Die Brücke der Gezeiten 4 - David Hair - E-Book

Die Brücke der Gezeiten 4 E-Book

David Hair

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Beschreibung

Die epische Saga voller überraschender Wendungen, vielschichtiger Charaktere und einer komplexen Welt.

Der gescheiterte Magier Alaron gelangt zusammen mit dem Zigeunermädchen Cym auf den fremden Kontinent Antiopia. Dort erwarten sie grausame Feinde: Inquisitoren und Seelentrinker zwingen die Freunde in einen erbarmungslosen Kampf um das mächtigste Artefakt der Welt, das über die Zukunft beider Kontinente entscheiden wird. Doch niemand weiß, welcher Seite das rätselhafte Artefakt zum Sieg verhelfen wird – oder ob es die verfeindeten Kontinente, die die Brücke der Gezeiten verbindet, endgültig verwüsten wird …

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Seitenzahl: 585

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DAVID HAIR

Die Waffen der Wahrheit

DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 4

Übersetzt von Michael Pfingstl

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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel »Scarlet Tides« (Pages 316-671) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013 by David Hair

Originally entitled SCARLET TIDES

First published in the UK by Quercus Editions Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Sigrun Zühlke

Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-16408-9

www.blanvalet.de

Dieses Buch ist ist Mark Fry gewidmet, Freund seit Kindheitstagen, Freigeist und guter Mensch in jeder Hinsicht.

Inhalt

Karte: Urte c. 927

Karte: Yuros

Karte: Antiopia

Was bisher geschah

Die Geschichte Urtes

Die Ereignisse von 928 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten – Die Scharlachrote Armee)

1 Eine Botschaft aus dem Grab

2 Durch Kesh

3 Die Vlk

4 Verworrene Netze

5 Tieferes Verständnis

6 Fischen

7 Der gebrandmarkte Magus

8 Der Graben

9 Heilige Schwüre

10 Brüchiger Frieden

11 Mutter, Tochter und Witwe

12 Die Goldene Stadt

13 Salzwasser und Blut

14 Eine unwiderrufliche Entscheidung

15 Köpfe werden rollen

16 Ein Sturm zieht auf

Epilog

Anhang

Was bisher geschah

Die Geschichte Urtes

Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.

Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.

Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.

Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer mehr Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.

Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.

Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.

Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in der Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.

Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.

Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.

916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.

Die Ereignisse von 928 (Geschildert in Die Brücke der Gezeiten – Die Scharlachrote Armee)

Wir schreiben den Julsept 928 und die Mondflut hat gerade begonnen. In Norostein muss Alaron Merser seinen Freund Ramon Sensini in den Krieg verabschieden. Kurz bevor Alaron und Jeris Muhren, Hauptmann der Wache von Norostein, gemeinsam aufbrechen um Cymbella die Regia einzuholen und die Skytale des Corineus zurückzuerlangen, erschlägt Muhren den korrupten Gouverneur Belonius Vult aus Angst, er könnte den Truppen des Imperiums sonst den Weg zu Cym weisen. Zwar finden die Soldaten Cyms Familie, doch sie selbst reist bereits auf einem Windschiff in Richtung Osten.

Als Alarons erbittertster Konkurrent Malevorn Andevarion erfährt, dass Alaron mitverantwortlich für den Tod Belonius Vults ist, setzt er die Inquisitoren auf ihn an. Dank einer Gruppe Lamien, hybrider Schlangenmenschen, kann Alaron entkommen. Er willigt ein, die Lamien nach Antiopia zu führen, wo sie auf eine sichere Bleibe hoffen können. Unterwegs treffen sie auf Cym, die von einem sydischen Stammesführer gefangen genommen wurde. Gerade rechtzeitig können sie eine Zwangsheirat verhindern. Die Skytale des Corineus befindet sich sicher in Cyms Händen und zum ersten Mal seit Monaten schöpft Alaron Hoffnung.

Ramon marschiert mit seiner Legion über die Leviathanbrücke nach Antiopia ein und die Armeen des Ostens fliehen vor dem Ansturm der scheinbar übermächtigen feindlichen Truppen. Ramita Ankesharan, die Witwe des ermordeten Oberhaupts des Ordo Costruo, wird von den Keshi in Hallikut festgehalten. Sie wissen jedoch nicht, dass Ramita durch ihre Schwangerschaft nun auch über die Gnosis verfügt. So kann sie Kontakt zu Justina, der Tochter ihres toten Mannes Antonin Meiros’ aufnehmen. Dieser gelingt es, Ramita zu befreien und sie auf der Glasinsel zu verstecken. Justina lehrt Ramita den Umgang mit ihren neuen Zauberkräften und bringt so eine versteckte Nachricht zum Vorschein, die Antonin Ramita hinterließ: nicht ihre ungeborenen Kinder werden das Ende des Feldzuges herbeiführen, sondern Ramita selbst. Ihre Zwillingsschwangerschaft, die erste aller Zeiten, ist ein mächtiges Zeichen.

Als Kazim Makani, Ramitas früherer Liebhaber, erfährt, dass er selbst ein Seelentrinker ist, schließt er sich einem Angriff der Hadischa auf den Ordo Costruo an und wird wegen seines besonderen Mutes auserwählt, Gurvon Gyle zu ermorden.

Um die javonische Königin-Regentin Cera Nesti zu manipulieren, droht Gyle damit, ihren Bruder Timori Nesti zu ermorden. Cera ist gezwungen, zu kapitulieren und den rondelmarischen Truppen unter Führung der Familie Dorobon die Macht zu überlassen. Um deren Macht über das Land zu festigen schlägt Gyle eine Hochzeit zwischen Francis, dem Erben der Dorobonen, und Cera vor.

Gyles frühere Geliebte Elena Anborn konnte ihm entkommen. Ihr Körper war durch eine gnostische Zauberei vom Geist Rutt Sordells, Gyles Handlanger, besetzt. Bei einem Mordanschlag der Hadischa auf Gyle gelang es Elena jedoch, Sordell loszuwerden. Elena nimmt den Attentäter Kazim Makani gefangen und bringt ihn in ihr geheimes Versteck, ein verlassenes Kloster in den Bergen.

Zur gleichen Zeit verbündet sich Kazims Schwester Huriya mit der uralten Wahrsagerin Sabele und einem Klan von Seelentrinkern, die sich auf das Gestaltwandeln spezialisiert haben. Sie jagen Ramita, denn Sabele will die Kontrolle über Ramitas Kinder erlangen. Denn Sabele glaubt, dass die ungeborenen Zwillingskinder von Antonin und Ramita der Schlüssel zur Zukunft Urtes sind …

Eine Botschaft aus dem Grab

Die Hüter

»Hüter« nannten sich die ersten Aszendenten und meinten damit das Geheimnis um das heilige Ritual, durch das sie die Aszendenz erlangt hatten. Heute bezeichnet der Name jene der ursprünglichen Dreihundert, die noch am Leben sind und deren Zahl zwangsläufig immer geringer wird. Ab und zu erhält zwar ein Auserwählter die Gelegenheit, sich in die Aszendenz zu erheben, doch der letzte bekannte Versuch fand im Jahr 907 in Andressea statt. Der Name des Magus war Fabian von Defonne. Er starb bei dem Versuch.

Ordo Costruo, Hebusal, 920

Glasinsel, AntiopiaShawwal (Okten) 928Vierter Monat der Mondflut

»Ich will da rein!«, sagte Ramita Ankesharan und schlug mit der Faust gegen die Tür von Meiros’ Gemach.

Justina starrte sie an, als hätte Ramita vorgeschlagen, sie sollten gemeinsam zu Shaitan beten. »Du kannst da nicht rein, Mädchen. Das sind die Räume meines Vaters.«

»Dein Vater. Mein Mann.«

»Deine Anmaßung ist unglaublich«, schnaubte die Magi. »Mein Vater war einer der Gesegneten Dreihundert, und du, du bist nur ein Straßenmädchen.«

»Ein Marktmädchen.«

»Als ob das einen Unterschied macht.«

»Und ob! Ein Marktmädchen verkauft Waren, ein Straßenmädchen sich selbst!«, erwiderte Ramita mit feuerrotem Gesicht. Justinas versteckte Anschuldigung war ungeheuerlich. Die Ankesharans mochten nicht reich sein – oder besser gesagt: sie mochten es vor Ramitas Heirat nicht gewesen sein –, aber sie waren eine ehrenhafte Familie und hatten ihren Stolz. Es war an der Zeit, dass Justina das anerkannte.

»Bestimmt. Und wie ist dann die Heirat zustande gekommen?« Justina drehte sich weg und machte Anstalten zu gehen. Als Ramita sie am Arm packte, riss sie sich wütend los. »Fass mich nicht an!«

Zumindest hatte sie Ramita nicht quer durch den Flur geschleudert, obwohl sie sichtlich in Versuchung gewesen war.

»Er war mein Mann«, erklärte Ramita, so ruhig sie konnte. »Er hat etwas für mich empfunden.«

»Er hat dich gekauft.«

»Mich konnte er sich wenigstens frei aussuchen. Dich nicht.«

»Wie kannst du es wagen?!«, fuhr Justina auf.

