Die blinden Flecken der Demokratie - Armin Groh - E-Book

Die blinden Flecken der Demokratie E-Book

Armin Groh

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Beschreibung

Das Wort "Demokratie" birgt seit jeher große Versprechungen: Freiheit, Menschenrechte, Mitbestimmung, Gerechtigkeit, Wohlstand und Frieden sollen sich mit ihr einstellen. Doch ihr Glanz ist verblasst, meint der Autor und Pädagoge Armin Groh. Die westlichen Gesellschaften sind gespalten, der Autoritarismus ist auf dem Vormarsch, die soziale Ungleichheit nimmt zu, Millionen leiden unter Armut und Hunger, das Vertrauen in die politischen Institutionen ist geschwunden und Kriege wurden zu ständigen Begleitern. Hält die Demokratie nicht, was sie verspricht? Wäre es folglich besser, sich von ihr zu verabschieden? Die Diagnose dieses Buchs ist eine andere: Unser Bild von Demokratie ist voller blinder Flecken. Diese betreffen insbesondere die Rolle der demokratischen Gemeinschaft in Fragen des Eigentums, der Wirtschaft, der Globalisierung und der Öffentlichkeit. Während die Bürger vor Wahlen regelmäßig dazu aufgerufen werden, vom "Königsrecht" der Demokratie Gebrauch zu machen, sehen sie sich ansonsten weitgehend auf die Rolle von isolierten Konsumenten beschränkt. Der Autor begleitet zwei Schüler auf einer Entdeckungsreise in die politische Philosophie und lässt sie und ihre Altersgenossen über die vielen Ansätze und Hindernisse einer demokratischen Gesellschaft diskutieren. Sie unterhalten sich etwa über die richtige Herrschaftsform, über Marktwirtschaft und Privateigentum, über Partikularismus, Nationalismus und Kolonialismus und über Gewalt, Medien und Bildung. Die anschauliche und gemeinverständliche Darstellung wird durch Übersichten zu den zentralen Begriffen, Argumenten und Positionen großer Denker ergänzt. Der Text ist von erzählerischen Passagen umrahmt, mit denen er die Aktualität der philosophischen Ideen für unsere Lebenswelt unterstreicht.

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Seitenzahl: 325

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Armin GrohDie blinden Flecken der Demokratie

  

Eine Entdeckungsreise in die politische Ideengeschichte

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-912-1(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-522-2)

Covergestaltung : Stefan Fuhrer

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
1. Statt einer Einleitung
Lukas: Wie ich zum Philosophen wurde
2. Freiheit und Demokratie
Lukas: Nachhilfe auf ungeahnten Wegen
Lockes liberaler Staat: Schützer von Leben und Eigentum
Freiheit als private Unabhängigkeit – Benjamin Constant und der rechte Libertarismus
Politische Freiheit? Vertraue den Kaufleuten! – Die Federalists begründen die repräsentative Demokratie
Das Volk als verwirrte Herde – Elitismus und Elitendemokratie
Freier Markt gleich freie Gesellschaft – der Neoliberalismus
Gemeinschaft ist ebenso wichtig wie Freiheit – der Kommunitarismus
Freiheiten müssen verhandelt werden – der Rechtfertigungsliberalismus
Keine Freiheit ohne politisch aktive Gemeinschaft – der Republikanismus
Keine Freiheit ohne öffentliche Gestaltung der Wirtschaft
Eine andere Geschichte von Freiheit und Demokratie
3. Eigentum und Demokratie
Leon: »Das Geld gehört uns!«
Bei Sophie
Die Rechtfertigung von Privateigentum
Ein wenig beachteter Unterschied von Uhren und Katzen
Thomas von Aquin: Mein Leben liegt in deinem Konto begraben
Ist der Markt gerecht?
Wer verdient schon, was er verdient?
Haben als Verneinung des Seins – Karl Marx und Erich Fromm
Unser Besitzstreben und der Individualismus und Mechanismus der Moderne
Es gibt keine streng abgrenzbaren Subjekte und Objekte des Habens: der Holismus
Das Haben der Natur als Verneinung ihres Werts
Veränderung ohne Verdammung anderer
Privateigentum und Demokratie
Eine andere Geschichte von Freiheit und Demokratie
5. Globalisierung und Demokratie
Lukas: Eklat im Klassenzimmer
Schatten der Vergangenheit
Wir diskutieren
Demokratie im Weltmaßstab – Kosmopolitane Demokratietheorie
Der Glanz des Westens
Demokratie braucht gewachsene Gemeinschaft – der Kommunitarismus
Größer ist nicht immer auch besser
Partikularismus ist nicht gleich Nationalismus
Der Spieß wird umgedreht
Der Tragödie Kern
Eine andere Geschichte von Freiheit und Demokratie
Eine Kultur der Straflosigkeit
Demokratie braucht Befreiung vom Imperialismus – der marxistische Internationalismus
Freihandel als Fluch
6. Frieden und Demokratie
Müllers Schizophrenie
Theorien für den Frieden
Kampf um Macht – der Realismus
Demokratie schafft Frieden – der Liberalismus
Vier friedfertige Tugenden der Demokratie
Mit Verträgen und Handel zum Frieden
Liberaler Interventionismus
Der amerikanische Exzeptionalismus
Kein Frieden ohne Achtung der Souveränität anderer Staaten
Gewalt und Demokratie
Putsche für Profite – kapitalismuskritische Theorie
Staatsstreich in Guatemala
Außenpolitik und ideologischer Konsens
Liberaler Internationalismus als Neokolonialismus
Konzerne und Außenpolitik
Kein Frieden ohne Verringerung der Ungleichheit
7. Medien und Demokratie
Leon: »Sie tun ja gerade so, als wollten wir die DDR zurück!«
Keine Demokratie ohne Information
Der Sinn von Öffentlichkeit: Transparenz, Überprüfung, Legitimität und Orientierung
Störungen demokratischer Öffentlichkeit und Habermas’ Ideal
Medien als Spiegel der Gesellschaft – das liberale Modell
Herrschaftsfreier Dialog – das diskursive Modell
Kontingenz und Konflikt sichtbar machen – das radikaldemokratische Modell
Probleme der Öffentlichkeit heute
Die Vermachtung der Öffentlichkeit
Expertengremien als Lenker einer rationalen Öffentlichkeit – Walter Lippmann
Ohne Wirtschaftsdemokratie keine demokratische Öffentlichkeit
Der McCarthyismus – Einschränkung der Meinungsfreiheit durch sozialen Druck
Das Propagandamodell und das Spektrum politischer Debatten
8. Statt einem Nachwort
Lukas: »Bildung muss frei sein!«
Hinweis
Dank

Über den Autor

Armin Groh, geboren 1973, studierte Philosophie, Geschichte und Musik. Er leitete ein mehrjähriges Projekt zur Förderung des wissenschaftlichen Denkens und Schreibens in den natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern mit der Universität Köln. Groh arbeitet als Fachleiter für Philosophie in der LehrerInnenausbildung und ist Mitglied der fachdidaktischen Kommission des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums für das Fach Ethik.

