Die Dunkeldorn-Chroniken - Knospen aus Finsternis - Katharina Seck - E-Book
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Die Dunkeldorn-Chroniken - Knospen aus Finsternis E-Book

Katharina Seck

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Beschreibung

Der größte Kampf ihres Lebens beginnt – und Opal muss gegen sich selbst antreten ... Das Finale der Dunkeldorn-Chroniken!

Opal wurde in die Zermahlerin verbannt, eine Fabrik, in der sie als Sklavin Dunkeldornpulver erschaffen muss. Doch dann wird sie von Anhängern des Dunklen Rats befreit und ins Schwarze Kolosseum gebracht. An diesem Schauplatz entbrennt der Kampf gegen die Dunkeldornmagier – und damit auch gegen den Dornenprinzen. Den Rebellen hat sich auch Opals Jugendfreund Julian angeschlossen, auf dessen Körper lebensbedrohliche Dunkeldornzeichnungen wuchern. Ihn und all die Feldarbeiter auf den Plantagen kann Opal nur retten, wenn sie ihre verloren geglaubte Gabe zurückgewinnt und sich gegen den Dornenprinzen wendet. Und damit beginnt für Opal der mutigste Kampf ihres Lebens … Das Finale der Dunkeldorn-Chroniken!

Die Dunkeldorn-Chroniken:
1. Blüten aus Nacht
2. Ranken aus Asche
3. Knospen aus Finsternis

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Seitenzahl: 446

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Buch

Opal wurde in die Zermahlerin verbannt, eine Fabrik, in der sie als Sklavin Dunkeldornpulver erschaffen muss. Doch dann wird sie von Anhängern des Dunklen Rats befreit und ins Schwarze Kolosseum gebracht. An diesem Schauplatz entbrennt der Kampf gegen die Dunkeldornmagier – und damit auch gegen den Dornenprinzen. Den Rebellen hat sich auch Opals Jugendfreund Julian angeschlossen, auf dessen Körper lebensbedrohliche Dunkeldornzeichnungen wuchern. Ihn und all die Feldarbeiter auf den Plantagen kann Opal nur retten, wenn sie ihre verloren geglaubte Gabe zurückgewinnt und sich gegen den Dornenprinzen wendet. Und damit beginnt für Opal der mutigste Kampf ihres Lebens … Das Finale der Dunkeldorn-Chroniken!

Autorin

Katharina Seck wurde 1987 in Hachenburg geboren und wuchs in dieser mittelalterlichen Kleinstadt im Westerwald auf. Dort arbeitete sie viele Jahre in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit und Personalwesen, ehe sie sich gänzlich dem Schreiben widmete. In ihrer Freizeit beschäftigt sie sich mit Menschen, Natur, Politik und Kultur sowie der Bewältigung des Stapels der ungelesenen Bücher. Besondere Inspiration findet sie am Meer, in den heimischen Wäldern und beim Genuss phantastischer Literatur.

Weitere Informationen unter: www.katharinaseck.de

Die Dunkeldorn-Chroniken von Seraph-Gewinnerin Katharina Seck:

1. Blüten aus Nacht

2. Ranken aus Asche

3. Knospen aus Finsternis

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KATHARINASECK

KNOSPENAUSFINSTERNIS

Roman

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Copyright der Originalausgabe © 2023 by Katharina Seck

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung: Anke Koopmann | Designomicon

Umschlagmotive: Shutterstock.com (Mia Stendal; IuChi; Studiotan)

BL · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-29343-7V001

www.blanvalet.de

Für dich.Ja, wirklich, für dich.

Karte

1 Die dunkle Seite Tensias

Im Vergleich zur Zermahlerin war die Arbeit auf den Plantagen Luxus gewesen. Im Vergleich zur Zermahlerin hatten die Menschen, die auf den Plantagen von frühmorgens bis spätabends säten und ernteten, einen Stand, der zumindest in den Augen der meisten ehrenhaft war.

In der Zermahlerin waren die Arbeitenden hingegen weniger wert als der Dreck unter ihren oftmals nackten Füßen. Sie waren austauschbar, leicht zu ersetzen, und wenn sie nicht mehr leistungsfähig genug oder zu krank waren, landeten sie – so munkelte man – im Schutz der Dunkelheit in den unruhigen Gewässern Sharzas, des Schlaflosen.

Das war jetzt meine Welt.

Und das einzig Gute daran war, dass ich keine Zeit hatte, an die Welt zu denken, die ich verlassen hatte, die draußen hinter dem dicken schwarzen Backstein, hinter den Sicherheitsvorkehrungen, hinter den bewaffneten Männern mit ihren Peitschen, Stöcken und Gewehren lag.

Es war noch stockfinster an diesem Morgen. Stille hatte sich über uns gebreitet, während ich mit fast einem halben Dutzend Frauen dicht an dicht auf dem Boden der kühlen Kammer lag. Es war keine angenehme Stille, keine jener Art, die andächtig und vorfreudig angesichts des kommenden Tages war, sondern eine schwere und bedrückende. Dieser Tag würde wie der gestrige werden und wie der davor und der davor.

Jeder einzelne Tag war die Hölle und ein Kampf, den man ausfocht, um bis zum Abend, manchmal sogar bis in die Nacht zu überleben und nicht zu schwach und damit als Arbeitskraft unattraktiv zu werden.

Ich lag zusammengerollt da und hatte die schmutzige dünne Decke, die halb zerrissen und von irgendeiner Vorgängerin geerbt war, nachts unter unruhigen Albträumen weggestrampelt. Ja, sie waren wieder da, die Albträume, und nun noch schlimmer als zuvor. Und zugleich waren sie die einzige Zeit, in der ich mir gestattete, an Julian und meine verstorbene Familie zu denken, denn wenn ich es im wachen Zustand tun würde, würde der letzte Rest von mir einfach zerbrechen und mich als Scherbenhaufen zurücklassen.

Wir lagen wie Fische in einem Netz aneinandergepresst. Die viel zu schmalen, dreckigen Matratzen waren nicht dick genug, uns die Härte des Bodens nicht spüren zu lassen. Die Wände waren aus tristem grauem Stein, doch das Schlimmste war, dass wir keine Fenster hatten. Es gab kein Tageslicht, kein Morgengrauen, keine Abenddämmerung, nichts, das uns von den immer gleichen Tagesabläufen und der Fabrikhalle abgelenkt hätte; das uns hier und da etwas Tröstendes wie den Anblick von Sternen oder einem Vogelschwarm geboten hätte.

Stattdessen kauerten wir hier wie Tiere, und die Luft war immer stickig und verbraucht. Wir hatten kaum Gelegenheit, uns zu waschen, weshalb der Gestank von Schweiß, Blut und Dunkeldornpulver an uns klebte und den Raum erfüllte.

Ich lag bereits wach und starrte in die Dunkelheit, als das mittlerweile vertraute Glockenklingeln ertönte, das uns weit vor Sonnenaufgang aus dem Bett scheuchen sollte. Der Schichtführer machte sich gar nicht erst die Mühe, uns persönlich zu wecken. Er wusste genau, dass wir pünktlich sein würden. Wer einmal zu spät gewesen war und die entsprechende Strafe verpasst bekommen hatte, riskierte das, was ihm dann blühte, kein zweites Mal.

Mit der Glocke sprang auch ein grelles Licht an. In weiser Voraussicht hatte ich den Blick von den magischen Lampenröhren abgewandt, die es überall in der Zermahlerin gab, um nicht geblendet zu werden.

»Verdammt, ich habe die halbe Nacht kein Auge zugetan«, murmelte Bee, ein junges Mädchen mit fuchsrotem Haar und krummem Rücken, das von einer südlich in Tensia gelegenen Plantage direkt in die Fabrik gekarrt worden war, nachdem es sich das Bein gebrochen hatte und kein Wasser mehr schleppen konnte. Seitdem war ihr Gang unsicher, und eigentlich hätte sie eine Gehstütze gebraucht, aber so etwas bekam man hier nicht. In der Fabrik gab es genug Tätigkeiten, für die man keine gesunden Beine brauchte. Man brauchte dafür nur die Hände und ein geschultes Auge – und beides machte man sich über die Jahre kaputt.

