Die dunklen Sommer - Miranda Beverly-Whittemore - E-Book

Die dunklen Sommer E-Book

Miranda Beverly-Whittemore

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Beschreibung

Ein packender Psychothriller der Bestsellerautorin

Die Teenagerin Saskia ist einsam und fragil. Doch als sie im »Zuhause« eintrifft, einer Kommune an einem See in Maine, schenkt ihr die Atmosphäre dort, der Duft des selbstgebackenen Sauerteigbrotes, die nächtlichen Rufe der Wasservögel und die Freude beim Sammeln wilder Pilze auf dem feuchten Waldboden das Gefühl, angekommen zu sein. Und endlich findet sie in den vier anderen Jugendlichen, die mit ihren Familien in »Zuhause« leben, Freunde und fühlt sich zugehörig. Doch vor allem zieht Abraham sie in seinen Bann, der charismatische Anführer der Kommune, der für sie bald ihr Fixstern wird.

Zwei Jahrzehnte später lebt sie zurückgezogen in ihrem großen Haus in Connecticut. Doch das ruhige Leben, das sie sich sorgsam aufgebaut hat, wird jäh erschüttert von einer Serie von Drohbriefen: Sie und ihre Jugendfreunde sollen nach Maine zurückkehren – andernfalls würde ihr gemeinsames Geheimnis, die Schuld, mit der sie sich damals in einem verzweifelten Akt, ihr »Zuhause« zu retten, beladen hatten, ans Licht gebracht …

Wie weit sind wir bereit zu gehen, um unsere Geheimnisse zu bewahren und uns selbst zu schützen? Miranda Beverly-Whittemores packender Roman erzählt von einer alten Schuld und einer kompromisslosen Gemeinschaft, die fünf junge Menschen zu einer unumkehrbaren Tat treibt.

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Seitenzahl: 531

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Miranda Beverly-Whittemore

Die dunklen Sommer

Roman

Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien erstmals 2021 unter dem Titel Fierce Little Thing bei Flatiron Books, New York

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4947.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Miranda Beverly-Whittemore, 2021Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Leonardo Patrizi/Getty Images, München

eISBN 978-3-458-77494-5

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Caitlin, Christian, Emily, Ingrid, Jenny, Jonah, Rea, Rollin und Sasha – dank euch konnte ich mir die Kinder vorstellen.

Für Quentin und Kitsune – dank euch konnte ich mir die Mütter vorstellen.

Die dunklen Sommer

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

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Danksagungen

Quellen

Informationen zum Buch

Zuerst:

»Ich hab's dir doch schon hundert Mal versprochen«, sagte ich und blickte hinunter auf die große grüne Welt. »Sobald wir auf der Autobahn sind, erzähle ich dir die längste, gruseligste Geschichte aller Zeiten.«

»Mit einem verrückten Hund, der einem Kind das Gesicht abbeißt, okay, Saski? Ein ganz schlimmes Kind. Das so böse ist wie ein böser Mann.« Der Wind blies uns in die Haare, bot aber keine Abkühlung. Die Sonne brannte.

»Alles klar, kleiner Bruder. Ein verrückter Hund und ein böses Kind.«

»Schwör's.« Du hast deinen winzigen kleinen Finger hochgereckt. Du bist auf dem Geländer ins Schwanken geraten und hast schnell wieder zugepackt, um dich festzuhalten. Unter deinen Füßen waren vier Stockwerke Luft.

»Hey, du darfst da nicht sitzen.«

»Daddy hat's mir erlaubt.«

»Soweit ich weiß, ist das hier Großmutters Haus.«

Du hast mir die Zunge rausgestreckt. Und bist sitzen geblieben. Unter uns stürmte Daddy aus dem Haus. Er warf unsere Rucksäcke in den Kofferraum und hielt in der langen Zufahrt Ausschau nach Großmutters Mercedes.

»Was guckst du so?«, hast du gesagt.

Daddy drehte den Kopf herum und ließ den Blick über die Rasenflächen gleiten. »Psst.« Ich habe dich vom Geländer gepflückt und auf der sicheren Seite der Dachterrasse auf den Boden gesetzt.

»Auuuu.«

Ich hielt den Finger an die Lippen. Du hast keinen Mucks mehr von dir gegeben. Du warst erst vier, wusstest aber schon zu viel. Ich kroch auf den Knien zurück zum Geländer, drückte das Gesicht gegen die weiße Balustrade und sah, dass Daddy die Suche aufgab. Als er wieder im Haus war, donnerte uns Mutters Stimme aus dem Treppenhaus entgegen: »– kannst du es wagen, so mit mir zu reden?«

Ich schlich zur Terrassentür und schloss sie lautlos, wie von Feenhand. Als ich mich wieder umdrehte, hatte ich deinen kleinen Finger direkt vor der Nase. »Ohne Kleiner-Finger-Schwur giltet es nicht.«

»Gilt es wohl.«

»Aber vielleicht lügst du mich nur an.«

»Ich lüge gar nicht.«

»Wenn wir auf die Autobahn kommen, sagst du vielleicht: nö, keine Lust. Vielleicht überlegst du's dir ja anders.«

»Ich sage nicht keine Lust. Ich hab dir doch gesagt, ich erzähle dir deine Geschichte. Das hab ich eine Million Mal gesagt.« Aber du hattest mich durchschaut, und ich hoffte tatsächlich, dass du vielleicht schon eingeschlafen wärst, wenn wir auf die Autobahn fuhren. Ich würde ganz still dasitzen, Mutter würde sich zu uns umdrehen und mit zärtlichem Blick und weicher Stimme sagen: »Guck doch mal, William, sind sie nicht süß?«, und Daddy würde in den Rückspiegel schauen und ihr die Hand aufs Knie legen. Und der Streit wäre vergessen, auf jeden Fall bis zur Stadt.

»Saski? Bitte?« Du warst ganz verrückt nach Geschichten, besonders deinen eigenen Geschichten, die ich dir dann wiedererzählen sollte. Du hast so lange rumgejammert, bis ich einwilligte. Ich gab nach und verhakelte meinen kleinen Finger mit deinem dicken Raupenfingerchen. Zufrieden hast du dich losgemacht. »Wo ist Topsy?«

Vielleicht war der Hase aufs Dach gefallen, das auf allen vier Seiten steil unter uns abfiel. Aber die langen Ohren, der verfilzte Pelz, das aufgestickte Gesicht, das sich je nach deiner Laune zu verändern schien, ließen sich nirgendwo blicken. Ich stieß mir den Kopf am Geländer, da sah ich Topsy auf dem Boden der Dachterrasse, unter deinem Sweatshirt. Ich zog ihn heraus und warf ihn dir zu. »Mach doch die Augen auf, du Blödi.« Die Sonne brannte betäubend auf uns herunter. In der Stadt würde es noch viel heißer sein. Du hast einen Flunsch gezogen und mit den Tränen gekämpft. Ich habe dich an mich gedrückt und Entschuldigungen geflüstert.

Eigentlich hätten wir noch einen ganzen weiteren Monat bei Großmutter bleiben sollen. Weißt du noch? Wir nannten unsere Besuche bei ihr immer »Die Reise nach Connec-Tikat«. Damit meinten wir den grünen Geruch frischgemähten Rasens, den bekömmlichen Duft von Großmutters Andorn-Lutschbonbons, das Britzeln von Miriams selbstgemachter Limonade. Großmutter und Daddy konnten sich auf den Tod nicht ausstehen, Mutter schlug sich auf eine der beiden Seiten, und die Wochenenden, an denen Daddy aus der Stadt zu Besuch da war, verkamen zu hässlichen, alkoholgeschwängerten Schlammschlachten. Aber von Montag bis Donnerstag waren es nur du und ich und Mutter und Großmutter (und Miriam, die wir aber in Ruhe zu lassen hatten, woraufhin du getrötet hast: »Miriam ist do-of«, wofür du zu zwanzig Minuten Arrest in der Diele verdonnert wurdest). Mehr Glück als diese süßen Sommertage kannten wir nicht.

Wochentage begannen mit Frühstück im Wintergarten, wo wir aus Silbertassen tranken, in denen Mutters Mädchenname eingraviert war, von früher, bevor sie geheiratet hatte. Der Abend wurde um halb fünf eingeläutet, dann weckten wir Mutter, wuschen uns das Gesicht und zogen das an, was Großmutter »richtige Kleidung« nannte, und die Cocktailstunde auf dem steingefliesten Patio begann: silbrige Martinis für die Erwachsenen (außer Miriam) und für uns Likörgläser mit eiskaltem Tomatensaft und Zitronenmonden. Dazwischen lagen herrlich lange Tage – die vielen Zimmer, in denen man Versteck spielen konnte, das Schwimmbad an heißen Nachmittagen, die Dachterrasse zum Spionieren – geistig bewegten wir uns immer weiter weg von New York. Wenn wir dann Ende August zu unserem »wahren Leben« in der Großstadt zurückkehrten, schienen der Gestank des Hot-Dog-Wasserbads, die auf der Park Avenue hupenden Autos und ja, sogar Daddy in seinem Wollanzug aus einem fremden Land zu stammen. Nach dem langen Sommer kannten wir nur noch die Welt von Großmutters großem, weißem, mit Klappläden vor der Hitze geschütztem Haus, die Rasenflächen, die sich bis zu den Hecken und Feldern und Wäldern erstreckten und die Menschen, in die wir uns dort verwandelt hatten: »Lehrte« (dein Wort) mit einem britischen Akzent, oder Piraten, die unter der Lorbeerhecke auf der Lauer lagen, oder Superhelden, die Bösewichter vernichteten (du), oder Monster, die kleine Kinder mit einem Happs verschluckten (ich).

