Die Botschaft der verborgenen Bilder - Andrea Camilleri - E-Book

Die Botschaft der verborgenen Bilder E-Book

Andrea Camilleri

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Beschreibung

Großes Kino im sizilianischen Vigàta

Aufruhr in Vigàta: Eine schwedische Produktionsfirma will in dem Küstenstädtchen einen Film mit Sechzigerjahre-Flair drehen. Zur Vorbereitung der Kulisse werden die Bewohner gebeten, alte Fotos und Filme beizusteuern. Auch Commissario Montalbano erreicht eines Tages ein Paket: Der Ingenieur Sabatello hat auf dem Dachboden mehrere Filme seines verstorbenen Vaters gefunden. Sie zeigen jeweils minutenlang dasselbe Detail einer Mauer, und Sabatello kann sich keinen Reim darauf machen. Fasziniert und auch ein bisschen froh, den Turbulenzen in der Stadt den Rücken kehren zu können, geht Montalbano der Sache auf den Grund. Und kommt bald einem mörderischen Familiengeheimnis auf die Spur ...

»Sonniges Sizilienflair, ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit und ein eigenwilliger Commissario von großer Menschlichkeit - beste Krimiunterhaltung« LA STAMPA


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Seitenzahl: 292

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung des Autors

Über das Buch

Aufruhr in Vigàta: Eine schwedische Produktionsfirma will in dem Küstenstädtchen einen Film mit Sechzigerjahre-Flair drehen. Zur Vorbereitung der Kulisse werden die Bewohner gebeten, alte Fotos und Filme beizusteuern. Auch Commissario Montalbano erreicht eines Tages ein Paket: Der Ingenieur Sabatello hat auf dem Dachboden mehrere Filme seines verstorbenen Vaters gefunden. Sie zeigen jeweils minutenlang dasselbe Detail einer Mauer, und Sabatello kann sich keinen Reim darauf machen. Fasziniert und auch ein bisschen froh, den Turbulenzen in der Stadt den Rücken kehren zu können, geht Montalbano der Sache auf den Grund. Und kommt bald einem mörderischen Familiengeheimnis auf die Spur …

Über den Autor

Andrea Camilleri (1925–2019), in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, war Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur sowie langjähriger Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. In seinem umfassenden literarischen Werk setzte er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinander. Seine Romane um den beliebten Kommissar Salvo Montalbano wurden international zu Bestsellern, und seine Hauptfigur gilt weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.

Andrea Camilleri

Die Botschaft der verborgenenBilder

Commissario Montalbanoentdeckt eine neue Welt

Roman

Übersetzung aus dem Italienischenvon Rita Seuß und Walter Kögler

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Titel der italienischen Originalausgabe:»La rete di protezione«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Sellerio Editore, via Enzo ed Elvira Sellerio, 50, Palermo

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau

Umschlagmotiv: © Manfred Bortoli/HUBER IMAGES

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7517-2802-7

luebbe.de

lesejury.de

Eins

Ohrenbetäubend laut fing der Wecker an zu rasseln.

Mit geschlossenen Augen streckte Montalbano die Hand aus, um ihn abzustellen, damit Livia neben ihm nicht wach wurde.

Aber seine Finger stießen gegen ein Glas, das erst umkippte und dann zu Boden fiel.

Er fluchte, und Livia fing an zu kichern. Er drehte sich zu ihr.

»Hat dich der Wecker …?«

»Nein, ich bin schon seit einer ganzen Weile wach.«

»Wirklich? Und was hast du bis jetzt gemacht?«

»Was soll ich gemacht haben? Ich habe darauf gewartet, dass es hell wird, und dich betrachtet.«

Montalbano dachte, dass sein Hinterkopf einen eher tristen Anblick bot.

»Weißt du eigentlich, dass du in letzter Zeit manchmal im Schlaf pfeifst?«, fragte Livia.

Diese Bemerkung ärgerte Montalbano.

»Woher soll ich das wissen, wenn ich schlafe? Und du musst dich schon klarer ausdrücken: Was pfeife ich denn? Schlager? Opernarien? Oder was?«

»Jetzt reg dich nicht auf. Du bist doch wohl nicht beleidigt? Ich würde es so formulieren: Ab und zu stößt du einen Pfeifton aus.«

»Durch die Nase?«

»Ich weiß nicht.«

»Achte beim nächsten Mal darauf, ob das Pfeifen aus der Nase oder aus dem Mund kommt, und sag’s mir dann.«

»Macht das einen Unterschied?«

»Ja, einen großen Unterschied! Ich hab unlängst von einem gelesen, der aus der Nase pfiff, was sich dann als Symptom einer tödlichen Krankheit herausstellte.«

»Ach, komm! Apropos: Ich hatte einen schrecklichen Traum.«

»Willst du ihn mir erzählen?«

»Ich saß mit einem Buch auf einer Veranda, die auf die Anlegestelle am Hafen ging. Plötzlich höre ich aufgeregte Stimmen und schaue hoch. Und da sehe ich einen Mann, der um Hilfe ruft. Er wird von einem anderen verfolgt, der ihn auffordert, stehen zu bleiben. Der Flüchtende trägt ein Tuch über dem Kopf, das unterm Kinn zusammengebunden ist. Der Verfolger hat einen breiten Gürtel mit vielen langen Messern. Und dann steht der Flüchtende vor einem Lastkahn. Er zögert kurz, und diesen Moment nutzt der Verfolger und schleudert ein Messer auf ihn. Es trifft ihn im Nacken, tritt an der Kehle wieder aus und nagelt ihn an einer Holzplanke des Kahns fest. Wirklich entsetzlich! Jetzt bleibt der Verfolger stehen und fängt an, weitere Messer auf sein Opfer zu werfen, die dessen Körperumrisse nachzeichnen. Und plötzlich dreht der Messerwerfer sich zu mir um und macht einen Schritt auf mich zu. Da bin ich zum Glück aufgewacht.«

»Beim Oktopus gestern Abend haben wir offensichtlich ganz schön zugelangt«, lautete Montalbanos Kommentar.