»Ach, erzähl mir nichts, du hast geschnarcht wie ein Ochse. Ich habe die halbe Nacht kein Auge zugetan«, grunzte Tama. Die hochgewachsene, dürre Frau aus meinem Nachbardorf Oranien war so etwas wie die Anführerin der wenigen anwesenden Frauen, die sich überhaupt länger als einige Monate, selten auch mehr, in der Fabrik durchschlugen. Denn die meisten hielten das hohe Arbeitspensum nicht aus und starben entweder durch körperliche Überanstrengung oder wegen der Bestrafungen, die uns erwarteten, wenn wir nicht mit den Männern mithalten konnten. Sie war schon so lange hier, dass sie sich bei allen Arbeitenden dafür gehörigen Respekt eingeheimst hatte.

Bee rollte mit den Augen. Ich verlor das Interesse an dem Schlagabtausch der beiden Frauen, als mein Blick auf das Bündel ineinander verschlungener Arme und Beine fiel, das in der Ecke des Raumes wie ein angeschossenes Reh lag.

Meine Gefühle waren nach dem, was ich im Dornenpalast und seitdem in der Zermahlerin erlebt hatte, abgestumpft. Nein, sie waren nahezu tot. Ich schleppte mich von Tag zu Tag, ohne eine Emotion zuzulassen. Nur durchhalten, war meine Devise. Irgendwie durchhalten. Wofür überhaupt, hatte ich vergessen.

Doch bei dem Anblick, der sich mir bot, krampfte sich mein apathisches Herz zusammen. Obwohl die Zeit drängte und ich kaum Gelegenheit haben würde, mich zu erleichtern und die Hände einmal in den Wassereimer zu tauchen, um wenigstens mein Gesicht zu benetzen, eilte ich neben die zusammengekauerte Gestalt und ging in die Hocke.

Vorsichtig berührte ich sie an der Schulter und drehte das junge Mädchen, von dem wir nicht einmal den Namen wussten, weil es nicht sprach, zu mir um. Ihre Augen waren halb offen, wirkten allerdings abwesend. Ich legte meinen Handrücken gegen ihre Stirn. Ihre Haut glühte.

»Sie hat Fieber«, verkündete ich besorgt.

Schweigen begegnete mir. Tama und Bee hatten ihren morgendlichen Streit beigelegt. Auch Mika, die Letzte im Bunde, war inzwischen wach und auf den Beinen. Alle drei beäugten das Mädchen unschlüssig, der innere Konflikt war ihren Mienen deutlich zu entnehmen.

Ich wusste, was ihre Blicke mir sagen wollten. Aber ich konnte es nicht akzeptieren. Sobald ich so weit war, die unausgesprochenen Worte zu akzeptieren, war ich verloren. Dann war das letzte Überbleibsel Menschlichkeit in mir wahrhaft gestorben.

»Wir können sie doch nicht hierlassen«, flüsterte ich erstickt und sprach damit aus, was in den Mienen der anderen geschrieben stand.

»Wir können sie auch nicht mitnehmen. Sie überlebt keine halbe Stunde in der Fabrikhalle. Sie verträgt die Dämpfe nicht«, sagte Tama ruhig.

»Niemand verträgt diese beschissenen Dämpfe«, murmelte Bee.

»Wir können sie doch nicht hierlassen«, wiederholte ich beharrlich. Ich ließ das Mädchen los, das sich sofort wieder zusammenrollte und vor sich hin flüsterte. Namen, Orte, Erinnerungen … Ich hatte in den vergangenen Wochen so oft erlebt, wie Menschen sich in ihrer Verzweiflung in Bereiche ihres Verstandes zurückzogen, in die ihnen niemand folgen konnte, nicht einmal das Grauen, das ihnen hier widerfuhr.

Mika schien sichtlich beunruhigt, weil wir Zeit vertrödelten, trotzdem kam sie kurz zu mir und warf einen Blick auf das fiebernde Mädchen. Dann zuckte sie mit den Schultern.

»Ohne medizinische Behandlung ist da wahrscheinlich eh nichts mehr zu machen. Ich habe vor dem Schlafengehen gestern Abend gesehen, dass sie einige Wunden hat. Vermutlich haben sie sich entzündet, und nun hat sie eine Blutvergiftung. Wenn die sich nicht sofort ein Heilkundiger ansieht, hat sie keine Chance.«

Ich starrte Mika hoffnungslos an. Sie war von einem Sklavenhändler über eine verbotene Route durch das Ödgebirge nach Tensia geschleppt und für eine lachhafte Summe als Sklavin an die Zermahlerin verkauft worden. Offiziell galt Sklaverei in Tensia als barbarisch und stand unter Strafe. Aber ich hatte mittlerweile begriffen, dass, nur weil etwas verboten war, dies noch lange nicht bedeutete, dass es nicht auch praktiziert wurde. Wer Geld hatte, konnte sich alles erlauben. Und wer keines hatte, konnte sich kaum wehren.

»Bist du dir sicher?«, fragte ich.

Sie nickte. Der harte Zug um ihre schmalen Lippen verstärkte die Endgültigkeit ihrer Worte, deren Einschätzung ich nicht anzweifelte. In ihrer Heimat war Mika selbst bekannt dafür gewesen, sich als Heilkundige zu verdingen. Vielleicht hätte sie dem Mädchen sogar helfen können, wenn sie die notwendigen Mittel dafür zur Verfügung gehabt hätte.

Der zweite Glockenschlag ertönte, und alle zuckten zusammen. Ich hasste mich dafür, dass ich selbst beinahe panisch auf die Beine sprang. Es wurde höchste Zeit. Ich warf dem jungen Mädchen einen letzten Blick zu. Tama hatte recht, sie würde in der Fabrikhalle nicht überleben. Entweder würde das Dunkeldornpulver sie töten oder die Bestrafung durch den Schichtführer, weil sie offenkundig nicht arbeiten konnte. Die höchste Wahrscheinlichkeit, zu überleben bestand darin, dass sie still und leise in diesem Zimmer liegen blieb und mit viel Glück niemand ihr Fehlen bemerkte.

Wenn die Sepsis sie bis zu unserer Rückkehr nicht dahingerafft hatte.

Ich huschte hinter Mika zur Tür hinaus, und wir drängten uns im Gang zwischen die anderen Nachzügler. Diese Zeit am Tag hasste ich am meisten; weil wir so wenige Frauen waren, mussten wir uns den heruntergekommenen Waschbereich mit den Männern teilen. Ich hatte ziemlich schnell jede Scham verloren, mich vor ihnen zu entblößen, denn der Luxus von Wasser, das an seltenen Tagen sogar mal sauber war, auf der Haut war kostbarer, als ein paar aufdringlichen Blicken zu entgehen. Und solange Tama und Mika bei uns waren, waren wir zumindest nicht allein und wehrlos. Tama flößte anderen aufgrund ihres Alters und ihrer burschikosen Art Respekt ein, während die meisten um Mika wegen ihrer Herkunft einen Bogen machten. Ihre kurz geschorenen Haare, die markanten Gesichtszüge, ihr drahtiger Körperbau und ihre zugleich unglaublich sanften braunen Augen wirkten auf mich beruhigend an diesem Ort der Grausamkeiten. Ich war froh, dass ich an ihrer Seite arbeiten durfte und mich so nicht vollkommen allein gegen die Aufseher stellen musste, die es seit meiner Ankunft vor etlichen Wochen auf mich abgesehen hatten.

Oh, sieh an, die feine Dame ist angekommen. Hat der Königsgleiche dich gut in seiner Kutsche zu uns befördert? Hast du vorher auch noch mal ordentlich gespeist? Denn hier wirst du solche Mahlzeiten leider nicht aufgetischt bekommen. Hier wirst du dir die weichen Hände schmutzig machen müssen, verstehst du das, hm? Dein Gesicht ist ja recht ansehnlich, aber du schaust auch etwas dümmlich drein, kann das sein? Kein Wunder, dass der Königsgleiche nicht lange Spaß mit dir hatte, was? Spaß werden wir bald mit dir haben, du wirst schon sehen.

Eine Faust donnerte mit solcher Wucht gegen meinen Kiefer, dass er fast brach. Da war mein Körper gerade erst geheilt worden, nur um erneuten Qualen ausgesetzt zu werden.

Julian, hilf mir …

Der Waschbereich war früher einmal eine Therme gewesen. Zwei große, meist leere Becken, in denen sich lediglich dreckige Pfützen des spritzenden Wassers gebildet hatten, zierten die Mitte des Raumes. In den hinteren Ecken gab es zwei Toiletten, vielmehr zwei Löcher im Boden. Außerdem waren einige Wassereimer im Raum verteilt, um die sich die Leute schweigend versammelten. Wir mussten uns um unsere spärliche Versorgung selbst kümmern, und weil es Wasserleitungen nur für das höherrangige Personal gab, musste eine Handvoll armer Gestalten noch vor dem Glockenschlag Wasser aus einem Brunnen draußen schöpfen und hereinschleppen.