»Und du, wie kannst du es wagen?«, gab Ramita zurück.

»Du kapierst es einfach nicht, oder? Du warst nicht mehr als eine Zuchtstute für ihn!«

»Und du warst für ihn als Tochter eine einzige Enttäuschung! Am Ende hat er mich geliebt. Er hat es mir sogar gesagt. Wann hat er das zu dir das letzte Mal gesagt?«

Justina wurde aschfahl. »Treib’s nicht zu weit, Mädchen. Du bist kurz davor. Wenn du nicht mit seinen Kindern schwanger wärst …«

»Aber ich bin es nun mal, und ich verlange, dieses Zimmer zu sehen.«

»Du hast hier gar nichts zu sagen.« Justina stapfte fluchend in ihr Gemach und schlug die Tür hinter sich zu.

Ramita schaute ihr nachdenklich hinterher. Lief doch gar nicht so schlecht.

»Du sollst das verdammte Ding schlagen!« Justinas Stimme wurde eine ganze Oktave höher.

Sie sollte sich mal an traditionellen Omali-Gesängenversuchen, dachte Ramita. Den Stimmumfang dafür hat sie. Sie stand vor einem mit Sand gefüllten Ledersack, der von der Decke hing. Er wackelte ganz leicht, und schon jetzt schmerzten Ramitas Knöchel von den ständigen Schlägen. Ihr Sari war zwar nicht gerade die ideale Kleidung für das Kampftraining, aber immer noch besser als einer dieser beengenden Salware. »Ich habe ihn doch geschlagen«, protestierte sie.

»Um Kores willen, er bewegt sich ja kaum.« Justina lief ungeduldig auf und ab, wie sie es fast ständig tat, wenn sie Ramita unterrichtete. »Stell dir einfach vor, du würdest mich schlagen, falls dir das hilft.«

Habe ich doch.

»Wann warst du mal so richtig wütend?«, fragte Justina unvermittelt. »Auf deinem heiß geliebten Markt vielleicht? Denk an den schlimmsten Kunden, den du je hattest.«

»Man ist immer höflich zu seinen Kunden.«

»Ach ja? Was ist mit deiner Schwester?«

»Wir waren beste Freundinnen. Sie war meine Schwester.« Eine Zeit lang.

»Kore im Himmel, ich habe meinen Bruder gehasst!«, rief Justina, als wäre das für sie vollkommen normal.

»Und er dich bestimmt auch«, erwiderte Ramita mit geballten Fäusten. Na gut, ein Versuch noch … Beschwöre deine Gnosis … Denk an Stein … sei stark …

»Was hast du empfunden, als du meinen Vater sterben gesehen hast?«, fragte Justina.

Peng!

Ramitas Faust durchschlug das Leder, Sand flog in alle Richtungen, und der Sack riss beinahe aus der Verankerung. Ramita stand keuchend da und blinzelte erstaunt. Erst nach einer Weile merkte sie, dass der Schrei, der immer noch in der Luft hing, von ihr gekommen war.

»Schon besser«, sagte Justina mit einem grimmigen Lächeln. »Wenn du jemandem wirklich wehtun willst, denke einfach an Vaters Tod.«

Ramita zitterte, Tränen stiegen ihr in die Augen. »Rashid hat mich auf die Knie gedrückt und mich festgehalten. Dann hat er mich gezwungen zuzusehen, wie … einer von ihnen Antonin erdolcht hat.« Sie deutete auf den Übergang zwischen Hals und Kinn. »Ich hasse sie alle.«

»Rashid …«, wiederholte Justina leise. »Weißt du noch irgendwelche anderen Namen?«

Kazim. Ramita schüttelte stumm den Kopf.

»Dann werde ich eben Rashid fragen müssen. Mit allem Nachdruck.« Justinas Gesicht war so kalt und weiß wie die schneebedeckten Gipfel von Ingashir. »Und Alyssa. Sie wird es wissen.«

Ramita senkte den Kopf und wischte sich die Tränen ab, dann wandte sie sich wieder Justina zu. »Ihr seid euch sehr nahegestanden, du und Alyssa.«

»Ich möchte nicht über sie sprechen«, knurrte Justina leise. »Außerdem geht es dich nichts an.«

»Meine Blutsschwester Huriya hat ihnen geholfen«, sprach Ramita weiter. »Sie hat Jos Lem in ihr Bett gelockt und ihn getötet. Dann hat sie die anderen hereingelassen.« Mehr wagte sie Justina nicht zu verraten.

»Ich erinnere mich an sie. Ein kleines Keshi-Luder mit frecher Zunge.«

»Sie war meine Schwester, mein ganzes Leben lang. Bis sie sich der Fehde verschrieben hat.«

»Ich war sechzig Jahre lang mit Alyssa befreundet«, erwiderte Justina zögernd. »Ich dachte, wir wären seelenverwandt.«

Ramita verzog das Gesicht. »Alyssa hat mir Geheimnisse gestohlen, als sie mir eure Sprache beigebracht hat.«

Justinas Augen verengten sich. »Was für Geheimnisse?«

»Kleine, unwichtige Dinge. Dann hat sie alles Rashid erzählt, nur um mir wehzutun.«

»Dann denk auch an sie, wenn du jemanden verletzen willst.« Justina hob die Hände und brannte mit ihrer Gnosis ein Abbild von Alyssas Gesicht in die Wand. »Für dich, zum Üben.«

Mit einem leisen Schnauben ließ Ramita blaue Magusflammen aus ihren Fingern züngeln. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, Blitz um Blitz auf das Porträt abzufeuern, bis nichts mehr davon übrig war als ein schwarzer, verkohlter Fleck. Danach fühlte sie sich besser. Viel besser.

»Kann ich auch ein Glas haben?«, fragte Ramita und nahm die fast leere Flasche Rotwein, die vor Justina auf dem Tisch stand. Es war spätnachts, und die Jadugara war wieder einmal betrunken. Es kam nicht mehr so oft vor wie während der ersten Wochen hier auf der Glasinsel, aber doch alle paar Tage. Das Training am Morgen darauf war immer zäh und Justinas Laune entsprechend schlecht.

Justina blickte kurz auf. »Vater hat gesagt, Schwangere sollen nicht trinken.«

»Wir haben sogar gemeinsam getrunken. Bei unserem Ausflug zum Südpunkt und bei anderen Gelegenheiten, obwohl er wusste, dass ich schwanger war.«

Justina stieß einen Seufzer aus. »Wie du meinst. Genau genommen hat er gesagt, nicht mehr als ein Glas alle paar Abende. Noch ein Grund, nicht schwanger zu werden. Nicht dass es je wieder passieren würde.« Sie errötete leicht. »Nur zu. Trink aus. Ich hab sowieso schon zu viel.«

Ramita nahm ein Glas, goss sich den Rest ein und probierte vorsichtig. Der Wein war schwer und voll, er schmeckte nach diesen roten yurischen Früchten, von denen sie gehört, die sie aber noch nie gesehen hatte. »Du hast ›wieder‹ gesagt.«

Justina murmelte etwas Unverständliches. »Ja, hab ich. Ich hab tatsächlich zu viel getrunken.«

»Du hast ein Kind?«

»Ja«, antwortete sie resigniert. »Ich sage dir das nur, damit du mir nicht die nächsten sechs Wochen damit auf die Nerven gehst.«

»Komisch. Alle mögen mich wegen meines frohen, unkomplizierten Wesens, nur du nicht … Eins? Oder sind es zwei? Junge oder Mädchen? Wie alt? Und wer ist ihr Vater?«

»Ein Mädchen. Sie müsste mittlerweile fast neunzehn sein. Ihr Name ist Cymbellea.«

»Das ist ein schöner Name.«

»Rimonisch. Ich habe ihn nicht ausgesucht. Ich habe sie weggegeben, sobald ich konnte, und sie seither nie wiedergesehen.«

Ramita neigte den Kopf. »Kein einziges Mal?« Diese Frau hat kein Herz.