»Hast du auch etwas geträumt?«, fragte Livia.

In diesem Moment klingelte der Wecker. Wie war das möglich? Er hatte doch schon vor fünf Minuten geklingelt!

Noch benommen vom Schlaf, schlug der Commissario die Augen auf und stellte sogleich fest, dass er allein im Bett lag. Livia war nicht da, sie war in Boccadasse. Er hatte alles nur geträumt, auch Livias Traum.

Er stand auf, ging in die Küche, kochte sich wie immer eine große Tasse Espresso und stellte sich unter die Dusche. Dann setzte er sich auf die Veranda, trank seinen Kaffee und rauchte eine Zigarette. Es versprach ein wunderschöner Tag zu werden. Alles war strahlend hell und voller Farben, wie frisch gestrichen.

Er hatte keine Lust, nach Vigàta zu fahren – oder besser gesagt dorthin, wo bis vor ein paar Tagen Vigàta gewesen war. Denn die Stadt hatte ihr Erscheinungsbild komplett verändert, sie war in einer Art Zeitreise in die 1950er-Jahre zurückgefallen.

Das ging ihm wahnsinnig auf die Nerven. Alles kam ihm so künstlich vor, wie auf einem Maskenball im Karneval.

Das Ganze hatte vor vier oder fünf Monaten angefangen, als Televigàta seine Zuschauer aufforderte, zu Hause nach alten 8-mm-Filmen zu suchen und sie an die Redaktion zu schicken. Daraus sollte eine Sendung entstehen, eine Art »Wie es früher bei uns war«, die zeigen sollte, wie die Stadt in den Fünfzigerjahren ausgesehen hatte.

Die Initiative fand großen Anklang. Vielleicht, weil es den Leuten Spaß machte zu sehen, wie sie und ihre Kinder sich im Laufe der Jahre verändert hatten. Aus kleinen Knirpsen, niedlich wie die Engel im Himmel, waren zahnlose, gebrechliche Greise ohne Haare auf dem Kopf geworden. Und einstmals bildschöne junge Frauen waren jetzt verhutzelte alte Weiblein, die zu Hause saßen und gerade noch Strümpfe stricken konnten.

Doch schon bald stellte sich heraus, dass das ganze Theater noch einen anderen Hintergrund hatte: Das Material sollte einem Fernsehteam als Vorlage für einen Spielfilm dienen, der hier in Vigàta gedreht werden sollte.

Und nach einiger Zeit trafen tatsächlich Mitarbeiter einer Filmcrew ein, zur Hälfte schwedisch, zur Hälfte italienisch.

Das Außergewöhnliche war, dass unter den schwedischen Crewmitgliedern junge Frauen von atemberaubender Schönheit, aber mit merkwürdigen Berufen waren: von der Set-Designerin über die Tontechnikerin bis zur Szenenbildnerin … Als die Vigateser diese Frauen bei der Arbeit sahen, staunten sie nicht schlecht und fragten sich, wie dann wohl erst die Schauspielerinnen aussehen würden.

Und tatsächlich: Als die Schauspielerinnen eintrafen, kam das Arbeitsleben in Vigàta zum Erliegen.

Die Leute ließen unter fadenscheinigen Ausreden alles stehen und liegen und eilten zu den Drehorten. Der Andrang war so gewaltig, dass Ordnungskräfte eingesetzt werden mussten, um die Neugierigen auf Abstand zu halten. Natürlich war es Mimì Augello, der dabei die staatliche Ordnungsmacht verkörperte: Er leitete ein Team von Polizisten, die die Filmcrew und insbesondere die Schauspielerinnen schützen sollten.

Und deshalb waren sie im Kommissariat jetzt nur noch zu dritt: Montalbano, Fazio und Catarella. Zum Glück waren die Zeiten ruhig und ohne besondere Vorkommnisse.

Das Stadtbild von Vigàta jedoch hatte sich radikal verändert. Fernsehantennen, Mülltonnen und die neonbeleuchteten Ladenschilder waren komplett verschwunden. Es gab kein einziges Geschäft mehr, das Montalbano kannte.

Er hatte sich erklären lassen, worum es in diesem Spielfilm ging. Die Geschichte spielte in den 1950er-Jahren und handelte von einer jungen Schwedin, die Bootsfrau auf einem Dampfschiff aus Kalmar ist, unterwegs schwer krank wird und im Krankenhaus von Montelusa behandelt werden muss.

Nach ihrer Genesung kommt sie nach Vigàta, wo sie in der Nähe des Hafens auf die Rückkehr ihres Schiffes warten will und von einem gastfreundlichen Fischer aufgenommen wird.

Durch eine Verknüpfung unglückseliger Umstände verzögert sich jedoch die Ankunft ihres Schiffes. Die Schwedin verliebt sich in einen jungen Vigateser und beginnt sich in Vigàta ein Leben aufzubauen, ohne die Hoffnung ganz aufzugeben, ihr Schiff werde zurückkommen und sie mitnehmen.

An dieser Hoffnung hält sie auch dann noch fest, als sie heiratet und ein Kind bekommt.

Endlich kommt der Tag, an dem das Schiff auftaucht. Die Schwedin beschließt, ohne Wissen ihrer Familie an Bord zu gehen und abzureisen. Ein Matrose soll sie mit seinem Boot heimlich zum Schiff bringen, doch sie überlegt es sich im letzten Augenblick anders und kehrt nach Vigàta und zu ihrer Familie zurück.