Unsere Arbeitskleidung – grobe, löchrige Hemden und Hosen, deren ursprüngliche Farben man nicht mehr erkennen konnte, so oft waren sie bereits im dreckigen Wasser geschrubbt worden – hing an langen Stangen an der Wand. Es gab nur wenige Größen, sodass sie den meisten von uns um die abgemagerten Knochen schlotterte.

Als ich in eine Montur schlüpfte, krempelte ich den überlangen Stoff an Armen und Beinen nach oben. Meine Gedanken schweiften immer wieder zu dem armen Mädchen, das wir in unserem Loch zurückgelassen hatten. Wann würde den Wärtern auffallen, dass sie fehlte? Und welche Strafe würden sie sich für sie einfallen lassen?

Ein Schauder jagte mir über den Rücken. Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, vor allem nicht über die Schuldgefühle, die ich empfand. Was konnte ich allein schon ausrichten? Ich konnte sie ebenso wenig retten wie Keya, meine einzige Freundin an der Universität, die einem Komplott zum Opfer gefallen und vermutlich hier in der Fabrik gestorben war, oder wie Nina, meine Zofe im Dornenpalast, oder eben wie meine Familie, wie die Menschen in Thiwa. Ich konnte niemanden retten, auch wenn ich das früher geglaubt hatte.

»Lass das.« Mika stieß mich hart gegen die Seite.

Ich blitzte sie wütend an. Ich hatte keine Fettreserven mehr, weil Hunger und Durst hier eine beliebte Strafe für zu langsames Arbeiten waren, weshalb ihr Stoß wirklich wehgetan hatte.

»Was lassen?«, knurrte ich wütend und blickte mich nach Schuhen um. Es gab nicht viele Schuhe hier, sondern nur diejenigen, die Neulinge mitbrachten. Regelmäßig kam es zu Schlägereien um solche winzigen Annehmlichkeiten, aber da wir so spät im Waschraum angekommen waren, waren die wenigen, die manchmal hier vergessen wurden, bereits weg.

»Ich sehe, dass du dir wieder die Schuld für alles und jeden gibst«, murmelte Mika leise, weil sich eine Gruppe Arbeiter an uns vorbeischob. Die Männer sahen kaum besser aus als wir. Abgemagert bis auf die Knochen, geschwächt, mit toten Augen. Mika rückte näher zu mir. Mittlerweile hatte ich keine Angst mehr vor Nachstellungen, dafür war fast jede Seele in diesem Mauerwerk zu erschöpft und darauf konzentriert, diesen und vielleicht auch den nächsten Tag irgendwie zu überleben.

»Tue ich nicht«, log ich.

Mika grinste. Ihr Lächeln entblößte eine Lücke in ihrer oberen Zahnreihe. Da hatte ihr ein Wärter erst vor Kurzem einen Zahn ausgeschlagen, weil ihr ein Glasrohr heruntergefallen war und sie sich geweigert hatte, für eine Entschuldigung wortwörtlich zu Staube zu kriechen.

»Man sollte meinen, nach drei Monaten in der Zermahlerin könntest du besser lügen.«

»Kann ich auch«, erwiderte ich unbeeindruckt. »Du kennst ja mein früheres Ich nicht.«

»Du meinst das frühere Ich, das mit Samtschuhen durch den Dornenpalast gelaufen ist?«, neckte Mika mich. Ich lächelte schwach, meine Magengegend zog sich zusammen.

Mikas Grinsen verschwand. »Entschuldige, das war gemein. Ich will ja nicht genauso werden wie diese Scheißkerle von Wärtern, aber manchmal wird man zynisch.«

Ich winkte ab, und zusammen folgten wir Tama und Bee durch die Flure in die riesige Fabrikhalle, in der wir uns bis heute Abend oder gar tief in die Nacht – je nach Lieferbedarf – die Beine in den Bauch stehen würden.

Unsere Schritte waren gedämpft. Je näher wir dem Hallenbereich kamen, in dem wir vier Frauen arbeiteten, desto unsichtbarer wurde jede von uns. Bloß nicht auffallen, bloß keinem ins Auge stechen, bloß niemandem die Gelegenheit geben, verärgert zu sein.

Unsichtbar sein. Einfach unsichtbar sein.

Und dann hatten wir unseren Arbeitsplatz erreicht. Als ich die gewaltige Halle früher mit Keya betreten hatte, hatte ich sie aus einem anderen Blickwinkel heraus gesehen. Damals war ich eine freie Frau gewesen. Ja, ich hatte keinen hohen Stand und kein eigenes Geld besessen, aber ich war nie eine Sklavin gewesen. Ich hatte das Grauen, die Höllenarbeit, die Risiken, denen wir hier ausgesetzt waren, unter der Voraussetzung betrachtet, sie wenige Augenblicke später wieder hinter mir lassen zu können.

Was für ein Privileg das gewesen war, konnte ich erst heute verstehen. Dass selbst das winzigste Stück Freiheit ein Geschenk war, hatte ich damals noch nicht begriffen. Heute konnte ich es. Und die Ohnmacht, dieses Privileg niemals wieder erlangen zu können, zerstörte mich langsam von innen heraus wie ein schleichendes Gift.

Oder wie Dunkeldornpulver.

Zwei Männer öffneten die Eingangstür, die hinter uns direkt wieder verschlossen wurde. Sie kannten unsere Gesichter und notierten unser Kommen auf einem Zettel.

Einen Namen würden sie nicht notieren. Sie würden noch einige Minuten warten, und dann … Dann würden sie die Schlafräume nach den Personen durchsuchen, die nicht aufgetaucht waren. Die krank oder tot auf ihren Decken lagen.

Ich presste die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte ich geschrien, doch in dieser Halle herrschte, wie auch auf den Gängen, Sprechverbot für uns. Wir durften nur sprechen, wenn unser Schichtführer oder ein Wärter uns direkt ansprach.

Ich atmete dichte, von Dunkeldornpulver zersetzte Luft ein, als wir uns durch die Reihen auf unsere Plätze zubewegten. Es gab unzählige Tischplatten, an denen vier Personen gleichzeitig im Stehen arbeiten konnten. Über unseren Köpfen verlief ein Schachtsystem, das zu einer benachbarten Halle führte, in welcher der Nektar des Dunkeldorns von den Plantagen angeliefert und sortiert wurde. Mancher überlebte die Fahrt von den Plantagen zur Hauptstadt in der sengenden Sommerhitze nicht und musste – vermutlich im Sharza, der nah an der Fabrik vorbeiführte – entsorgt werden. Die verwertbaren Reste wurden über dieses Schachtsystem in unsere Halle geleitet und von Leuten eimerweise zu unseren Tischen gebracht.

Neidisch starrte ich einen Jungen mit schwarzen Locken und blasser Haut mit Sommersprossen an, der mit einem solchen Eimer auf uns zusteuerte. Ich hätte viel darum gegeben, meine Tätigkeit mit ihm tauschen zu können, damit ich nicht in direkten Kontakt mit den Dunkeldornen kommen musste.

Der Junge wuchtete den Eimer in die Mitte unseres Tischs. Mika und ich warfen einander einen wortlosen, tröstenden Blick zu, ehe wir die ersten Röhrchen aus dem Eimer zogen und unsere Arbeitsmaterialien aus dem Schrank hinter uns fischten, die die Nachtschicht in pingeliger Kleinarbeit hatte reinigen müssen. So schmutzig es in unseren Räumen war, so sauber war es in der Halle, denn das Dunkeldornpulver durfte nicht durch Dreck, Staub oder Fremdkörper verunreinigt werden. Und so viele Mittel, wie man auf das Pulver verbrauchte, so wenige blieben dann für uns und unsere Versorgung übrig.

Ich zog einen Mörser und den dazugehörigen Stößel zu mir heran. Gern hätte ich einen Augenblick innegehalten, ein paar Atemzüge geholt, bei denen ich durch meine Arbeit noch keine schwarzstaubige Luft aufwirbelte, die ich unweigerlich einatmen musste. Die dann in meiner Luftröhre und in meiner Lunge brannte, bis ich – wie alle anderen – husten und krächzen musste. Allerdings bitte nicht zu viel, denn die Wärter standen mit ihren Masken in sicherer Entfernung und beobachteten uns mit Argusaugen. Unsere gesundheitlichen Beeinträchtigungen durften nicht unsere Schnelligkeit beeinflussen.