»Ich wollte sie nicht. Es war ein Unfall. Also habe ich sie dem Vater gegeben, als er das nächste Mal in Hebusal war, und ihn mit ihr fortgeschickt. Ihm gesagt, dass ich weder von ihm noch von ihr jemals wieder etwas hören möchte. Bis zum heutigen Tag hat er sich daran gehalten. Kore sei Dank.«

»Wo liegt Rimoni?«

»In Yuros. Er ist dorthin zurückgegangen. Zumindest wird man sie dort wahrscheinlich gut aufgenommen haben und nicht als eine Ausgeburt Shaitans.«

»Wart ihr verheiratet?«

Justina schnaubte verächtlich. »Wohl kaum.«

Ramita schüttelte den Kopf. Eigentlich müsste Stein ihre Hauptaffinität sein. Sie besteht ja selber daraus. Ob es auch eine Affinität zu Glas gab? Justina war so zerbrechlich, spröde und empfindlich. Aber da sie gerade redselig gestimmt zu sein schien, beschloss Ramita, ihr noch eine Frage zu stellen. »Du und Alyssa, wart ihr …?«

»Safias? Nein.« Justina fluchte leise. »Wir haben es einmal versucht, aus Neugierde. Aber sie mag Männer lieber. Und ich … Ich mag eigentlich überhaupt niemanden.« Sie versuchte, es sich auf dem Sofa bequem zu machen, aber es schien ihr nicht zu gelingen. »Für mich ist … ich habe mich nie wirklich für Sex begeistern können, und das Danach, wenn man reden und so tun muss, als hätte es einem gefallen, ist mir zuwider. Ich rauche lieber Opium«, fügte sie hinzu und drehte sich weg. »Jämmerlich, nicht wahr?«

Ja. »Nein.« Ramita verspürte das Bedürfnis, etwas Nettes zu sagen. »Du hast nur noch nicht den Richtigen getroffen.«

»Es gibt keinen Richtigen für mich.«

So interessant diese Unterhaltung auch war, sie führte in eine Richtung, die Ramita nicht gefiel, und sie beschloss, sie zu beenden. »Ich bin müde. Gute Nacht, Tochter«, erklärte sie und stand auf.

Justina bekam zwar keinen Wutanfall wie sonst, wenn Ramita sie »Tochter« nannte, dennoch wackelte sie drohend mit dem Zeigefinger. »Nicht doch«, sagte sie. »Du bist jetzt dran mit Erzählen.«

»Von was?«

Auf dem blassen Gesicht der Jadugara stand ein, wenn auch verhaltener, Ausdruck von Sehnsucht, den Ramita noch nie bei ihr gesehen hatte. »Du hast gesagt, mein Vater hätte dich geliebt.« Sie wandte den Blick ab. »Wie ist das, geliebt zu werden?«

Ramita spürte tatsächlich so etwas wie Mitgefühl in sich aufsteigen. Ganz langsam setzte sie sich wieder. »Er hat dich auch geliebt«, antwortete sie vorsichtig. »Selbst wenn er es dir vielleicht nie gesagt hat.«

Kurz darauf öffneten sie die nächste Flasche Wein.

Ramita saß da und beobachtete den tosenden Ozean. Auf der Spitze der Glasinsel befand sich eine Aussichtsplattform, vor neugierigen Blicken geschützt, aber nicht vor den Elementen. An einem ruhigen Tag, wenn die Sonne schien, war dies der schönste Ort auf ganz Urte. Die Plattform blickte nach Westen, und auch wenn die Wellen weit unterhalb waren, spürte Ramita, wie der Fels unter ihrem Ansturm erzitterte. Zu beobachten, wie sich die Sonne am Horizont purpurn verfärbte und die Wolken in Kupfer, Rosa und Gold tauchte, war, wie den Göttern beim Spielen zuzusehen.

Sie lernte beständig, Grundtechniken, die jeder Magus beherrschen sollte: wie man eine Tür öffnet und versiegelt, selbst wenn sie weder Griff noch Schloss hat. Ziele mit Magusfeuer ausschalten. Dinge mit einer Kraft bewegen, die Justina »Telekinese« nannte. Außerdem hatte sie gelernt, sich für Hellseher unsichtbar zu machen und Stein zu formen, als wäre es nasser Ton.

Und die ganze Zeit über wuchsen die Babys. Ihr Bauch gewann schnell an Umfang, und sie bekam silbrige Dehnungsstreifen. Ramitas Brüste waren so groß, dass sie manchmal schmerzten. Dabei war sie erst im vierten Monat.

Was geschieht im Moment draußen in der Welt? Wo ist Kazim? Wo ist Jai? Wie geht es meinen Eltern? Ramita wünschte, sie könnte ihren Geist auf die Suche nach ihnen schicken, aber Hellseherei war nichts für sie, und Gedankenkommunikation, mit deren Hilfe sie Kontakt zu Justina aufgenommen hatte, sollte sie auf keinen Fall benutzen. Das Risiko, dabei entdeckt zu werden, war schlichtweg zu hoch.

Doch dann hörte Ramita eines Tages eine Stimme, durchdringend und vertraut, die ihren Namen rief. Einen Moment lang war sie aus purer Einsamkeit versucht zu antworten, doch die Versuchung ging vorbei, und sie versteckte sich hinter geistigen Mauern, genau wie Justina es ihr beigebracht hatte. In einem hohen Turm aus dicken Mauern und undurchdringlichen Schatten.Es ist niemand hier, es gibt nichts zu sehen …

Die Stimme verharrte noch einen Augenblick, dann verschwand sie.

Kurze Zeit später versuchte sie es noch einmal, aber diesmal war Ramita vorbereitet. Sie fragte sich nur, wer es wohl sein mochte. Rashid oder Alyssa wahrscheinlich. Als die Stimme endgültig verstummt war, eilte Ramita zurück in den Turm, wo Fels und Wasser sie weit besser verbargen als ihre eigenen Wächter. »Justina!«, rief sie. »Justina!«

Aber ihre Stieftochter war nicht im Salon. Ramita fand sie schließlich, als sie aus Antonins Gemach kam. Diese Tatsache – und die entsetzliche Blässe auf Justinas Gesicht – hätte sie beinahe vergessen lassen, was gerade passiert war. Ramita schob alle Fragen beiseite und beschränkte sich fürs Erste auf den beunruhigenden Vorfall. »Justina«, begann sie zitternd, »eben war ich oben auf der Plattform und habe den Sonnenuntergang beobachtet, da habe ich plötzlich eine Stimme gehört, die nach mir gerufen hat.«

Die Augen der Jadugara weiteten sich. »Aber sie hat dich nicht gefunden, hoffe ich?« Ihr Gesicht wurde noch fahler.

Ramita schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich habe sie abgewehrt.«

Justina atmete auf. »Kore sei Dank!« Sie streckte die Hand aus und strich ihr flüchtig über die Schulter. »Gut gemacht.«

Das war das erste Lob aus ihrem Mund überhaupt.

»Aber …« Justina verstummte unvermittelt und stützte sich an der Wand ab.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Ramita beunruhigt. »Ist etwas passiert?«

»Ich habe etwas gefunden … Etwas, das du sehen musst«, antwortete sie zögernd. »In Vaters Gemach.«

Ramitas Kehle wurde staubtrocken. »Dort drinnen?«

»Du kannst jetzt hineingehen.« Wie in Trance trat Justina zur Seite.

Jetzt, da sie es endlich durfte, bekam es Ramita mit der Angst zu tun. Sie legte die Hände auf den steinernen Türrahmen, spürte die Kraft ihres Elements, der Erde, und nahm all ihren Mut zusammen. Dann trat sie ein. Der Raum war bis oben hin voll mit allen möglichen Gegenständen, aber alles war feinsäuberlich aufgeräumt und geordnet. Sie sah ein großes Bett und ein Schreibpult mit zahllosen Papierstapeln darauf. Die Wand vor dem Pult war so durchsichtig, als gähne an dieser Stelle ein Loch im Fels. Die Blickrichtung war Südosten. Ramita erschauerte kurz, dann sah sie sich weiter um, bestaunte die bunten Wandteppiche aus Lokistan, Ingashir, Gatioch und Mirobez. Auf einer hohen Kommode entdeckte sie zwei wunderschöne lakhische Kerzenhalter, und als sie die beiden lebensgroßen Statuen aus weißem Marmor sah, wurden ihre Augen feucht: Die eine stellte sie selbst dar, die andere ihren Mann Antonin. Ramitas steinernes Konterfei reichte ihm etwa bis zum Bauchnabel, die Statue sah winzig klein aus in ihrem Sari und wirkte doch kühn. Meiros trug den üblichen Umhang mit zurückgeschlagener Kapuze, darunter kamen der rasierte Schädel und der gestutzte Bart zum Vorschein – genau wie Ramita ihn einst zurechtgemacht hatte. Tränen strömten ihr übers Gesicht, als sie auf die Statue zutrat und die marmorne Wange streichelte. »Ist es das, was ich sehen sollte?«

Justina kam vom Flur herein. »Nein. Das da.« Sie deutete auf ein Stück Schiefer, das auf dem Schreibpult lag. »Berühr den grünen Stein, der in der Mitte eingelassen ist.«

Ramita streckte die Hand aus und hielt plötzlich inne. »Was ist das?«

»Eine Nachricht.«

»Von meinem Mann? Hast, hast du sie schon gelesen?«

»Ich bitte dich. Für wen hältst du mich eigentlich?«, erwiderte Justina gereizt. »Außerdem kann man sie nicht lesen. Es ist eine sprechende Nachricht.« Sie senkte den Blick. »Ich habe dir unrecht getan. Ich hätte dir den Zutritt nicht verweigern sollen.«

Sie hat gerade zugegeben, dass sie einen Fehler gemacht hat … das gab es noch nie. Ramita verkniff sich einen bissigen Kommentar und starrte den grünen Edelstein an. Schließlich bewegte sie ganz langsam die Hand darauf zu und hielt dann wieder inne. »Antonin hat eine Botschaft hinterlassen?«, fragte sie verunsichert. »Für mich?«

»Das sagte ich doch gerade, oder?«, erwiderte Justina ungeduldig.

Ramita biss sich auf die Unterlippe. Was mochte er ihr zu sagen gehabt haben? Würde er sie am Ende doch noch verstoßen? Ich habe nur so getan, als hätte ich dich geliebt. Aber du bist nicht mehr als eine Magd. Oder schlimmer noch: Ich weiß von dir und Kazim.

Sie warf Justina einen kurzen Blick zu. »Ich möchte allein sein.«

»Er war mein Vater!«, sagte Justina aufgebracht.

»Du kannst es dir später anhören.«

Justina stampfte schnaubend aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Als sie endlich allein war, setzte Ramita sich aufs Bett und sammelte sich. Irgendwann berührte sie den Stein. Er kitzelte auf ihrer Haut, und ein Bild stieg in ihr auf – von trockenem Papier, so wie sie Meiros immer empfunden hatte. Es war ein vertrautes und gleichzeitig trauriges Gefühl. Eine Lichtspiegelung erschien über der Schieferplatte, eine gerade mal kürbisgroße Version ihres ermordeten Gatten, wie er in seinem Lehnstuhl saß. Er wirkte entspannt, und Ramita schluckte. Das Abbild sprach nicht mit ihr, sie hörte Meiros’ Stimme in ihrem Geist.

Ramita, geliebte Frau. Ich weiß nicht, wann oder ob du diese Botschaft jemals hören wirst, doch falls dieser Fall eintritt, so hoffe ich, ist es noch früh genug, um etwas zu bewirken. Ich habe sie im Maicin 928 aufgezeichnet, ein paar Wochen nachdem wir von deiner Schwangerschaft erfuhren. Erinnerst du dich noch, dass ich zu dieser Zeit viel reisen musste? Eine dieser Reisen führte mich hierher, zur Glasinsel. Ich habe diese Nachricht an dich verfasst und Vorräte für euren Aufenthalt hier angelegt.

»Mein Gemahl, ich …«, begann Ramita, verstummte aber gleich wieder. Meiros war tot. Es war eine Lichtspiegelung, die zu ihr sprach, mehr nicht. Es hatte keinen Sinn, sie mit Fragen zu bestürmen.

Vor drei Monaten habe ich schon einmal eine Nachricht für dich aufgezeichnet für den Fall, dass mir etwas zustößt, bevor du schwanger wirst. Darin habe ich dich gebeten, schnellstmöglich nach Lakh zurückzukehren und dich dort zu verstecken, doch das ist inzwischen hinfällig. Es ist nicht mehr möglich, denn deine Schwangerschaft ändert alles.

Ramita legte besorgt die Hände auf ihren straff gespannten Bauch.

Ramita, wenn du diese Nachricht bekommst, dann nur, weil ich tot bin. Weissagungen sind unzuverlässig, deshalb kann ich nicht sagen, was passiert ist, doch wusste ich seit geraumer Zeit von Gruppierungen, die mir nach dem Leben trachteten, und niemand ist vor dem Tod durch die Hand eines entschlossenen Attentäters gefeit. Ich wusste, dass du Rat und Hilfe brauchen würdest, falls ich sterben sollte, wenn du bereits schwanger bist. Also habe ich Justina angewiesen, dich hierher zu bringen. Wenn du dies hörst, ist zumindest dieser Teil des Plans aufgegangen.

Ramita wischte sich die Tränen ab, die immer noch ungehindert strömten.

Zuerst, geliebte Frau, lass mich dir sagen, wie unglaublich stolz ich auf dich bin. Mehr als das: Ich habe dich mehr geliebt, als ich je den Mut hatte, dir zu sagen. Ich hoffe, es ist mir gelungen, dir die unwürdige Situation zumindest erträglich zu machen. Ich weiß, eine so junge und lebendige Frau wie du kann einen alten »Ferang« wie mich niemals wirklich lieben, aber ich hoffe, du wirst mich stets in wohlwollender Erinnerung behalten.

Das tue ich, mein Gemahl, das tue ich.

Des Weiteren lass mich dir erklären, weshalb ich dich als meine Frau ausgesucht habe. Lass mich dir von den Divinationen erzählen, die mich zu dir geführt haben. Wie du weißt, suchte ich nach einer Frau, die weder aus Yuros noch aus Nordantiopia stammt und mit einer möglichst hohen Wahrscheinlichkeit Mehrlinge zur Welt bringen würde. Vor unserer Hochzeit habe ich dir gesagt, ich hätte gesehen, wie unsere Kinder über ein neues Zeitalter des Friedens und des Fortschritts in Hebusal herrschen. Er fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, dann blickte er sie direkt an. Das war nur die halbe Wahrheit.

Ramitas Atem stockte. Was hat das zu bedeuten?

Die ganze Wahrheit ist, dass die Zeit dafür viel zu knapp war. Deine Zwillinge werden nicht einmal in den nächsten Kriegszug eingreifen können, geschweige denn in diesen. Eines Tages mögen sie durchaus eine wichtige Rolle spielen, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich dich ausgesucht und nach Hebusal gebracht habe.

Ramita hatte das Gefühl, als würde der Fels unter ihren Füßen plötzlich weich, als könnte er jeden Moment einfach nachgeben. Was redest du da? Du hast immer gesagt, unsere Kinder wären …

Geliebte Ramita, ich brauchte nicht eine fruchtbare Lakhin und deren Kinder, ich brauchte dich. Du bist diejenige, die diesen schändlichen Krieg beenden kann. Du bist diejenige, die Urte den Frieden bringen kann.

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich?

Ich sehe förmlich dein Gesicht vor mir, teure Gemahlin, wenn du diese Worte hörst. Demütig und bescheiden wie du bist, wirst du denken, das alles sei nur ein Traum und nicht die Wirklichkeit, ich hätte den Verstand verloren oder erlaube mir einen grausamen Scherz mit dir. Doch dem ist nicht so.

Dass er ihre Reaktion so exakt vorausgesehen hatte, ließ Ramita zum zweiten Mal vergessen, dass Meiros gar nicht hier war. »Wie kann das sein?«, stammelte sie und wartete einen Moment lang tatsächlich auf eine Antwort, irgendeine Erklärung.

Ich habe das Phänomen der Manifestation während der Schwangerschaft ausgiebig studiert, mein Interesse jedoch stets geheim gehalten, und ich habe nur einen einzigen Fall gefunden, in dem ein Magus Vater von Mehrlingen wurde. Zumeist haben wir Magi Probleme, überhaupt Kinder zu zeugen, geschweige denn Zwillinge oder gar Drillinge, doch gab es einmal eine junge Dhassanerin, die Zwillinge von einem rondelmarischen Viertelblut gebar. Der Hundesohn hatte sie vergewaltigt. Sie war Patientin in Justinas Heilerorden und wurde zusammen mit ihren Kindern getötet, als die Rondelmarer während des zweiten Kriegszugs das Kloster plünderten. Doch die Aufzeichnungen legen nahe, dass die Manifestation bei diesem Mädchen enorm stark war, weit stärker als zu erwarten. Während ihre Kinder nur Sechzehntelblute waren, verfügte sie selbst überdie ungezügelte Kraft eines Vollblutmagus.

Ramita hielt den Atem an und schüttelte ganz langsam den Kopf.

Diese Erkenntnis stand noch ganz am Anfang meiner Nachforschungen, und als der Kriegszug vorüber war und ich mehr Zeit hatte, untersuchte ich den Fall näher, ging Aufzeichnungen über Geburten auf beiden Kontinenten durch. Stets reiste ich im Verborgenen und hielt den wahren Zweck meiner Nachforschungen geheim. Leider gibt es nur wenig Magi, und die Aufzeichnungen sind lückenhaft, doch fand ich genügend Beweise, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass sich in Frauen, die mit Mehrlingen schwanger werden, die Gnosis noch weitaus stärker manifestiert als im Vater der Kinder. Also begann ich vor einem Jahr, nach einer Frau wie dir zu suchen. Ich bin ein Aszendent, in meinen Adern fließt das stärkste und reinste Magusblut, das Urte kennt, und ich wage kaum, mir die Kräfte vorzustellen, die du, Ramita, entwickeln wirst.

Meiros rieb sich den kurz geschorenen Bart, und sein Blick wurde sanft. Den Rest der Geschichte kennst du, wie ich dich gefunden und nach Hebusal gebracht habe. Und jetzt trägst du unsere Kinder in dir. Ich weiß, du bist beunruhigt, weil du noch keine Anzeichen der Manifestation bemerkt hast, aber sie wird kommen und im Verlauf der Schwangerschaft immer stärker werden. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich zu beschützen und zu unterweisen, doch wenn du dies hörst, dann nur, weil ich nicht mehr am Leben bin und du mit Justina hierher geflohen bist. Er lächelte wehmütig. Ich weiß, du bist nicht sonderlich gut mit ihr ausgekommen – nur wenige tun das. Doch sie wird dir helfen, um meinetwillen, und um ihrer ungeborenen Halbgeschwister willen.