1. Statt einer Einleitung

Lukas: Wie ich zum Philosophen wurde

Leon habe ich an unserem Gartenzaun kennengelernt. Ich war gerade in ein Spiel versunken, das ich wie immer mit großer Sorgfalt aufgebaut hatte. »Möchtest du mal probieren?«, hörte ich da eine leise Stimme neben mir fragen. Ich sah auf. Zwischen den Holzlatten des Gartenzauns schaute eine kleine Hand hervor, die einen Schokoladen-Cookie hielt. Die Hand gehörte einem Jungen, der etwa so alt sein mochte wie ich. Er hatte auffallend große blaue Augen und ziemlich schiefe Zähne. »Möchtest du?«, fragte er noch einmal freundlich. Ich weiß nicht mehr was ich geantwortet habe, aber ich bin mir sicher, dass ich sein Angebot angenommen habe. Wenig später waren wir beste Freunde.

Dabei standen die Chancen für unsere Freundschaft denkbar schlecht. Ein Soziologe hätte sie vermutlich mit der erfolgreichen Paarung einer Eidechse mit einem Meerschweinchen verglichen. Es bedurfte mehrerer glücklicher Umstände, um die Eidechse in ein Meerschweinchen oder das Meerschweinchen in eine Eidechse zu verwandeln. Die Verschiedenartigkeit betraf aber weniger uns selbst als unsere Elternhäuser. Wir waren in zwei unterschiedliche Gattungen des Tierreichs hineingeboren worden.

Der erste glückliche Umstand bestand darin, dass Leon wie ich dem Dinofieber verfallen war. Bei unserer ersten Begegnung erkannte er sofort fachmännisch, dass ich versucht hatte, eine Gruppe pflanzenfressender Brachiosaurier hinter einem Rosenstrauch vor einem blutrünstigen Spinosaurus zu verstecken, während zwischen Grashalmen die Brutstätte eines Tyrannosaurus Rex von einer Phalanx flinker Raptoren bedroht wurde.

Er drehte sich um, rannte in seine Wohnung und kam postwendend mit einem Triceratops zurück. »Der hat Riesenhörner«, rief er eifrig, »mit dem kannst du den Spinosaurus wieder vertreiben!« Ich war beeindruckt. In meiner Kitagruppe gab es niemanden, der etwas von Dinos verstand. Andere Kinder warfen einfach meine Figuren um oder machten etwas vollkommen Sinnloses, ließen einen Brachiosaurus durch die Luft fliegen oder Feuer speien. Deshalb spielte ich oft lieber alleine. Dieser Junge wusste aber offenbar, worum es ging. Also forderte ich ihn auf, herüberzukommen und zeigte ihm die Stelle, wo er in unseren Garten schlüpfen konnte.

Seither spielten wir oft zusammen im Garten. Wir legten Nester an, gruben Wasserstellen aus, steckten Reviere ab und schütteten Vulkane auf. Wir ließen Herden friedliebender Pflanzenfresser an den Wasserstellen trinken. Wir ermutigten sie, zusammenzurücken und sich mit ihren riesigen Schwänzen gegen furchterregende Räuber zu verteidigen. In den Wäldern warteten Aasfresser auf den Ausgang des Kampfes, die sich alsbald im Streit um die zurückgelassenen Kadaver gegenseitig zerfleischten. Flugsaurier stürzten sich in die zu Meeren verwandelten Wasserstellen, um Fische zu fangen, wo sie unversehens von riesenhaften Wasserungeheuern verschlungen wurden.

Irgendwann war der Kampf der Giganten freilich ausgereizt, unser Schöpfungsdrang hielt uns aber noch lange in Atem. Auf den ehemals urzeitlichen Landschaften breiteten sich die »echten« Tiere der afrikanischen Savanne aus, gefolgt von Rittern, Burgfräulein, Königen und ihren Bauernvölkern, die wiederum Weltraumgleitern, Raumstationen und Erkundungsfahrzeugen weichen mussten.

Wenn schlechtes Wetter war, verlegten wir unsere Schauplätze nach innen. Meistens gingen wir zu mir, oft aber auch zu Leon. Dort wurde mir immer deutlicher bewusst, dass Leons Familie anders war, einer anderen »Tierart« angehören musste, die von meiner grundverschieden war. Tatsächlich habe ich als Kind einige Bilder gemalt, die beide Familien als verschiedene Tierarten darstellen.

Ein Bild zeigt Leons Vater als Kaninchen, das über eine Wiese hoppelt, meinen Vater dagegen als Bären, der aus einer Höhle hervorschaut. Leons Vater hatte einen Gelenkschaden und da er sich kein Auto leisten konnte, humpelte er immer zu Fuß zur Arbeit. Das Auf und Ab seiner Schritte hat mich wohl an das Hoppeln eines Kaninchens erinnert. Oft schien er aber keine Arbeit zu haben. Wenn ich bei Leon spielte, sah ich ihn dann manchmal am Esstisch sitzen, wo er mit Papieren beschäftigt war. Dabei klebte er kleine Fotos von sich in blaue Mappen, die er dann in einen großen Briefumschlag steckte. Wenn er mit einem Briefumschlag fertig war, humpelte er auf den Balkon und rauchte eine Zigarette. Er starrte dabei in die Leere und schnitt schiefe Grimassen, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. Er schien überhaupt immer nervös und zugleich sehr müde zu sein. Manchmal kam er zu mir herüber, lächelte, strich mir durch die Haare und sagte: »Du hast eine große Zukunft Lukas, eine ganz große Zukunft.«

Mein Vater dagegen legte den täglichen Kilometer in seine Kanzlei meist in seinem Sport-SUV zurück. Zu besonderen Anlässen nahm er aber die Limousine. Natürlich hatten wir auch einen E-Kleinwagen, in den hätte er sich aber niemals hineingesetzt, denn das war das Terrain meiner Mutter. Wenn mein Vater von der Arbeit zurückkam, war es oft schon dunkel. Eigentlich ist das erste, was mir zu meinem Vater einfällt, dass er weg war. Ich zeichnete ihn vermutlich als Bären, weil er mir wie ein Riese erschien, aber vielleicht auch, weil der Braunbär im Zoo immer weg war, wenn man vor seinem Gehege stand. Einmal schrie ich meine Mutter an: »Papa ist in die Arbeit verliebt.« Sie schwieg eine Weile und erklärte mir dann, in seiner Stellung könne er es sich einfach nicht leisten, weniger zu arbeiten. Damit konnte ich natürlich nichts anfangen. Ich hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, wenn er auch mal wie Leons Vater eine Weile zu Hause geblieben wäre und kleine Fotos in blaue Mappen geklebt hätte.