Vor allem mich beobachteten sie dabei mit Argusaugen.

Arbeite ruhig und konzentriert. Wenn du ordentlich arbeitest, finden sie auch nichts an dir auszusetzen. Das waren Tamas Worte an meinem ersten Arbeitstag gewesen.

Ich sprach mir selbst Mut zu, aber ich wusste genau, dass hier niemand einen Grund brauchte, um uns Arbeitende zu bestrafen. Sie konnten sogar einen augenscheinlichen Grund erfinden oder uns ins Gesicht lügen. Sie waren trotzdem dazu befugt, uns zu schlagen, zu treten, zu verbrennen, zu würgen oder was immer ihnen beliebte, um uns anzutreiben.

Ich reihte einige Röhrchen vor mir auf, die ich nach und nach abarbeiten würde. Der Tisch hatte an jedem Platz flache Kuhlen in der Platte, damit die Röhrchen nicht so leicht über die Oberfläche rollen und zu Boden fallen konnten. Trotzdem musste man aufpassen, dass man nicht dagegenstieß oder am Tisch rüttelte.

Vorsichtig öffnete ich den Drehverschluss des Röhrchens und zog den Deckel ab. Neben mir stand – wie bei allen anderen auch – ein hölzerner Kasten, in dem wir die leeren Röhrchen ablegten, wenn wir den Nektar herausgeholt hatten. Diese wurden, meistens einige Tage zuvor, abgeholt und in der Halle nebenan, in welcher sich der Reinigungsbereich befand, akribisch gesäubert und in den Röhrchen in einem offenen Ofen mit leichter Wärme vorgetrocknet.

Aus dem Nektar Dunkeldornpulver zu formen war Knochenarbeit. Der schwarze Nektar war in seiner Urform eher von klebriger Substanz. Durch den Trockenprozess konnte er besser verarbeitet werden; es erforderte allerdings Fingerspitzengefühl, ihn in seiner immer noch schwierigen Konsistenz mit einem dünnen Stäbchen aus dem gläsernen Röhrchen zu kratzen, ohne dass zu viele Reste darin stecken blieben. Je mehr wir übrig ließen, desto stärker liefen wir Gefahr, den Unmut der Wärter am eigenen Leib zu spüren zu bekommen. Auf der anderen Seite durften wir uns nicht zu viel Zeit lassen. Zeit, die man allerdings brauchte, um wirklich sorgfältig arbeiten zu können. Manchmal hatte man nur die Wahl, für Langsamkeit oder für Achtlosigkeit bestraft zu werden.

Eine Wahl zwischen Pest und Cholera also.

Mit dem schmalen Stäbchen kratzte ich den Nektar aus dem Röhrchen und legte selbiges in die leere Kiste. Mir gegenüber bewegte ein Mann, der fast schon das Greisenalter erreicht hatte und neu hier sein musste, tonlos die Lippen. Seine Finger zitterten bei der Aufgabe, die einiges an Präzision verlangte. Die Augen hielt er zusammengekniffen, während sein Stäbchen über das Glas schabte.

Schnell senkte ich den Blick wieder. Der alte Mann hatte weder die Fingerfertigkeit noch eine gute Sicht. Seine Tage hier waren gezählt. Und allein dass ich schon so rational dachte, dass ich gar nicht mehr die Menschen als sie selbst sah, sondern nur noch ihre Überlebenschancen, ließ Übelkeit in mir aufsteigen.

Nicht dran denken. Ich musste mich auf meine Arbeit konzentrieren und alles andere ausblenden. Rasch hatte ich den Inhalt von drei Röhrchen in meinen Mörser entleert und drehte mich abermals zu dem Regal in meinem Rücken um. Um den Nektar zu einer Ampullenportion zu strecken, wurden die getrockneten Blätter der Dunkeldornen benutzt. Davon wurde eine ordentliche Menge zu Pulver zermahlen und anschließend eine Messerspitze Nektar sorgfältig untergehoben. Ich nahm ein volles Glas und schraubte den Deckel auf. Dann ließ ich eine großzügige Portion in meinen Mörser wandern. Mittlerweile war mein Augenmaß gut genug, und ich konnte das korrekte Verhältnis der beiden Zutaten einschätzen. Das war wichtig, denn wenn man sich dabei vertat, waren sowohl der Nektar als auch die getrockneten Blätter wertlos und landeten im Müll – oder im Sharza.

Und beides nahmen die Wärter nicht gut auf.

Ich umklammerte den Stößel. Jetzt begann der unangenehmste Teil der Arbeit. Mit dem Stößel musste der Nektar so lange in die zerbröselten Blätter eingestampft werden, bis man ein gut vermischtes Pulver erlangt hatte. Durch die permanente Bewegung des Zerstampfens stob feiner Staub auf, der sich nicht nur in den eigenen Atemwegen festsetzte, sondern sich im Laufe des Tages auch in der riesigen Halle verteilte und die Arbeit zunehmend erschwerte. Nicht selten brachen ab der Mittagsstunde die ersten Männer und Frauen zusammen. Und die körperliche Belastung wuchs mit jedem Tag, den man in dieser Halle ausharren musste.

Der Inhalt meines Mörsers nahm allmählich Formen an, mit denen ich zufrieden war. Auch Mika lag gut in der Zeit und machte einen den Umständen entsprechend entspannten Eindruck. Sie steckte den Staub offenbar besser weg als ich. Mein Hals kratzte und brannte, und ich musste immer wieder ein Husten unterdrücken, um die Wärter nicht unnötig auf mich aufmerksam zu machen.

Manchmal wünschte ich, von meinem alten Leben wäre mehr übrig als nur Erinnerungen, die wie schlecht heilende Wunden nässten und immer wieder aufbrachen. Ich wünschte, meine Gabe wäre an diesem Ort noch da. Doch seit der Königsgleiche sie genommen hatte, war mir auch meine Immunität gegen den Dunkeldorn fast vollständig abhandengekommen. Ab und an hatte ich das Gefühl, dass irgendwo in mir noch ein winziges Flämmchen glomm, das der Königsgleiche nicht hatte löschen und zertreten können, dass ich zumindest nicht so sehr litt wie die meisten anderen in der Zermahlerin, aber dann verbrannte ich mir doch wieder die Finger oder die Lunge, und die Hoffnung, dass die Gabe sich an die Oberfläche zurückkämpfen würde, zerfiel zu Asche.

Mein Blick wanderte wieder zu dem alten Mann gegenüber, der sich noch immer mit seinem ersten Röhrchen abmühte. Besorgt warf ich einen Blick auf die riesige Uhr, die für uns alle unübersehbar und gnadenlos die verstreichende Zeit und somit auch unseren Fortschritt dokumentierte. Drei Röhrchen ergaben eine Ampulle Dunkeldornpulver. Wir alle mussten am Tag ein Dutzend Ampullen herstellen.

Die Zeit tickte, und sie tat es für den alten Mann gerade in diesem Augenblick besonders erbarmungslos.

Ich blickte mich verstohlen um. Die diensthabenden Wärter schlichen durch die Reihen und schauten den Arbeitenden hier und da geradezu argwöhnisch über die Schultern. Seit der Königsgleiche vor einigen Wochen die Vorherrschaft über die Zermahlerin – und über ganz Tensia – übernommen und sie dem Dunklen Rat in einer deutlichen Machtdemonstration abgeluchst hatte, hatten sich die Zustände verschlimmert. Seine Männer waren noch brutaler und gewaltbereiter als diejenigen, die für den Dunklen Rat tätig gewesen waren.

Als ich mich unbeobachtet wähnte, tat ich etwas, wovon ich selbst nicht mehr geglaubt hätte, den Mut dafür aufzubringen: Ich lehnte mich in einer blitzschnellen Bewegung nach vorne, schob dem alten Mann meinen Mörser zu und schnappte mir seinen und das letzte Röhrchen, mit dem er noch immer kämpfte.

Mit großen Augen starrte er mich an. Seine Hände zitterten, als er die fertige Portion in seinem Mörser sah, die er nun einfach nur noch in eine Ampulle umfüllen musste.