Als Montalbano diese Geschichte hörte, erschien sie ihm wie das Plagiat der großartigen Novelle Lontano von Luigi Pirandello, in deren Mittelpunkt jedoch nicht eine Bootsfrau, sondern ein Matrose namens Lars steht.

Aber das behielt er für sich.

Während er nun auf der Veranda eine zweite Tasse Espresso trank, läutete das Telefon. Er nahm das Gespräch an.

Es war Ingrid. Die Schwedin war die offizielle Dolmetscherin der Filmcrew. »Ciao, Salvo.«

»Was gibt’s?«

Diese schroffe, unwirsche Reaktion gefiel Ingrid offenbar überhaupt nicht. »Bist du sauer?«

»Das richtige Wort wäre: genervt.«

»Tut mir leid für dich. Aber denk bitte dran, dass du heute Abend am Festakt zur Städtepartnerschaft mit Kalmar teilnehmen musst. Das Zeremoniell beginnt um Punkt acht im Rathaus.«

»Danke, ich weiß, dass ich da hingehen muss.«

»Also dann bis später.«

Wäre auch ein Wunder gewesen, wenn man diesen ganzen Zirkus nicht genutzt hätte, um eine Städtepartnerschaft zu schließen.

Er hörte, wie die Haustür auf- und wieder zuging.

»Adelina! Ich bin noch hier!«

»Matre santissima! Dottore, was ist denn passiert, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte seine Haushälterin und kam ins Zimmer.

»Nein, nein, alles in Ordnung. Leider habe ich nicht mal erhöhte Temperatur. Ich wollte dich fragen, ob der gute Anzug gebügelt ist.«

»Welcher, Dottore? Der dunkle, in dem Sie aussehen wie eine große schwarze Möwe?«

»Ja, den meine ich.«

»Er ist fertig.«

»Wunderbar. Für heute Abend brauchst du mir nichts zu kochen, ich esse auswärts.«

Er stand mit dem Wagen vor dem Kommissariat, konnte aber nicht auf den Hof fahren, weil ein Lkw die Zufahrt blockierte. Catarella fuchtelte wild mit den Armen, aber der vielgerühmten skandinavischen Kultiviertheit zum Trotz tat der schwedische Fahrer, als würde er nichts verstehen.

Auch Montalbano tat, als ob nichts wäre, stieg aus und ging zu Fuß zum Caffè Castiglione, das seit seiner Eröffnung im Jahr 1890 unverändert geblieben war. Er verdrückte ein mit Ricottacreme gefülltes Gebäckröllchen, um sich den Tag zu versüßen. Als er zum Kommissariat zurückkam, war der Lkw verschwunden.

»Gibt’s was Neues?«, fragte er Catarella im Vorbeigehen.

»Dottori, hier gibt es Neuigkeiten wie am Fließband. Bis vor ein paar Minuten war ein Lkw hier und wollte das Schild mit der Aufschrift Pubblica Polizia di Sicurezza dello Stato durch eines mit der Aufschrift Ballersaal ersetzen.«

Montalbano sagte nichts und begab sich in sein Büro. Catarella trottete hinterher.

»Dottori, ich bin dahintergekommen, warum es keine Schlägereien, Morde und Einbrüche mehr gibt.«

»Und woran liegt das?«

»Meiner Ansicht nach brechen die Gesetzesbrecher keine Gesetze mehr, weil sie nur noch dieser Filmtruppe zuschauen, die hier in der Stadt diesen Film verdreht. Und ich hab mit eigenen Augen gesehen, dass sogar ein so abgefeimter Drogendealer wie Totò Savatteri sich fein herausputzt und als Statistiker mitspielt, am Steuer eines Autos.«

Gut möglich, dass der Wagen mit Rauschgift beladen war, überlegte Montalbano, aber er wollte Catarella nicht enttäuschen.

Der Commissario vertrödelte drei Stunden in seinem Büro, dann entschied er, dass es Zeit fürs Mittagessen war.

Natürlich hatte die Filmcrew auch Enzos Trattoria in Beschlag genommen. Was Montalbano jedoch am meisten störte, waren der Lärm und das Chaos, das die Schweden und die Italiener beim Essen veranstalteten. Für ihn, dem bei Tisch die Stille heilig war, eine unerträgliche Situation.

Aus diesem Grund hatte er Enzo gebeten, ihm von nun an in dem kleinen Nebenzimmer einen Tisch zu decken, und ihm das Versprechen abgenommen, dass niemals und unter keinen Umständen jemand von der Filmcrew, egal ob Italiener oder Schwede, Zutritt zu diesem Raum erhielt.

Gottlob war Montalbano trotz all dieser Widrigkeiten der Appetit nicht vergangen. Er ließ sich ein köstliches Menü aus Antipasti, Spaghetti mit Thunfischsauce und als Hauptgericht Meerbarben servieren, dann trat er ins Freie.

Zu seiner Erleichterung war der Hafen bisher von den Dreharbeiten verschont geblieben. Er konnte also in aller Ruhe einen schönen, ungestörten und vor allem stillen Spaziergang machen. Er setzte sich wie gewohnt auf den flachen Felsen und dachte darüber nach, ob er, wenn es so weiterging, nicht ein paar Tage Urlaub nehmen und Livia in Boccadasse besuchen sollte.

Die Vorstellung, dass er an diesem Abend wildfremden Menschen gegenübertreten, ein freundliches Gesicht aufsetzen und sich mit Leuten unterhalten musste, die ihm zutiefst unsympathisch waren, machte ihn dermaßen nervös, dass er eine spontane Entscheidung traf.

Zurück im Kommissariat, wählte er Fazios Nummer.