Da er viel am Schreibtisch saß, hatte sein SUV in den Vordersitzen eine Massagefunktion. Wenn ich vorne neben ihm saß, schaltete er sie manchmal plötzlich ein, weil ich dann zwangsläufig einen Lachanfall bekam. Der Wagen machte mir in der Garage aber auch immer ein wenig Angst. Er sah aus wie ein Panther, der jeden Moment losspringen konnte, um ein wehrloses Tier anzufallen.

Auch die unterschiedliche Ernährung der beiden »Tierarten« konnte mir nicht verborgen bleiben. Leons Familie zeichnete ich als Wildschweine, die in der Erde nach Zwiebeln graben. Seine Mutter schnitt beim Kochen oft faule Stellen vom Obst und Gemüse ab. Das war kein Wunder, denn sie kaufte häufig aussortierte Waren in der Tafel oder suchte die Restekisten im Supermarkt ab.

Das Essen bei Leon war nicht schlecht, nur gab es immer sehr viele Zwiebeln. »Zwiebeln bringen Geschmack«, sagte Leons Mutter manchmal leise und bestimmt. Einmal hatte Leons Vater einen »Fehler« gemacht und jemand wollte plötzlich viel Geld von ihm. Da gab es dann noch mehr Zwiebeln. Die Zwiebeln waren für mich anfangs auch eine Erklärung, warum Leons Mutter so geblinzelt hat. Sie hat wirklich sehr viele Zwiebeln geschnitten. Aber als ich sie im Garten oder an der Bushaltestelle traf, blinzelte sie auch. Sie blinzelte überhaupt immer. Ich mutmaßte dann, das Blinzeln müsse von innen kommen, von den vielen Zwiebeln, die sie schon gegessen hatte.

Meine Mutter dagegen kaufte immer im Bioladen ein. Sie stand oft lange vor einem Regal und las sich das Kleingedruckte genau durch. Wenn ich selbst etwas aus dem Regal zog, sagte sie manchmal, das gäbe es auch mit einem besseren Biostandard. Mein Vater kaufte zwar nicht oft ein, aber wenn, dann brachte er die Lebensmittel kistenweise nach Hause. Zweifellos wollte er meiner Mutter damit eine Freude machen. Allerdings kannte er die Rezeptwünsche meiner Mutter nicht, sondern beförderte alles in den Einkaufswagen, das er für »verwertbar« hielt. Dann hatten wir noch eine Art »Obst-und-Gemüse-Flatrate« im Internet: Jeden Freitag kam ein großes Paket an, manchmal kam aber auch keines und in der nächsten Woche dafür zwei.

Diese Art der Nahrungssuche ließ unseren Kühlschrank regelmäßig überlaufen. Da meine Mutter Obst wie Gemüse beim leisesten Anzeichen von Fäulnis sofort wegwarf, füllte sich unsere Biotonne mit beachtlichen Mengen an Salatköpfen, Kürbissen, Melonen usw. Aber auch exklusive Drachenfrüchte, Meerfenchel oder violette Süßkartoffeln hätte man darin finden können. Wahrscheinlich habe ich meine Familie deshalb als Nilpferde dargestellt, die mit großen Misthaufen ihre Gebietsgrenzen markieren. Manchmal dachte ich, Leons Mutter hätte es sich sparen können, die Restekisten der Supermärkte abzusuchen – in unserer Biotonne hätte sie ein vielfältigeres und frischeres Angebot vorgefunden. Aber gesagt habe ich nie etwas.

Die Behausung von Leons Familie zeichnete ich als Ameisenhaufen, mein Elternhaus als weitläufiges Gängesystem von Maulwürfen. Leons Eltern wohnten nämlich in einem großen Gebäude, in dem Sozialwohnungen untergebracht waren und eine Menge Leute aus und ein gingen, während ich praktisch das oberste Stockwerk unseres Hauses alleine regierte. Meistens habe ich mich jedoch auf mein gemütliches Kinderzimmer beschränkt, die anderen großen und weitgehend leeren Räume jagten mir manchmal Angst ein.

Nicht weniger drastisch unterschied sich unser Wanderverhalten. Während Leons Familie wie die ortstreuen Wildkatzen niemals in den Urlaub fuhr, hatte meine Familie die ausdauernden Flügel von Zugvögeln, weshalb meine tapsigen Kleinkindfüßchen bereits alle fünf Kontinente betreten hatten. Kurzum: Leons Familie war arm, während wir reich waren.

Diese Verschiedenartigkeit hätte den freundschaftlichen Kontakt zwischen unseren Familien keineswegs behindern müssen. In der Natur gibt es ja selbst zwischen den entferntesten Arten Symbiosen, wie etwa zwischen den Seeanemonen und den Clownfischen, die sich gegenseitig vor Feinden schützen. Meine Familie schien aber einer Art zuzugehören, die für eine solch fruchtbare Symbiose nicht angelegt war. Veranstalteten meine Eltern eine Feier, so füllte sich unsere Einfahrt stets mit den neuesten Modellen teurer Oberklassewagen. Deren Antlitze schauten alle ähnlich böse wie das meines Vaters Wagen, weshalb sie für mich das Bild eines Rudels gefährlicher Großkatzen abgaben. Ich hätte folglich auch ihre Halter – Juristen, Wirtschaftsprüfer, Manager und Politiker – als gefährliche Großkatzen angesehen, hätten sie meine Mutter und mich nicht immer so freundlich begrüßt.

Leons Eltern hatten nicht oft Besuch und wenn, dann kamen ihre Bekannten zu Fuß oder höchstens mit einem alten Kleinwagen. »Tierarten«, die sich kein Auto leisten konnten, waren bei uns dagegen niemals zu Gast. Dass ich die wohlhabende Schicht, zu der ich gehörte, nicht über Leons stellte, sondern mir die Unterschiede durch mein Tieruniversum erklärte, war der zweite und vielleicht wichtigste der glücklichen Umstände.