Aber Daddy und Großmutter und Mutter hatten sich zur Cocktailzeit mit einem Gespräch über den Aktienmarkt aufs Glatteis gewagt (am Samstag, als Miriam bei ihrer Familie war); das hieß, Daddy mixte die Drinks (immer doppelte), was dazu führte, dass er sich mit seinen Aktiengewinnen brüstete, während Mutter den Auflauf warm machte. Großmutters Zunge war ebenfalls gelockert, sodass sie ihren Schwiegersohn einen geldgierigen Dummkopf nannte, woraufhin Mutter den Auflauf im Stich ließ und sich mit der Bemerkung auf Großmutter stürzte, sie brauche nur in den Spiegel zu gucken, wenn sie einen Dummkopf sehen wolle. Sie verzogen sich in den Salon. Wir holten uns Feenbrot zum Abendessen. Ich stellte den Ofen aus und flüsterte, dass wir auf Zehenspitzen die Treppe hochschleichen würden. Wir haben uns zusammen ins Bett gelegt. Du hast gesagt, du hättest dir noch nicht die Zähne geputzt. Ich habe erwidert, dass wir uns mit Karies an den Erwachsenen rächen würden. Weißt du noch, wie du darüber gekichert hast? Weißt du noch, dass du nach drei Minuten tief und fest geschlafen hast? Irgendwann stellte Großmutter ihr Hörgerät ab und zog sich in ihren Teil der Villa zurück. Als sie am nächsten Morgen zur Kirche ging, stritten unsere Eltern sich schon so lange, dass vom Auflauf nur noch Käseklumpen und Keramiksplitter auf dem Küchenboden übrig waren. Aber nie im Leben hätten wir uns ausmalen können, dass Daddy auch uns bestrafen und zur um einen Monat verfrühten Abreise zwingen würde. Und zwar, bevor Großmutter vom Gottesdienst zurückkehrte.

Aus einem Fenster unter uns drang das Klirren von splitterndem Glas. Das Licht fiel schräg durch den Teufelsspaziergang – den Hain aus roten japanischen Fächerahornbäumen, die den Übergang zwischen südlichem Rasen und Wald bildeten. Großmutter nannte es »Dämmerlicht«, wenn das Licht so schräg einfiel, selbst an einem sonnigen Julimorgen. Ich wollte in den Wald, aber dazu mussten wir an den Erwachsenen vorbei.

»Kann ich Topsy wiederhaben?« Du warst schon wieder aufs Geländer geklettert. Ernst. Schwankend.

»Den habe ich dir doch gerade gegeben.«

Deine Unterlippe bebte. Du hast auf das Dach unter uns gezeigt, wo Topsy auf den Ziegeln lag, außerhalb unserer Reichweite.

Ich habe sehr laut geseufzt. Du hast angefangen laut zu schluchzen. Jetzt würden sie uns garantiert finden. »Ich hol ihn dir, okay? Aber du musst still sein.«

Du hast genickt und den Rotz hochgezogen. Ich streckte den Arm durchs Holzgeländer. Unmöglich. Ich richtete mich wieder auf und rieb mir den Oberarm. »Ich muss einen Besen holen, damit ich drankomme.«

Du bist vom Geländer zurück auf die Dachterrasse gesprungen und hast dich neben mich gehockt. »Geh nicht weg.«

»Ja, aber was hast du dir dabei gedacht? Topsy aufs Dach zu werfen!«

»Das wollte ich doch nicht! Ich kann ihn mir selbst wiederholen.«

»Nein, kannst du nicht.«

»Nicht sauer sein.«

»Ich bin nur sauer, wenn du selbst versuchst, ihn vom Dach zu holen. Das ist gefährlich, klar?«

War das der Wind in den Baumwipfeln oder das Geräusch von Großmutters Auto? Früher oder später würden sie uns hier oben finden. Aber was sollte ich tun? Was konnte Großmutter unternehmen, selbst wenn sie rechtzeitig wieder da war, um uns noch abzufangen? Ich wollte im Connec-Tikat meiner Träume bleiben, das gab es aber nicht mehr, jedenfalls momentan nicht. Wenn wir nur runter zum Teufelsspaziergang fliegen könnten, in dem die Sonne so wunderschön spielte. Mir wurde ganz wehmütig ums Herz, und jetzt ließ eine Brise die bunten Stoffstücke an den Zweigen der japanischen Ahornbäume flattern. Man hätte meinen sollen, dass Miriam diese Überreste einer von Mutter organisierten Batikaktion mittlerweile entfernt hätte. In unserer Familie, dich eingeschlossen, war Mutter entweder die Lustigste oder die Unangenehmste, je nachdem. Du hast mal zu mir gesagt, mit Daddy sei es nie lustig, aber wenn ich die Augen ganz fest zukniff, konnte ich mir noch vorstellen, wie sein Lachen früher geklungen hatte, das Lachen, das seit deiner Geburt verstummt war.

Das verwunschene Licht im Hain verlosch. Eine Wolke? Nein. Es sah aus, als hätte das Wäldchen etwas Böses gedacht. Selbst wenn wir uns durch das ganze Haus nach unten und unbemerkt über den Rasen schleichen könnten, würden wir auch dort früher oder später gefunden werden. Selbst wenn wir keinen Ärger bekamen, müssten wir mit ansehen, wie weitere Whiskeygläser an den Kamin gepfeffert wurden und Mutter im rosa Schlafzimmer schluchzte. Dann schon besser zur Asphalthitze, den verkrüppelten Tauben und dem staubigen Penthouse zurückkehren, das Daddy »unsere« Wohnung nannte, auch wenn es im Grunde Großmutter gehörte.

»Du bleibst hier. Mit beiden Füßen auf dem Boden.«

»Ich will mitkommen.«

»Das geht aber nicht. Ich bin gleich wieder da, sobald ich den Besen gefunden habe, und dann hole ich dir Topsy, und alles ist wieder gut, ja?«

Du hast nicht sehr überzeugt ausgesehen.

»Wir können ihn auch einfach da liegenlassen.«

»Nein!«

»Dann musst du mich gehen lassen.«

Daraufhin hast du geseufzt. »Aber du vergisst nicht den Kleinen-Finger-Schwur, Saski, ja? Wenn wir auf der Autobahn sind, musst du mir die Geschichte erzählen.« Rasch hast du deine Hosentasche nach etwas Überlebenswichtigem durchsucht, ein Stück blaue Pappe, die ungelenk mit der Schere ausgeschnitten und wild mit Großbuchstaben vollgemalt war. Das Papier war um eine schwarze Feder mit einem goldenen Rand gefaltet. Die Feder flatterte auf meinen Schuh. Ich beugte mich vor, um sie aufzuheben. Ich habe dich mit der goldenen Federspitze am Hals gekitzelt. Du hast gelächelt.

»Das hab ich für dich geschrieben, Saski. Da steht die Geschichte mit dem bösen Hund. Ich habe die Worte für dich hingemalt, damit du es richtig erzählst. Das kannst du nicht lesen. Du kennst die Geheimsprache nicht. Aber macht nichts, ich bring sie dir bei.«

»Ich bin sofort wieder da.«

»Warum ist Superman immer der Gute?«

Ich öffnete die Tür. »Kletter ja nicht aufs Geländer.«

»Können die Guten nicht auch die Bösen sein?«

Im Haus stieß Mutter einen lauten Schrei aus.

Die Feder muss mir aus den Fingern gesegelt sein, als ich das Haus betrat, ich weiß es wirklich nicht mehr. Immer und immer wieder bin ich zu diesem Augenblick zurückgekehrt, häufiger, als ich zählen kann, aber dieser Teil der Geschichte ist immer einfach weg, wie die Feder selbst, das erste in der endlos langen Liste verlorener Dinge. Auch wenn man sagen könnte, dass ich mit der Geschichte, die daraus entstand, etwas Neues gefunden habe.

1

Sieben Uhr in der Früh, Küche. Im hereinströmenden Licht tanzt der Staub. Draußen zetert der Kardinal, ein Vogel, der so stolz ist, dass er seinen lateinischen Namen gleich zweimal führt: Cardinalis cardinalis. Ich nippe an meinem Ceylontee und schaue nach dem Sauerteigstarter, der sogenannten Mutter. An diesem herrlichen Junitag ist die Mutter heißhungrig, und ich füttere sie: Einen Teil Anstellgut, ein Teil Wasser, eineinhalb Teile Mehl; zu einem klebrigen Batzen verrühren und am Fenster unter einer schnell galoppierenden Herde von Schäfchenwolken in Leinen hüllen. Als Nächstes vermähle ich den Sauerteig von gestern mit einer Mehlpyramide und einem Spritzer Wasser. Und so beginnen die Mutter und ich von neuem das, was wir auch gestern begonnen haben und vorgestern, und an jedem Tag davor, seit jenem Tag vor sechzehn Jahren, als ich Großmutters großes, weißes, mit Fensterläden verschlossenes Haus zu meinem machte: den Brotlaib für morgen.