»Hör zu, ich fahr nach Marinella. Ruf mich an, wenn du mich brauchst.«

Zu Hause beschloss er, sich kurz hinzulegen. Er entkleidete sich und schlüpfte unter die Bettdecke, um ein halbes Stündchen zu schlafen.

Doch als er aufwachte, war es schon nach sieben. Er stürzte ins Bad, schlüpfte in ein frisches Hemd, holte den guten Anzug aus dem Schrank, zog ihn an, band sich eine Krawatte um und betrachtete sich im Spiegel.

Adelina hatte recht, er sah tatsächlich aus wie eine große schwarze Möwe.

Das Rathaus war festlich beleuchtet. An der Fassade hatte man brennende Fackeln angebracht, und das ganze Gebäude wurde von zwei riesigen Scheinwerfern angestrahlt. Über dem zentralen Balkon waren die italienische und die schwedische Fahne gehisst. Das Zeremoniell zur Besiegelung der Städtepartnerschaft mit Kalmar sollte im Ratssaal stattfinden, und die geladenen Gäste warteten in dem großen Foyer, wo für das Büfett nach dem Festakt bereits weiß gedeckte kleine Tische standen.

Als Montalbano reichlich spät eintraf, war das Foyer bereits brechend voll. Ingrid stürzte auf ihn zu, hakte sich bei ihm unter und führte ihn zu einem zwei Meter großen Koloss, einem blonden Bären, falls es so etwas gab, den sie ihm als den Regisseur des Spielfilms vorstellte.

Danach stellte sie ihm zwei der drei schwedischen Schauspielerinnen vor. Die dritte fühle sich unpässlich, sagte Ingrid, und werde daher nicht am Festakt teilnehmen.

Als Montalbano sich umschaute, bemerkte er, dass auch Mimì Augello nicht da war. Sehr merkwürdig. Konnte es sein, dass ihn die gleiche Unpässlichkeit befallen hatte wie die Schwedin?

Dann wurden die geladenen Gäste aufgefordert, sich in den Ratssaal zu begeben und die ihnen zugewiesenen Plätze einzunehmen. Und so saß Montalbano schließlich in der ersten Reihe zwischen dem Stadtpfarrer und dem Leiter der Hafenbehörde. In der ersten Reihe saß auch der Oberleutnant der Carabinieri, den man aber mit diplomatischem Fingerspitzengefühl vier Stühle von Montalbano entfernt platziert hatte.

An der Wand hinter den Stühlen des Bürgermeisters und der Stadträte hing ein großer Gobelin aus dem 19. Jahrhundert, der Vigàta und seinen Hafen zeigte.

Plötzlich erklangen aus dem Foyer die ersten Takte eines kleinen Walzers, den niemand kannte. Pillitteri, der Bürgermeister von Vigàta, forderte die Anwesenden mit einer Handbewegung auf, sich zu erheben, und alle gehorchten. Als die Musik zu Ende war und die Gäste Anstalten machten, sich zu setzen, erklang die italienische Nationalhymne, und erneut standen alle auf. Anschließend setzten sich alle wieder, bis auf vier Schweden, die stehen geblieben waren.

»Warum setzen sie sich denn nicht?«, wandte sich Pillitteri an Ingrid.

Ingrid gab die Frage in ihrer Muttersprache an einen der vier Schweden weiter und übersetzte die Antwort.

»Er sagt, sie warten auf die schwedische Nationalhymne.«

»Aber die haben wir doch als Erstes gespielt!«, rief Pillitteri.

Offenbar hatte die Stadtkapelle von Vigàta die Hymne so eigenwillig interpretiert, dass die Schweden sie nicht erkannt hatten.

Nachdem dieses Missverständnis geklärt war, forderte Pillitteri einen groß gewachsenen, bebrillten blonden Sechzigjährigen auf, neben ihm Platz zu nehmen. Es war sein Kollege aus Kalmar. Die anderen drei Vertreter Schwedens setzten sich rechts und links von ihnen auf die Stühle der Stadträte.

Die Gäste blieben sitzen.

Jetzt übergab Pillitteri seinem schwedischen Kollegen das Wort, und Ingrid übersetzte. Natürlich fing er an, die Geschichte seiner Stadt zu schildern, die jedoch den Zuhörern bestens bekannt war, nachdem die beiden lokalen Fernsehkanäle schon seit einer Woche über diese Stadt an der Ostsee berichteten. Das Wort Ostsee führte dazu, dass Montalbano sich in seinen Gedanken verlor. Gab es in der Ostsee Rotbarben? Gab es in der Ostsee kleine Tintenfische, wie Enzo sie ihm zum Mittagessen servierte? Und wenn ja, wie schmeckten sie? Vermutlich anders, denn wie er festgestellt hatte, gab es auch zwischen Fisch aus der Adria und Fisch aus dem Tyrrhenischen Meer Unterschiede. Wie anders musste dann erst ein Fisch schmecken, der so hoch aus dem Norden kam?

Rauschender Beifall holte ihn in die Wirklichkeit zurück.

Zur allgemeinen Erleichterung hielt der Bürgermeister von Vigàta nur eine kurze Ansprache, die durch einen unerwarteten Zwischenfall zusätzlich verkürzt wurde. Mitten in seiner Rede löste sich der große Gobelin hinter ihm von der Wand, klappte zur Hälfte nach unten und gab den oberen Teil eines Freskos frei, das Benito Mussolini auf einem Schimmel zeigte, einen blanken Säbel in der Hand. Der Bürgermeister unterbrach seine Ansprache. Einige Gäste fingen an zu lachen, andere applaudierten, wieder andere machten ihrer Empörung Luft. Und so beendete Pillitteri flugs seine Rede und lud zum Büfett, das, wie er stolz verkündete, aus Fingirfut bestand.