Der dritte Umstand hatte mit dem besagten Gartenzaun zu tun, kann aber kaum als »glücklich« bezeichnet werden. Bevor die Sozialwohnungen erbaut wurden, war der Gartenzaun Schauplatz einer lebenslangen und sorgsam gepflegten Feindschaft gewesen. Die wüsten Schimpftiraden der beiden Streithähne waren berüchtigt und fanden erst ein Ende, als der Erbauer unseres Hauses unter den entfesselten Schlägen seines Nachbarn mit einem Obstpflücker das Zeitliche segnete.

Der uneinsichtige Totschläger wurde dauerhaft in Verwahrung genommen und konnte sich bald weder an seine Tat noch an irgendetwas anderes erinnern und verstarb nach Jahren dumpfen Siechtums in einem Pflegeheim, während sein Haus und Grundstück völlig verwahrlosten. Als ein Gutachter auch noch feststellte, dass der verschrobene Witwer unter der Garage eine Ölverseuchung hinterlassen hatte, blieb die Versteigerung des Hauses – die Nachkommen hatten das Erbe klugerweise ausgeschlagen – ohne Erfolg. Schließlich erbarmte sich die Stadt des unheilvollen Grundstücks, ließ das Haus abreißen und errichtete an dessen Stelle einen Wohnblock mit Sozialwohnungen.

Zu dieser Zeit war das Viertel noch von Menschen unterschiedlichster Einkommensklassen bewohnt worden. Auch in unserer Straße teilten sich Arbeiter und Handwerker mit Ärzten und Juristen einen Bürgersteig. Als die Mieten jedoch immer teurer wurden, zogen oder starben die weniger Begüterten aus. Die alten, aber schönen Häuser wurden aufwendig restauriert und es dauerte kaum sieben Jahre, bis unser Viertel als wiedererstrahltes Juwel unserer Stadt beworben wurde – für die, die es sich leisten konnten. Auch unsere Straße hätten Immobilienmakler ganz ohne Übertreibung als »absolute Toplage« anpreisen können, wären da nicht immer noch die Sozialwohnungen gewesen – sehr zum Unwillen meiner Eltern und der anderen, inzwischen reichen Nachbarn.

Sie hatten darauf gesetzt, dass der Stadtrat seine Ankündigungen wahr macht, das Gebäude zu verkaufen und die Bindung an Sozialmieten aufzuheben. Leider entschieden sich die Bürger der Stadt aber anders. Der neu gewählte Stadtrat wehrte sich gegen eine weitere Gentrifizierung des Viertels und der Bürgermeister äußerte in einem Zeitungsinterview seine Zuversicht auf ein solidarisches Miteinander aller Bürger, welcher Schicht sie auch zugehören mochten.

Unmittelbar danach muss sich das Verhalten unserer armen Nachbarn drastisch verschlechtert haben, denn im Bürgerbüro häuften sich mit einem Mal die Beschwerden der Anwohner über »unhaltbare Beeinträchtigung der Wohnqualität«, Vermüllung oder nächtliche Ruhestörung.

Mein Vater setzte sich an die Spitze der Bewegung, rief mehrmals die Polizei, wenn laute Musik zu uns herüberschallte, und beschwerte sich beim Essen über die »totale Ignoranz« unserer Nachbarn. Er muss dabei unsere opulenten Gartenfeste vergessen haben, die er gerne mit einer Liveband krönte. Deren »dezente Jazzmusik« stellte ohne Zweifel die Gettoblaster des verruchten Nachbarhauses weit in den Schatten. Eine Beschwerde bei der Polizei brauchte er von seinen wohlhabenden Nachbarn nicht zu befürchten, da er sie alle eingeladen hatte, während die Bewohner der Sozialwohnungen offenbar nicht informiert werden mussten. Tatsächlich riefen sie niemals die Polizei, sondern schienen ausgesprochene Liebhaber virtuoser Jazzmusik zu sein.

Ein beliebtes Argument meines Vaters für die Verlegung der Sozialwohnungen lautete, ernste Konflikte würden vermieden, wenn die verschiedenen Milieus unter sich blieben. »Gleich und gleich gesellt sich gerne«, die Weisheit dieses alten Sprichworts könne man nicht ignorieren.

Von »ernsten Konflikten« zu sprechen war jedoch eher eine Übertreibung. Die beiden Streithähne an unserem Gartenzaun hatten sich zwar gehasst, aber sie hatten sich gegenseitig als Feinde doch ernst genommen. Die reiche Nachbarschaft hätte dagegen niemals versucht, ihre Meinungsverschiedenheiten über Parkplätze, Mülltonnen oder Ruhestörungen mit den Sozialhilfeempfängern selbst auszutragen. Sie riefen die Polizei, beschwerten sich beim Sozialamt oder ließen ihre Anwälte Briefe schreiben. Sogar eine Detektei wurde beauftragt, um der »Täter« habhaft zu werden.

Zu diesen Auswüchsen wäre es vermutlich nicht gekommen, hätten die Nachbarn des gegenüberliegenden Hauses nicht eines morgens Müll und zerbrochene Bierflaschen in ihrem Vorgarten aufgefunden. Vom Bürgersteig war ihnen der scharfe Geruch einer Urinlache entgegengeschlagen, die ihren Ausgang vom Türgriff ihres stets blitzblanken Panameras nahm. Auch wenn nie bewiesen werden konnte, ob überhaupt jemand aus den Sozialwohnungen dafür verantwortlich war, ließ der Vorfall diejenigen, die noch »Verständnis zeigen« wollten, kleinlaut werden, und er war Wasser auf den Mühlen meines Vaters, der von Anfang an betont hatte, man müsse »entschlossen vorgehen«.

Der vierte glückliche Umstand war meine Beharrlichkeit, mit der ich für meine Freundschaft mit Leon kämpfte. Meine Mutter schien unser Spiel anfangs bereitwillig zu tolerieren, während mein Vater von meinen Aktivitäten kaum Notiz nahm, solange sie politisch tragbar waren. Kaum hatte der Streit um die Sozialwohnungen jedoch begonnen, wurde ich über die zweifelhafte Natur meiner Bekanntschaft aufgeklärt, wofür Leon meinen Eltern allerdings eine Steilvorlage bot.

Eines Tages bat mich Leon zu sich, wo er mir etwas zeigen wollte. In seinem Zimmer überreichte er mir ein abgerissenes Stück Papier, auf dem ich eine neue Abbildung mit einem Dinokampf vermutete. Das Bild zeigte tatsächlich eine Art Kampf, jedoch zwischen einem Mann und einer Frau, wobei die Frau, die eine Peitsche in der Hand hielt, die Oberhand zu haben schien. Leon erklärte mir, er glaube, der Mann werde bestraft, weil er vergessen hatte, seine Kleider anzuziehen. Der Tobi habe ihm aber gesagt, das auf dem Bild sei »ficken«. Dieses Wort hatte ich in der Kita schon öfter gehört, konnte mir aber keinen Reim darauf machen und war folglich dankbar, mehr darüber zu erfahren. Leon schenkte mir das Bild gewissermaßen im Gegenzug für einige meiner älteren Dinofiguren, die ich ihm überlassen hatte.