Ramita warf einen Blick auf die geschlossene Tür in ihrem Rücken. Nein, sie kamen nicht besonders gut miteinander aus, aber es wurde besser. Mehr oder weniger.

Ich möchte dich auch wissen lassen, weshalb ich ausgerechnet eine Lakhin als Frau wollte, und keine andere. Lakh ist ein riesiges Land mit einer riesigen Bevölkerung, es hat großes Potenzial, sowohl wirtschaftlich als auch militärisch. Wenn unsere Kinder zur Welt kommen, Ramita, wirst du schon auf dem Weg sein, die mächtigste Magi zu werden, die die Welt je gesehen hat. Geh nach Lakh und suche Großwesir Hanouk auf. Du erinnerst dich, wie ich dir sagte, dass er deinen Namen bald kennen und sich glücklich schätzen werde, sich zu deinen Freunden zählen zu dürfen. Mittlerweile kennt er deinen Namen und weiß, dass du zu ihm kommen wirst. Du kannst ihm vertrauen. Er wird dich aufnehmen und dich mit einer weltlichen Macht ausstatten, die der Stärke deiner Gnosis würdig ist. Sammle den Ordo Costruo um dich. Rene Cardien wird dich unterstützen. Nutze die Macht des Ordens und Hanouks Einfluss, um Sultan Salim von Kesh unter Druck zu setzen. Trotze Kaiser Constant von Rondelmar. Mit einem lakhischen Heer im Rücken wirst du in der Lage sein, Salim und Constant zum Frieden zu zwingen, Ramita. Du kannst die Kriegszüge ein für alle Mal beenden.

Ramita blinzelte Meiros’ Abbild mit offenstehendem Mund an. Das ist verrückt. Das kann nicht sein.

Ich bitte dich, geliebte Gemahlin, sei tapfer und lerne fleißig. Ich weiß, du wirst außerordentliche Dinge sehen und vollbringen, ein paar davon habe auch ich in deiner Zukunft gesehen. Dennoch ist dein Sieg alles andere als gewiss. Manche werden behaupten, es sei unmöglich, wie mächtig du auch werden magst, doch ich glaube an dich.

Ramita schnappte nach Luft. Ich glaube an dich. Er hatte es tatsächlich gesagt.

Schrecke nicht davor zurück, wieder zu heiraten – vielleicht sogar deinen Kazim, dem ich dich so grausam entrissen habe. Die ganze Welt wartet auf dich, Ramita Ankesharan, und du hast die Macht, sie für immer zu verändern. Ergreife diese Chance, ergreife sie mit beiden Händen. Er faltete die Hände und hob sie an die Stirn. Namaste, geliebte Frau. Auch wenn ich nie den Mut gefunden habe, es laut auszusprechen, sondern nur in Gedanken: Ich liebe dich, Ramita, und werde dich immer lieben.

Nachdem das Bild verschwunden war, saß Ramita noch minutenlang auf dem Bett. Sie bebte am ganzen Körper und weinte. Nicht die Kinder, sondern ich! Er erwartet, dass ich die Welt rette. Ramita konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es war zu viel, alles viel zu viel.

Irgendwann hob sie den Kopf, streckte sich und hörte sich Meiros’ Botschaft ein zweites Mal an, um sie sich einzuprägen. Und um die Stimme ihres toten Gatten noch einmal zu hören.

Ramita saß gerade im Salon, als Justina abends von unten heraufkam. Den Nachmittag hatte sie auf der Aussichtsplattform verbracht, den Wellen zugesehen und über die Botschaft ihres verstorbenen Mannes nachgedacht. Jetzt saß sie still da und beobachtete, wie das tiefrot schimmernde Oberlicht allmählich immer dunkler wurde.

»Er muss den Verstand verloren haben«, sagte Justina.

Ramita drehte ihr das Gesicht zu. Justina war aschfahl, ihr Gang unsicher. »Hat er noch etwas gesagt?«

»Er hat auch mir eine Nachricht hinterlassen, über dich und die Gnosis.« Die Details wollte Justina offensichtlich nicht verraten. »Er sagt, ich muss dir alles beibringen, was ich weiß. Als ob ich das nicht ohnehin tun würde«, murmelte sie wie ein eingeschnapptes Kind. »Er sagt, du wirst uns alle in den Schatten stellen.«

Und das gefällt dir nicht. Ramita musste sich ein Lächeln verkneifen.

»Er könnte sich getäuscht haben, vergiss das nicht«, fügte sie bissig hinzu. »Er ist nicht allwissend. Die bedauernswerte Dhassanerin, von der er gesprochen hat, könnte ein Einzelfall gewesen sein. Vielleicht verschwenden wir nur unsere Zeit.«

»Ich schätze, wir werden es bald herausfinden«, merkte Ramita an. »Tochter.«

Justina warf ihr einen finsteren Blick zu. »Dann stell dich schon mal auf einen anstrengenden morgigen Tag ein.« Sie ging zum Tisch, packte den Teller Lammcurry, den Ramita ihr aufgehoben hatte, und stolzierte davon.

Durch Kesh

Windschiffe

Eine unserer ersten und wertvollsten Entdeckungen war, Holz mit Gnosis aufzuladen, sodass es fliegen konnte. Der nächste Schritt war, einen Rumpf mit Mast und Segel um den aufgeladenen Kiel zu bauen. Es gelang nicht auf Anhieb, aber im Jahr 420, vierzig Jahre nach der Aszendenz der Gesegneten Dreihundert, kreuzten die ersten Windschiffe über Yuros und erwiesen sich als äußerst nützlich für Militär und Handel. Nach eingehender Beobachtung der Segelschiffe auf dem Sibernesee konnten entscheidende Verbesserungen an der Konstruktion vorgenommen werden, Fortschritte in der Steuerkunst kamen hinzu. Die unumschränkte Luftherrschaft war und ist einer der Grundsteine unserer Macht.

Annalen von Pallas

Hebusal in Dhassa, AntiopiaRami (Septnon) bis Shawwal (Okten) 928Dritter und vierter Monat der Mondflut

In der dritten Augeitewoche erreichte die Pallacios XIII bei Vollmondlicht das Hebbtal. Mater-Lunes pockennarbiges Antlitz sah aus wie immer, doch ansonsten war nichts wie in Yuros. Das Land schien, zumindest auf den ersten Blick, vollkommen trocken und leblos. Eine einzige braune Wüste. Die wenigen Flussbetten waren ausgetrocknet, jeder noch so mickrige Baum längst zu Brennholz verarbeitet. Die Dörfer, durch die sie kamen, lagen verlassen, die Bewohner waren längst vor dem Kriegszug geflohen. Die meisten der leerstehenden Häuser waren zu einer Seite offen, nur wenige hatten Fenster, geschweige denn Läden daran, manche nicht einmal eine Tür. Wahrscheinlich blieb es auf diese Weise im Inneren kühler. Dennoch wirkten die strohgedeckten Lehmziegelbehausungen ärmlich, bestenfalls wie halbfertige Scheunen. Am fünften Tag sahen sie den ersten Dhassaner, einen dunkelhäutigen Greis, der mit um die Füße gewickelten Lumpen am Rand der Straße dahinhumpelte. Bondeau schleuderte ihn mit einer Handbewegung in den Staub, und der ganze Zug lachte.

Der Alte blickte den Soldaten wütend hinterher.

Nachts fiel die Temperatur heftig ab, trotzdem war es immer noch heißer als selbst in den schwülen silacischen Sommern. Glücklicherweise war die Luft hier in Dhassa so trocken, dass der Kreislauf nicht ganz so schlimm in Mitleidenschaft gezogen wurde wie während einer Hitzewelle in Yuros. Solange es genug Wasser gab, konnte man das Klima einigermaßen ertragen. Nicht umsonst waren viele Wagen der kaiserlichen Legionen nichts anderes als gigantische Wasserfässer auf Rädern, so schwer, dass nur ein Hulka sie ziehen konnte.

»Sieh sie dir nur an«, murmelte Kill. »Wie viele Steaks man wohl aus einem davon machen könnte?«

»Gut möglich, dass wir es noch vor Ende des Kriegszugs herausfinden«, kommentierte Baltus Prenton.

»Ich mag die Viecher sowieso nicht«, fügte Ramon hinzu. »Tiere, die verstehen, was man zu ihnen sagt, sind mir nicht geheuer.«

»Ganz meine Meinung«, bestätigte Baltus und wechselte dann das Thema. »Luft ist doch eine deiner Affinitäten, oder? Schon mal ein Skiff geflogen?«

»Sicher, am Arkanum. Hat Spaß gemacht.«

»Umso besser. In Hebusal bekommen wir zwei weitere Skiffs. Du und Severine seid meine Ersatzpiloten. Wäre gut, wenn ihr auch mit den Dingern umgehen könntet.«

Ramon grinste. »Kein Problem. Um meinen Kumpel Alaron müsstest du dir Sorgen machen, um mich nicht. Der hat mal eins ins Dach des Landsitzes seiner Familie gesetzt. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.« Mit einem versonnenen Lächeln dachte er an seinen reizbaren und etwas ernsten Freund und fragte sich, wo er wohl sein mochte. Ob er Cym inzwischen gefunden hatte und die Skytale.

Kurze Zeit später erreichten sie eine Hügelkuppe. Die Sonne versank gerade im Westen, da blickten sie hinab auf die heilige Stadt Hebusal, in der der Amteh-Prophet Aluq-Ahmed einen großen Teil seines Lebens verbracht hatte. Die alte Innenstadt war von einem Mauerring geschützt, darum herum erstreckten sich auf einer schier endlosen Fläche klapprige Hütten, genauso ärmlich wie die, die sie unterwegs gesehen hatten, oder sogar noch schlimmer. Hunderte Rauchsäulen stiegen von offenen Kochstellen in den dunkler werdenden Himmel, während hinter der Stadtmauer die goldene Kuppel der Bekira – sie war der größte Dom-al’Ahm in ganz Urte und die letzte Ruhestätte von Aluq-Ahmeds Frau Bekira – und der marmorne Gouverneurspalast um die Wette glänzten. Hoch darüber thronte auf einem Hügel im Westen der Domus Costruo. Das gigantische Bauwerk wirkte kahl und leblos. Gerüchten zufolge hatte sich der Orden in seine Kriegsfestung Krak di Condotiori zurückgezogen.

Im Osten lagen die Gotan-Höhen mit ihren zahllosen Befestigungen. Das Lager unter ihnen war fast genauso groß wie das, das sie in Nordpunkt verlassen hatten. Die Feldlager der Legionen mit ihren unzähligen Zelten und Pferchen voller Vieh erstreckten sich über die ganze Ebene bis an die Hügelkette heran, hinter der die dhassanischen Berge aufragten, so mächtig, dass sie zum Greifen nahe erschienen.

Und endlich sahen sie auch Menschen: einheimische Händler, die über kleinen Feuerchen Fleisch und Nüsse rösteten. Rondelmarische Legionäre bewachten die Verkaufsstände und sorgten dafür, dass die Käufer einen angemessenen Preis bezahlten. Das war eine Lektion, die Pallas aus den letzten beiden Kriegszügen gelernt hatte. Wenn sie die Dhassaner um den Lohn ihrer Arbeit brachten, verschwanden die Stände, und mit ihnen eine wichtige Versorgungsquelle. Den Handel zu schützen war somit eine indirekte Unterstützung der Kriegsanstrengungen. Außerdem gab es noch andere Vorzüge: Gleich neben den Feuern räkelten sich Prostituierte in halbdurchsichtigen Gewändern unter den Vordächern ihrer Zelte, jede in Begleitung eines männlichen Aufpassers, bei dem es sich zumeist um einen Bruder oder den eigenen Ehemann handelte. Die dhassanischen Frauen waren von verlockender, fast gefährlicher Schönheit. Unablässig drehten die Legionäre die Köpfe und stießen einander in die Rippen, während die kühneren unter den Huren ein Stück nebenherliefen und ihnen in gebrochenem Rondelmarisch etwas zuriefen.

»Augen nach vorn, ihr Hunde!«, brüllten die Zenturios. »Nehmt gefälligst die Hände aus der Hose und spart euch die Kraft fürs Schaufeln! Ihr habt noch genug Gräben auszuheben!«

Kill starrte wie hypnotisiert eine Frau mit schwarzem, hüftlangem Haar an. »Scheiße, sieh dir das an«, murmelte er.

»Silacierinnen sind hübscher«, erwiderte Ramon, um der Konversation willen. Ihre Augen sind vollkommen tot. Nur sich selbst hasst sie noch mehr als uns. »Außerdem ist sie wahrscheinlich so ansteckend wie eine ganze Leprakolonie. Halt dich lieber von ihr fern, Amiki.«

»Schlesserinnen, für mich geht nichts über Schlesserinnen«, erwiderte Kill, aber sein ruheloser Blick sagte etwas anderes. »Blond und groß …« Er hielt sich die gewölbten Hände vor die Brust. Als die Hure daraufhin auch noch ihr Kleid aufknöpfte, schloss er stöhnend die Augen.

Ein Stück weiter vorne ritt Severine Tiseme, allein. Ihr ständiger Begleiter Renn Bondeau war voll und ganz damit beschäftigt, genauso lüstern wie alle anderen die leichten Mädchen anzustarren. Seth Korion versuchte, Severine zu besänftigen, doch seinem Gestammel und dem hochroten Gesicht nach zu urteilen, wollte es ihm nicht recht gelingen.

Einem spontanen Impuls folgend, trieb Ramon sein Pferd an und gesellte sich zu ihnen, während Kill die nächste exotische Schönheit begaffte, die sich vor ihm entblößte.

»Dame Severine, ist es nicht schön, endlich hier zu sein?«, fragte er gutgelaunt.

Seth warf ihm einen nervösen Blick zu und dirigierte seinen Khurna weiter nach vorn.

Severine schaute Ramon verdutzt an. Vermutlich wunderte sie sich, woher er die Unverfrorenheit nahm, sie einfach anzusprechen. »Ein grässlicher Ort. Muss dich an Zuhause erinnern.«

Wie nett. »Er erinnert mich an die Münzergasse in Norostein, nur dass die Mädchen hier hübscher sind.«

»Widerlich sind sie«, schnaubte Severine und fixierte dabei Renn, der ein Stück vor ihr ritt.

»Genauso widerlich ist es, die Einheimischen ihrer Existenzgrundlage zu berauben, sodass ihnen nichts anderes mehr übrigbleibt, als ihren Körper zu verkaufen, wenn sie nicht verhungern wollen«, entgegnete Ramon.

Severine warf den Kopf in den Nacken. »Eine yurische Frau würde sich nie so weit herablassen.«

»Glaubst du? In Noros ist während der Revolte genau das passiert. Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle.«

»Noros ist eine Provinz. In Rondelmar herrschen Zucht und Ordnung. Unsere unerschütterliche Moral ist unsere Stärke.«

Was für ein passender Kommentar aus dem Mund einer Frau, die so schnell wie möglich schwanger werden will, damit sie endlich zurück nach Hause kann. »Wie ich höre, werden wir gemeinsam fliegen«, wechselte Ramon schließlich das Thema.

»Wohl kaum. Ich fliege mit Windmeister Prenton.«

»Je ein Skiff geflogen? Allein, meine ich.«

»Ein gutes Arkanum bringt uns Mädchen keine so billigen Tricks bei.«

»Das heißt also Nein?«

Sie zog einen Schmollmund. »Ich lerne schnell.«

»Das wirst du auch müssen. Prenton hat mir erzählt, dass Skiff-Piloten, die über der Wüste abstürzen, jämmerlich in der Sonne verrecken.«

»Pass lieber auf dich selbst auf, Rimonier«, erwiderte Severine wütend.

»Silacier«, berichtigte Ramon.

Severine drehte ihm das Gesicht zu. »Was interessiert es mich, wo eine Ratte wie du herkommt?«

»Wie charmant du sein kannst, wenn du nur willst. Ich hoffe nur, du wirst rechtzeitig schwanger, um dir all den Ärger zu ersparen, der uns bevorsteht.«

»Diese haltlose Unterstellung nimmst du sofort zurück!«, fuhr Severine auf, und Renn Bondeau wendete prompt seinen Khurna in ihre Richtung.

»Bleibt gefälligst im Glied!«, polterte Rufus Marle von irgendwo weiter hinten.

Ramon salutierte ironisch und reihte sich wieder neben Kill ein.

Was hast du zu ihr gesagt, Schleimscheißer?, fragte Bondeau stumm.

Gar nichts.

Ist auch besser für dich.

Kill war es inzwischen gelungen, den Blick lange genug von den Dhassanerinnen loszureißen, um mitzubekommen, dass eine gewisse Anspannung in der Luft lag. »Was ist los?«, fragte er.

»Nur ein kleiner Plausch unter Freunden«, antwortete Ramon mit einem Zwinkern.

Kill lachte. »Ist dir aufgefallen, wie Seth Korion dir aus dem Weg geht? Du musst ihn ganz schön oft verprügelt haben damals an eurem Elite-Arkanum.«

»Eigentlich nicht. Seth läuft immer davon.«

»Aber er ist doch der Sohn des großen Generals, oder?«

»Starke Väter haben manchmal schwache Söhne.«

»Nennt man ihn deshalb den ›geringeren Sohn‹?«

»Exakt. Weißt du inzwischen, wie du deinen sauer verdienten Sold in Hebusal ausgeben wirst?«

Kill schaute kurz über die Schulter zu den Huren. »Im Großen und Ganzen, ja. Im Speziellen, nein. Und du?«

Ramon schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich werde im Lager bleiben. Meine Hand ist billiger, und außerdem riskiere ich nicht, mir was einzufangen.«

Kill rümpfte die Nase. »Wahrscheinlich hast du recht, aber es gibt Dinge, die muss man einmal im Leben gemacht haben.«

Ramon schnaubte verächtlich. »Nein. Man muss nicht alles einmal gemacht haben, vor allem bestimmte Dinge nicht. Aber wie mir scheint, wird dich keine Macht der Welt davon abbringen.«

»Für einen silacischen Taschendieb bist du erstaunlich klug …«, erwiderte Kill mit einem Grinsen.

Als es dunkel war, leerte sich das Lager schnell. Vor manchen der Vergnügungszelte sah Ramon bis zu zwanzig Mann warten, die drei andressanischen Magi waren auch darunter. Die ewigen Spieler Coulder und Fenn hatten unter den Argundiern ein paar Mitstreiter gefunden und waren mit ihnen nach Hebusal gegangen. Ramon hatte weder Lust auf Huren noch auf Würfeln und staunte, wie einfach gestrickt doch die meisten Männer waren – er selbst hatte Höheres im Sinn, wenn auch nicht sehr viel höher. Er legte Zivilkleidung an und machte sich auf den Weg zum Windhafen.

Ein Schiff, das vor einer Stunde gelandet war, löschte gerade unter dem wachsamen Blick eines kaiserlichen Inspektors seine Ladung. Ramon beobachtete die Szene und wartete. Als der Inspektor verschwunden war, schlenderte er auf den Kapitän zu, der gerade einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann nahm, während die Matrosen es sich an Deck bequem machten und sehnsüchtig hinüber zu den Bordellzelten schauten.

»Abend, Käpt’n«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ramon Sensini aus Retia.«

Der Kapitän setzte den Flachmann ab und schüttelte ihm widerwillig die Hand. »Faubert von der Fleur-Rouge. Was willst du, Silacier?«

»Ach, ich wollte nur fragen, ob Ihr irgendwas zu verkaufen habt.«

»Falsche Adresse, Kumpel.«

Ramon hob die Augenbrauen. »Tatsächlich? Nichts Besonderes an Bord?«, fragte er mit einem wissenden Lächeln.

Faubert runzelte die Stirn. »Nichts Besonderes, Kumpel. Ich bin ein ehrlicher Händler.«

»Dieses Schiff kommt aus, woher, Andressea?«, hakte Ramon nach. »Normalerweise gibt es unter dem Bugspriet ein kleines Staufach mit doppeltem Boden und in der Kapitänskajüte ein weiteres, ungefähr so groß wie eine Matratze.«

Fauberts Augen verengten sich. »Der Inspektor war gerade hier, Kumpel. Mein Schiff ist sauber.«

»Die Inspektoren haben keine Ahnung.«

Faubert griff in den Ausschnitt seines Hemds und zog ein glitzerndes Amulett hervor. »Willst du Ärger machen, Junge?«

Ramon blieb unbeeindruckt. Er zuckte lediglich die Achseln und zeigte dem Kapitän sein eigenes Amulett. »Nicht unbedingt, aber ich könnte, wenn ich wollte.«

Faubert blinzelte. »Nicht viele haben so etwas«, sagte er vorsichtig. »Was willst du?«

»Nichts Besonderes«, erwiderte Ramon freundlich. »Nur etwas, das mich davon abhält, mich mit dem Inspektor zu unterhalten, der eben hier war. Wir wollen doch nicht, dass er die gesamte Ladung konfisziert und Euch in Ketten legt. Mich werdet Ihr viel einfacher wieder los als ihn.« Er zeigte ihm seine Legionsplakette. »Pallacios dreizehn, zehntes Manipel. Ich möchte kaufen.«

Faubert musterte ihn misstrauisch. »Kann schon sein. Woher kennst dich so gut mit andressanischen Schiffen aus?«

»Mein Familioso hat gute Beziehungen zu Schmugglern in Andressea.«

»Verstehe. Was willst du kaufen?«

»Was habt Ihr?«

Der Kapitän schürzte die Lippen. »Brevischen Whisky, ist ein guter Tropfen.«

Der Whisky, den Giordano ihm geschenkt hatte, war längst ausgetrunken. Ramon lächelte. »Klingt gut. Ich würde sagen, ich nehme ein Fässchen. Und einen Teil von der Fracht, die Ihr wieder mit nach Yuros nehmt.«

Faubert winkte ab. »Wir fliegen leer zurück, Kumpel.«

»Sicher. Bei allem Respekt, Käpt’n, kein Händler fliegt leer zurück. Was habt Ihr? Mohn?«

Fauberts Kiefermuskeln zuckten. »Hör zu, Junge, ich mag dich, aber lass mich dir eins sagen: Wenn du mich bei den Inspektoren verpfeifst, breche ich dir beide Beine, und das so oft, dass selbst ein Heiler sie dir nur noch amputieren kann.«

Ramon kicherte leise. »Das könnte schwieriger werden, als Ihr es Euch vorstellt, Kapitän Faubert. Wenn Ihr mir allerdings ein paar Unzen von Eurem Mohn gebt und ein Fässchen Whisky, werdet Ihr mich nie wiedersehen.« Wieder streckte er die Hand aus. »Abgemacht?«

Faubert musterte ihn düster. Nach einigem Zögern spuckte er in die Handfläche, und sie besiegelten die Abmachung mit einem Händedruck.

Ramon kehrte ins Lager zurück und wartete beim Zelt auf Kill, der wenig später mit einem ehrfürchtigen Staunen auf dem Gesicht wiederkam. »Diese Frauen … unglaublich, mein Freund«, stammelte er. »Bewegen können die sich, ich meine, die Hüfte …«

Ramon sagte nichts und reichte ihm einen kleinen Becher mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit darin.

Kill schnupperte vorsichtig. »Ist es das, was ich denke?«

»Darauf kannst du wetten.« Ramon zeigte ihm das Fässchen. »Diesen Becher und dann noch einen, mehr nicht für heute«, ermahnte er ihn. »Könnte sein, dass das Zeug für den gesamten Kriegszug reichen muss.« Er klopfte Kill auf die Schulter. »Bin gleich wieder da.«

»Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?«

Ramon zwinkerte ihm zu. »Geheimnis. Aber du kannst dich schon mal auf ein bisschen Unterhaltung gefasst machen.«

»Ich bin ein Engel Kores!«, johlte Renn Bondeau, dass das gesamte Lager es hörte.

»Und ich bin Corineus, der Allmächtige!«, stimmte Seth Korion mit ein, bis auch noch der letzte Legionär wach war.

Ramon, der noch gar nicht geschlafen hatte, rüttelte Kill an der Schulter und zog ihn an den Rand des Lagers zum Schauplatz der Szene. Sie waren unter den Ersten, die unter einem der wenigen gemauerten Gebäude am Stadtrand von Hebusal zusammengelaufen kamen und staunend hinauf zum Dach schauten, auf dem ein schwankender Renn Bondeau neben seinem ebenso unsicher auf den Beinen wirkenden Freund Seth Korion stand. Von Bondeaus Mund und Fingern stiegen glitzernde goldene Fünkchen in den Himmel. Sie konnten sich kaum noch auf den Beinen halten, einzig und allein ihre Gnosis hielt sie dort oben. Beide waren splitternackt und hielten jeder eine Flasche Rotwein in der Hand. Zwischen ihnen eingezwängt stand ein zitterndes, nur mit einem Laken bekleidetes Keshi-Mädchen. Sie weinte. Von unten brüllte ein wütender Dhassaner, vermutlich ihr Mann, etwas zu den beiden Magi hinauf.

»Ich bin der Herrscher!«, erwiderte Renn lallend. »Über alles!«

»Und ich bin Kore höchstpersönlich«, fügte Seth hinzu.

Immer mehr Soldaten und Offiziere der Dreizehnten kamen herbeigelaufen. Ihr anfängliches Entsetzen schlug nach und nach in Gelächter um, vor allem als Bondeau sich vornüberbeugte und vom Dach kotzte, nur um sofort den nächsten Schluck zu nehmen.

»Renn? Seth?«, rief eine entsetzte Frauenstimme. Sie gehörte Severine, die inzwischen ebenfalls eingetroffen war. »Kommt da runter!«

Die umstehenden Fußsoldaten lachten schallend, verstummten aber sofort, als Severine ihnen einen drohenden Blick zuwarf.

»Sevi!«, johlte Renn und hielt sich an dem Mädchen fest, um nicht umzukippen. »Sevi, ich wollte, dass du es als Erste erfährst! Das hier ist …« Er schaute die junge Keshi verwirrt an. »Wer bist du noch mal?«

Das Mädchen stieß ein Wimmern aus und riss sich los. Sie wollte nur weg, aber sie war barfuß und unter dem Laken genauso nackt wie Bondeau und Korion. »Hilfe!«, schrie sie in gebrochenem Rondelmarisch.

Baltus Prenton eilte nach vorn und streckte die Arme aus. »Spring, Mädchen! Ich fang dich auf, hab keine Angst.«

»Pass gut auf sie auf, Prenton«, nuschelte Bondeau. »Das ist meine Frau!«

»Was?!«, kreischte Severine.

»Keine Sorge, Sevi«, lallte Bondeau. »Amteh-Mädchen können so oft heiraten, wie sie wollen …« Er taumelte auf das arme Ding zu. »Kore, bin ich verliebt!«

Mit einem spitzen Schrei sprang das Mädchen vom Dach, und Prenton fing sie unter dem Applaus der umstehenden Soldaten mit seiner Luftgnosis auf. Kaum hatte sie festen Boden unter den Füßen, rannte sie los, als wären ihr sämtliche Dämonen Hels auf den Fersen. Der wütende Dhassaner spurtete hinterher.

In diesem Moment betrat Rufus Marle den Schauplatz, und die Soldaten stoben auseinander. »Bondeau, Korion, ihr betrunkenen Schweinehunde!«, brüllte er. »Runter mit euch, sofort!«

Seth Korion erschrak so heftig, dass er ins Taumeln geriet. Bondeau hingegen funkelte Marle trotzig an. »He, so könnt Ihr nicht mit mir sprechen! Ich bin ein …«

Da bemerkte er die Weinflasche in seiner Hand.

»He, Secundus, wollt Ihr auch einen Schluck?« Er winkte mit der Flasche. »Ist verdammt gut, das Zeug.«

Zur Antwort rammte Marle ihm eine Gnosisfaust in den Bauch.

Bondeau klappte zusammen und stürzte vornüber vom Dach. Prenton konnte den Aufprall gerade noch abfedern und Bondeau vor einer ernsthaften Verletzung bewahren. Die Flasche hingegen zerschellte, Scherben und Wein spritzten in alle Richtungen. Als Marle ihm noch einen Schlag verpasste, knallte Bondeau rücklings gegen die Wand in seinem Rücken und blieb reglos liegen.

Seth Korion, der alles von oben beobachtet hatte, sackte bewusstlos in sich zusammen.

Prenton wusste, was von ihm erwartet wurde, und fing auch ihn seufzend auf. Er legte Korion sanft auf dem Boden ab und sank dann keuchend vor Erschöpfung neben ihm auf die Knie.

»Verschwindet gefälligst!«, knurrte Marle die restlichen Legionäre an. »Oder wollt ihr für den Rest des Kriegszugs Latrinen ausheben?«

Die Soldaten flohen wie vor einem Kavallerieangriff, während Ramon Kill zurück zwischen die Zelte zog.

Die wütende Severine baute sich vor Bondeau auf. »Renn, du Schwein, wo warst du?«

Marle beugte sich über den halb Bewusstlosen und schnupperte. »Opium«, schnaubte er. »Sie haben Mohnextrakt in ihren Wein getan, die Trottel.«

»So etwas würde er nie tun!«, rief Severine entsetzt.

»Hat er aber. Oder jemand hat ihm das Opium untergemischt«, brummte Marle und blickte sich mit funkelnden Augen um.

Ramon zog den Kopf ein. »Zeit zu gehen«, flüsterte er.

Kill schaute ihn verständnislos an. »Es wird doch gerade erst interessant!«

»Nein, die Vorstellung ist vorbei«, kicherte Ramon. »Nicht zu unterschätzen, dieser Mohnextrakt.«

Kills Augen weiteten sich. »Hast du …? Du warst das!«

Ramon zwinkerte. Klar. Ein kleines Dankeschön für alte Zeiten an meine lieben Freunde Bondeau und Korion, antwortete er stumm. »Gehen wir.«

Die folgenden Tage vergingen unendlich langsam. Duprey war zu einer Lagebesprechung mit den anderen Kommandanten in den Gouverneurspalast geritten. Marle drillte seine Schlachtmagi unerbittlich, ließ sie wieder und wieder aus vollem Galopp auf stehende Ziele schießen und sie in Übungskämpfen gegeneinander antreten. Irgendwann ging Baltus Prenton mit Severine und Ramon zum Legionsarsenal, um die angeforderten Skiffs abzuholen. Sie wiesen deutliche Gebrauchsspuren auf, doch Prenton schien zufrieden. »Schiffe, die bereits bewiesen haben, dass sie etwas taugen, sind mir lieber als von übereifrigen Magusschülern gezimmerte fliegende Kunstwerke, die nichts können, als hübsch auszusehen«, bemerkte er trocken. Danach schickte er Severine und Ramon jeden Tag auf Alleinflüge hinaus in die Wüste, und schon bald musste Ramon sich eingestehen, dass Severine weit besser mit dem Element Luft umgehen konnte als er. Trotzdem blieb sie für ihn ein eingebildetes Miststück.

Renn versuchte unterdessen verzweifelt, einen Schuldigen für den Vorfall mit dem gepanschten Wein zu finden, während die Legionäre hinter seinem Rücken immer noch herzhaft über die Episode lachten. Die Liaison zwischen ihm und Severine war inzwischen beendet, was Ramon diebisch freute, aber seine eigentliche – und weit schwierigere Aufgabe – wartete noch auf ihn.

Am vierten Tag schließlich nahm Ramon Kill mit in die Stadt, um den Händler ausfindig zu machen, bei dem Giordano seinen Mohn und andere Dinge kaufte. Der Mohn hat einen langen Weg hinter sich, wenn er Hebusal erreichte, denn er gedieh hauptsächlich in Lokistan, von wo er über Falukhabad und Bassaz ins Hebbtal geschmuggelt wurde. Giordanos andere Waren wie Pfeffer, Zimt, Ingwer und Gelbwurz waren wesentlich einfacher zu transportieren, aber Gewürze interessierten Pater-Retiari nicht. Dennoch hatte Ramon sich über die Preise informiert, denn auch wenn die Gewinnspanne geringer war, hatten Gewürze doch einen entscheidenden Vorteil: Sie waren legal.

Giordano hatte ihm einen Dom-al’Ahm genannt, unter dem sich ein verborgenes Tunnelsystem befand, dazu das Passwort, mit dem er sich Zutritt verschaffen konnte. Nachdem sie eingelassen worden waren, ließ man sie zunächst eine ganze Weile warten – vermutlich, um sie einzuschüchtern. Dann wurden sie endlich in eine dunkle Kammer geführt, in der eine Gruppe verhüllter Gestalten auf sie wartete.

»Im Moment liegt der Preis für ein Pfund Mohn bei einem rondelmarischen Gulden und zehn Schilling«, erklärte Ramon nach einer sehr knappen Begrüßung und musterte die sechs um einen Tisch versammelten Händler, während er so tat, als bemerke er die anderen nicht, die ihn aus den dunklen Ecken der Kammer beobachteten. Er konnte die Armbrüste regelrecht spüren, die auf seinen Rücken gerichtet waren.

»Ihr seid gut informiert, Magister«, erwiderte der Wortführer in fließendem Rondelmarisch.

»Und dennoch muss mein Freund Euch einen Gulden fünfzig bezahlen«, sprach Ramon weiter.

Sein Gegenüber zuckte die Achseln. »Er kauft nur wenig. Eine Lieferung in so kleine Portionen aufzuteilen ist aufwendig. Je größer die Abnahmemenge, desto niedriger der Preis.«

»Und er ist Rimonier«, fügte ein anderer mit starkem Akzent hinzu. »Wir trauen Euch nicht.«

»Ich bin Silacier, nicht Rimonier«, entgegnete Ramon und fragte sich, ob sie den Unterschied überhaupt kannten. »Betrügen die Rimonier Euch?«

»Die Rondelmarer sagen, man kann Rimoniern nicht trauen«, antwortete der Erste.

»Und ich würde dasselbe von ihnen behaupten«, entgegnete Ramon. Er neigte den Kopf. »Wenn Ihr mich fragt, verkauft Ihr zu billig an sie. Giordano könnte Euch viel größere Mengen abnehmen als die Rondelmarer, und er würde einen Gulden zwanzig dafür bezahlen.«

»Das kann Signor Giordano sich gar nicht leisten.«

»Jetzt schon.« Ramon klopfte sich auf die Brust. »Dank mir.«

»Wir kennen Euch nicht«, brummte einer aus der Runde abschätzig. »Können die Magi jetzt etwa Luft zu Gold machen?«

»In gewisser Weise. Ich habe eine Übereinkunft mit dem Tribun des zehnten Manipels meiner Legion. Während der nächsten drei Monate schleppt er den gesamten Sold seiner Soldaten mit sich herum, in Gold wohlgemerkt, und ich habe einen Schuldbrief über die gesamte Summe. Das entspricht fünfzehnhundert Gulden. Und das ist erst der Anfang: Wenn Ihr einverstanden seid, werde ich Eure gesamte Ernte kaufen.« Ramon musste ein Grinsen unterdrücken, als er ihre verdutzten Gesichter sah.

»Und wie will der Tribun dann seine Soldaten bezahlen?«, brummte der Wortführer.