Es klingelt an der Toreinfahrt. Mir klebt der Sauerteig an den Händen. Ich will sie mir waschen, aber es klingelt immer wieder, gnadenlos. Manchmal passiert so was. Leute aus der Stadt haben sich verfahren. Welch Erleichterung, als ich einen unbekannten, dunklen SUV auf dem kleinen Schwarzweißdisplay neben der Tür auftauchen sehe. Ich setze einfach meine freundlichste Stimme auf und schicke die Wegsuchenden in die richtige Richtung.

»Sie sind falsch abgebogen«, sage ich in die Gegensprechanlage neben der Tür und tue so, als liefe mir nicht gerade ein Teigklumpen am Arm herunter. »Wo wollen Sie hin? Sie müssen –«

»Saskia.« Besonders scharf ist das Gesicht des Mannes nicht auf dem Display zu sehen, aber Xavier erkenne ich im Schlaf.

Topsy ist ganz weit weg, oben, die Treppe rauf, versteckt in meiner Schublade. Schon jucken mir die Hände, und ich will ihn aus seinem Versteck reißen. Dann kann ich mein Gesicht im Fell vergraben, und dein Geruch macht mich wieder ganz.

»Saskia, lass mich rein.« Xavier weiß es doch besser. Er weiß, dass er mich in Ruhe zu lassen hat – außer. Außer das Kommende ist schlimmer als das, was ist.

2

Du bist gestorben.

Daddy kam ins Gefängnis.

Mutter ging nach Mexiko.

Ich kehrte nicht in unsere Wohnung zurück. Der wuchtige Schreibtisch aus Eiche wurde aus dem Wohnzimmer geschafft, ein neues, in dickes Plastik verpacktes Doppelbett wurde geliefert, und Miriam und ihr Mann zogen ein. Großmutter machte viel Aufhebens darum, dabei war es keine große Veränderung; die arme Miriam war sowieso bereits da, wenn wir aufwachten, und ging erst, wenn es wieder dunkel war, sogar sonntags, und das Haus duftete stets nach Sauberkeit und Murphys Ölseife. Ich sollte Miriams Mann mit dem Schnurrbart Mr. Jacobs nennen. Das fand ich zum Schießen – sollte man dann nicht auch Miriam Mrs. Jacobs nennen? Aber du warst tot, also konnte ich niemandem diesen Witz erzählen.

Mr. Jacobs war pensionierter Polizist, aber Großmutter schärfte mir ein, er sei offiziell ihr Fahrer. Ein Nachhilfelehrer kam, um mir Mathe beizubringen, so freudlos, wie ich es von einem Collegestudenten nicht erwartet hätte. Ich verriet ihm nie, was Mr. Jacobs vor seiner Pensionierung gemacht hatte, auch wenn ich nicht verstand, warum das ein Geheimnis war. Das verwunschene Licht im Teufelsspaziergang kehrte nicht zurück. Die Stofffetzen, die du an die Zweige gebunden hattest, waren verschwunden.

Tief in einer verschneiten Nacht saßen Miriam und Mr. Jacobs in der Küche und tranken heimlich heißen Grog. »Über die ganze Sache ist doch mittlerweile Gras gewachsen«, sagte sie, und er sagte: »Ich will aber wieder in meinem eigenen Bett schlafen, Miri«, und sie erwiderte: »Aber was ist, wenn sie von der Presse aufgespürt wird? Das arme kleine Ding; da würde ich wirklich Gewissensbisse kriegen«, und er erwiderte: »Wenn das Leben eines Kindes von einer Tragödie bestimmt wird, ist es erst richtig tragisch.« Aber es war natürlich klar, Mr. Jacobs sagte das nur, weil er in seinem eigenen Bett schlafen wollte. Eine Woche später zogen sie wieder in ihren kleinen Bungalow auf der anderen Seite des Orts. Am nächsten Tag verkündete Großmutter, ich müsse zurück in die Stadt.

»Aber wohin denn?« Das sollte nicht aufsässig klingen. Es war eine ernstgemeinte Frage, du warst tot, Daddy war im Gefängnis, Mutter war in Mexiko, und unsere Wohnung war verkauft.

»Es ist besser so«, sagte Großmutter, als sei das eine Antwort. Sie legte die Stirn in Falten. »Du brauchst jemanden in deinem Alter, und einen Vormund, der mehr Kraft hat als ich. Außer du möchtest aufs Internat gehen, natürlich.« Sie trank den letzten Schluck Lapsang Souchong. Mit zitternder Hand setzte sie die dünnwandige Porzellantasse auf die Untertasse. »Aber bei den Reichen und Schönen würdest du vermutlich kaum reinpassen, wenn du meine Meinung hören willst.« Von ihren vielen Zimmern hatte ich das Esszimmer immer am wenigsten leiden können; es konnte noch so sonnig sein, dort drin war es immer düster und muffig. Sie nahm meine Hand und machte ein abfälliges Geräusch, als sie den Dreck unter meinen Fingernägeln sah. »Du musst wieder zurück in die normale Gesellschaft.«

Die Familie von Xavier Pierce würde mich aufnehmen. Unsere Großmütter hatten sich kurz nach der Geburt ihrer Kinder kennengelernt, unsere Mütter wiederum hatten zusammen in Bryn Mawr studiert, und Xavier und ich hatten unseren dritten Geburtstag zusammen im Natural History Museum gefeiert. Ich hatte eine vage Vorstellung davon, wie er aussah – volle Lippen, ein goldener Lockenkranz. Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, beim siebten Geburtstag eines schrecklichen Jungen, der ständig pupste, hatte ich ständig Xaviers Mund beobachtet, wie er redete, lächelte oder das Gesicht verzog. Es hatte mich verblüfft, dass ein Junge so schön und gleichzeitig eindeutig ein Junge sein konnte. Aber wie er war oder wofür er sich interessierte, wusste ich nicht; wir hatten zwar in der Grundschulzeit nur wenige Blocks voneinander entfernt gewohnt, aber unsere Freundschaft entstammte der Generation vor uns, und selbst unsere Eltern waren im Grunde nicht richtig befreundet gewesen.

Großmutter ließ den Blick noch einmal über Miriams Sandwichteller gleiten und schob ihn dann unangetastet von sich. Ich schenkte meinem vor Hunger verkrampften Magen keine Beachtung. Sie teilte mir mit, dass ich nicht die Einzige sei, bei der es große Veränderungen im Leben gegeben habe; ungefähr zur selben Zeit, in der ich bei ihr eingezogen war (ja, genau so drückte sie es aus, als wäre ich aus einer Laune heraus nach Connecticut gezogen), hatte sich Xaviers Familie zum Umzug hinunter nach Chelsea entschlossen. Dass Großmutter mir erlauben wollte, südlich der Zweiundsiebzigsten Straße aufzuwachsen, war das deutlichste Signal, wie dringend sie mich loswerden wollte.

»Aber warum wollen die mich denn?«

»Es ist eine vermögende Familie, falls du das meinst.«

»Gibst du ihnen Geld dafür?«

»Sei nicht geschmacklos, Saskia.« Sie läutete die Glocke. Miriam nahm die Sandwiches wieder mit.

Beim Abendessen, panierte Kalbsschnitzel, führte sie aus: »Die Pierces sind gute Menschen. Jane ist relativ häufig auf Reisen, um für ihre kleine Boutique einzukaufen, zu viel Bemutterung darfst du also nicht erwarten. Aber Philip hat mir versichert, dass er dich gut versorgen wird. Er hat sein Atelier zu Hause, sodass immer jemand da ist, um dich zu beaufsichtigen. In der Kunstwelt sind seine Gemälde übrigens hoch angesehen. Du kannst dich wirklich glücklich schätzen. Ihr Lebensstil ist zugegebenermaßen ein wenig unkonventioneller, als du das hier gewöhnt bist. Aber ich will ganz offen sein, Saskia. Alles ist besser, als dass du von morgens bis abends durch den Wald streifst. Xavier wird sicher nicht mit dir befreundet sein wollen, er ist ein Junge. Das kannst du dir also gleich aus dem Kopf schlagen. Aber du wirst Freundinnen finden. Über kurz oder lang.« Sie ließ die Gabel sinken und wischte sich den Mund mit der Leinenserviette ab. »Denk an unsere Abmachung.« Sie wartete, bis ich genickt hatte, dann sagte sie: »So ist's brav.«

Zwei Tage nach meinem zwölften Geburtstag setzte Mr. Jacobs mich am Loft der Pierces in Chelsea ab. Die Tür zum Gebäude wurde von einer Apfelkiste offengehalten. Im zweiten Stock war eine Filmcrew dabei, einen Mann im Trenchcoat zu filmen, der durch einen riesigen Raum rannte. Dreimal drehten sie diese Szene. Die Crew bestand aus Dutzenden von Leuten, es gab Lampen und Mikrofone und Schminktaschen, Kameras, Klemmbretter, Headsets. Zum ersten Mal seit Tagen stand ich still. Ich merkte, wie weh mir die Füße taten von den vielen Meilen, die ich auf Großmutters Grundstück zurückgelegt hatte, seit sie mich weggeschickt hatte. Mein sonnengebleichtes Haar roch nach dem Wind von Connecticut. In diesem Augenblick war mir klar, dass ich woanders als hier in Chelsea unterkommen musste. Es war nicht fair, diesen fast Fremden die vielen Gründe für mein ruheloses Umherstreifen aufzuhalsen. Aber bevor ich wegrennen konnte, stieg mir der Geruch von Xavier in die Nase: männlicher Schweiß, der leichte Gammelgeruch von zu langsam getrockneten Jeans, Head & Shoulders Shampoo, Cafeteriafritten, Green-Apple-Lolli und Carmex. Überall im Raum wuselte es, aber Xaviers männlicher Geruch direkt hinter mir zog meine gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Im Grunde kannte ich diesen langen Körper schon, seit ich ich selbst war. Ich würde also nicht gehen, noch nicht.