Diese Abbildung zog meine Mutter einige Tage später aus der Waschmaschine und auch wenn die Farben von dem Waschgang stark verblasst waren, war das Genre immer noch zweifelsfrei erkennbar. »Stammt das aus deiner Hose?«, fragte meine Mutter mich in überraschend scharfem Ton. Da ich mir keiner Schuld bewusst war, begann ich meiner offenbar verwirrten Mutter unsere Deutung des Bildes zu erklären, wobei sie mich anstarrte, als hätte ich mich soeben in einen gefiederten Raptoren verwandelt. Ich wollte das Papier wieder an mich nehmen, immerhin war es Leons Geschenk. Doch meine Mutter zog ihre Hand zurück und wehrte meinen Arm mit den Worten ab, das sei nichts für mich. Da wurde ich wütend und plötzlich schwirrten zwei scheinbar passende Vokabeln durch meinen Kopf, die Leons älterer Bruder manchmal rief, wenn er sich gegen seinen Bruder wehrte. »Fick dich!«, schrie ich ihr ins Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf. Meiner Mutter, die sich von dem ersten Schreck noch nicht erholt hatte, stand der Mund offen, als hätte sie eine Kiefersperre bekommen.

Als sie sich wieder etwas gefasst hatte, faltete sie das Blatt zusammen, nahm mich schroff an der Hand und begann meinen Vater aufzusuchen. Mein freimütiges Geständnis verschonte meinen Vater vermutlich vor einer gehörigen Schrecksekunde, denn nicht lange zuvor hatte ich bei einem Ausflug meines Plesiosaurus in die maritimen Untiefen der väterlichen Aktenordner ein verblüffend ähnliches Bild entdeckt.

Mir dämmerte, dass hier offenbar ein bisher unbekanntes Vergehen vorlag, das meine Bekanntschaft mit Leon gefährden konnte. Doch es war zu spät. Der Vorfall schien von erheblichem Gewicht, denn zu seiner Klärung musste eine »Besprechung« einberufen und ein »Termin« vereinbart werden.

Zur gegebenen Stunde wurde ich an das Kopfende des Esstischs gesetzt, meine Mutter nahm links von mir, mein Vater zu meiner Rechten Platz. Die Verhandlung begann und überraschenderweise entpuppten sich meine Eltern nicht wie sonst üblich als Ankläger und Verteidiger – in diesem Fall schienen sie sich beide auf die Rolle des Anklägers eingeschworen zu haben. Das war zu viel der Übermacht und unter Tränen bekannte ich, die beleidigenden Worte bei Leon gehört zu haben.

Damit war der Fall klar. Meine Eltern begannen in bandwurmartigen Sätzen auf mich einzureden, wobei meine Mutter immer wieder bekräftigend auf das zusammengefaltete Papier deutete, das auf der Mitte des Tischs lag. Mein Vater hingegen würdigte den Corpus Delicti keines Blickes.

Natürlich ging es ihnen kaum um das Bild und die beleidigenden Worte selbst, für die ich nichts konnte, sondern um die Tatsache, dass ich offenbar in zweifelhafte Kreise geraten war, für deren Anrüchigkeit und Unzuverlässigkeit beides ein schlagender Beweis war. Sie hätten mehr erreicht, wenn sie versucht hätten, in einfachen, schmeichelnden Worten meinen Stolz als reichen Anwaltssohn zu wecken, um mich von meinem minderbemittelten Freund zu distanzieren. Da sie aber völlig im Bannkreis des heiß diskutierten Nachbarschaftsproblems standen, unterbrachen sie sich immer wieder gegenseitig oder führten eine offene Frage fort, sodass in ihren Wortschwall all jene Formulierungen einflossen, die sie gegenüber Freunden, Juristen und Politikern verwendeten, die ich aber altersgemäß nicht begreifen konnte.

Auch wenn mir ihre detailreichen Ausführungen über »Leistungsträger« und »Leistungsverweigerer« unverständlich blieben, wurde mir immer deutlicher bewusst, dass es sich bei Leons Familie und den anderen Bewohnern des Nachbarhauses offenbar um eine »Tierart« handelte, die man nicht einfach anderen Tierarten an die Seite stellen konnte. Die Menschen in den Sozialwohnungen mussten offenbar einer Gattung angehören, die ein Missgriff der Natur war, in der ihre Exemplare keinerlei sinnvolle Funktion erfüllten, die also vielleicht am ehesten mit Zecken oder Läusen zu vergleichen waren.

Mein Vater, der gegenüber unseren unwürdigen Nachbarn gerne drastische Maßnahmen befürwortete, verwirklichte daraufhin einen lange gehegten Plan: Er ließ den niedrigen Gartenzaun um den Vorgarten und die hohen Hecken um den Hintergarten entfernen und an deren Stelle eine mannshohe Mauer errichten. Obgleich die Mauer unsere freie Sicht nicht unerheblich beschränkte, schwärmte er von dem »mediterranen Flair« den die Mauer verbreite, die ein preisgekrönter Landschaftsarchitekt für ihn gestaltet hatte. Mein Kontakt mit Leon fand damit vorerst ein Ende.

Um meine absehbare Enttäuschung zu besänftigen, hatte mein Vater auch einen Handwerker bestellt, der sich in meinem Zimmer zu schaffen machte. Als der Spuk vorüber war und ich mein Zimmer wieder betrat, erhob sich an der Wand gegenüber ein riesiger Monitor, unter dem eine schwarz glänzende Spielekonsole stand. Auf der Konsole lagen zwei Spiele: »Jurassic Adventures« und »Krise der Giganten«.