Ersilia Pillitteri, die Frau des Bürgermeisters, eine energische Dame mit fortschrittlichen Ideen, hatte einen Partyservice aus Palermo bestellt, der auf Fingirfut spezialisiert war. Ein Begriff, der, in die Landessprache übersetzt, bedeutete: Es gab verschiedene kleine Sachen, die man mit den Fingern essen konnte. Und tatsächlich suchte man auf den kleinen Tischen vergeblich nach Löffeln, Gabeln oder Messern. Stattdessen gab es zahlreiche Schälchen und Gläschen mit einem farbigen Inhalt, der schwer zu identifizieren war, sodass die verunsicherten Vigateser nicht wagten, nach diesem Fingirfut zu greifen. Die Frau des Bürgermeisters ging mit gutem Beispiel voran. Sie nahm ein Gläschen, das, wie sie erklärte, Stockfisch-Mousse enthielt, dekoriert mit einer Heidelbeere und einem Lorbeerblatt. Sie benutzte das Lorbeerblatt als Löffel und fing an zu essen. Ein paar Wagemutige taten es ihr gleich. Montalbano griff nach einem Schälchen und inspizierte es. Auf den ersten Blick sah der Inhalt aus wie ein Hackfleischbällchen mit einer weißlichen Beilage, vielleicht eine Art Püree. Eher irritiert als überzeugt griff er das Hackfleischbällchen mit zwei Fingern und biss ein Stück davon ab. Es war nicht Fleisch, wie er gedacht hatte, sondern ein Mischmasch aus rohem Brokkoli und verkochten grünen Bohnen mit etwas Lachs in der Mitte, offenkundig ein Tribut an den schwedischen Lebensstil. Der Commissario hätte am liebsten ausgespuckt, aber das schien ihm ungehörig, und so schloss er die Augen und schluckte den Bissen tapfer hinunter. Um den schlechten Geschmack in seinem Mund loszuwerden, tauchte er zwei Finger in den weißlichen Brei, aber das machte alles nur noch schlimmer, denn es war vergammelter Stracchino-Käse mit einem süßlichen Kokosnussgeschmack.

Er stellte das Schälchen ab und bemerkte, dass es keine Papierservietten mehr gab. Fluchend zog er sein Taschentuch aus der Tasche, wobei er natürlich seine Jacke verschmierte, und wischte sich die Finger ab. Er fand, er habe seiner Pflicht Genüge getan, und kehrte der Versammlung den Rücken, um bei Enzo zu Abend zu essen.

»Dottor Montalbano!«

Er blieb stehen und drehte sich um. Ein großer eleganter Herr um die sechzig kam auf ihn zu: Ernesto Sabatello, leitender Ingenieur bei der Stadtverwaltung.

»Sind Sie im Begriff zu gehen?«

»Ja.«

»Wenn Sie gestatten, schließe ich mich Ihnen an.«

Kaum waren sie auf der Treppe, verwickelte Sabatello den Commissario in ein Gespräch.

»Wissen Sie, ich hatte mir in den letzten Tagen fest vorgenommen, zu Ihnen ins Kommissariat zu kommen, aber dann …«

»Haben Sie es sich anders überlegt.«

»Keineswegs. Aber ich fand es nicht angebracht, Sie mit einer sehr persönlichen und letztlich auch etwas banalen Geschichte zu behelligen …«

Jetzt standen sie vor dem Rathaus.

»Wenn Sie sie mir jetzt erzählen möchten …«, forderte der Commissario ihn auf.

Sabatello ließ sich nicht lange bitten.

»Ich werde Ihnen nur ein paar Minuten Ihrer Zeit stehlen, und wenn die Sache Sie interessiert … Nun, ich muss gestehen, dass auch ich mich durch Televigàta habe verführen lassen, nach alten 8-mm-Filmen zu suchen. Ich habe mich nämlich erinnert, dass auf meinem Dachboden eine große Kiste mit Filmen im Schmalfilmformat steht, alle von meinem Vater gedreht, der regelrecht besessen gewesen sein muss … Zum Glück war auch der Projektionsapparat noch da, er funktioniert sogar noch. Der langen Rede kurzer Sinn: Ich habe mir alle Filme angeschaut und die besten an Televigàta geschickt. Allerdings …«

»Ja?«

»Ich betone noch einmal, dass es sich um etwas ganz Banales handelt, etwas vermutlich vollkommen Bedeutungsloses, für das ich jedoch keine Erklärung habe, weil es mir dermaßen sinnlos erscheint, ohne jede Logik …«

»Wollen Sie mir nicht sagen, worum es geht?«, fragte Montalbano, schon ein wenig ungeduldig.

»Unter all diesen Filmen über gewöhnliche Familienereignisse, Geburtstagsfeiern, Ferien am Meer und Landschaftsaufnahmen gab es sechs, die, wie soll ich sagen, völlig aus dem Rahmen fallen.«

»In welcher Hinsicht?«

»Nun ja, sie zeigen alle dieselbe Szene.«

Montalbano fand daran nichts Ungewöhnliches. Das sagte er Sabatello. »Wenn dieselbe Szene aus unterschiedlicher Perspektive aufgenommen wurde, finde ich nicht, dass …«

»Warten Sie«, unterbrach ihn Sabatello. »Das Motiv ist immer dasselbe, und es wurde immer aus derselben Perspektive aufgenommen. Außerdem – und das ist vielleicht das Merkwürdigste – wurden diese sechs kleinen Filme im Verlauf von sechs Jahren gedreht, einer pro Jahr, zwischen 1958 und 1963.«

»Woher wissen Sie das?«

»Jede Spule ist in ein Papier eingewickelt, auf dem in der Handschrift meines Vaters das genaue Datum notiert ist. Diese Filme wurden sechs Jahre in Folge gedreht: jeweils im selben Monat, am selben Tag und zur selben Uhrzeit: immer am 27. März um 10.25 Uhr.«

»Und was ist darauf zu sehen?«

Sabatello atmete tief durch, bevor er antwortete.