Im ein Stockwerk höher gelegenen Loft hatte Philip seit den Siebzigerjahren sein Atelier, damals war er noch Bildhauer gewesen. Genau wie von Großmutter beschrieben, hatte die Familie in Uptown gewohnt, bis Xavier zehn war, dann beschlossen sie, sich auf dieses »Abenteuer« einzulassen, wie Jane mit einer Andeutung von Ekel auf den üppigen Lippen sagte. An meinem ersten Tag war sie allerdings nicht da. Sie war auf Reisen in Ghana und kaufte dort Stoffe und Waren ein, die sie in ihrer Boutique mit tausendprozentigem Aufschlag an die Kundschaft bringen würde.

Das Loft war ein mit Farbspritzern beflecktes Labyrinth aus Leinwänden, Paletten und Spanplatten: Senfgelb an der Decke, Rot an den Fenstern, Tannengrün auf den abgezogenen Bodendielen im großen Raum. Eine einzige gelbe Toilette war in einem schlecht riechenden Verschlag neben der Treppe untergebracht, und die Küche bestand aus einem schwarz angemalten Kühlschrank und einer Kochplatte, um das Take-out aufzuwärmen. Aber der Blick auf das Empire State Building und die Twin Towers und die gesamte, sich nach Osten und Westen erstreckende Stadt – eingerahmt von Fenstern auf fast allen Seiten, die Aussicht nur unterbrochen vom Treppenhaus, Janes gemusterten Vorhängen und Philips abstrakten Gemälden in großen Stapeln – offenbarte auf den ersten Blick, dass die Pierces mit vielem reich gesegnet waren. Jede Menge Geld hatten sie natürlich auch.

Als wir das Loft betraten, schabte die Feuertür über den Betonboden. Direkt hinter der Tür hing ein echt aussehendes impressionistisches Gemälde, auf dem eine Kuhherde trübsinnig Heu kaute.

»Ach, da ist ja unsere allerliebste Saskia!«, rief Philip aus der Mitte des enormen Raums, als er den Blick von einer Leinwand hob, die lang wie ein Auto war. Im Bart hatte er Königsblau. Unter seinem klaffenden Kimono ragten ein breiter, haariger Bauch, graue Champion-Jogginghosen und Volleyball-Knieschützer heraus. Er roch nach Schweiß, Terpentin und Zigarren. Er nahm mir die Reisetasche ab und gab mir Küsschen auf die Wangen. »Ich mache dir dein Zimmer zurecht!« Damit meinte er, dass er einen Teil des Lofts für mich abteilte. Dazu waren zwei Stunden und ein Dutzend aufgegebene Leinwände erforderlich, jede in einer einzigen Farbe: Magenta, Rotbraun, Lila. »Eigentlich unglaublich, oder?«, sagte er, während er sie zu einer improvisierten Wand zusammennagelte. »Dass ich so viel Zeit auf diesen bescheuerten Farbtanz verschwendet habe?«

Xavier baute mir ein Bett aus einem Stapel Holzpaletten, einem Futon und einem neongrünen Überwurf. Er hängte eine Lichterkette auf. Er stieg eine Sieben-Meter-Leiter hoch, um roten Samt über die Fenster zu nageln. »Ich muss Hausaufgaben machen«, sagte er, als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Etwas wie Schulunterricht hatte ich mittlerweile ganz vergessen. Gleichgültig, wie oft Xavier sich die Haare aus der Stirn schob, sie kehrten am Wirbel immer wieder an die Stelle über dem rechten Auge zurück. Ich stellte fest, dass ich mit meinem Atem auf dem Kissen seiner Lippen landen wollte, was man Kuss nannte, aber in meiner Vorstellung nicht notwendigerweise ein Kuss war. Mit seinem restlichen Körper wollte ich nicht unbedingt etwas zu tun haben; Mund auf Mund erschien mir die effizienteste Art, ihn in mich einzusaugen.

Er bemerkte meinen Blick. »Willst du was essen oder trinken?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Wir haben mexikanische Cola. Mit echtem Zucker drin. Das mag doch jeder.«

»Na gut, okay.«

Das entlockte ihm ein Grinsen, wobei ein schiefer Zahn zum Vorschein kam, der ihn nur noch schöner machte. Er kniff mich in den Oberarm. »Lügnerin.« Mir wurde klar, ihn zu küssen hieße, ihn zu verlieren, und das konnte ich mir jetzt schon nicht mehr vorstellen.

Philip grunzte. »Wir haben zu lange wie Junggesellen gegessen, was, Sohn?« Er bohrte mir einen Finger in die Seite. »Sie braucht ein bisschen Speck auf den Rippen. Wie wär's mit einem Ausflug zum Diner?« Mit dem Hammer in der Hand wischte er sich die Braue und rauschte zurück ins offene Loft, in das jetzt goldenes Abendlicht einfiel. »Saskia, du kannst mir helfen, bis Junior mit den Hausaufgaben fertig ist.«

Im großen Raum füllte Philip einen Eimer mit der Farbe des Sonnenlichts. Er stellte ihn neben die Leinwand, an der er gerade gearbeitet hatte, ein Meer von Blau – Lavendel, Blaubeer, Azur. »Tritt mal ins Gelb.« Es tat gut, dass mir jemand sagte, was ich tun sollte, auch wenn die Farbe kalt und glitschig war, als ich die Füße in den Eimer tauchte. »Fang da an. Geh rüber zum anderen Rand.« Ich wollte das von ihm Geschaffene auf keinen Fall ruinieren. Aber Philip streckte den Arm aus. Ich hob den rechten Fuß aus dem Schleim. Die Farbe strömte zurück in den Eimer. Das schräge Abendlicht wies mir einen Pfad über die Leinwand. Ich marschierte über das Blau in Richtung Fenster und hinterließ eine goldene Fußspur. Auf der anderen Seite wartete Philip mit einem Handtuch auf mich.

3

Xavier wird sicher gleich an die Tür hämmern, deswegen lasse ich sie lieber offen. Er parkt vor dem Haus. Sein Schritt auf dem weißen Schotter klingt bestimmt, aber an der Tür zögert er. »Saskia?« Mit ihm strömt der Geruch nach frischgemähtem Rasen herein und das Zwitschern der Schwirrammer, deren lateinischer Name Spizella passerina ihr schnalzendes Geträller nachahmt. Die Außenwelt stiehlt der Mutter den letzten Hauch ihres sauren Atems. »Ich habe versucht, dich anzurufen!«

Ich habe mich im rosa Schlafzimmer verschanzt, mit den Füßen zwischen schwankenden Stößen Trollope und Dickens. Bis zu Topsy habe ich es nicht geschafft, zu weit weg. Ich musste mich in Mutters Schlafzimmer verbarrikadieren. Von hier bis zum Bett und zum Fenster dahinter ist der Fußboden eine Stadt aus Büchern, Hochhaustürme aus Worten, Sätzen und Kapiteln. Xavier zögert unten. Gut. Freundlichkeit schaffe ich wahrscheinlich nicht, aber vielleicht bin ich wenigstens nicht mehr mordlustig, wenn ich ihn wie einen reuigen Sünder ein paar Stunden warten lasse.

Er sagt wieder etwas, diesmal mit freundlicher Stimme. »Uneingeladen gehe ich da nicht rein.« Ich glaube, dass er mit mir redet, bis mir wieder einfällt, dass es ja Handys gibt. »Auf keinen Fall.«

Sitzt da womöglich noch jemand im Auto und beobachtet ihn? Hat er etwa Billy mitgebracht? Habe ich das nicht immer wieder klargemacht? Keine Besucher, selbst wenn es sich um den Ehepartner handelt.