Meine Eltern waren klug genug, zu wissen, dass ein Computer kein adäquater Ersatz für einen Spielkameraden sein konnte und natürlich sollte ich kein weltfremder Spielenerd werden. Also schleifte mich meine Mutter immer wieder zu einer ihrer Freundinnen in der Nachbarschaft mit, die ein großes Modehaus in der Stadt besaß. Dort sollte ich mich mit deren Tochter Zaphira-Ann anfreunden, die genau in meinem Alter war. Aber Zaphira-Ann, die mit ihren zarten sechs Jahren bereits ein Fashionvideo auf YouTube veröffentlicht hatte, wollte von meinen Dinos nichts wissen. Sie saß vor ihrer glanzlackierten rosa Puppenboutique und ließ dürre »Fashiongirls« affektiert über Modetrends tratschen. Wenn Zaphira-Ann danach war (der Doppelname musste unbedingt zusammen ausgesprochen werden), verspotteten mich ihre Fashiongirls in verteilten Rollen wegen meiner »ekelhaften Stinktiere« und meiner wirbligen roten Haare. Von beidem hat mich ihre Verachtung meiner geliebten Dinos erheblich mehr getroffen. Kurz, das Spielen mit Zaphie, wie ich sie protesthalber zu Hause nannte, war eine Qual, die meine Mutter aber nicht sehen wollte.

Mein trübes Schicksal wendete sich jedoch bald zu einem besseren, denn ich wurde eingeschult. Als ich den Klassenraum der 1c der »Grundschule am Hunsrückplatz« betrat, um mir einen Platz zu suchen, wer winkte mir da mit verstohlenem Lächeln aus der dritten Reihe zu? Leon. Es verstand sich von selbst, dass ich mich zu ihm setzte.

Die Eltern meines reichen Viertels hatten es zwar geschafft, ihre Kinder in eine Klasse zu bekommen. So saß in der Reihe vor mir, herausgeputzt wie eine Ballkönigin, Zaphira-Ann. Doch entweder war die Zahl der reichen Kinder zu gering für die Klassenstärke oder die Sekretärin hatte sich vertan. Die kurzen Pausen boten natürlich kaum Gelegenheit, unsere kreativen Abenteuer fortzusetzen, doch die Trennung war erst einmal überwunden.

Die endgültige Niederlage meiner Eltern nahte, als mir meine Mutter zutraute, alleine zur Bushaltestelle zu gehen, denn damit war mein Schulweg unbeaufsichtigt. Da Leons Eltern sich das Busticket nicht leisten konnten und Leon zu Fuß zur Schule ging – warum sollte ich da nicht mit ihm nach Hause zurückgehen? Und wenn ich schon mit ihm durch unsere Straße ging, warum sollte er dann nicht mit zu mir kommen?

So kam es, dass ich, drei Monate nachdem die Mauer fertiggestellt worden war, mit Leon vor der Haustüre stand. Dem erst ungläubigen, dann widerwilligen Blick meiner Mutter rief ich standhaft entgegen: »Heute will ich mit Leon spielen!« Was hätte meine Mutter da sagen sollen? Leon, du bist ein Kind von unzuverlässigen Leistungsverweigerern, geh bitte nach Hause zurück? Das Argument, ich müsse Hausaufgaben machen, war leicht zu entkräften, denn die konnte ich auch mit Leon zusammen machen.

Seit diesem Tag kam Leon wieder oft zu mir nach Hause. Wir aßen zusammen Mittag, machten notgedrungen die Hausaufgaben und setzen unsere Abenteuer im Garten oder meinem Zimmer fort.

Ich vermute, dass meine Mutter ihre Nachgiebigkeit meinem Vater erst bekannte, nachdem der Nachbarschaftsstreit seine Brisanz verloren und die Ankläger sich mit ihrem Misserfolg vorerst abgefunden hatten. Einige Zeit später akzeptierten meine Eltern es sogar, dass ich manchmal bei Leon spielte und als wir auf das Gymnasium wechselten, konnte ich durchsetzen, dass wir in eine gemeinsame Klasse kamen.

Auch danach lief lange alles nach meinem Wunsch. Als ich jedoch in die zehnte Klasse kam, nahm mein Vater einen neuen Anlauf, die Sozialwohnungen aus unserem Stadtviertel zu verbannen. Am Esstisch erläuterte er eines Tages trocken, er habe einen guten Draht zu dem neuen Bürgermeister, der bei Rechtsstreitigkeiten schon mehrfach sein Klient gewesen sei. Zudem habe er einen zahlungskräftigen Interessenten, einen Herrn Rasch, für das Grundstück an der Hand, durch den eine beachtliche Summe in die Kasse der Stadt fließen würde. Ein Gutachter habe die Bausubstanz als marode bewertet, was einen Abriss wahrscheinlich mache. Ich war schockiert. Wie in früheren Fällen würden die meisten Bewohner in Kaltweiler landen, dem Brennpunktviertel unserer Stadt.

»Weißt du, wie weit Leon von Kaltweiler jeden Morgen fahren muss, um an unserer Schule zu bleiben?«, rief ich aufgebracht.

»Hast du oder habe ich dieses Haus gekauft, Lukas?«, entgegnete mein Vater entschieden, jedes Wort betonend. »Es ist schlicht mein Recht, mein Zuhause so zu gestalten, wie ich das für richtig halte. Das lasse ich mir von niemandem nehmen. Verstanden?« Ich verstand gar nichts. »Dann gestalte dein Haus und nicht das unserer Nachbarn«, rief ich empört, »Kaltweiler ist ein Drecksloch, das weißt du ganz genau. Da hingesteckt zu werden, haben unsere Nachbarn nicht verdient!« »Verdient«, schnaubte mein Vater, »wer sich in unserer Nachbarschaft verdient gemacht hat, ist leicht zu erkennen, wenn man durch die Straße läuft. Das ist bei den Sozialhilfeempfängern äußerst zweifelhaft. Wenn sie in diesem ›Drecksloch‹ leben, wie du sagst, haben sie vielleicht auch Anreize, sich ein bisschen anzustrengen, von dort wieder weg zu kommen.«

Dazu hätte ich gerne gewusst, welche Verdienste meinem Vater zugekommen wären, hätte er einen Gelenkschaden wie Leons Vater gehabt. Wenn er in einer armen Familie aufgewachsen wäre, die kein Interesse gehabt hätte, seine Bildung zu fördern. Wenn seine Freunde alle Hauptschüler gewesen wären, die ihre trüben Zukunftsaussichten mit Alkohol betäubten.

Leons Vater war kein Faulenzer und seine Mutter genauso wenig. Und was wusste mein Vater über die anderen Bewohner? So gut wie nichts. Aber diese Argumente hätte mein Vater totgeredet. Es gebe immer eine Chance weiterzukommen, wenn man nur dahinter her sei, usw. Deshalb antwortete ich nur, der Bürgermeister könne sich damit nicht durchsetzen, weil seine Partei nicht die Mehrheit im Stadtrat habe. Doch soweit hatte mein Vater natürlich auch gedacht. »Dem Bürgermeister fehlen nur ein paar Stimmen«, antwortete er gelassen. »Und in der K-Partei gibt es ein paar Stadträte, zu denen wir beste Verbindungen haben. Die haben wir praktisch auf unserer Seite. Du wirst sehen, das wird klappen.«

Da begann ich mich zu fragen, ob hier nicht etwas grundlegend falsch lief in unserer Stadt. War das die ›Demokratie‹, die immer so gelobt wurde, wenn mein Vater und seine Freunde sich so einfach durchsetzen konnten, weil sie gute Verbindungen hatten? Die Sozialhilfeempfänger hatten wenige Aussichten, sich gegen diese Entscheidung zu wehren. Ihre Stimme würde kaum wahrgenommen werden.

Hatte mein Vater mehr Macht verdient als andere? Und wer sollte das entscheiden? Und schnitt mein Vater sich nicht ins eigene Fleisch, wenn er sich nur mit seinesgleichen einigelte? Leon hätte ich nie kennengelernt.

All das warf eine Menge Fragen auf. Aber bei diesen Fragen blieb es erst einmal. Ich hätte auch nicht gewusst, wer mir da hätte weiterhelfen können. Auf irgendeine Weise schienen mir meine Eltern und deren Freunde, meine Lehrer, meine Mitschüler, ja die ganze Stadt in einer Blase zu stecken, in der diese Fragen nicht oder nur am Rande gestellt wurden. Die Antworten schienen bereits festzustehen. Sie schienen so festzustehen wie das alltägliche Treiben in unserer Stadt, die Massen, die morgens zur Arbeit fuhren, die Einkäufe, Friseurbesuche, Arztbesuche, Spaziergänge im Park, Kinobesuche. Die Antwort schien in dieses alltägliche Treiben bereits »einlasiert«. Nicht lange darauf wurde mir das Tor zur Philosophie, an deren Pforte ich bereits stand, jedoch ganz unverhofft von jemandem geöffnet, von dem ich dies nie erwartet hätte.

2. Freiheit und Demokratie

Lukas: Nachhilfe auf ungeahnten Wegen

Jeden Dienstagnachmittag besuchte ich Nachhilfe in Latein. Meine Eltern hatten mich dazu verdonnert, nachdem sich meine grauen Zellen strikt geweigert hatten, auf Vokabeln einer toten Sprache zu reagieren.

Meine Nachhilfe hieß Sophie. Dass ich sie mit Vornamen anreden durfte, empfand ich als etwas eigenartig, denn Sophie war eine pensionierte Lehrerin, die sich in raschelnden Kleidern durch den Raum bewegte. Außerdem war sie streng, wenn auch auf besondere Weise. Weder beschwerte sie sich oder drohte mir, wenn ich nicht gelernt hatte. Dafür war sie sehr entschlossen, arbeitsam und konzentriert und das beeindruckte mich. Ich wollte ihr nicht die Unannehmlichkeit machen, immer wieder von vorne anfangen zu müssen. Vielleicht hatte mein Respekt auch damit zu tun, dass ich bei ihr hinter all den öden Grammatikregeln etwas Größeres erahnte, das diesen Sinn zu geben schien. Jedenfalls – ich begann zu lernen.

Einige Wochen nach der Auseinandersetzung mit meinem Vater erzählte er beim Abendessen, ein Stadtrat von der K-Partei sei sein Mandant geworden und der Verkauf der Sozialwohnungen damit praktisch in trockenen Tüchern. Ich stieß erneut mit ihm zusammen, konnte ihn aber keinen Millimeter von seinem Vorhaben abbringen.

Danach hatte ich wieder Nachhilfe bei Sophie. Meine Gedanken schwirrten jedoch wie ein aufgescheuchter Mückenschwarm und ich befürchtete, keinen vernünftigen Satz übersetzen zu können. In Sophies Gegenwart konnte ich meinen Ärger immerhin soweit beruhigen, dass ich das Thema des Textes erkannte: Er handelte offenbar vom Staat. Es war ein Dialog, in dem Cicero verschiedene Staatsmänner über die Frage diskutieren ließ, was die beste Verfassung sei: Monarchie, Aristokratie oder Demokratie.

Scipio, übersetzte ich, sei mit keiner der drei gänzlich zufrieden, sondern bevorzuge eine Mischung aus allen dreien. Wenn er aber wählen müsste, würde er sich für die Monarchie entscheiden. Denn ein König, so wie er ihn verstünde, würde für seine Bürger sorgen »wie ein Vater für seine Söhne«. Als ich das gelesen hatte, konnte ich nicht mehr zurückhalten und rief: »Wenn das so ist, möchte ich lieber in einer Monarchie leben!«

»Warum?« Sophie sah mich ebenso verwundert wie scharf an. Da begann ich ihr die ganze Geschichte mit dem Verkauf der Sozialwohnungen zu erzählen und welche Folgen das für Leons Familie haben würde. Ich sagte, dass es für meinen Vater Demokratie gebe, aber nicht für Leon. Für Leons Familie bedeute Demokratie, übergangen zu werden. Deshalb würden seine Eltern die Politik auch nicht mehr ernst nehmen. »Ich habe auch angefangen, mich zu fragen«, schloss ich, »wie ernst ich das mit der Demokratie noch nehmen soll. Ist das denn nicht bloß eine große Schaumschlägerei?«

Sophie legte das Lehrbuch zur Seite und nickte bedachtsam, als wäre ich auf etwas Bedeutendes gestoßen. »Das ist eine wichtige Frage«, begann sie, »vielleicht eine der wichtigsten überhaupt. Auf jeden Fall viel wichtiger als die Fähigkeit, lateinische Texte zu übersetzen. Wenn du mir versprichst, den Text zu Hause fertig zu übersetzen, werde ich dir ein paar Dinge dazu erklären.« Ich war so begierig, mehr zu erfahren, dass ich versprach, jeden Tag fleißig zu lernen.