»Ein Stück Mauer. Immer derselbe Ausschnitt.«

Montalbano sah ihn verdutzt an.

»Ein Stück Mauer?!«

»Richtig.«

»Ist auf dieser Mauer irgendetwas zu sehen?«

»Nichts. Kein Schriftzug, keine Zeichnung, nichts.«

»Und verändert sich im Lauf der Jahre das Bild dieser Mauer?«

»Nun ja, ein kleiner Riss im Verputz, aber nichts von Belang … zumindest in meinen Augen. Anders vielleicht in Ihren Augen, die geschult sind, jedes winzige Detail zu erfassen …«

Montalbano begriff, worauf der Ingegnere hinauswollte.

»Wenn Sie möchten, schicken Sie mir doch die Filme und den Projektor.«

»Das mache ich gleich morgen«, erwiderte der Ingegnere lächelnd.

Sie gaben sich die Hand, und Montalbano eilte zu Enzo in der Hoffnung, dass die Crew nicht die ganze Trattoria leer gefressen hatte.

Zwei

Er verbrachte eine schlimme Nacht, denn obwohl er bei Enzo zu Abend gegessen hatte, klebte ihm der widerliche Geschmack des Pseudo-Fleischklößchens und des gleichermaßen künstlichen Pürees am Gaumen, weshalb er zwei, drei Mal aufstehen musste und sich im Bad fluchend den Mund ausspülte, was jedoch nicht half.

Den Geschmack wurde er erst los, als er sich am nächsten Morgen einen starken Espresso kochte, pechschwarz und dickflüssig wie Erdöl. Auf der Fahrt ins Kommissariat bekam er schlechte Laune bei dem Gedanken daran, dass ein weiterer chaotischer Tag im Zeichen des großen Fernseh-Zirkus vor ihm lag.

Und tatsächlich hatte er, wie auf Bestellung, einen Sattelschlepper vor sich, der mit Autos aus den Fünfzigerjahren beladen im Schneckentempo nach Vigàta fuhr.

»Ah, Dottori, heute Morgen noch ganz früh am Morgen war ein Signore hier, der sich Stampatello nannte und Ihnen persönlich selber ein Päckchen übergeben wollte, das ich Ihnen übergeben soll.«

Er bückte sich, griff nach etwas, das nicht viel größer war als ein Schuhkarton, und sagte:

»Gehen Sie voraus, Dottori, ich verfolge Sie mit dem Päckchen.«

In Montalbanos Büro stellte Catarella es vorsichtig auf den Schreibtisch, schlug die Hacken zusammen und ging wieder auf seinen Posten.

Montalbano setzte sich und öffnete das Päckchen. Es enthielt die sechs Filmspulen, von denen der Ingegnere Sabatello gesprochen hatte, und den dazugehörigen Projektor. Auch ein an ihn adressierter Brief lag bei.

Sehr geehrter Dottore Montalbano,

zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.

Ich schicke Ihnen die Sachen, von denen ich gestern Abend gesprochen habe.

Es ist mir ein Anliegen, Ihnen mitzuteilen, dass der im Jahr 1963 gedrehte Film die einzige Aufnahme meines Vaters in jenem Jahr war, da die Krankheit, an der er litt, sich erheblich verschlimmert hatte und ihn ans Bett fesselte. Er starb am 15. Mai desselben Jahres in der Villa der Familie. Um diese Aufnahme zu machen, hat mein Vater also aufstehen und alle seine ihm noch verbliebenen Kräfte aufbieten müssen. Was meiner Ansicht nach darauf hindeutet, dass diese kleinen Filme für ihn von außerordentlicher Bedeutung waren. Aber worin bestand diese Bedeutung? Ich hoffe, Sie können mir helfen, auf diese Frage eine Antwort zu finden.

Für weitere Informationen stehe ich Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.

Beiliegend meine Handynummer.

Ihr Ernesto Sabatello

Es war der Satz »die einzige Aufnahme meines Vaters in jenem Jahr«, der Montalbano keine Ruhe ließ: der Umstand, dass ein Sterbenskranker solche Mühen auf sich nahm, um ein Stück Mauer zu filmen. Und weil im Kommissariat totale Flaute herrschte, beschloss er, seine Neugier sofort zu stillen.

Er nahm den Kalender und ein großes Foto mit der gesamten Polizeitruppe des Kommissariats von der Wand, hängte beides an einen Nagel neben der Tür und zog den Vorhang zu. Als es im Zimmer dunkel war, schaltete er das Licht an und schob den Stecker des Projektors in die Steckdose. Auf der Wand erschien ein leuchtend helles Rechteck. Er griff nach der ersten Filmspule.

Dann hielt er inne. Von welcher Seite musste man das Zelluloidband einführen? Durch welche Rädchen musste es gefädelt werden, damit die Bilder an die Wand geworfen wurden? Wo war der Knopf zum Abspielen der Bilder?

Er war völlig überfordert.

Er holte Catarella zu Hilfe, der ihm in null Komma nichts erklärte, was zu tun war, und ihm zeigte, mit welchem Knopf man das Bild anhielt.

Als Catarella gegangen war, schaltete Montalbano den Projektor ein. Doch schon beim ersten Surren der Filmspule stoppte er den Apparat und blieb minutenlang reglos sitzen.