»Danke«, formte er mit den Lippen, und ich lächelte. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte sich die Dunkelheit in mir ein wenig lichter an. Das Einzige, was mich neben meinen Freundinnen hier am Leben hielt, war der Funke Aufbegehren, der immer noch vorhanden war, wenn ich sah, wie andere schlecht behandelt wurden. Zumindest diese Gabe hatte der Königsgleiche nicht ausmerzen können.

Als mein Blick über Mikas Gesicht wanderte, sah ich den alarmierten Ausdruck darin. Ich fragte mich, was der Grund dafür sein mochte, als von hinten ein Schatten über mich fiel.

Ein Wärter hatte sich genähert, und anhand des schweren, fast trägen Schritts wusste ich genau, welcher es war.

Es war Karl, der Grobschnäuzige, wie wir ihn hinter verschlossenen Türen nannten, weil er ein großer, bulliger Klotz mit Schnauzbart war. Und er war zugleich der Wärter, der es am meisten auf mich abgesehen hatte und seine Grausamkeiten am liebsten an mir ausließ – bevorzugt dann, wenn er möglichst viele Zuschauer hatte.

»Wenn ich mich nicht täusche, hast du gerade die Schüsseln getauscht«, sagte er. Ich hasste den zufriedenen Unterton in seiner Stimme.

»Und wenn dem so wäre?« Es verlangte mir alles ab, nicht zu herausfordernd zu fragen.

Karl baute sich breitbeinig neben mir auf. Mika, der alte Mann und der Vierte an unserem Tisch, ebenfalls ein neues männliches Gesicht, hielten in ihrer Tätigkeit inne. Auf Mikas Gesicht spiegelte sich Schrecken. Halt den Mund, Opal, schien ihr verzweifelter Blick zu sagen. Halt einfach den Mund.

»Dann würde das gegen die Regeln verstoßen.«

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum und biss so fest zu, bis ich einen metallischen Geschmack bemerkte. Blut.

Halt einfach den Mund, Opal.

Karl trat von einem Bein aufs andere, offenbar noch unschlüssig, ob er Bedarf zum Eingreifen sah. Ich hielt den Blick auf meinen Tisch gesenkt, wo sich mein Arbeitspensum nun wieder auf Anfang gesetzt hatte.

Karl trat dichter an mich heran. Trotz der Schutzmaske, die er über Mund und Nase trug, roch ich seinen schlechten Atem und die stechenden Körperausdünstungen, die sich unter seiner Uniform in der Hitze hier in der schlecht belüfteten Halle gebildet hatten.

»Regelbrüche sind ja meistens Ermessenssache, weißt du?«, fragte er genüsslich.

Ich musste ihn ignorieren.

Doch dann hob ich den Kopf und drehte ihn zur Seite. Er war mir so nahe auf die Pelle gerückt, dass Brechreiz in mir aufstieg.

»Ich dachte, es reicht, dass die Arbeit am Ende des Tages gemacht ist«, sagte ich bissig.

Rings um mich herum wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Einige hielten sogar den Atem an, als könnte es das, was nun folgen würde, aufhalten.

Ich fing Mikas Blick auf und saugte das Mitgefühl darin auf, ehe mich der Kinnhaken traf und ich fast zu Boden ging.

»Da hat wohl jemand immer noch nicht gelernt, dass er hier nicht mehr die feine Dame des Hauses ist«, knurrte Karl.

Die Wucht des Schlags hätte mich beinahe von den Füßen gerissen. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, allerdings hatte ich mich rechtzeitig an der Tischkante festgekrallt und konnte mich so auf den Beinen halten. Mein Gesicht glühte dort, wo mich die Faust getroffen hatte, und der Schmerz zog sich quer über meinen Kiefer, der vor einigen Wochen schon gelitten hatte.

Hat er mir Zähne ausgeschlagen? Nein, noch alles da. Das Blut ist nur, weil ich mir auf die Zunge gebissen habe.

Karl kam noch dichter heran, zog die Maske für einen kurzen Moment herunter, und ich wappnete mich für den nächsten Schlag, denn wenn er einmal in Rage geriet, musste man aufpassen, dass er einen nicht zu Tode prügelte. Auch das hatte ich schon mit eigenen Augen gesehen.

Aber heute hatte Karl keine Lust, sich zu verausgaben. Heute grinste er mich mit seinen schiefen Zähnen unter dem Schnauzer an, und ich wusste, dass dieses Grinsen nur die Ankündigung von weiterem Unheil war.

»Da du ja so großzügig bist, habe ich eine wunderbare Idee«, sagte er langsam. Speicheltröpfchen fielen beim Reden auf den Boden.

Ich erwiderte nichts. Das wollte er, genau das: dass ich es noch einmal zu weit trieb, damit er eine Ausrede für seine Gewalt hatte. Ein blau geschlagenes Kinn reichte ihm nicht.

»Bis heute Abend wirst du nicht nur dein Pensum ableisten, sondern seins gleich mit«, sagte er und deutete auf den alten Mann, dem das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben stand.

Ich nickte wortlos, und fröhlich pfeifend rückte Karl ab. Auf dem Weg in den Hauptgang ging er an dem alten Mann vorbei und schubste ihn so hart mit dem Ellenbogen in den Rücken, dass er gegen die Tischkante fiel und einen Schmerzenslaut ausstieß.

»Nicht dass du denkst, du könntest dich dann heute ausruhen und faul die Beine hochlegen, alter Mann«, knurrte er. »Dein Arbeitspensum musst du trotzdem schaffen. Und das, was die feine Dame dir abgenommen hat, zählt nicht.«

Hass stieg in mir auf. Nur Mikas warnender Blick und ihr kaum merkliches Kopfschütteln hielten mich davon ab, mich ins endgültige Verderben zu stürzen und mit wütendem Fauchen zu Karls Verfolgung anzusetzen.

Die Uhr tickte. Und nun tickte sie noch erbarmungsloser als an den Tagen zuvor.

Sie tickte.

Und tickte.

Und während sie das tat, brach der alte Mann an unserem Tisch zusammen. Er krümmte sich auf dem Boden und rieb sich immer wieder über das Gesicht, griff sich dann an den Hals.

Er bekam kaum Luft. Er war alt und gebrechlich, und diese Halle war einfach nicht der richtige Ort für alte und gebrechliche Menschen.

Die Wärter interessierte das nicht. Sie liefen an ihm vorbei, als wäre er ein Insekt, das gerade vor ihren Augen verendete. Sie würden ihn da liegen lassen, bis Abend war, und ihn wegtragen, wenn er tot oder zu krank war, sich zu regen.

Ich hielt den Blick auf meine Arbeit gerichtet, damit niemand die Tränen sah, die in meinen Augen schimmerten. Mein Einsatz hatte nichts gebracht, hatte niemanden gerettet, hatte dem Mann nicht mal Linderung verschafft, und am Ende hatte ich nur noch mehr Arbeit, die ich kaum bewältigen konnte.

Julian. Ich glaube, ich kann nicht mehr.

Ich war die Letzte, die die Halle verließ, aber ich hatte es geschafft, das doppelte Pensum vor Mitternacht abzuleisten, wenn die Halle zur Reinigung aufbereitet wurde. Ich wusste nicht, wie, denn irgendwann hatte ich die Zeit vergessen und einfach Röhrchen für Röhrchen zerstampft und zermahlen. Ich war so müde wie in all der Zeit hier noch nicht, nicht einmal an meinen ersten Tagen, als ich noch frisch traumatisiert von den Erlebnissen im Dornenpalast gewesen war.

Während ich den Weg in den Waschraum anvisierte, betrachtete ich meine Hände. Sie waren feuerrot, und an manchen Stellen bildeten sich bereits Blasen. Ich war sicher, dass am nächsten Tag einige beim Arbeiten aufplatzen würden, und dann würde jeder Handgriff unerträglich sein, wenn sich das feine Dunkeldornpulver bis ins Fleisch durchfressen konnte.

Julian, wie soll ich nur noch einen weiteren Tag hier durchhalten?

Mika wartete im Waschraum auf mich. Sie wartete nicht nur, sie hatte sich sogar die Mühe gemacht, draußen einen Eimer mit frischem Wasser zu holen, damit ich mich nicht in der übrig gebliebenen Plörre der anderen waschen musste. Außerdem hatte sie vom Abendessen eine Schüssel Haferbrei mitgehen lassen, über die ich mich hungrig hermachte. Diese Geste hätte mir fast die Tränen in die Augen getrieben. Aber zu Emotionen wie Freude und Rührung war ich kaum fähig. Manchmal schwelte noch unbändiger Zorn in mir.