»Mit dem Wort ›Demokratie‹ ist es wie mit Pralinen im Supermarkt«, sagte sie. »Es gibt unzählige Sorten. Was wirklich drin ist, weiß man erst, wenn man reingebissen hat. Von Demokratie zu sprechen, ist vorteilhaft, weil Demokratie etwas Positives verspricht: Menschen werden nicht unterdrückt, sondern bestimmen ihr politisches Schicksal selbst. Deshalb haben auch Diktatoren wie Hitler und Stalin die Demokratie für sich in Anspruch genommen. Stalin beschrieb sein Regime als ›Volksdemokratie‹, während Hitler behauptete, er habe die Demokratie vereinfacht. Er selbst sei für das Volk zuständig. Die vergangenen und gegenwärtigen Regime, die versucht haben, sich einen demokratischen Anstrich zu geben, sind zahlreich. Leider sind Menschen für eine solche Propaganda sehr anfällig. Deshalb sollte man sich damit auseinandersetzen, was Demokratie bedeutet. Wer keine Vorstellung davon hat, was Demokratie ausmacht, könnte von einem demokratischen Anstrich leicht getäuscht werden.«

»Und was macht Demokratie aus?«

»In der Philosophie gibt es viele, zum Teil gegensätzliche Konzepte. Ein wichtiges Element ist natürlich die Volkssouveränität, denn wie der Name schon sagt, herrscht in einer Demokratie das Volk. Im deutschen Grundgesetz steht entsprechend: ›Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.‹ Zu den weiteren genannten Bedingungen gehören unter anderem ein Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Grundrechte und eine demokratische Öffentlichkeit. Außerdem sollten sich die Bürger mit der Demokratie auch identifizieren und an ihr beteiligen. Welchen Stellenwert diese Elemente haben und wie sie ausgestaltet sein sollten, wird aber sehr unterschiedlich beurteilt. Dementsprechend gibt es auch viele verschiedene Modelle. Was dich bewegt, ist dein Eindruck, dass Leons Familie politisch nichts zu sagen hat. Dein Eindruck lässt sich durch Studien belegen: Die sozial Schwachen haben praktisch keinen Einfluss auf politische Entscheidungen.«

»Wie lässt sich dieses Missverhältnis erklären?«

»Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Eine Ursache könnten sehr verbreitete Vorstellungen über Demokratie sein: Über das, was sie ausmacht und wie sie funktionieren sollte. Diese Vorstellungen werden häufig mit dem Modell einer ›liberalen Demokratie‹ in Verbindung gebracht, obwohl es sehr unterschiedliche Ansichten darüber gibt, was ›liberal‹ bedeutet.«

»Was macht diese Vorstellungen aus?«

»Dazu gehört die Idee, dass wir eine Demokratie vor uns haben, wenn die typischen Institutionen westlicher Demokratien vorhanden sind: Parteien, freie Wahlen, Parlament, Regierung, Verfassungsgericht usw. Wichtig ist aber nicht zuletzt, auf welche Weise Freiheit gewährleistet werden soll und welche Rolle dabei die Gemeinschaft und der Staat spielen. Denn eines der wichtigsten Versprechen von Demokratie lautet ja Freiheit anstatt Unterdrückung. Fangen wir vielleicht damit an: Was bedeutet es für dich, in einem freien Land zu leben?«

»Dass ich nicht vom Staat unterdrückt werde, wie das in der DDR der Fall war. Ich kann mich frei bewegen oder auch ins Ausland gehen, ohne dass mir das verweigert wird. Ich habe eine Privatsphäre, werde also nicht überwacht. Ich kann den Beruf ausüben, den ich möchte, gleiches gilt für meine Hobbys. Ich kann frei meine Meinung sagen und bin auch frei, eine Religion zu leben, wenn mir danach ist. Ich werde also nicht daran gehindert, mich frei zu entfalten. Natürlich gehören auch freie Wahlen dazu.«

»Deine Antwort passt zu einer politischen Tradition, die mit der ›liberalen Demokratie‹ eng verbunden ist. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, frei vor Übergriffen des Staates und der Gemeinschaft zu sein. Der Staat kann meine Freiheit beschränken, indem er von mir z. B. verlangt, einen Beruf zu wählen, den ich nicht will und mich andernfalls bestraft. Auch die Gemeinschaft kann meine Freiheit beschränken, indem sie großen Druck auf mich ausübt, z. B. wenn ich ihre Religion annehmen muss und sie mich andernfalls ausgrenzt.«

»Wie kann man diese Frage noch beantworten?«

»In einem freien Land zu leben bedeutet vor allem, dass die politische Gemeinschaft über sich selbst regiert. Nach dieser Tradition ist die Gemeinschaft weniger eine Gefahr als eine Voraussetzung für Freiheit. Die größte Gefahr geht von Gruppen aus, die über große, unkontrollierte Macht verfügen. Um dies zu verhindern, aber auch weitere Freiheiten zu schaffen, muss die Gemeinschaft über sich regieren. Dafür ist es notwendig, dass sie ein politisch aktives Leben führt. Der Staat ist dann kein autoritäres Gegenüber, sondern ein Instrument demokratischer Selbstregierung. Die erste Antwort steht dem Liberalismus nahe, die zweite Antwort dem Republikanismus und anderen Strömungen. Es gibt aber auch Philosophen, die dem Liberalismus zugerechnet werden, die eher die zweite Antwort für richtig halten.«

»Und wie wird die liberale Sichtweise begründet?«

Lockes liberaler Staat: Schützer von Leben und Eigentum

»Dazu sollten wir uns zuerst die politische Philosophie John Lockes ansehen, der als Begründer des Liberalismus gilt. Locke stellt sich den Menschen zunächst in einer Zeit vor, in der es noch keinen Staat und keine Gesetzbücher gab. Das bezeichnet er als Naturzustand. Der Naturzustand ist nach Locke ›ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es einem am besten scheint – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein‹.1 Diese Freiheit ist ein Naturrecht, die allen grundsätzlich zusteht. Verstößt jedoch jemand gegen die natürlichen Rechte eines anderen, besitzt dieser das Recht, Wiedergutmachung zu fordern und ihn zu bestrafen. Selbstjustiz bedeutet für alle jedoch eine große rechtliche Unsicherheit. Um ihr Eigentum in ›Frieden und Sicherheit‹ genießen zu können, gründen sie den Staat, der ihr unparteiischer Richter sein soll.«

»Warum hat er das Recht dazu?«

»Weil sie dazu einen Vertrag geschlossen haben, mit der Zustimmung aller. Dadurch hat der Staat eine legitime Macht. Ziel des Staates ist für Locke, das Leben und das Eigentum seiner Bürger zu schützen, also das, was im Kriegszustand gefährdet ist. Dazu erlassen sie mit Hilfe eines gewählten Parlaments Gesetze. Verstößt der Staat gegen das Ziel, Leben und Eigentum zu schützen, haben seine Bürgerinnen das Recht, sich gegen den Staat zu erheben und Widerstand zu leisten. Lockes Sichtweise ist typisch für den Liberalismus: Die Freiheit des Einzelnen muss vor unrechtmäßigen Übergriffen der Gemeinschaft aber auch des Staates geschützt werden.«

»Wobei der Schutz des Eigentums für ihn eine zentrale Rolle spielt.«

Freiheit als private Unabhängigkeit – Benjamin Constant und der rechte Libertarismus