, befanden sie und ihr Hund sich wieder neben ihrem eigenen Küchentisch. Sie rappelten sich auf und Mari fühlte, dass sie einige blaue Flecken bekommen würde.

»Wahrscheinlich ist das alles nur ein Traum!«, dachte Mari noch, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Kennst du das? Du wachst auf und bist noch für ein paar Sekunden in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen und plötzlich wird dir bewusst, was geschehen ist, bevor du eingeschlafen bist?

So ging es Mari, als sie an diesem Morgen die Augen öffnete, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Tara lag neben ihr, was ungewöhnlich war, denn der weiße Hund pflegte sonst ein sehr eigenständiges Dasein und schlief immer in seinem eigenen Bett.

Mari hob kurz den Kopf und sah die Scherben der Glühbirne in der Kehrschaufel neben dem Küchentisch. Über dem Tisch hing eine Lampe ohne Glühbirne. Es war wohl tatsächlich kein Traum gewesen.

Als sie aufstand, spürte sie einige Blessuren. Während sie Holz in den verglasten Schwedenofen legte und bedächtig das Feuer anzündete (das war einer ihrer liebsten Momente des Tages), schüttelte sie mehrmals den Kopf. Für solche Geschichten war sie eigentlich zu alt und überhaupt – es konnte doch nicht sein, dass sie durch eine Glühlampe gereist waren. Sie blickte den Hund intensiv an und er schaute zurück, als wenn er ihr sagen wollte: »Doch, es stimmt, wir sind durch die Gegend geflogen.«

An diesem Morgen brachte sie nichts zustande und sie wartete ungeduldig, bis der Junge von der Schule kam. Die Bustüren öffneten sich und er rannte auf sie zu. Er öffnete den Mund, schien jedoch keine Worte zu finden. Ihr erging es ähnlich. Was sollten sie einander schon sagen? Es war eine so unfassbare Nacht gewesen, vielleicht war das alles doch nicht passiert? So gingen sie schweigend nebeneinander zu der Häuseransammlung auf dem Hügel.

Die Mutter winkte ihm schon ungeduldig aus dem Küchenfenster und Mari beobachtete, wie er vor dem Haus seine Stiefel auszog und diese mit einem Handbesen fein säuberlich abkehrte, bevor er das Haus betrat. Mari verdrehte die Augen. Die Mutter war eindeutig sehr streng und offensichtlich immer beschäftigt. Die Familie hatte viel Geld, dafür jedoch keine Zeit. Leo musste einfach nach dem Willen der Eltern funktionieren. Mari ermahnte sich, positiver über die Eltern zu denken. Vielleicht war die Mutter auch nur besorgt, schließlich konnte Leo auf einem Auge kaum sehen. Und während sie diesen Gedanken nachhing, setzte sich in ihrem Kopf ein Puzzleteil an die richtige Stelle: Heute Nacht hatte er sehen können, ohne Brille! War er deshalb so glücklich und frei gewesen? Und wie konnte das nur sein? Hier lebte er fast blind und letzte Nacht hatte er gesehen. Dessen war sie sich sicher, so wie er sich bewegt und gezielt Schneebälle geworfen hatte.

Die Erkenntnis erfüllte ihr Herz und sie traf den Entschluss, heute Nacht noch einmal zu versuchen, mit dem Strom zu reisen, ein letztes Mal.

Kapitel 2

Venedig bei Nacht

Der Junge lag hellwach in seinem Bett, als Mari und Tara erschienen. Mari sammelte vorsichtig die Scherben ein und Leo holte eine große Packung mit Glühbirnen unter seinem Bett hervor. Währenddessen lächelte er sie an: »Es war doch kein Traum, oder? Ich hatte es so gehofft, als ich heute Morgen aufgewacht bin.«

»Tatsächlich sieht es so aus, als ob wir durch den Strom reisen könnten, so verrückt es sich anhören mag. Aber ganz ehrlich: Wohl fühle ich mich dabei nicht so richtig. Hast du schon mal davon gehört, dass so etwas geht?«

Leo schüttelte den Kopf und warf ein: »Aber das ist ja auch nicht wichtig, was soll schon passieren?«

Mari wären sofort ein paar Dinge eingefallen, aber es würde jetzt nichts bringen, mögliche Gefahren aufzuzählen. Es war sowieso klar, dass sie es noch einmal versuchen würden.

»Hast du eine Idee, wo du gerne hinreisen würdest?«, fragte Mari

Der Junge grinste und entschied sich für Venedig. Mari nickte erleichtert, denn dort war sie schon einmal gewesen, das machte die Sache vielleicht leichter.

Fast schon routiniert verschwanden sie durch die Lampe, wirbelten mit dem Strom und fanden sich auf einem Dach wieder. Es roch modrig und die Dächer waren flacher als in Deutschland. Sie schüttelten sich die Glasscherben aus dem Haar und schwebten entdeckungsfreudig los.

Mari erkannte erleichtert die italienische Umgebung und nach wenigen Blicken wurde ihr klar, dass sie ausgerechnet auf der Friedhofsinsel ausgespuckt worden waren. Die Insel wollte sie nun schnell verlassen, war hier doch alles recht unheimlich. Mari sondierte aufmerksam die Umgebung, um mögliche Gefahren zu erkennen, und als ihr alles sicher erschien, nahmen sie sich vor, in Richtung der Stadt zu fliegen.

»Mari, was meinst du, kann man uns überhaupt sehen?«

»Gute Frage! Wenn uns jemand sieht, schreit er bestimmt«, sagte sie, zog die Mundwinkel nach oben und versuchte, sich selbst aufzuheitern.

Daraufhin entschieden sie sich, schnell und im Dunkel der Nacht zu fliegen. Nur einige Taxiboote waren unterwegs. Die Stadt lag schon im leichten Schlaf und sie landeten an einer finsteren Ecke. Ein alter Mann mit Stock kreuzte ihren Weg. Leo flüsterte: »Ich bin gespannt, ob er uns sehen kann.«

Sie hielten vor Spannung fast den Atem an, doch der Alte ging keuchend an den beiden vorbei, ohne sie zu beachten. Daraufhin liefen sie entspannter weiter. An der nächsten Ecke stand ein rauchender Mann. Sie gingen langsam an ihm vorüber und winkten, er zeigte keine Reaktion. Ab diesem Moment flogen sie wie losgelöst durch die Stadt. Unsichtbar in Venedig! Sie tanzten auf den Gondeln und ließen sich auf Dächern nieder. Sie umflogen mehrmals den Dogenpalast und beobachteten die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren. Ein Fenster zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie hielten vor dem Fenstersims und sahen in einen großen Saal hinein. Es waren hohe Decken und eine prunkvolle Ausstattung zu sehen. Die Vorhänge waren aus Samt und dunkelrot. Der Boden war aus feinstem Marmor. Auf einer kleinen Bühne am anderen Ende des Saals spielte ein kleines Orchester ein langsames Lied für das einzige tanzende Paar. Die junge Frau trug ein venezianisches Kleid und der junge Mann war klassisch im Smoking gekleidet. Sie nahmen nichts außer ihrem Gegenüber wahr, ihre Bewegungen flossen harmonisch ineinander. Mari und Leo erhaschten einen Blick auf einen zauberhaften Moment. Still flogen sie um weitere Ecken und schwebten schließlich vor der Rialtobrücke. Die kunstvoll gebaute überdachte Brücke aus weißem Stein war orange beleuchtet. Wie viele Menschen waren wohl schon über diese Brücke gegangen? Heute Nacht ragte sie einsam über das ruhige Wasser. Weltweit war diese Brücke ein Symbol für Liebe und Verbindung und sie waren hier, frei schwebend und allein. Mari spürte, welch ein Glück sie hatten, dies erleben zu dürfen. Sie setzten sich auf den höchsten Punkt und ließen die Beine baumeln. Wenn sie jetzt jemand sehen würde! Doch nicht einmal die Tauben nahmen Notiz von ihnen.

»Wie geht es dir, Leo?«, fragte Mari interessiert. »Wir haben kaum gesprochen.«

Sein Blick schweifte erst in die Ferne und dann trafen seine Zauberaugen auf ihre. Sie waren klar und hellblau. »Mir geht’s gut. Es ist unglaublich, dass ich sehen und hier so frei mit dir umherfliegen kann. Danke dir, Mari, dass du mich mitnimmst. Weißt du, ich mag dich, auch wenn wir uns ja eigentlich gar nicht kennen. Seit du neben uns wohnst – ich glaube, jetzt seit drei Jahren, oder? – ist es irgendwie schöner bei uns auf dem Hügel geworden. Ich fühle mich nicht mehr ganz so allein und ich freue mich einfach, dass du neben mir wohnst.«

Mari war wieder einmal verwundert, wie erwachsen dieser elfjährige Junge schien und sie nickte ihm lächelnd zu.

»Diese Stadt ist noch viel schöner, als ich sie mir vorgestellt hatte! Aber was denkst du? Wieso können wir mit dem Strom reisen? Das ist doch verrückt, wie funktioniert das nur? Für mich bist du eine Heldin, da du es geschafft hast, durch den Strom zu mir zu kommen. Kannst du zaubern? Bist du eine Hexe? Liegt das an deinem Stirnband?«

»Nein, aber danke, Leo!«, sagte sie grinsend. »Ich bin keine Hexe. Es ist einfach passiert. Ich habe mir Glück für dich gewünscht und wollte, dass du einmal etwas von der Welt sehen kannst. Und jetzt sind wir hier. Ich denke immer noch, dass wir nur träumen«, antwortete sie und zwinkerte ihm mit einem Auge zu. »Und du hast übrigens auch ein Stirnband.«

Der Junge tastete seine Stirn ungläubig ab.

»Komm, das Schönste hast du noch gar nicht gesehen! Ich zeig dir meine Lieblingsuhr in Venedig.«

Sie flogen völlig unbeschwert durch enge, dunkle Gassen, unter Brücken hindurch und über Brücken hinweg, um Kurven und Winkel. Nachdem sie einmal hoch über die Stadt geflogen waren, um sich einen Überblick zu verschaffen, erreichten sie den leer gefegten Markusplatz.

Dort gab es eine große Uhr, welche auf blauem Hintergrund goldene Planeten und Sterne darstellte. Mari hatte früher einmal viel Zeit damit verbracht, diese Uhr zu betrachten, doch heute war die Uhr schwarz verhüllt.

Mari seufzte. »Oh, wie traurig!«

Während sie vor der verhängten Uhr schwebten und Leo überlegte, ob sie vielleicht hinter die Verhüllung kommen könnten, hörten sie plötzlich Stimmen unter sich. Mehrere Personen in schwarzen langen frackähnlichen Jacken eilten aus verschiedenen Richtungen über den Platz und gingen durch eine kleine unscheinbare Tür, welche in einer kleinen Nische an dem Gebäude mit der Uhr lag und leicht übersehen werden konnte.

Ein weiterer Mann hastete hinzu und betrachtete nachdenklich das schwarze Tuch über der Uhr. Ein anderer ging schnellen Schrittes zu ihm und sah ebenfalls zu der Uhr hinauf. Mari konnte einige Wortfetzen ihrer Kommunikation erhaschen, zum Glück konnte sie ein wenig Italienisch.

»Meinst du, es ist jetzt so weit?«, fragte der eine. »So lange haben wir darauf gewartet … Das alte System … Es müsste noch mehr auf der Welt geschehen sein … Endlich beginnen sich die Zahnräder zu bewegen … Das Ziel ist nahe …«

Während Mari versuchte, mehr zu erlauschen, sanken sie immer tiefer hinab. Einer der Männer wandte den Blick von der Uhr ab und sah zu den Sternen. Dabei erfasste er offensichtlich, was über ihm schwebte. Mari sah ihm direkt in die Augen und sie wusste, dass er sie sehen konnte. Der Kontakt war hergestellt – sie erschrak. Mit hektischen Bewegungen flog sie rückwärts davon, während Leo ihr sofort folgte.

»Komm, schnell! Sie haben uns gesehen, er hat uns gesehen! Wir müssen sofort zurück«, stotterte Mari. Sie stoppten unter einer einsamen alten Glühbirne, doch Leo wollte in Venedig bleiben.

»Es ist doch noch nicht spät und selbst wenn er uns gesehen hat, das ist doch egal. Wir machen doch nichts, wir sind ja quasi nur Touristen«, bettelte Leo.

Doch Mari war der Schreck in die Knochen gefahren. Sie zitterte und spürte, dass etwas nicht stimmte. Und sie hatte sich bis jetzt immer auf ihr Gefühl verlassen können. Sie packte Leo an der Hand und Tara an ihrem Halsband, doch als sie an die Wand schlagen wollte, um die Reise zu starten, flog ein Augenpaar auf sie zu. Ihr Schrei erstickte und ein Wirbel im Ausmaß eines Tornados erfasste sie und drückte sie in die nächste Wassergasse tief unter Venedigs Wasseroberfläche.

Wehrlos sanken die drei ins dunkle Wasser. Die Luft wurde knapp. Plötzlich bildete sich eine Luftblase um sie. In dieser war Sauerstoff, reinste Atemluft, nach der sie gierig schnappten, während sie inmitten der leuchtenden Blase schwebten. Die nackte Angst war allen dreien anzusehen. Die Blase wölbte sich an einer Stelle nach innen, platzte auf und ein fellbedecktes Wesen fiel herein. Der Riss schloss sich sofort wieder. Das Ding, das aussah wie eine riesige Fellkugel, schüttelte sich und plötzlich öffnete sich in der Kugel ein riesiges Augenpaar. Dieses schwebte vor ihnen, musterte sie von oben bis unten und sie hörten eine laute Stimme, welche nicht von dieser Welt zu kommen schien: »Wer seid ihr, dass ihr ohne Beachtung der Regeln und der üblichen Begrüßungsrituale schutzlos unterwegs seid? Ihr bringt euch in Gefahr!« Die riesigen Augen sahen sie erwartungsvoll an.

»Wer bist du denn, dass du uns einfach hier unter Wasser in dieser Blase aufhältst? Wir sind Touristen!«, antwortete Leo mit lauter Stimme.

Mari staunte über Leos mutige Aussage, sie hätte nicht einmal Piep sagen können.

»Wir wollen nun wieder hinaus!«, fuhr der Junge fort.

Die Augen tanzten vor ihm. »Wollt ihr ausgelöscht werden? Ihr fallt auf wie ein Dreijähriger auf einem Dreirad in einem Ballettensemble! Es gibt Regeln in unserer Welt, das wisst ihr doch. Wer ist euer Lehrer?«

»Wir haben keinen, wir sind nur Touristen aus Deutschland und wir gehen ja wieder nach Hause.«

Die Augen weiteten sich belustigt. »Ihr haltet mich wohl für völlig dämlich? Ihr wollt mir erzählen, dass sich jetzt plötzlich Menschen einfach aufmachen und mit dem Licht reisen können, ohne Lehrer?« Das Wesen lachte und konnte sich kaum beruhigen.

Mari wollte weg, doch Strom gab es in dieser Blase nicht. Sie wünschte, sie könnte zaubern.

Ein Beben erschütterte die kleine Gruppe und es hörte sich an, als ob ein Motorboot über sie hinwegziehen würde. Im nächsten Moment zerriss es die Blase und alle strampelten unkontrolliert im Wasser. Mari schaffte es, Leo zu packen, Tara war neben ihr. Mit eiligen Zügen schwammen sie in Richtung eines Lichtscheines, den sie erblickt hatten – dort musste eine Glühbirne sein.

Das Augenpaar in der Fellkugel sah ihnen konzentriert hinterher. Es schien fast so, als wollte das Wesen sie beschwören. Die drei schwammen zielstrebig in Richtung des Lichts und kamen gut voran, doch fühlte es sich so an, als ob etwas an ihnen ziehen würde. Hinter ihnen blieb ein bunter Schleier zurück: Die Fellkugel entzog den dreien ihre Farbe!

Und während sie eine Beleuchtungslampe für Boote an einem nahegelegenen Steg erreichten und gegen das Holz schlugen, blieb ihr Farbschleier im Wasser zurück und drei farblose Gestalten entschwanden langsam der venezianischen Welt. Erleichtert fanden sie sich in Leos Zimmer wieder. Leo hüpfte freudig auf sein Bett, Tara wedelte mit dem Schwanz.

»Oh mein Gott, das war nicht lustig – das machen wir nie wieder!« Mari zitterte am ganzen Körper.

Der Junge freute sich jedoch über das Abenteuer. »Ha, dem Fellauge haben wir es gezeigt! Ach, komm, Mari, das war doch ein Spaß! Lass uns das wieder machen, ja?«

Mari war unendlich erschöpft und nicht mehr in der Lage, über potenzielle zukünftige Aktionen nachzudenken, und so entschlossen sie sich, erst einmal schlafen zu gehen.

Morgens wachte Mari mit einem unguten Gefühl auf. Durch ihre großen Fenster sah sie, wie vor dem Nachbarhaus die Mutter Leo laut diskutierend zum Bus schickte. Sie war offensichtlich sehr aufgebracht, während er schluchzte, kein Wort sagte und unendlich langsam in Richtung Bushaltestelle ging. Was war nur mit ihm los? Er bewegte sich unnatürlich langsam.

Mari konnte nur den Kopf schütteln und hoffen, dass dies alles nichts mit ihrem nächtlichen Ausflug zu tun hatte. Sie erhob sich, um Feuer zu machen, und bemerkte, dass sie sich ebenfalls nur im Schneckentempo bewegen konnte, als ob alle ihre Muskeln eingefroren wären. Tara wollte auch nur in ihrem Bettchen liegen. Nachdenklich betrachtete Mari ihre Hände und dachte darüber nach, was in den letzten zwei Nächten passiert war. Verloren sie an Kraft, wenn sie mit dem Strom reisten? Hatte das Fellauge etwas mit ihnen angestellt? Es hatte etwas von Regeln gesagt, von Begrüßungsritualen … Und dann das Gespräch der zwei Männer vor der Uhr. Über was hatten sie sich nur unterhalten? Das musste sie Leo noch erzählen. Ihr Kopf war voller Rätsel und ihr fiel der alte Spruch ein: Schuster, bleib bei deinen Leisten.

Ihr war bewusst, dass diese Art des Reisens gefährlich war. Zudem sah es so aus, als ob Leo riesigen Ärger bekommen hatte. Sollte er sich so müde fühlen wie sie, war es sicherlich schwierig für ihn gewesen, überhaupt aufzustehen und sich für die Schule fertig zu machen. Er hätte zu Hause im Bett bleiben sollen.

Sie musste mit ihm sprechen und ihm klarmachen, dass sie nicht mehr durch den Strom reisen würden, obwohl es sicher noch weitere tolle Orte zu entdecken gegeben hätte.

Der Tag verging langsam, während sich Mari stündlich kränker fühlte. Sie rührte meditativ in einer Kürbissuppe, als plötzlich die Luft im Raum zu flirren begann und sich leuchtende Lichtteilchen bildeten. Verwundert beobachteten Mari und Tara das Phänomen. Die Lichtteilchen bündelten sich und formten sich zu einer leuchtenden Gestalt. Diese schwebte ruhig im Yogasitz inmitten des Bauwagens.

Mari ließ den Löffel fallen, die Suppe spritzte in alle Richtungen, insbesondere auf ihren pinken Kapuzenpulli. »Na toll, das wird ja immer besser, was habe ich nur angefangen?«, dachte sie und blickte das Lichtwesen fassungslos an. Dieses formte sich zu einer Frau mit südamerikanischen Zügen und sprach in einem so liebevollen Ton, dass Maris Herz – ob sie wollte oder nicht – sofort von harmonischen Gefühlen durchflutet wurde.

»Kommt beide zu mir, ihr braucht meine Hilfe. Ich warte auf euch. Kommt baldmöglichst in das Tal, in dem so viel Käse gemacht wird und wo die Klamm liegt. Du kennst das Tal. Am Fuße deines Lieblingsberges liegt im Wald eine kleine Hütte. Ich werde euch helfen. Vermeidet es in eurem Zustand, mit dem Licht zu reisen! Es ist gefährlich für euch, ihr seid geschwächt«, sagte die Frau und nickte Mari zu, der ihre Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand.

Mari fühlte sich so verstanden und angenommen wie noch nie zuvor. Wie konnte eine unbekannte Person so etwas in ihr auslösen? Solch einem Menschen war sie noch nie begegnet, außer ihrer Großmutter vielleicht. Tara wurde von der Gestalt über den Kopf gestreichelt und dann normalisierte sich die Luft im Bauwagen wieder.

Mari lehnte sich an die Holzwand, ließ den Kopf zurückfallen und dachte: »Na toll, wie soll ich nur Leo in ein Bergtal bekommen? Die Mutter lässt ihn bestimmt nicht allein gehen. Und ich weiß, dass sie mich nicht mag, sie mochte schon meine Großmutter nicht.« Sie suchte fieberhaft nach einer Lösung, doch ihr fiel nichts ein.

Sie hoffte, Leo wieder am Bus abfangen zu können, und nachdem sie eine Weile gewartet hatte, sah sie ihn endlich. Langsam stieg er aus, seine Mitschüler lachten ihm hämisch hinterher. Der Stress stand ihm ins Gesicht geschrieben und er schlich auf Mari zu.

»Ich hasse Busfahren!«, war das Einzige, was ihm über die Lippen kam.

»Das kann ich verstehen. Ich habe eine gute Nachricht für dich: Ich habe heute Besuch von einem Lichtwesen bekommen, einer Frau, die südamerikanisch aussah und von unserer Reise wusste. Sie hat uns eingeladen und möchte uns helfen. Sie lebt in einem Tal hier in der Nähe. Wie schaffen wir es, dass wir zusammen dorthin fahren können?«

Er schien bei ihren Worten ein wenig Hoffnung zu schöpfen und sah sie fragend an. »Du hast heute von einer unbekannten Frau Besuch bekommen? Einem Lichtwesen? Wie hat die Frau dich gefunden? Ich kann mich momentan nur im Schneckentempo bewegen. Deswegen kann ich mir nicht vorstellen, durch die Berge zu laufen. Zudem haben mich heute alle ausgelacht«, erzählte er und seufzte. »Ist zwar nichts Neues, aber heute war es besonders schlimm. Selbst die Lehrerin hat sich zu einem blöden Spruch hinreißen lassen.« Er schob die Brille die Nase hoch.

Mari blickte in die Novemberlandschaft, über die gefrorenen Wiesen. »Das tut mir leid, Leo. Menschen können schrecklich sein, wenn man nicht wie sie ist. Sie haben Angst vor Menschen, die anders sind. Und du bist anders! Und das ist auch gut so.« Sie stupste ihn aufmunternd an. »Du warst so tapfer heute Nacht«, sagte sie und lächelte. »Ich habe gegenüber dem Fellauge kein Wort herausgebracht, ich war so stolz auf dich! Der Besuch von heute hat sich echt gut angefühlt, ich denke, wir sollten die Einladung annehmen. Die Frau sagte, sie könne uns helfen. Ich kann mich nämlich auch nur noch langsam bewegen. Irgendwas muss uns heute Nacht passiert sein oder das Fellauge hat etwas mit uns angestellt. Wir müssen in das Bergtal. Hast du eine Idee, wie du dich vielleicht aus dem Haus schleichen könntest?«

Kapitel 3

Das Allgäuer Bergtal

Mari begleitete Leo in sein Elternhaus. Als Kind war sie schon einmal kurz in diesem Haus gewesen, als sie ihre Ferienzeit bei Granny, so nannte sie liebevoll ihre Großmutter, verbracht hatte. Die Großmutter hatte einen Telefonanruf tätigen müssen und im Bauwagen hatten sie kein Telefon gehabt. Früher war es ein einfacher Bauernhof gewesen, heute fand sie sich in einem sehr modernen und peinlichst aufgeräumten Wohnzimmer wieder und traute sich kaum, sich mit ihrem Strickpulli irgendwo anzulehnen. Mari fragte sich ernsthaft, wie manche Menschen es schafften, ein Haus ständig so aufgeräumt und sauber zu halten.

Mari grüßte Leos Mutter mit einem herzlichen »Grüß Gott, Frau Körner!«

Diese nickte ihr zu.

Während ihre Gedanken durch die Vergangenheit ihres eigenen seltsam verlaufenden Lebens kreisten, beobachtete sie, wie Leo mit seiner Mutter sprach.

Mari erinnerte sich an die Zeiten mit ihren Eltern in ihrem Zuhause. Es war ein glückliches Zuhause gewesen. Ihre Mutter war nicht immer einfach gewesen und war ebenfalls sehr streng. Doch ihren Vater hatte sie über alles geliebt. Er war viel zu selten zu Hause gewesen, aber wenn er da gewesen war, hatten immer große Abenteuer angestanden: von Handwerken über Klettern und Bergsteigen bis hin zum gemeinsamen Lesen von Büchern über alte Kulturen. Das Glück hatte jedoch abrupt geendet, als sie acht Jahre alt war: An einem bitterkalten Tag im Winter, in einer glatten Kurve an einem Baum. Ihre Eltern hatten sie an diesem Tag nicht mitgenommen und sie hatte sie nie wiedergesehen.

Ein stechender Schmerz durchzuckte ihre Brust und sie konzentrierte sich wieder auf Leo. Dieser erzählte seiner Mutter etwas von einem Referat über das Verhalten von Tieren vor dem Winter. Er müsse Fotos machen und einen Bericht schreiben. Dabei schwärmte er von Maris Kenntnissen der Natur und sagte seiner Mutter, sie würde nur noch heute einmal in die Berge fahren und könnte ihn mitnehmen. Und dann brachte er das gewichtigste Argument an: Er würde eine Eins in Biologie bekommen, wenn er das Referat noch diese Woche ablieferte.

Die Mutter blickte Mari abschätzig an. Mari wusste, dass sie in den Augen der Frau keine verantwortungsvolle Begleiterin darstellte. Frau Körner wusste, dass Mari nach dem Tod ihrer Eltern auf ein Internat an der Nordsee in der Nähe ihrer Patentante gegangen war, dann studiert hatte und viel gereist war und vor vier Jahren zurück ins Allgäu gekommen war. Jetzt lebte Mari in dem Bauwagen auf dem angrenzenden Grundstück, welches sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, war ledig, hatte keine Festanstellung und lief ständig mit ihren alten Jeans, Strick- oder Kapuzenpullis und verstrubbelten blonden Locken herum. Sie lebte in den Augen der Mutter ein wertloses Leben und auch Mari selbst fand ihr Leben nicht besonders bemerkenswert.

Dennoch gab es eigentlich keinen Grund, warum Leo nicht einmal mit der Nachbarin einen Ausflug machen sollte. Mari setzte einen freundlichen Gesichtsausdruck auf und vielleicht hatten die beiden einfach nur einen glücklichen Moment erwischt, die Mutter stimmte zu.

Die beiden verließen erleichtert das Haus, packten noch kurz einen kleinen Rucksack in Maris Bauwagen, suchten nach dem Schlüssel zu Maris VW Bus und ruck, zuck waren sie auf dem Weg in die Oberallgäuer Berge.

Die Straße schlängelte sich durch das Tal, der Nebel war dicht und die Sonne war kaum zu sehen. Der Parkplatz am Ende des Tals war leer, die Bäume trugen kein Laub.

Mari und Leo wanderten langsam die Klamm entlang, ihr Ziel war der Berg am Ende des Tales. Tara freute sich und erkundete in weiten Bögen die Umgebung. Mari liebte diesen Berg, denn in keiner Karte war der Weg dorthin eingezeichnet. Das Gipfelkreuz stand auf einem spitz zulaufenden Grat aus Nagelfluhgestein, welches aus zusammengepressten Steinen und Sediment bestand – eine Erinnerung an die Zeiten, als hier noch Gletscher gewesen waren.

In dem Talkessel unterhalb des Gipfels musste irgendwo die Hütte der Frau sein. Der Wald dort war noch jung, die Bäume hatten dichtes Astwerk über dem Boden und ein Durchkommen war kaum möglich. Sie würden es nie schaffen, alles zu durchsuchen, denn sie mussten in wenigen Stunden wieder zurück sein.

Wieder glänzte Leo mit seinem Einfallsreichtum. »Meinst du, sie hat ein Feuer in ihrer Hütte? Dann müssten wir Rauch über dem Wald aufsteigen sehen. Dadurch könnten wir sie finden.«

So suchten sie den Himmel über dem Wald ab und über einer kleinen Lichtung in nördlicher Richtung war tatsächlich ein wenig Rauch zu vermuten. Sie machten sich auf den Weg, kämpften sich durch den dichten Wald. Zeitweise folgten sie Tara, welche einen schmalen Bachlauf gefunden hatte, und plötzlich standen sie auf einer Lichtung. Die Hütte lag geschützt unter einem höhlenähnlichen Felsvorsprung. Sie hatte eine kleine überdachte Terrasse und davor stand ein Brunnen der aus einem Baumstamm gefertigt war, in dem das Wasser lebendig plätscherte.

Da die beiden immer noch nicht schnell gehen konnten, bewegten sie sich langsam auf die Hütte zu, bis sie plötzlich von einer unsichtbaren Wand gestoppt wurden. Tara schnüffelte daran und schüttelte ihren breiten Hundekopf. Als Mari und Leo den Widerstand abtasteten, sahen sie, wie kleine regenbogenfarbige Lichtwellen an einer Kuppel emporzuckten.

Mari nutzte den Moment, um Leo zu betrachten, wie er mit seiner Brille und seinem kurzen blonden Haar, welches störrisch in alle Richtungen abstand, nachdachte. Seine Kleidung schien ihm immer zu groß zu sein und sein Gesichtsausdruck war wie meist von Ernsthaftigkeit geprägt. Mari fragte sich im Stillen, weshalb sie so eine Verbindung hatten, eigentlich kannten sie sich ja nur flüchtig, wie Nachbarn sich eben kannten.

Während sie ihren Gedanken nachhing, erhellte sich Leos Gesicht. Die Frau, die Mari schon in ihrer Lichtgestalt kannte, trat mit eiligen Schritten aus der Hütte und rief: »Hola, ihr zwei!« Sie hob die Hände zum Himmel und die Kuppel verschwand augenblicklich. »Kommt schnell herein!« Sie winkte ihnen auffordernd zu und ihre Herzlichkeit ließ kein Zögern zu.

Im Inneren der Hütte gab es nur einen Raum. In diesem war alles zu finden, was nötig war, um in den Bergen eine gute Zeit zu verbringen. Die Küche barg ein paar wenige Kochutensilien und einen kleinen Holzofen. Die Eckbank war mit Schaffellen bedeckt, die Vorhänge an den Fenstern waren rot-weiß kariert. Alles war aus Holz und schien handgemacht.

Die Frau stellte heißen Tee in rustikalen Tassen vor die beiden und sagte: »Mein Name ist Kara, ich komme aus Peru.«

»Ich bin Leo und komme aus dem Allgäu. Was war das mit der unsichtbaren Wand?«, fragte der Junge neugierig und die Frau strahlte ihn an.

Sekundenlang blieb sie still. »Vieles müsst ihr zwei erfahren«, sagte sie dann und blickte intensiv in Maris Augen, die offen und fragend zurückschaute. »Was ist euch beiden in Venedig passiert?«

Leo zuckte zusammen. »Woher wissen Sie von Venedig?«

»Ein schlauer Junge bist du, schnell in Gedanken – dein Herz braucht Kraft«, sinnierte Kara und fuhr an Mari gerichtet fort: »Du hast viel Herzkraft und Energie im Kopf, doch ihr braucht mehr, um die Aufgaben erfüllen zu können.«

Mari hob irritiert den Kopf. »Welche Aufgaben?«

»Ich werde euch alles erklären, trinkt euren Tee, ich erzähle euch von mir«, sagte Kara und nickte bedacht. Die Peruanerin nahm sich auch einen Tee und begann zu erzählen: »In der Nacht, als ihr beide das erste Mal durch den Strom gereist seid, ist auch bei uns in Peru etwas passiert. Unser alter Meister stand auf dem Dorfplatz und bat uns alle, an einen Ort im Urwald des Amazonas mitzukommen. Wir gingen zu einem alten, ausgetrockneten Flussbett mit einer steilen Wand, an der wohl früher ein Wasserfall hinabgestürzt war. Alles war von einsamer Stille geprägt, im Morgengrauen war auch die Tierwelt noch sehr ruhig. Nur einige Vögel gaben Laute von sich. Plötzlich nahmen wir oben auf der Kante der Steilwand eine Bewegung wahr, ein schwarzer Jaguar erschien. Im gleichen Moment stieg die Sonne über den Horizont und hellblaues, gar türkises rauschendes Wasser schoss tosend über die Kante und gab dem Bachbett sein Leben und seinen Wasserfall zurück. Wir blieben an dieser Stelle mit unserem alten Meister und hielten eine Zeremonie ab, die Kraft des Moments war sehr stark.

Er erzählte uns, dass es einst geheißen hatte: Wenn das Wasser in diesem Fluss wieder fließt, dann wird ein neues Zeitalter anbrechen. Die Menschen werden die Fähigkeit in sich finden, sich selbst zu heilen und damit auch die Welt. Haltet Ausschau nach Wesen mit leuchtenden Stirnbändern, diese werden wichtig sein, um den richtigen Weg an dieser Weggabelung wählen zu können.

Es sprach sich herum, was der alte Meister erzählt hatte, und bald kamen viele Menschen aus dem Urwald zu uns, brachten Blumen und Früchte und es wird bis heute immer noch gefeiert.

Und plötzlich hatte ich eine Vision von euch, ich sah euch beide mit euren Stirnbändern, wie ihr gereist seid, wusste aber nicht, was die Bilder zu bedeuten hatten. Es hat wohl einige Vorfälle in dieser Nacht gegeben. In Ägypten hat sich ein Stein aus einer Pyramide gelöst und einen bisher unbekannten Raum geöffnet, dann die Sache mit unserem Wasserfall und … in Venedig hat eine Glocke geläutet, die dies jahrhundertelang nicht mehr getan hat!«

Mari war das Staunen ins Gesicht geschrieben. Leo hörte interessiert zu. Das Feuer knisterte gemütlich im Ofen.

»Ich glaube nicht, dass wir etwas mit diesen Vorfällen zu tun haben. Ich verstehe zwar nicht, wie unser Reisen durch den Strom funktioniert, aber dass all diese Ereignisse mit unserer Reise zeitlich zusammenfielen, ist bestimmt reiner Zufall. Mir kommt alles immer noch wie ein Traum vor. Aber wie ist das, wer kann uns eigentlich sehen?«, fragte Mari.

»Es kann euch jeder sehen, der gelernt hat oder die Fähigkeit hat, eine Aura – einen Lichtkörper – zu sehen. Ich vermute, manche Menschen können auch die Anwesenheit eines Lichtkörpers fühlen, ohne diesen wirklich zu sehen.«

»Was ist ein Lichtkörper?«, fragte Leo gespannt in die Runde.

»Das würde ich euch gerne gleich im Detail erklären. Mari, was denkst du gerade?«, fragte Kara.

Mari nickte nachdenklich. »Du meinst also, wir sind mit Lichtkörpern gereist … Ich habe einmal darüber gelesen, ich dachte jedoch, das wäre etwas für erleuchtete Mönche in fernen Klöstern. Jedoch in Venedig … Einer der zwei Männer, die unter dieser Uhr standen, hat uns gesehen. Das hat mir wirklich Sorgen bereitet, davor hatte ich den Eindruck, niemand könnte uns sehen.« Sie lächelte und fuhr fort: »Immerhin saßen wir unbemerkt auf der Rialtobrücke. Ich habe mich total erschrocken und habe Angst bekommen. Als wir zurück an einem Strommast auf dem Dach waren, kam etwas auf uns zugerast.«

Kara nickte verständnisvoll, als ob sie bereits alles wusste. »Trinkt euren Tee, er wird euch heilen. Ich bin mir sicher, dass eure Lichtreisen mit den aktuellen Geschehnissen zu tun haben, deshalb müsst ihr mehr erfahren.« Kara blickte kurz beunruhigt zur Tür, als ob sie wüsste, dass sie nicht allzu lange Zeit haben würden, und fuhr fort: »Damit Menschen mit dem Licht reisen können, braucht es normalerweise jahrzehntelange Ausbildungen in Einsiedeleien oder Klöstern. Nur sehr wenige Menschen haben es bisher geschafft, danach solche Reisen zu meistern. Ihr habt es einfach so getan. Das könnte der Schlüssel sein. Vielleicht beginnt nun tatsächlich die Zeit der Selbstheilung. Es war wirklich sehr gefährlich, was ihr getan habt, aber anscheinend auch notwendig. Stellt euch vor, ihr wärt diese Schlüssel, das wäre fantastisch«, stellte sie fest und strahlte die beiden begeistert an.

Dann fuhr sie fort, obwohl Mari gerade nach den erwähnten Gefahren fragen wollte. »Ich werde euch nun etwas erklären, ihr müsst lernen, zu verstehen. Und ich werde weiter für euch da sein, mehr für euch herausfinden. Ich bin überzeugt, ihr seid die Schlüssel – meine Visionen waren bisher immer zutreffend.«

Mari wollte direkt einen weiteren Einwand einwerfen, doch Kara ließ sie nicht zu Wort kommen. »Um auf Leos Frage von vorhin zurückzukommen – wisst ihr, dass ihr nicht nur euren physischen Körper habt, sondern auch einen Energiekörper, auch genannt Lichtkörper?«

Mari nickte, doch Leo schüttelte mit Fragezeichen im Gesicht den Kopf.

Kara hielt ihre Hand mit der Handfläche nach oben und ein kleiner menschlicher Körper, circa fünfzig Zentimeter hoch, formte sich leuchtend und schwebend über ihrem Handteller. »Um euren physischen Körper befinden sich verschiedene Auraschichten. Stellt sie euch vor wie Seifenblasen, die in verschiedenen Abständen um euch schweben.«

Um das Körpermodell auf Karas Hand entstanden einige Blasen in wunderschönen Farben und mehreren Schichten, wie bei den russischen Matrjoschka-Puppen.

»Inmitten dieser Blasen, der Auraschichten, ist der physische Körper eingebettet. Dieser wird ständig mit Energie versorgt. Die Wirbelsäule ist ein einziger Energiestrang, vergleichbar mit einem Elektrizitätswerk. An der Wirbelsäule befinden sich weitere kleinere Licht- und Kraftzentren, die für verschiedene Bereiche des Lichtkörpers zuständig sind. In Indien nennt man diese Kraftzentren Chakren. Diese Chakren sind dafür da, dass eure Organe mit Kraft und Energie versorgt werden. In vielen Kulturen ist dies bekannt und sie sind sich bewusst, dass Heilung auch über diese Chakren stattfindet. Leider ist das Wissen hier bei euch im Westen kaum mehr anerkannt, obwohl es durchaus bekannt ist.

Jetzt aber zum Lichtreisen. Dieses Wunderwerk, die Kombination aus eurem physischen Körper und dem Lichtkörper, ist die Basis dafür, dass ihr mit dem Licht reisen könnt. Ihr lasst euren richtigen Körper zurück und reist quasi mit einem Körper aus Licht. Ihr selbst seht euch, wie ihr euch immer seht, also mit eurer Kleidung und eurem Körper. Manchmal, zum Beispiel wenn ihr müde oder angestrengt seid, erscheint ihr etwas transparenter oder sogar fast durchsichtig. Auch könnt ihr Dinge und andere Lichtreisende berühren. Wie schon gesagt können euch jedoch andere, ungeschulte Menschen nicht wahrnehmen. Tiere nehmen euch jedoch immer in eurer Lichtgestalt wahr, für sie ist es ganz natürlich Energien zu sehen. In eurem Lichtkörper sind alle Informationen über euch gespeichert, ähnlich wie in einer Cloud.« Kara lachte über sich selbst und das Wortspiel. »Also Wolkenreisen quasi. Aber für euch ist jetzt wichtig, dass ihr lernt, euren Lichtkörper und euer Energiesystem gesund zu halten.«

In dem kleinen Lichtkörper auf Karas Hand leuchtete die Wirbelsäule auf. Am unteren und oberen Ende bildeten sich jeweils zwei tornadoartige Wirbel, welche sich langsam drehten. Der obere sah aus wie eine geöffnete Blüte. Sechs weitere bildeten sich entlang der Wirbelsäule, jeweils vorne und hinten am Körper.

»Seht nun, wenn alle Chakren frei und gut ausgebildet sind und sich fein drehen, steht der Körper in vollem Schutz und in seiner ganzen Kraft. Er kann so mit Energie versorgt werden, diese aufnehmen und nutzen.«

Auf ihrer Hand strahlte nun das ganze Konstrukt, die Chakren sendeten verschiedenste Farben aus und erleuchteten die einzelnen Auraschichten, zwischen denen feine Fäden zu pulsieren schienen. Mari und Leo staunten über die Schönheit dieses Wesens.

»Das ist euer Ziel. So solltet ihr aussehen, dann seid ihr auf euren Reisen sicher. Bedenkt, dass euer physischer Körper immer zurückbleibt und ihr nur in eurem Lichtkörper unterwegs seid. Ihr müsst darauf achten, dass auch euer physischer Körper gut aufgehoben ist, während ihr reist.«

Kara schüttelte die Hand und ein anderes Wesen erschien. Leo und Mari schreckten zurück. Es hatte eine graue Wirbelsäule und die Schichten um den kleinen grauen Körper sahen aus wie eine Zwiebel vom Kompost. Die Lichtzentren drehten sich nur langsam und waren gefüllt mit grauem Schlamm.

»Das ist ein kranker Mensch. Die Aura der meisten Menschen bewegt sich jedoch irgendwo zwischen den beiden Ausprägungen.«

Leo betrachtete staunend seine Hände und seinen Körper.

»Und so sieht eine Aura aus, wenn man voller Angst ist.«

Erneut schreckten beide zurück, selbst Tara jaulte kurz auf. Das kleine Modell über der Hand von Kara zuckte heftig, die Aura mit den hässlich rot gezackten Rändern weitete sich aus, im ganzen Raum war Unruhe zu spüren.

»Der Tschabo, das Wesen, dem ihr begegnet seid, hat in Venedig eure Angst entdeckt, das ist seine Aufgabe. Angst ist gefährlich, verbreitet sich, steckt an. In euren Lichtkörpern habt ihr mehr Einfluss auf eure Umwelt. Er wollte euch stoppen und hat euch eure Energie entzogen. Deshalb seid ihr so langsam und habt keine Energie mehr, aber der Tee wird euch helfen. Habt ihr Fragen?«

Mari und Leo schauten sich an und kamen sich vor wie bei einem Vortrag. Es war alles klar und verständlich, aber viel zu viel auf einmal. Die Hütte erbebte plötzlich leicht und Mari wurde nervös. Kara legte ihre Hand auf Maris Hand und Mari wurde augenblicklich ruhiger. In Maris Augen stand die Frage, was diese Beben zu bedeuten hatten, und Mari las in Karas Augen, dass sie bald mehr erfahren würde.