Und meistens war da nichts mehr. Gar nichts mehr.

Nur noch Leere. Als hätte der Königsgleiche nicht nur meine Gabe aus mir herausgeholt, sondern alles, was mich ausgemacht hatte.

»Du hast es geschafft«, sagte Mika zur Begrüßung. Ihr Blick fiel auf meine Hände, und die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. »Auch wenn der Preis hoch war, wenn ich das richtig sehe.«

Ich nickte schwach. Meine Füße schmerzten, wo ich auf dem Rückweg über verstaubten Boden gelaufen war.

»Komm, lass uns den Mist abwaschen, bevor er dich ganz verätzt.«

Ihr kurzes Haar glänzte feucht, da sie sich zuvor selbst mit dem kalten Wasser aus dem Brunnen gewaschen hatte.

»Ich mache das schon«, wehrte ich ab. »Geh schlafen. Du vergeudest deine kurze Erholungsphase hier mit mir. Du brauchst doch selbst genauso Ruhe.«

Mika schüttelte den Kopf und krempelte sich die Ärmel ihres Hemds hoch. Dunkle Linien eines Tattoos rankten sich über ihre Haut. Sie hatten die Form einer grünen Pflanze mit hellblauen Blüten, die mich entfernt an Hibiskus erinnerten.

»Komm, setz dich«, murmelte Mika und deutete auf einen umgedrehten Eimer, den sie zu einer Sitzgelegenheit umfunktioniert hatte.

Ohne zu widersprechen, ließ ich mich darauf nieder. Wenn Mika sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, würde ich sie nicht davon abbringen können.

Als sie kühles Wasser über meine Füße und dann über meine geschundenen Hände kippte, biss ich die Zähne zusammen. Im ersten Augenblick tat das Reinigen weh und brannte wie Feuer, aber ich wusste, dass es sein musste und langfristig half. Nachdem meine Hände sauber waren, zog ich die Arbeitskleidung aus und tunkte sie in das restliche Wasser. Wir waren für die Reinigung unserer Kleidung selbst verantwortlich, wenngleich wir nur Wasser und keine Seife oder Bürsten zur Verfügung gestellt bekamen.

»Da hast du dich ja heute ganz schön in die Scheiße geritten«, sagte Mika und reichte mir ein halbwegs sauberes Hemd, das mir bis zu den Knien reichte und das ich zum Schlafen tragen konnte.

Ich zuckte die Schultern. »Mag sein.«

»Wenn du so weitermachst, bringst du dich noch um. Ist es das wert?«

»Karl oder einer der anderen Säcke bringen mich um«, korrigierte ich sie und wandte mich zum Gehen. Ich war müde. Ich wollte schlafen. Ich wollte nicht mehr nachdenken.

Ich wollte nicht mehr hoffen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet. Ist es das wert?«

Ich ignorierte sie. Es war zu spät für Gespräche wie diese. Und sie würde nicht verstehen, wenn ich ihr sagte, dass es das wert war.

Aber Mika hielt mich fest, eine zu schnelle, zu unvorsichtige Bewegung, auf die ich nicht vorbereitet war. Sie griff genau auf die verbrannten Blasen an meiner Handinnenfläche. Ich keuchte auf und riss meine Hand los.

»Entschuldige«, sagte sie rasch. »Ich wollte dir nicht wehtun. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Du bewegst dich auf Messers Schneide, Opal.«

Ich hielt die brennende Hand gegen meinen Körper und schloss die Augen. »Ich weiß.«

Kleidung raschelte, dann war Mika neben mir. Sie mochte Körperlichkeit und Nähe genauso wenig wie ich, denn sie war an diesem Ort fast immer nur mit Schmerzen und Folter verbunden. Doch ich ließ zu, dass sie nach meinen Schultern griff.

»Opal, das ist mein Ernst. Du wirst hier bald tot rausgekarrt und in den Sharza geschmissen, wenn du so weitermachst. Ist das dein eigentliches Ziel?«

Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Hatte sie recht? War das mein eigentliches Ziel? Hatte ich so sehr aufgegeben, dass ich mich absichtlich in Gefahr begab, dass ich die Wärter provozierte, um mich in bedrohliche Situationen zu bringen?

»Verdammt«, flüsterte ich.

Julian, wo bist du? Ich kann nicht mehr, Julian. Ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht, wie ich noch einen weiteren Tag hier aushalten soll, ohne dabei innerlich zu sterben.

»Gib noch nicht auf, Opal.« Mikas Stimme war ganz ruhig und klar.

Ich öffnete die Augen wieder und musterte ihre schmale, noch erstaunlich kräftige Gestalt. »Woher holst du die Hoffnung überhaupt? Und den Willen durchzuhalten?«

Mika lächelte. »Ich habe keinen Willen. Ich bin eine Sklavin aus einem fernen Land. Niemand wird kommen und mich retten, Opal, das weiß ich. Die wenigsten Menschen schaffen es durch das Ödgebirge. Aber bei dir ist es anders. Du hast da draußen noch Leute, die an dich glauben und die dich nicht vergessen haben.«

»Selbst wenn es so wäre«, widersprach ich, um die Hoffnung gar nicht erst aufkeimen zu lassen. »Selbst wenn es so wäre, käme niemand von ihnen hier rein. Das Gebäude ist eine Festung. Und wir sind darin gefangen. Es gibt ebenso wenig einen Weg herein, wie es einen Weg hinaus gibt.«

Ich glaubte, für einen Augenblick Niedergeschlagenheit und zugleich einen Funken Rebellion in Mikas Blick aufleuchten zu sehen. Vielleicht irrte ich mich hier im Halbdunkeln und mit meinem erschöpften Geist auch.

»Lass uns schlafen gehen«, sagte sie.

Als wir in die Kammer traten, war der Platz, an dem heute Morgen das junge, fiebernde Mädchen geruht hatte, leer. Nur die zerwühlte Decke erinnerte daran, dass dort jemand gelegen hatte. Wir löschten die Kerze, welche die anderen uns angelassen hatten, und legten uns schweigend schlafen.

In der Nacht träumte ich davon, wie Karl mich feixend in das dunkle Wasser des Schlaflosen warf und ich darin ertrank, während sein Lachen mich bis auf den Grund verfolgte. Auf dem Grund des schwarzen Flusses warteten die Leichen meiner Familie auf mich.

In der Zermahlerin kämpfte ich nicht nur am Tag, sondern auch Nacht für Nacht meinen eigenen unsichtbaren Kampf darum, nicht aufzugeben.

Aber wie viele Tage und wie viele Nächte würde ich noch durchhalten?

2 Ein Funke Aufbegehren

Die ersten Tage in der Zermahlerin waren rückblickend nur noch ein Nebel aus Erinnerungsfetzen. Ich konnte mir kaum noch ins Gedächtnis rufen, wie und mit wem ich diese Tage verbracht hatte. Ich wusste nur, dass sie mit besonders vielen Schlägen verbunden gewesen waren.

Und dass mein einziger Lichtstreif am Horizont sich sehr schnell in Luft aufgelöst hatte: Ich hatte mit viel Hoffnung und Verzweiflung zugleich nach Keya Ausschau gehalten. Der Gedanke daran, dieses Schicksal wenigstens mit einer vertrauten Person teilen zu können, war das Einzige, woran ich mich anfangs geklammert hatte.

Aber egal wen ich fragte, überall erntete ich nur nachdenkliche Mienen und Schulterzucken. Keya? Nie gehört? Wann soll sie hierhergekommen sein? Hm, nein, sagt mir nichts. Wahrscheinlich ist sie schon tot.

Eine Weile hatte ich an dem Gedanken festgehalten, sie könnte einen anderen Namen angenommen haben und irgendwann zwischen den zahlreichen Gesichtern auftauchen. Doch auch die Hoffnung starb mit jedem Tag ein wenig mehr. Der junge Mann namens Erik, den Keya und ich gesehen hatten, als wir etwas für die Professorin hatten abgeben sollen, schien auch nicht mehr in der Fabrik zu arbeiten. Jedenfalls hatte ich ihn nicht wiedergesehen. Vermutlich war er tot.

Überhaupt herrschte eine hohe Fluktuation. Ständig gab es neue Gesichter, bevor man sich an die alten gewöhnt hatte. Und ich hatte rasch begriffen, dass es, obwohl wir doch alle Menschen ohne Rechte und Stand waren, trotzdem eine Art Hierarchie gab. Ganz oben standen ehemalige Plantagenmitarbeiter oder Eingebürgerte von Tensia. Dann kamen Gefangene, politisch Verfolgte und Außenseiter wie ich, die vom Königsgleichen persönlich öffentlich geächtet worden waren und deren Aufenthalt in der Zermahlerin eine Strafe war.

Und ganz unten, quasi als Fußabtreter der Zermahlerin, standen die Versklavten, die aus Nachbarländern oder von noch weiter her nach Florentia gekarrt wurden oder bisweilen draußen auf den Plantagen helfen mussten.

Mika hatte Glück gehabt: Trotz ihres Standes als Sklavin durfte sie an der Herstellung des Dunkeldornpulvers mitarbeiten. Aufgrund ihrer Fähigkeit als Heilkundige und der damit einhergehenden Fingerfertigkeiten hatte sie einen besseren Arbeitsplatz bekommen als andere. Die meisten Versklavten wurden in der Halle nebenan eingesetzt, wo sie die Lieferungen von den Plantagen entgegennahmen und gute von schlechter Ware trennen mussten, oder sie waren gezwungen, tagaus, tagein die riesigen Hallenböden und die Utensilien zu reinigen – meist ohne Handschuhe oder andere schützenden Hilfsmittel.

Die Temperatur am heutigen Tag war erdrückend. Es war fast unmöglich, angesichts der trockenen Hitze und des permanent aufgewirbelten Dunkeldornstaubs auch nur einen Atemzug zu tun, ohne husten oder würgen zu müssen. Die Sonne knallte von draußen auf das dunkle Mauerwerk, bis ich das Gefühl hatte, in einem Ofen zu sitzen. Die Stunden zogen sich quälend langsam in die Länge, der Sekundenzeiger der Uhr weit über uns tickte schleichend voran.

Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug die Glocke zur einzigen kurzen Pause, die wir am Tag haben durften. Erleichtert ließ ich das Rohr fallen, und sogar Mika, die sich nie ihre Gefühle anmerken ließ, wischte sich befreit den Schweiß von der Stirn.

Ich verließ meinen Platz und lief zwischen den anderen Tischen hindurch, um denselben Weg einzuschlagen, den bereits andere ansteuerten: Neben dem Eingang gab es in der Mittagspause die Möglichkeit, einen Schluck zu trinken und sich ein Stück hartes Brot zu nehmen. Im Vergleich zu dem grauen, undefinierbaren Haferbrei, den wir abends in der Küche bekamen, war das beinahe Luxus. Und die erste Mahlzeit eines schon lange andauernden Tages.

Heute war der Tisch, auf dem unsere Pausenmahlzeit üblicherweise aufgereiht war, allerdings leer. Ich war nicht die Einzige, die darüber verwundert war: Unsicheres Getuschel schlug mir entgegen, denn mindestens zwei Dutzend Menschen waren vor mir dort angekommen.

Zwei bullige Wärter, die aussahen, als warteten sie nur darauf, dass wir Streit anfingen, flankierten den Tisch. Auch Karl, der zu meinem Unbehagen immer dort zu finden war, wo ich mich gerade aufhielt, schlenderte scheinbar lässig herbei und gesellte sich zu den beiden.

Mika und Tama traten zu mir.

»Was ist hier los?«, wollte Tama wissen.

»Es gibt nichts zu essen«, murmelte ich.»Wieso nicht?«, fragte die ältere Frau. Schweiß klebte an ihrer Haut und färbte ihr Hemd an einigen Stellen dunkel.

»Keine Ahnung.«

Einer der beiden hünenhaften Wärter fuchtelte nun mit seinem langen Stock herum. »Geht wieder auf eure Plätze«, brüllte er. »Hier gibt es nichts zu sehen.«

Die Leute traten unruhig von einem Fuß auf den anderen, konnten sich allerdings noch nicht dazu aufraffen, dem Befehl tatsächlich Folge zu leisten. Ihnen knurrten die Mägen, und die Hitze hatte sie viel Flüssigkeit ausschwitzen lassen. Wir alle hatten furchtbaren Durst.

»Ich wiederhole es nur einmal«, knurrte der Wärter. »Geht wieder auf eure Plätze.«

Nein. Nein, so dürfen sie uns nicht behandeln.

Mika schien vorauszuahnen, was in meinem Kopf vor sich ging. Für einen Augenblick schwebte ihre Hand noch in der Luft, als wollte sie mich packen und festhalten und mich von der nächsten unglücklichen Tat abhalten, die ich im Begriff war zu begehen.

Aber ich war bereits einige Schritte nach vorne getreten und hatte mich zwischen die erschöpften Leiber gedrängt, bis ich vor den Wärtern stand.

»Warum gibt es heute nichts für uns?«, fragte ich laut. »Wie sollen wir ohne Wasser und wenigstens eine Kleinigkeit zu essen weiterarbeiten?«

Karl grinste breit. Auch er schwitzte in seiner Uniform, und sein Schnauzer und sein spärliches Haupthaar trieften vor Fett.

»Mit Disziplin und gutem Willen?«, schlug er genüsslich vor.

Ich schnaubte. Ja, ich schnaubte vor versammelter Belegschaft. Jeder konnte die Verachtung hören, die ich den drei Wärtern entgegenbrachte. »Wieso versucht ihr es nicht mal, hm? Tagelange körperliche Arbeit, ohne Wasser und Nahrung? Wenn das doch so einfach ist, wie du behauptest, sollte das für drei so starke, ehrenhafte Männer wie euch kein Problem sein.«

Ich spürte, wie die Menschen um mich herum scharf einatmeten.

Wenn du so weitermachst, bringst du dich noch um. Ist es das wert?

Mikas Worte hallten in meinem Kopf wider. Sie hatte recht, früher oder später würden sie mich zu Tode prügeln oder einfach eines Nachts lebendig in den Sharza werfen.

Aber mittlerweile hatte ich die Antwort auf ihre Frage gefunden: Ja, es war das wert. Der Königsgleiche hatte mir Stolz und Würde ausgetrieben und meine Freiheit genommen. Wenigstens die ersten beiden konnte ich mir wiedererlangen. Freiheit und ein langes Leben waren sowieso nicht mehr in Greifweite. Ich wollte wenigstens … aufbegehren. Mich nicht noch einmal brechen lassen, immer wieder und wieder, bis nichts mehr von mir übrig war. Ich wollte diesen Männern keine Macht mehr über mich geben, zumindest nicht über meinen Geist.

»Was hast du da gesagt?«, wisperte Karl erbost. Sein Gesicht war rot angelaufen, während seine Augen fast aus den Höhlen quollen.

»Du hast mich genau verstanden«, erwiderte ich. »Ich habe sehr deutlich gesprochen. So deutlich, dass es sogar Leute wie du verstehen müssten.«

Angespannte Stille legte sich über die Fabrik. Auch die Arbeitenden, die noch an ihren Plätzen waren und sich bislang nicht zur Wasserausgabe aufgemacht hatten, hielten in ihren Bewegungen inne. Auf ihren oft so leeren Mienen spiegelte sich Angst, aber auch noch etwas anderes; etwas, das mir die Kraft gab, nicht einzuknicken, nicht demütig den Kopf zu senken und mich zu entschuldigen.

Es war Respekt. Respekt und Anerkennung.

Ein Wärter wollte mit erhobenem Stock auf mich zustürmen, doch Karl hob den Arm und warnte ihn zurückzubleiben.

»Das übernehme ich selbst.«

Ich blieb steif und so erhaben stehen, wie es mir möglich war, als er auf mich zukam, die rechte Hand bereits zur Faust geballt. Statt zurückzuweichen, starrte ich ihm mit einem höhnischen Grinsen entgegen.

»Na warte«, knurrte er zornig. »Das Grinsen wird dir gleich vergehen.«

»Oh, da bin ich mir sicher. Hast du dich allerdings mal gefragt, wie lange sich eure Fabrik eigentlich ohne Arbeitende am Laufen erhalten lässt?«

Er kniff die schmalen, wässrigen Augen zusammen. »Was redest du für einen Scheiß? Was heißt ohne Arbeitende? Wir haben genug von euch.«

Ich warf einen Blick über die Schulter, ließ ihn über die Menschen in meinem Rücken schweifen; begegnete manchem Blick mit Ernst und Eindringlichkeit, hier und da von einem kleinen Lächeln begleitet.