Aus einem unbekannten Winkel der Erinnerung war eine Szene seiner Kindheit in sein Bewusstsein getreten: eine Szene mit seinem Vater, der einen 8-mm-Film abspielte, auf dem von hinten und nur für einen kurzen Moment seine Mutter zu sehen war. Es war das einzige Bild, das er von ihr hatte, und auf dem sie sich ihm in einer Weise präsentierte, die sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt hatte: von hinten, mit langen blonden Haaren, die sich sanft bewegten wie Weizen im Wind.

Er stand auf, trank ein Glas Wasser und nahm wieder Platz, dann schloss er kurz die Augen, um diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen, und setzte den Projektor erneut in Gang.

Der Ingegnere hatte recht. Es war ein Stück Mauer, und sie war so aufgenommen, dass weder der Sockel noch die obere Kante zu sehen waren. Dreieinhalb Minuten, so lange dauerte der Film, war nur dieses eine Stück Mauer zu sehen.

Der Commissario legte den zweiten Film ein. Er unterschied sich in nichts von dem ersten.

Drei, vier Mal spulte er vor und wieder zurück, hielt das Bild an einigen Stellen an, um ein Detail genauer zu betrachten, dann spielte er beide Filme noch einmal hintereinander ab und versuchte, sich das Gesehene einzuprägen.

Es gab überhaupt keinen Unterschied.

Im dritten Film jedoch entdeckte er etwas Neues. Aus einem Riss im Putz schauten ein paar kümmerliche Grashalme hervor, die auf der nachfolgenden Filmrolle allerdings wieder verschwunden waren. Es musste ein windiger Tag gewesen sein, denn das Pflänzchen zitterte. Im fünften Film hatte sich der Riss so stark vergrößert, dass der Putz heruntergefallen war und die darunterliegenden Tuffsteinquader zum Vorschein kamen. Der letzte Film, der von 1963, unterschied sich in nichts vom vorletzten.

Montalbano schaltete den Projektor aus, öffnete das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und rauchte, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt.

Sabatellos Bemerkungen am Vorabend hatten seine Neugier geweckt, doch beim Betrachten der Bilder spürte er den unbezwingbaren Wunsch, deren Sinn und Bedeutung zu verstehen. Und in dem Augenblick, da er diesen Wunsch verspürte, wusste er, dass er erst dann seinen Frieden finden würde, wenn er eine stichhaltige und konkrete Antwort gefunden hatte – für den Ingegnere Sabatello, in erster Linie aber für sich selbst.

Derartige Geschichten sprachen einen ganz bestimmten Zug seines Charakters an. Natürlich interessierten ihn rechtsrelevante Angelegenheiten, aber vor allem faszinierten ihn die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Seele.

Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, rief Fazio zu sich und erzählte ihm die Geschichte exakt so, wie er sie von Sabatello gehört hatte.

Fazio setzte sich neben ihn, und Montalbano schaltete erneut den Projektor ein. Am Ende der Vorführung sah Fazio den Commissario fragend an.

Statt einer Antwort reichte der Commissario ihm Sabatellos Brief.

»Was hältst du davon?«

Fazio beschränkte sich darauf, mit den Schultern zu zucken.

»Dottore mio«, sagte er nach einer Weile. »Zuallererst frage ich mich, ob dieser Signore womöglich nicht ganz richtig im Kopf war.«

»Das weiß ich nicht, aber ich glaube, er wusste schon, was er tat. Sonst hätte er in seinem Zustand doch niemals das Bett verlassen.«

»Eine andere Hypothese«, sagte Fazio ins Blaue hinein, »könnte lauten, dass sich hinter dieser Mauer etwas verbirgt und diese Filme belegen sollen, dass das Stück Mauer noch unangetastet ist.«

»Wenn das stimmt«, erwiderte Montalbano, »muss man annehmen, dass die Filme nicht nur für den bestimmt waren, der sie gedreht hat, sondern einer dritten Person gezeigt werden sollten. Aber vielleicht kann uns der Ingegnere weiterhelfen, bevor wir uns auf dem weiten Feld der Spekulationen verlieren.«

»Wie Sie meinen«, sagte Fazio in versöhnlichem Ton.

In diesem Moment knallte die Bürotür mit einer solchen Wucht gegen die Wand, dass das notdürftig aufgehängte Gruppenfoto herunterfiel. Natürlich war es Catarella, der auf der Schwelle stand. Die Hand sei ihm ausgerutscht, lautete seine Entschuldigung.

Dann verkündete er, dass die Signora Sciosciostrom mit zwei Herren gekommen sei und persönlich selber mit dem Commissario zu sprechen wünsche.

»Bring sie her.«

Catarella hängte das Foto wieder an den Nagel und verschwand, und jetzt erschien Ingrid, gefolgt von dem blonden Bären, dem Filmregisseur, sowie einem der vier Schweden, die Montalbano schon beim Festakt zur Besiegelung der Städtepartnerschaft gesehen hatte.

Ingrid stellte ihn als den Produzenten auf schwedischer Seite vor. Erstaunt bemerkte Montalbano, dass der Bär tatsächlich tanzte wie ein Bär. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und fletschte die Zähne. Er schien ziemlich wütend zu sein.

»Wir würden gern mit dir allein sprechen«, sagte Ingrid.

»Wenn Sie mich entschuldigen«, sagte Fazio.

Er stand auf, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Setzt euch«, sagte der Commissario.

Ingrid ergriff das Wort. Ihre Miene war ernst, aber Montalbano, der sie gut kannte, bemerkte in ihren Augen ein amüsiertes Funkeln.