»Sask?« Jetzt telefoniert er nicht mehr. »Hallo? Bitte, Saskia, ich muss unbedingt mit dir reden.«

Ein paar Atemzüge. Dann ist eine andere, sanftere Stimme von ihm zu hören, der Ton, den er anschlägt, wenn er jemanden einwickeln will. »Billy. Danke, dass du zurückrufst.«

Aber wenn er jetzt mit Billy redet, wer war dann vorher am Telefon? Panik macht sich breit. Nicht heute.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir wirklich schrecklich leid. Kannst du nicht …« Ein Seufzer. »Das habe ich dir doch schon gesagt, mein Schatz. Ich bin hier, weil ich dich beschützen will.« Ich warte. »Doch, natürlich. Natürlich will ich jetzt auch bei dir sein.« Aber mit dem nächsten Satz ist Xaviers Stimme hart wie Stahl. »Diese Sache kann uns vernichten. Ich muss das klären.«

Es ist der Gries in seiner Stimme. Mehr brauche ich nicht zu wissen: Die Sache, die ich (oder wir, falls es so etwas wie ein Wir noch gibt) unser halbes Leben lang gefürchtet haben, ist tatsächlich eingetreten. Oder wird eintreten, oder könnte es zumindest. Sehr langsam gehe ich die Treppe hinunter, während Xavier Billy anfleht, nicht aufzulegen. Er hebt den umwölkten Blick. Er murmelt einen Abschiedsgruß. Die verdammten Haare, die ihm wie immer in die Augen hängen.

Er ist groß wie sein Vater, aber ohne jeden Bauchansatz. Seine Haut glänzt. Hauptsächlich das Resultat von Pflegeprodukten und kosmetischer Behandlung, aber neidisch bin ich trotzdem. Auch seine Mutter ist zu erkennen, an den vollen Lippen und der schlanken Taille. Er zeigt auf die Schwelle. »Darf ich?«

»Mexikanische Cola habe ich leider keine da.«

Ich glaube, gleich kneift er mir in den Arm, aber er zieht mich an sich. Meine Knochen knacken an seiner Brust. Wir tun beide so, als merkten wir nicht, wie er zusammenzuckt.

4

Ich trank an der Küchentheke Jasmintee, als Jane nach Hause kam; ihr rabenschwarzer Bob saß auch nach dem langen Überseeflug noch perfekt. Ihr Koffer ging mit einem Knall zu Boden. Später, Mitternacht war vorbei, vermischte sich ihr Flüstern mit dem Geheul der durch die Stadt jagenden Einsatzfahrzeuge. »Philip, so was kannst du nicht einfach entscheiden, ohne vorher deine Frau zu fragen.«

»Aber ich wusste nicht, wie ich dich erreichen sollte.«

»Du hättest im Hotel anrufen können.« Ich fragte mich, ob ihre Frisur wohl auch auf dem Kissen ihre Form behielt.

»Habe ich. Du warst nicht da.«

»Dann hinterlass verdammt noch mal eine Nachricht.«

Und später: »Und was machst du, wenn die Presse spitzkriegt, wo sie ist, Philip?«

»Scheiß auf die Presse.«

»Das ist doch kein Plan! Was machst du, wenn das passiert? Den Finger zeigen ist kein Plan.«

Und noch später: »Erinnerst du dich an Xaviers dritten Geburtstag, Philip? Ach, natürlich, Entschuldigung, wie konnte ich vergessen, dass du nur noch Augen für Nancys wunderbare Weichteile hattest. Jedenfalls gab es einen Grund, warum ich danach nicht mehr mit ihnen geredet habe. Ich wusste, dass irgendwann so was passieren würde, und ob, ich wusste es, ich habe es sogar damals zu dir gesagt, aber du hörst mir ja nie zu.«

Ich steckte die Hand in den Spalt zwischen Matratze und Wand, um Topsy an seiner weichsten Stelle zu berühren, direkt hinter den Ohren, der Stelle, die ich nur nachts anfassen durfte, damit sie sich nicht zu schnell abnutzte. Mir war klar, dass ich mit jeder Berührung ein wenig vom letzten Rest von dir verlor, aber ich konnte nicht damit aufhören, besonders bei dem Gedanken, dass man mich vielleicht wieder wegschicken würde. Die Vorstellung, aus freien Stücken abzuhauen, war so viel einfacher gewesen.

Aber Jane schickte mich nicht weg. Sie kleidete ihre zierliche Gestalt in Twinsets und Saris, und ja, ihr Haar saß immer perfekt; sie ließ es jeden fünften Dienstag in einem Salon Uptown schneiden. Sie konnte mich nicht unbedingt gut leiden, aber als sie mit uns zur Buster-Keaton-Retrospektive ins Filmforum ging, lachte ich im selben Sekundenbruchteil wie sie. Ich sah einen Zahn im Filmlicht glänzen und merkte, dass sie lächelte. Eine Woche später sagte sie in der Küche zu mir: »Du lachst wie deine Mutter – als könntest du jeden Moment in Tränen ausbrechen.« Ich musste schmunzeln, hielt mir aber schnell die Hand vor den Mund, als könne ich Mutter daran hindern, sich auf meinen Lippen zu zeigen.

Philip hingegen lachte ständig – lang, dröhnend, ansteckend. Er malte in der Mitte des Lofts, manchmal leisteten wir ihm dabei Gesellschaft. Nachts war er unterwegs, und wir durften nicht mitkommen, aber der Alkohol schien seiner guten Laune keinen Abbruch zu tun, und Jane machten seine Eskapaden offensichtlich nichts aus. Ich hängte das von uns gemeinsam geschaffene Gemälde über mein Bett. Er nannte es Der gute Weg. Meine Fußabdrücke, kleiner als sie je wieder sein würden, führten für immer von der Ecke links unten hinauf in den Himmel.

Xavier war so verlässlich für mich da wie diese Fußspuren. Manchmal schrie ich im Schlaf, wachte am nächsten Morgen auf und sah, dass er am Fußende meines Bettes saß und las. Er war treu, aber still, wie ein ausgewachsener Labrador Retriever, auch wenn sein Körper noch ganz nach Welpe aussah: Hände und Füße riesig, Gliedmaßen ewig lang und unkoordiniert. Er stieß sich ständig die Knie und warf unzählige Gläser Milch um. Wir gingen auf eine neue Schule in Downtown, die der Reggio-Pädagogik anhing, Philip hatte sie aufgetan, sechs Kinder in jedem Unterrichtsfach. Wir beschäftigten uns drei Monate lang mit Fröschen, weil Xavier und mir partout kein anderer Unterrichtsgegenstand einfiel. »Wenigstens hat die Presse sie noch nicht aufgespürt«, sagte Jane, während wir das aßen, was wir vom kubanisch-chinesischen Imbiss mitgebracht hatten. Philip warf ihr einen Blick zu; er wusste nicht, dass ich über die Klatschgazetten Bescheid wusste. Xavier hatte alle Artikel ausgeschnitten, die er finden konnte, und versteckte sie im Loft unter uns, das an Filmteams vermietet wurde. Mittlerweile war es ruhiger um die Sache geworden, aber jedes Mal, wenn ein Vater sein Kind ermordete, war auf Seite 11 oder 12 auch ein Hinweis auf Daddy zu finden.

Ein Jahr verbrachten wir so als improvisierte Familie: Vater, Bruder, Schwester, Mutter. Manchmal fand ich eine von Janes zerlesenen Wohndesign-Zeitschriften auf der Küchenablage, die von ihrer Sehnsucht nach gebügelten Servietten und Chesterfield-Sofas zeugten. Warum sie unseren derzeitigen Lebensstil zuließ, war mir ein Rätsel; ihre erste Wahl war es auf jeden Fall nicht.

»Philip hat gesagt, er würde vom Dach springen, wenn er eine weitere Sekunde bei den Snobs an der Upper East Side verbringen muss«, erklärte mir Xavier. »Und dann hat Jane gesagt, wenn er selbst für unseren Lebensunterhalt sorgen kann, ohne einen Cent von ihrem ›snobistischen‹ Vermögen, dann zieht sie, wohin er will. Wahrscheinlich hat sie nicht geglaubt, dass er das schafft.« Philips gegenständliches Projekt, Die Lüsternheiten – Gemälde von Lippen, Ellbogen, Zehen aus nächster Nähe und Blickwinkeln, die sie wie weit weniger zahme Körperteile aussehen ließen – hatte den Umzug finanziert. Pariser Sammler kauften die Bilder für Zehntausende Dollar das Stück.

»Aber mittlerweile langweilt ihn das«, sagte Xavier und ließ den Blick durch das Loft schweifen.

»Auf mich macht er einen zufriedenen Eindruck.«

»Er malt immer und immer wieder dasselbe. Er sagt selbst, dass es mittlerweile reine Wiederholung ist.« Jetzt, wo ich mich umsah, merkte ich, dass Xavier recht hatte: Überall Körperteile, die so taten, als seien sie sexy, es aber im Grunde nicht waren. »Das über deinem Bett ist das Außergewöhnlichste, was er seit Jahren gemalt hat.«

An einem Sonntag im Mai, Jane war gerade nach Japan abgereist, lud Philip uns zum Diner ein, zu »unserem Lieblingsessen«, im Grunde war es allerdings sein Lieblingsessen – Reubens Sandwich, Cheese Fries und mexikanische Cola. Dort verkündete er, wir würden den Sommer in Maine verbringen. Wir bräuchten frische Luft, was Kinder nur dann zu brauchen schienen, wenn es den Erwachsenen gerade in den Kram passte. Philips Galeristen saßen ihm im Nacken, sie wollten neues Material, etwas wie Die Lüsternheiten, aber eben auch etwas ganz Anderes; so, erklärte er uns, erging es den Künstlern in dieser Kapitalismus genannten Vorhölle. Dann fragte er uns, was wir von der Idee hielten; immerhin war er die Art Vater, dem sein Job als Schicksalsengel ein wenig Bauchschmerzen bereitete.

»Und was ist mit Mom?«, wollte Xavier wissen.

Philip furzte lang und erschreckend laut.

»Dad. Was ist mit Mom?«

Ich schaute aus dem Fenster hinaus auf die Ninth Avenue. Ich dachte an das Licht auf dem Teufelsspaziergang. Wenn ich die Augen zumachte, konnte ich jeden Augenblick spüren, der dort auf mich warten würde – vor dem weinrot leuchtenden Versprechen des Hains zu stehen, den Rucksack beladen mit Gurkensandwiches und einer Thermoskanne Vollmilch, hinunterzublicken auf die Stelle, an der deine heiße Hand nach meiner fasste. Besser als jeder Tag hier.

Wir fuhren sieben Stunden mit dem Auto. Jane hatte ihre Asienreise verlängert. Xavier machte sich Sorgen. Mir kam es absolut revolutionär vor, dass man einfach keine Lust mehr auf seinen Ehemann hatte und so lange wie möglich im Ausland blieb, aber das behielt ich für mich. Ich riss die Salt & Vinegar Lay's auf und gab die Chipstüte nach vorn durch. Xavier fing an zu kauen. Der Gestank von Philips Zigarillo erfüllte das Auto. Ich legte den Männern die Hände in die kräftigen Nacken. Das mochten sie.

5

»Es wäre wirklich besser, wenn du dein Telefon wieder anschließen lassen würdest«, sagt Xavier, »oder dir wenigstens ein Handy zulegst.« Er hat sich vor dem kalten Kamin niedergelassen. Die Standuhr tickt auf einmal sehr laut. Das Zimmer liegt in völliger Reglosigkeit da, als hätten sich alle Moleküle in der umgebenden Welt zum Stillstand verabredet. Heutzutage kommt dein letzter Lebenstag nicht mehr oft ungebeten zurück, aber da donnert er heran, ein schwerer Güterzug der Erinnerungen: die tickende Standuhr, als ich mich von oben herunterschlich, um zum Besenschrank zu gehen; das Geräusch von Mutter, wie sie in genau diesem Raum, in dem wir jetzt sitzen, nach Luft schnappte, die Stimme von Tränen oder Blut erstickt. Vielleicht hatte er ihr einen Schlag auf den Mund versetzt. Ich schlich mich aus der Halle heran. Dann war Daddy vor mir, füllte den Türrahmen mit seiner breiten Brust, ein riesiger Polyphem wie aus unseren Gutenachtgeschichten, alles stimmte, sogar das eine Zyklopenauge: Das andere war blau und lila zugeschwollen.

Dann legt sich der Schalter um, und ich höre wieder, was momentan vor sich geht: ein Rasenmäher, der Kardinal, der zeternde Spatz, ein Flugzeug im Landeanflug. Xaviers Blick wandert über das Gemälde seines Vaters, folgt meinen mädchenhaften Fußspuren in Richtung Himmel.

Ich setze ein fröhliches Gesicht auf. »Und? Wie geht es dem Göttergatten?«

Xavier schlägt seine eleganten Augen nieder und sieht zu Boden. Die Schultern fallen ein wenig ein. Minimal sind sie, diese Regungen. Niemand außer mir würde sie bemerken. Dann zwingt er sich zu einem Lächeln, genau wie ich. »Billy geht es ausgezeichnet.«

»Und deinen Eltern?«

»Mom geht's gut. Wie immer, sehr busy mit ihrem Onlineshop. Und Dad – mailt ihr euch nicht eh? Er tut immer so, als wüsste er was Neues von dir.«

Ich höre alle paar Monate von Philip. Er wohnt schon seit Jahren in einem der Pueblos Blancos in Andalusien, aber es ist nie aus ihm rauszukriegen, was er da eigentlich macht. Garantiert irgendwas mit Drogen. Wenn ich ihn frage, ob er malt, antwortet er nie.

»Du fehlst mir«, sagt Xavier. Es stimmt: Wenn es mir gut geht, ist es schön mit mir. Aber wir wissen beide, dass es mir seit langem nicht mehr gut geht.

6

Als wir den dichten, blauschwarzen Wald des Nordens erreichten, steuerte Philip mit unserem karamellfarbenen Lincoln eine Tankstelle an. Vor ein paar Minuten hatten wir ein Straßendorf mit Touristenlädchen durchfahren, in denen Schaufeln und Teetassen feilgeboten wurden. Gegenüber bohrte sich ein spitzer weißer Kirchturm in den Himmel.

An der Tankstelle hing ein Schild: JIMBOB'S. Auf dem Parkplatz drängten sich die Geländefahrzeuge. Ein Pfosten in der Nähe der Zapfsäulen besaß einen großen Haken, der auch damals schon bedrohlich auf mich wirkte, obwohl ich noch nicht wusste, dass daran die geschossenen Elche aufgehängt wurden. Zwei Frauen überquerten den Parkplatz. Die eine sagte etwas aus dem Mundwinkel, und die andere warf den Kopf in den Nacken und lachte so laut, dass ihre Mundhöhle, rosa wie Radiergummi, aufblitzte. Hier war man auf dem Land, wie ich es in Connecticut nie kennengelernt hatte. Benzingestank zog ins Auto.

Philip verschwand in der Tankstelle. Warum, wusste ich nicht: Snacks hatten wir in ausreichender Menge, im ganzen Land gab es nur zwei Läden, die seine extravaganten Zigarillos führten, und nach dem Weg zu fragen, verabscheute er. Er hielt zwei Männern in Arbeitsstiefeln die Tür auf, die die Hände voller Plastiktüten hatten. Als die Tür sich unter Glockengeklingel hinter ihm schloss, verzog der eine Mann mit einer Skoal-Kautabak-Mütze auf dem Kopf höhnisch das Gesicht.

Benommen schreckte Xavier mit einem Kopfzucken aus dem Schlaf. »Scheiße, wo sind wir?«

»Maine, glaube ich.«

»Ich fass es nicht.«

Philip tauchte wieder auf, einen Zettel in der triumphierend erhobenen Hand. Die Männer waren weggefahren, aber ich sah Philip jetzt mit ihren Augen: Sein langer, an der Spitze geflochtener Bart; das grau werdende Haar, das er als Pferdeschwanz trug; das über seinem runden Bauch spannende Metallica-T-Shirt, die Farbflecken auf seiner Haut, und, unten herum, sein Markenzeichen: Ein Longyi-Wickelrock, dieser in einem dunklen Pflaumenblau. »Seid ihr soweit, Kids?«

Der Anschnallgurt hatte eine Falte in Xaviers Wange hinterlassen. Fauchend sprang der Lincoln wieder an. Philip wedelte mit dem Zettel, als hätte er gerade das große Los gezogen. »Da ist er, genau wie sie's gesagt hatten!«

7

»Hast du auch Post gekriegt?«, will Xavier wissen. Ja, den Katalog vom Vermont Country Store – meine Kollektion langärmliger Baumwollnachthemden würde ihn sicher beeindrucken. Und Rechnungen – jede Menge Rechnungen. Ich muss es zugeben: Die Beschäftigung mit der Post ist nicht unbedingt meine Stärke. Die Briefe bleiben ungeöffnet in der Diele liegen. Aber ich hätte gern ein bisschen Anerkennung dafür, wie gut ich mich im Internet auskenne – ich habe eine eigene E-Mail-Adresse! Ein Abo für die Onlineausgabe der New York Times! Aber Xavier runzelt die Stirn. »Einfache weiße Umschläge«, fragt er weiter, »die erst mal unauffällig aussehen, bis man einen ganzen Stapel davon bekommt?«

»Klingt, als hättest du einen gekriegt.«

»Anfangs habe ich es nicht beachtet. Billy und ich … unsere Adresse ist bekannt. Schenkungen, Beiräte.« Er bringt das, was wie Angeberei klingen könnte, schnell heraus, einstudiert, als sei das seine Verteidigung gegen jeden, der nach dem trachtet, was er besitzt. »Ich bin einfach davon ausgegangen, dass jemand dahintersteckt, der irgendwie auf mich fixiert ist.« Wenn man aussieht wie Xavier, empfindet man es als normal, wenn andere auf einen fixiert sind. »Oder, was weiß ich, geisteskrank ist.« Er wendet den Blick ab.

»Und was stand in diesen Briefen?«

»Sie waren bedrohlich. Mir haben sie keine Angst gemacht« – da sind sie, die Privilegien des weißen Mannes: Eine Latte bedrohlicher Briefe, die einem nach Hause geschickt werden, verursachen keine Beunruhigung, selbst wenn man mit einem Afroamerikaner verheiratet ist –, »aber Billy wollte, dass ich die Polizei einschalte, so unerfreulich waren sie.« Er sieht mir wieder ins Gesicht. »Das habe ich natürlich nicht getan.«

Er hat also immer noch Angst vor mir. »Ich weiß nicht, was das mit mir zu tun haben soll.«

»Du brauchst wirklich ein funktionierendes Telefon.« Sein Adamsapfel hüpft. »Die anderen haben die Briefe auch bekommen.«

Wer sagt's denn: die anderen. Wusste ich doch, dass sie früher oder später auf den Plan treten würden.

»Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie die Dinger kriegen, hätte Cornelia nicht angerufen. Sie war bei einem Fußballspiel ihrer Kids, hatte sich in ihrem Minivan verschanzt und klang absolut hysterisch. Als sie herausfand, dass ich dieselben Briefe bekommen habe, ist sie ausgerastet. Sie hat das Ganze sehr persönlich genommen. Sie hat gesagt, bei dem letzten Schrieb war sie überzeugt, derjenige, der das geschrieben hat … weiß Bescheid.«

Ganz ruhig.

»Also habe ich Issy angerufen. Und ihr SMS geschickt. Und wieder angerufen. Schließlich hab ich sie auf Facebook Messenger zu fassen gekriegt, obwohl sie behauptet, soziale Medien würde sie nicht nutzen. Auf jeden Fall hatte ich eine veraltete Nummer von ihr. Sie wohnt nicht mehr in Chicago.«

»Soweit ich weiß, wohnt sie in El Paso.«

»El Paso war vor Chicago.« Xavier ist ein Typ, der sich eine Menge drauf einbildet, dass er weiß, wann die Leute Geburtstag haben und wem er Weihnachtskarten schicken muss. »Jedenfalls habe ich sie schließlich davon überzeugt, sich bei ihrem früheren Mitbewohner in Chicago zu melden, was auch richtig aufwändig war, weil er mittlerweile in Virginia wohnt. Es stellte sich heraus, dass es bei ihr genau dasselbe war. Sechs Briefe, alle aus Maine.«

»Und was sagt Billy dazu? Als du telefoniert hast, klang es, als würde er sich über irgendwas aufregen.«

Xavier zieht eine Augenbraue hoch, beißt aber nicht an. »Ben hat die Briefe auch bekommen. Allerdings ist er fast so schwer zu erwischen wie Issy. Und wie du dich erinnern wirst, ist er … er hat mich Drama Queen genannt. Er war jedenfalls felsenfest davon überzeugt, dass uns einfach irgendjemand verarschen will. Bis …« Xaviers Blick wandert nach draußen, über meine Schulter hinweg, als hoffe er, dass diese Geschichte anders enden könne. »Bis er mich zurückgerufen hat. Er war ganz außer sich. Ehrlich gesagt schlimmer, als ich ihn jemals gehört habe, seit …« Xavier beugt sich vor und presst die Hände aneinander. »Er hat seine Mom da oben in ein Pflegeheim gesteckt, wusstest du das?«

Für so was ist Sarah zu jung.

Er sieht, das Thema interessiert mich. »Sarah war verschwunden, eine Nacht lang. Irgendjemand hat sie aus dem Altersheim rausgelassen, und sie wurde erst am nächsten Morgen gefunden. Und willst du auch wissen, wo?« Er wartet meine Antwort nicht ab. »Sie ist auf der Bushrow Road herumgegeistert. Im Nachthemd. Als sie gefunden wurde, sagte sie, alles würde in Ordnung kommen, er sei ja jetzt wieder da.«

»Wer? Wer ist wieder da?«

»Du weißt schon«, sagt er. »Du weißt, wer.«

8

Wie sich herausstellte, war Philips Zettel eine Wegbeschreibung: Bei JimBob's nach rechts rausfahren. Kurz danach rechts auf den Schotterweg ohne Schild einbiegen (Bushrow Road). Bushrow entlangfahren, über den Berg hinweg. Haltet Ausschau nach einem kaputten Zaun, wenn es die zweite Steigung hinaufgeht. Schiebt das tote Gebüsch aus der Einfahrt. Findet den Weg zu uns.

An den Rändern war der Zettel illustriert, mit Zeichnungen der Bushrow Road, die sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, dem Hügel, der sich aus dem Tal erhob. Endlich konnten wir die Fenster runterlassen, und die Welt kam zu uns hereingerauscht. Was wir sahen, hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit den Zeichnungen. Nicht die Landschaft selbst, sondern ihre Essenz: die Sonnentupfer auf den Zweigen, das undurchdringliche Farndickicht, wo die Straße auf die Natur traf, der Schotterstaub, der unter unseren Reifen aufwirbelte. Ich konnte nicht begreifen, wie jemand eine Geschichte mit nichts als einem einfachen Bleistift erzählen konnte, oder warum jemand eine Wegbeschreibung so liebevoll illustrierte, aber da kannte ich auch Sarah noch nicht.

Der Lincoln erklomm den zweiten Hügel, bis wir ein zerbrochenes Zaunstück sahen. Wir hielten an einer Stelle, an der es sehr steil bergauf ging. Findet den Weg zu uns. Philip mühte sich aus dem Auto. Er trat gegen das Gebüsch. Der Saum seines Longyis verfing sich in einem Zweig. Laub- und Nadelbäume drängten uns mit ihren Ästen entgegen. Surrend flog ein Moskito zum Fenster herein. Ich wartete, bis er auf meinem Unterarm gelandet war, und zerklatschte ihn zu einem roten Fleck.

Philip zog an den toten Büschen. Er lachte. Er fluchte. Wir hatten eine felsige Küste erwartet, vielleicht ein Hippiemotel oder eine einsame Hütte am Rand einer Steilklippe. Xavier drehte sich zu mir um und sagte, sein Atem heiß und stinkend: »Keine Ahnung, was er sich jetzt wieder ausgedacht hat, aber das wird richtig beschissen.«

Verhakelte Äste größer als ein Mann lösten sich unter Philips Griff. Triumphierend reckte er die Fäuste. An einem Arm tropfte das Blut herunter. Zehn Minuten brauchten wir, bis wir den Fahrweg freigemacht hatten. Der Motor heulte auf, als wir durch das Schotterbett zwischen Straße und Einfahrt mussten. Quietschend schrabbten Zweige am Auto entlang. Xavier lehnte sich vor zur Windschutzscheibe, aber vor uns war nichts außer dem rumpelnden Schotterweg unter einer Kathedrale lebendigen Grüns. Der Wald war zu beiden Seiten tief und dicht. Die Luft war kühl. Ich wünschte, ich hätte ein paar Fragen gestellt.

»Was ist das für ein Scheißurlaub?«, fragte Xavier.

»Das ist Urlaub für die Seele, Sohn.«

Als wir am Ende der Einfahrt ankamen, öffnete eine breitschultrige Frau die Fliegentür des Blockhauses direkt vor uns. Sie trat zwei Schritte vor die Tür. Braunes, lockiges Haar floss ihr über die Schultern, die Arme und bis unter die Taille. Sie hatte einen üppigen Busen, der ohne jeden BH unter ihrem senffarbenen T-Shirt hüpfte. Sie warf den Kopf in den Nacken und jodelte. Ihre Stimme hallte durch das Tal.

Das Jodeln rief die Leute herbei, die dort zu wohnen schienen. Ich musste an das Land der Munchkins denken. Mutter liebte die Szene, in der Dorothy die Tür aufmacht, und die ganze Welt ist auf einmal in Farbe – später will Dorothy allerdings unbedingt wieder zurück nach Kansas. Die Munchkins kommen herausgekrochen, um sich das starke Mädchen anzuschauen, das die böse Hexe des Ostens getötet hat. Genau so wirkte es jetzt, als die Unbekannten aus dem Wald und den Blockhütten auftauchten und sich vorsichtig unserem Auto näherten.

Es waren mehrere Dutzend Personen, die meisten Erwachsene in abgetragenen T-Shirts, aber es gab eine Familie, die aussah, als ob sie gerade Unserer Kleinen Farm entsprungen wäre: eine zierliche, adrette Frau und ein kleines, ungefähr sechs Jahre altes Mädchen, die beide geflochtene braune Zöpfe, gestärkte weiße Schürzen und altmodische Stiefelchen trugen. Der Familienvater hatte eine schwarze Hose mit Hosenträgern an und einen breiten Strohhut auf dem Kopf.

Die große Frau, die uns als Erste bemerkt hatte, pflückte ein nacktes Kleinkind vom Pfad, als sie auf uns zuging. Der Kleine steckte die Hand in ihren Ausschnitt, um an der Brustwarze herumzuspielen. Philip lehnte sich aus dem Fenster und fragte: »Kann ich hier parken?«, aber statt ihm zu antworten, stimmte sie mit kräftiger Altstimme ein Lied an: »Ich besaß einen Hengst, und der hieß Bill.« Die Melodie lockte die anderen herbei. Sie fielen in das Lied ein und umrundeten dabei unser Auto:

der rannte wie wild und stand nicht still.

dann kam ein Tag, da lief er weg

und ich mit ihm, durch jeden Dreck.

Das Lied wurde immer schneller, der Text immer abstruser. Die Singenden schienen immer mehr Spaß daran zu haben, klatschten und lachten, während sie im Kreis um unser Auto tanzten.

In Frisco Bay ist 'ne Walkuh daheim,

die Schnitzel frisst in Massen vom Schwein –

ganze Seidel, ganze Tonnen

ganze Schachteln, voller Wonnen.

Xavier hielt sich erschreckt den Mund zu. Er sah seinen Vater an und schien darauf zu hoffen, dass der Narrenstreich ein Ende nahm. Aber wenn es ein Witz war, dann war Philip mit eingeweiht. Er erhob die Hände zum Autohimmel des Lincoln, als sei er in der Kirche. Die Fremden umtanzten uns, ein schwindelerregender Wirbel fröhlichen Lärms und stampfender Körper, und wir wurden in eine Wolke aus Schweiß und Staub gehüllt. Der Gesang war kräftig und gefühlvoll, wenn auch nicht immer ganz melodisch.

Sie lacht so gern und lächelt breit,

dann sieht man Zähne, meilenweit,

und Zäpfchen und Rippchen

und Dinge klein und zäh.

Ein schlanker Mann um die vierzig mit einem langen dunklen Pferdeschwanz löste sich von der Gruppe. Er kam auf uns zu, als sei er der Chef. Ich saß relativ weit von ihm entfernt auf dem Rücksitz, aber mit seinen nicht blinzelnden Augen fand er mich sofort. Philip stieg aus. Er hielt dem Mann die Hand hin, der schließlich den Blick von mir abwandte.

Philips Tür stand jetzt offen, und eine Strophe nach der anderen schallte laut zu uns herein: »Ich stieg im Ballon einst so hoch empor – Das Erdenvolk kam mir wie Schweinchen vor. Nun sagt mal, was man in solchem Fall tut? Man trampelt mit Füßen auf seinen Hut.« Der Text war völlig abstrus, aber die Leute sangen ihn trotzdem mit echter Begeisterung.

Der Chef umarmte Philip wie ein Bär. In dieser Umarmung standen sie da, während die anderen zum Schluss des Liedes kamen, die Hände gen Himmel erhoben und jubelten. Ein Geschwader schwarzer Vögel flog aus den Bäumen auf.

Über Philips Schulter hinweg bohrten sich die Augen des Mannes wieder in meine. Er grinste, als sei mein Anblick ein Kompliment für ihn. Die anderen traten vor, begrüßten Philip ebenfalls, schüttelten ihm die Hand und schlugen ihm auf die Schulter, als sei er ein alter Freund. Das Kleinkind ließ sich an seiner Mutter herunterrutschen, befreite sich und kam zu meinem offenen Fenster gerannt. Xavier und ich hatten uns wortlos darauf verständigt, im Auto sitzen zu bleiben. Aber das Kind ähnelte dir zu sehr, als dass ich hätte widerstehen können (damals sah ich dich in allem, was klein war – Kätzchen, Steinen, Eicheln). Augen und Haare des Kindes waren dunkler, aber in allem Wesentlichen sah es aus wie du. Ich merkte, dass ich am Türgriff riss und unter den vielen, mich beobachtenden Augen hinaustrat ins Licht des Nordens.

»Na du.« Ich ging in die Hocke.

Das Kerlchen lächelte mich breit an. Ohne jede Vorwarnung schlang es seine warmen Hände um meinen Hals. Der Kleine roch nach Pipi und Haferbrei und dem Achselschweiß seiner Mutter. Er haute die Zähne in meinen Oberarm. »Tomas!«, mahnte seine Mutter. Er rannte in den Wald davon. Niemand folgte ihm.

»Das sind meine Kinder«, sagte Philip zu dem Mann und allen anderen. »Mein Sohn Xavier.« Xavier stieg mit mürrischem Gesicht aus.

Die Versammelten sagten wie aus einem Mund: »Hallo, Xavier.«

»Und das ist Saskia.«

»Hallo, Saskia«, sagten alle gleichzeitig. Und damit löste sich die Gruppe auf, als habe jemand ein Zeichen gegeben, und alle gingen zurück an die Arbeit – die altmodisch gekleidete Familie, die jodelnde Frau, alle außer dem Clanchef.

»Willkommen zu Hause«, sagte er. Seine Stimme klang melodisch und präzis, als sei ihm jede Lüge unmöglich. »Willkommen in Zuhause.«

»Wir wissen noch gar nicht, wie du heißt«, erwiderte Philip. Er wirkte erschreckend unsicher.

»Ich bin Abraham.« Aber Abraham sah nicht mehr in Philips Richtung. Er betrachtete mich. Er durch-schaute mich – nie hatte ich dieses Wort verstanden, bis jetzt. Er trat auf mich zu und legte seine kühlen Finger an mein Handgelenk. »Warum bist du so traurig, Saskia?«

»Ich bin gar nicht traurig.« Aber ich schämte mich, sobald ich das gesagt hatte.

Rein äußerlich gesehen war an seinen Augen nichts Besonderes: braun mit ein paar goldenen Pünktchen darin. Am Kinn hatte er ein Bärtchen. Die Nase war irgendwann mal gebrochen worden und ein wenig schief und krumm zusammengewachsen. Hübsch konnte man ihn wirklich nicht nennen. Es gab keine Erklärung dafür, warum ich mich nicht an ihm sattsehen konnte.

Und dann: eine Feder.

Aus dem Himmel schwebte eine Feder herab, eine schwarze Feder mit goldenem Rand. Eine Feder genau wie die, die du mir am Tag deines Abschieds geschenkt hattest. Abraham hob sie auf. Er hielt sie mir hin und sagte: »Na so etwas.«

Ich brach in Tränen aus.

Xavier bewegte sich auf mich zu; ich weinte zum ersten Mal, seit er mein Bruder geworden war. Abraham hielt die Hand hoch, mit der er mich nicht am Arm berührte, und gebot Xavier Einhalt. Er sprach leise, nur für meine Ohren bestimmt. »Hier darf man ruhig traurig sein, Saskia. Wir lassen dir deine Trauer. Aber hier kannst du auch Freude finden. Danach sehnen wir uns so.«

9

»Abraham ist seit über zwanzig Jahren tot«, erinnere ich Xavier.

»Und wenn er doch noch lebt?«

»Die Leiche.« Ich lache, weil ich recht habe und er nicht. »Seine Leiche wurde im Wald gefunden, falls du das vergessen haben solltest. Er ist tot, Xavier. Göttin sei Dank.« Das ist scherzhaft gemeint, als Hommage an unsere gemeinsame pseudo-spirituelle Vergangenheit, aber ob das bei ihm ankommt, kann ich nicht sagen.

Er fasst in seinen Leinenbeutel und händigt mir sechs weiße Umschläge aus, jeder von Hand mit ordentlichen schwarzen Buchstaben beschriftet. Abgestempelt sind sie in Maine. Auf den Briefmarken ist die amerikanische Flagge abgebildet.

Der oberste Brief besteht nur aus drei Worten: Ich grüße dich.

Xavier hat sein ganzes Erwachsenenleben lang nichts anbrennen lassen mit seinem pornografischen Mund und seinem Just-Fucked-Hair. Irgendein Junge steckt dahinter, ein Junge, der was falsch verstanden hat und zufällig in Maine wohnt. Wahrscheinlich ein Fan von Philip. Ich bin auch schon mal auf der East Sixth Street erkannt worden – »Du bist auf dem Gemälde von Philip Pierce! Zwillinge!« Oder vielleicht ist es jemand, der sich für Sekten interessiert. (Aber die anderen? Was ist mit den anderen? Warum haben sie Briefe bekommen? Es muss irgendeine logische Erklärung geben, sie ist mir nur noch nicht eingefallen.)

Im Zweiten steht: Habe ich dir gefehlt?

Beim Dritten schlucke ich: Du fehlst mir so.

»Ich liebe es so«, sagte Abraham oft, wenn er unser Land betrachtete. »Ich brauche es so«, wenn er wollte, dass eine Aufgabe auf eine bestimmte Art und Weise erledigt wurde. »Du wolltest es selbst so«, wenn er Gabby Widerworte gab. »Danach sehnen wir uns so«, am Tag unserer Ankunft.

Andererseits benutzen viele Leute ständig das Wort »so«. Oder nicht?

Der Vierte: Ich brauche dich so.

Das kann nicht Abraham sein. Er hat uns nie gebraucht. Wir meinten, ihn zu brauchen, das war das Problem.

Xavier lässt meine Hände nicht aus den Augen. Ich mühe mich mit dem dünnen Papier, als ich den fünften Brief aus dem Umschlag ziehe: Zeit, nach Zuhause zu kommen. Der arme Xavier, rechnet immer mit dem Schlimmsten. Ich rede mit ihm wie mit einem verängstigten Kind. »Irgendjemand weiß also, dass du in Zuhause gewohnt hast. Das ist kein Geheimnis.«

Er wartet, bis ich den sechsten Brief geöffnet habe. Den Zettel auseinanderfalte. Die Worte ausspreche, über die Glasvitrine und die Kommode, Großmutters Standuhr, die zwei passenden Hepplewhite-Stühle, den in der Morgensonne schwebenden Staub. Aber ich kann es nicht.

Er schnappt sich den Brief in meinem Schoß. In seinem klaren Tenor liest er ihn selbst vor: »Alle fünf. Sonst …«

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