»Ich weiß, dass du und deinesgleichen glaubt, ihr könntet uns zur Arbeit treten, schlagen und peitschen«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß, dass ihr glaubt, uns mit Hunger, Durst und Schlafentzug gefügig machen zu können. Aber ihr begeht einen Fehler in eurer Rechnung. Wenn ihr den Menschen alles nehmt und ihnen nichts, rein gar nichts mehr übrig lasst, an dem sie sich erfreuen können, haben sie irgendwann keinen Grund mehr, sich eure Quälereien gefallen zu lassen. Es wird der Tag kommen, an dem sie aufbegehren werden, Karl. Und wenn ich dann noch am Leben bin, werde ich ihn feiern, wie ich noch nie etwas in meinem Leben gefeiert habe.«

Karl brüllte auf wie ein verwundetes Tier und warf sich auf mich. Ich war schnell genug, ihm auszuweichen, wusste gleichzeitig allerdings genau, dass ich in einem direkten Zweikampf gegen ihn nicht lange würde bestehen können. Ich war genauso ausgelaugt wie die anderen.

»Was ist hier los?« Eine scharfe Stimme ließ Karl, der sich gerade aufgerappelt hatte und sich auf mich werfen wollte, verharren.

»Nichts, Herr Schwarzbrandt. Es ist alles in bester Ordnung«, sagte er mit unterwürfiger Stimme, sodass ich fast laut aufgelacht hätte. Den Starken konnte er also tatsächlich nur gegenüber denen markieren, die ihm unterlegen waren.

»Ich habe nicht gefragt, ob etwas los ist, sondern was, Karl.«

Herr Schwarzbrandt, das Oberhaupt der Zermahlerin, hatte sich aus seinem abgeriegelten Glaskasten mit Schreibtisch und Stuhl herausbewegt, in dem er sich aufhielt, wenn er denn überhaupt vor Ort war. Ich beneidete ihn oft um die dünne, schützende Schicht, die den Blütenstaub fernhielt. Die anwesende Menge teilte sich, als er sich zu uns bewegte, als hätten die Menschen Angst, ihm unter die Augen zu treten.

»Es gibt Probleme mit unserer Versorgung«, antwortete ich an Karls Stelle, obgleich ich wusste, dass ich mich sehr weit aus dem Fenster lehnte, indem ich das Wort ergriff.

Die Augen hinter Herrn Schwarzbrandts Brille verengten sich, weil ich so kühn das Wort an mich riss. Aber ihm – und zu meiner positiven Überraschung auch mir selbst – wurde offenbar die Menschentraube bewusst, die sich immer dichter um mich herum drängte und mehr und mehr zu einem Schutzschild aus warmen Leibern wurde.

»Inwiefern Probleme bei der Versorgung?«

Ich wies mit dem Zeigefinger auf den leeren Tisch. »Ist nicht zu übersehen, oder?«

Herr Schwarzbrandt winkte Karl mit einer unwirschen Geste zu sich. »Warum ist das übliche Essen nicht da?«

Karls Gesicht wurde tomatenrot. »Es gibt, äh, Lieferschwierigkeiten mit Trinkwasser.«

»Lieferschwierigkeiten?«

»Na ja, die Dürre seit der Plantagenernte hat sich landesweit verschlimmert, das wirkt sich auch auf uns aus. Und der Königsgleiche …« Der Wärter brach ab.

»Und der Königsgleiche – was?«, hakte Herr Schwarzbrandt nach.

»Der hat angeordnet, dass es wichtiger ist, zuerst den Palast und die städtische Bevölkerung mit Wasser zu versorgen. Außerdem erhalten seine Günstlinge, die ländlich wohnen, auch Lieferungen aus den städtischen Brunnen, die auf der anderen Seite Florentias liegen und nicht in der Nähe des Sharzas angesiedelt sind.«

Mir blieb die Spucke weg. Ich hielt ohnehin schon nichts mehr vom Königsgleichen und hasste ihn aus tiefstem Herzen, aber dass die Allerärmsten von uns wegen seiner Anweisungen noch mehr verzichten und leiden mussten, machte mich rasend vor Wut. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie viel er mir vorgespielt hatte und wie gleichgültig ihm die einfache Bevölkerung tatsächlich war.

»Nun, wenn es eine Order vom Königsgleichen ist, müssen wir uns dem natürlich fügen.« Karl wollte zufrieden grinsen, doch Herr Schwarzbrandt war noch nicht fertig. »Dann teile die Rationen von euren ab«, orderte Herr Schwarzbrandt knapp.

Karl fielen fast die Augen aus dem Kopf. »Mit Verlaub … was?!«

Sein Vorgesetzter hob eine Augenbraue, und obwohl ich den Mann seit meiner ersten Begegnung nicht ausstehen konnte, genoss ich jeden Augenblick, in dem er Karl vor der versammelten Belegschaft vorführte.

»Du hast mich schon richtig verstanden«, erwiderte Herr Schwarzbrandt. »Die Leute brauchen Essen und Trinken. Auf ein paar können wir ja vielleicht verzichten, aber sicher nicht auf alle. Es sei denn, du willst vielleicht einen Platz am Tisch einnehmen und Dunkeldornpulver mahlen, Karl? Wenn das dein Wunsch sein sollte, gebe ich dem selbstverständlich statt.«

»Natürlich nicht«, stotterte Karl. »Wir werden … sofort zusehen, was sich in den Speisekammern finden lässt.«

»Gut«, nickte Herr Schwarzbrandt. Er wollte sich gerade zum Gehen wenden, als ihm noch etwas einfiel und er Karl zurückpfiff. Er sprach nun so leise mit dem Wärter, dass nur ich und die Menschen in der vordersten Reihe ihn verstehen konnten. »Wenn ich wieder hinten in meinem Büro sitze, wirst du keine Spielchen mit den Leuten hier spielen. Keine Bestrafungen, wenn sie nicht erforderlich sind, keine unnötige Gewalt. Wir sind mit der Produktion in Verzug und müssen einen Zahn zulegen. Sieh zu, dass hier jeder eine Stärkung bekommt und dann der Betrieb wieder aufgenommen wird.«

Karl nickte fahrig, als Herr Schwarzbrandt auf dem Absatz kehrtmachte und sich in sein Büro zurückzog.

Und er hielt sich an die Anweisungen, die Herr Schwarzbrandt ihm erteilt hatte: Die Wärter besorgten uns Wasser und einige verschrumpelte Äpfel, die immer noch besser als nichts waren, und gönnten uns eine kurze Verschnaufpause, ehe wir zurück an die Arbeit getrieben wurden.

Aber wir alle konnten sehen, wie es in Karl schwelte und wie sein Blick jeder meiner Bewegungen folgte.

Etwas Bedrohliches hatte sich wie ein Schleier über ihn und mich gelegt, und ich wusste, dass ich aufpassen musste. Er würde die öffentliche Rüge, die er sich meinetwegen eingeheimst hatte, nicht so stehen lassen.

Ich wusste, dass er sich bei der nächsten Gelegenheit rächen würde. Und ich wusste, dass die Rache furchtbar sein würde.

Doch für diesen einen Augenblick war mir das egal. Ich spürte in den Blicken der Umstehenden stille Anerkennung, und es war das einzig Gute, wovon ich in der kommenden Zeit würde zehren können.

3 Königsgleicher Besuch

Einige Tage später herrschte morgens eine unruhige Stimmung in der Halle. Mika und ich tauschten einen irritierten Blick, als die Wärter uns nicht wie sonst unmittelbar zu unseren Arbeitsplätzen durchwinkten, sondern zu Herrn Schwarzbrandts Glaskasten am Ende der Halle führten. Dort war eine Art Bühne aufgebaut worden, die direkt neben dem Notausgang stand, der für mögliche Unfälle vorhanden war – wenn auch sicher nicht für uns, sondern für das höhere Personal der Fabrik, also für Herrn Schwarzbrandt und seine Wärter.

»Wisst ihr, was hier vor sich geht?«, fragte ich, als ich zwischen Tama, Bee und Mika eingepfercht stand. Ich konnte mich kaum regen, weil vor der provisorischen Bühne nicht genug Platz für die Arbeitenden war.

»Wie ich hörte, hat sich hochwohlgeborener Besuch angekündigt«, murmelte Bee. Mein Herz schien vor Schock einen Schlag lang auszusetzen.

Bitte nicht.

»Hochwohlgeborener Besuch?«, fragte ich. »Der Dornenkönig?«