»Es handelt sich um eine heikle Angelegenheit, Salvo. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, was gestern Abend nach dem Festakt im Rathaus passiert ist.«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Der zweite Teil des Zeremoniells sah vor, eine Flasche mit Wasser aus der Ostsee bei Kalmar ins Meer von Vigàta zu schütten. Also formierte sich ein Festzug zum Hafen, angeführt von den beiden Bürgermeistern. Der Bürgermeister von Kalmar übergab die Flasche Ostseewasser an Pillitteri, und der entkorkte und entleerte sie am Hauptkai ins Meer. In diesem Augenblick fuhr ein Motorboot in den Hafen ein, mit Mimì Augello am Steuer und der Schauspielerin Maj Andreasson an seiner Seite. Im selben Moment begann das Feuerwerk.«

Beim Namen der Schwedin sprang der blonde Bär auf, fletschte noch wilder die Zähne und ließ ein Knurren aus tiefer Kehle hören, das mehr dem Brüllen eines Löwen als dem Brummen eines Bären ähnelte. Der schwedische Produzent stand auf, ergriff seinen Arm, murmelte ihm etwas ins Ohr und drückte ihn zurück auf seinen Stuhl.

Ingrid fuhr fort:

»Du musst wissen, dass es sich um die Schauspielerin handelt, die gestern Abend wegen Unpässlichkeit nicht an dem Festakt teilgenommen hat. Sie ist die Freundin unseres Regisseurs. Uns allen war klar, dass die beiden von einem romantischen Abenteuer auf dem offenen Meer zurückkehrten. Wie du bemerkt haben wirst, hat Gustav die Sache nicht gut aufgenommen. Es kam zu einem Streit in aller Öffentlichkeit, der den Fortgang der Dreharbeiten zu gefährden droht. Und deshalb hat Signor Ergstrom, der Produzent des Films, mich gebeten, mit dir zu sprechen und dich zu bitten, Augello vom Filmset abzuziehen, die Schutzmaßnahmen aber gleichwohl aufrechtzuerhalten.«

Montalbano verharrte in nachdenklichem Schweigen.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Ingrid.

»Oh ja«, sagte der Commissario. »Erstens: Wer gibt euch das Recht anzunehmen, dass dieser Bootsausflug mehr war als ein einfacher Bootsausflug? Ich stütze mich bei meiner Arbeit auf Beweise. Aber welche Beweise habt ihr? Was bedeutet ›Allen war klar‹? Es war offenkundig euer Eindruck, aber auf der Basis von Eindrücken ergreife ich keine disziplinarischen Maßnahmen.«

Überrascht von dieser Verteidigung Augellos, war Ingrid für einen Moment außerstande, Montalbanos Worte zu übersetzen. Das Klingeln des Telefons rettete sie.

Der Commissario griff nach dem Hörer.

Es war Mimì Augello.

»Salvo, bist du allein?«

»Nein.«

»Kannst du sprechen?«

»Nein.«

»Dann spreche nur ich.«

»Ja.«

»Hast du gehört, was gestern Abend passiert ist?«

»Ja.«

»Du musst entschuldigen, aber ich kann nicht aus dem Haus, weil Beba, als sie davon erfahren hat, mir das Gesicht zerkratzt und mich völlig verunstaltet hat.«

»Ja.«

»Wenn ich aus dieser Geschichte nicht rauskomme, wird Beba mich verlassen, das hat sie mir geschworen, verstehst du?«

»Ja.«

»Tu mir also einen Gefallen und übertrag meine Aufgabe jemand anderem.«

»Ja«, sagte Montalbano und legte auf.

»Entschuldigt die Störung«, sagte er dann. »Zweitens steht der Stattgabe der höflichen Bitte des Signore die Tatsache im Weg, dass mein Vize Domenico Augello um diese Uhrzeit gar nicht im Dienst war, weshalb ich keinerlei Veranlassung sehe einzugreifen. Dennoch und ungeachtet meiner Bedenken kannst du dem schwedischen Signor Produttore mitteilen, dass ich in Würdigung der frisch besiegelten Partnerschaft zwischen unseren beiden Städten seiner Bitte nachkommen und Signor Augello von seiner Aufgabe entbinden werde.«

Von dieser Kehrtwende überrumpelt, konnte Ingrid den beiden Schweden nur ein Wort mit zwei Buchstaben übermitteln:

»O. k.«

Der blonde Bär machte einen gewaltigen Luftsprung und landete neben Montalbano, der zu Tode erschrocken aufstand, um sich sogleich in den Armen des Bären wiederzufinden, der ihm auf diese Weise seine Dankbarkeit bezeugte.

Nachdem er sich aus der erdrückenden Umarmung befreit hatte, reichte Montalbano dem schwedischen Produzenten zum Abschied die Hand, küsste und umarmte Ingrid, und war endlich wieder allein in seinem Zimmer.

Sofort war Fazio da.

»Wusstest du, was gestern Abend am Hafen passiert ist?«, fragte Montalbano.

»Dottore, die ganze Stadt weiß es, nur Sie nicht. Was wollten die drei?«

»Dass ich ihnen Mimì aus dem Weg schaffe.«

»Und?«

»Ich war drauf und dran, ihre Bitte abzulehnen, aber Mimì hat mich selbst darum gebeten, abgezogen zu werden.«

Fazio grinste.

»Dann hat die Signora Beba also diesmal fester zugelangt«, sagte er.

Montalbano riss die Augen auf.

»Hat Beba denn schon öfter …?«

»Dottori, die Signora Beba lässt sich schon seit ein paar Jahren nicht mehr alles von ihrem Mann gefallen. Letzten Sommer, als Sie in Boccadasse waren, musste Augello ins Krankenhaus, weil er einen schweren Aschenbecher aus Glas an den Kopf gekriegt hatte.«

Insgeheim gratulierte der Commissario Beba von ganzem Herzen.

»Wollen wir weiter über diese Filme sprechen?«, fragte er dann.

»Ich stehe zu Ihrer Verfügung«, erwiderte Fazio ergeben und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz.