Die erste Frau - Wolfgang Ebert - E-Book

Die erste Frau E-Book

Wolfgang Ebert

0,0

Beschreibung

Am 1. Februar 1767 stach der Dreimaster "Étoile" von Rochefort aus in See und nahm als Verpflegungsschiff an der ersten französischen Weltumseglung unter Kommandant Louis-Antonie de Bougainville teil. Sein Auftrag lautete: Suche nach Terra Australis Incognita, dem legendären Südland. Heimlich an Bord: Jeanne Baret!Sie ist Die erste Frau, die als Mann verkleidet die Welt umsegelt. Über zwei Jahre lebt sie mit 114 rohen, stinkenden und leidenden Männern zusammen. Gelingt es, ihr Inkognito zu wahren? Höhepunkt ist ihre Begegnung mit der exotischen Welt der Südsee-Insulaner auf Tahiti.20 Jahre später nimmt Jeanne an der Erstürmung der Bastille teil. Sie folgt dem Demagogen Desmoulins, der mit seinen feurigen Reden - "An die Waffen!" - die Menge entflammt.Ein fulminantes Romandebüt über ein außergewöhnliches Frauenschicksal im Zeitalter der großen Entdeckungen und der französischen Revolution.Am 1. Februar 1767 stach der Dreimaster "Étoile" von Rochefort aus in See und nahm als Verpflegungsschiff an der ersten französischen Weltumseglung unter Kommandant Louis-Antonie de Bougainville teil. Sein Auftrag lautete: Suche nach Terra Australis Incognita, dem legendären Südland. Heimlich an Bord: Jeanne Baret!Sie ist Die erste Frau, die als Mann verkleidet die Welt umsegelt. Über zwei Jahre lebt sie mit 114 rohen, stinkenden und leidenden Männern zusammen. Gelingt es, ihr Inkognito zu wahren? Höhepunkt ist ihre Begegnung mit der exotischen Welt der Südsee-Insulaner auf Tahiti.20 Jahre später nimmt Jeanne an der Erstürmung der Bastille teil. Sie folgt dem Demagogen Desmoulins, der mit seinen feurigen Reden - "An die Waffen!" - die Menge entflammt.Ein fulminantes Romandebüt über ein außergewöhnliches Frauenschicksal im Zeitalter der großen Entdeckungen und der französischen Revolution.Am 1. Februar 1767 stach der Dreimaster "Étoile" von Rochefort aus in See und nahm als Verpflegungsschiff an der ersten französischen Weltumseglung unter Kommandant Louis-Antonie de Bougainville teil. Sein Auftrag lautete: Suche nach Terra Australis Incognita, dem legendären Südland. Heimlich an Bord: Jeanne Baret!Sie ist Die erste Frau, die als Mann verkleidet die Welt umsegelt. Über zwei Jahre lebt sie mit 114 rohen, stinkenden und leidenden Männern zusammen. Gelingt es, ihr Inkognito zu wahren? Höhepunkt ist ihre Begegnung mit der exotischen Welt der Südsee-Insulaner auf Tahiti.20 Jahre später nimmt Jeanne an der Erstürmung der Bastille teil. Sie folgt dem Demagogen Desmoulins, der mit seinen feurigen Reden - "An die Waffen!" - die Menge entflammt.Ein fulminantes Romandebüt über ein außergewöhnliches Frauenschicksal im Zeitalter der großen Entdeckungen und der französischen Revolution.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 648

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



© Verlag KOMPLETT-MEDIA GmbH 2013, München / Grünwaldwww.der-wissens-verlag.de ISBN 978-3-8312-0401-4

Der Titel ist auch als ebook (ISBN 978-3-8312-5733-1) erschienen.

Design Cover: Heike Collip, Pfronten Titelfotos: Papagei: Shutterstock / Tristan Tan; Schiff: Shutterstock / Danussa; Blume: Shutterstock, Le Do; Rückseite: Papagei: Shutterstock / Dmitrijs Mihejevs Satz: Pinsker Druck und Medien, Mainburg

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Wolfgang Ebert

DIE ERSTE FRAU

Roman

INHALT

GLÜCKSSTERN

BÉBÉ

KÖNIGREICH DER PFLANZEN

DAS ENDE DER UNSCHULD

SCHICKSALSTAG

VERWANDLUNG

AUFBRUCH INS UNBEKANNTE

UNSICHTBARE MATERIE

DAS MALHEUR

DIE KLOAKE PARIS

DAS VERKORKSTE GENIE

EIN GROßES WUNDER

QUACKSALBER

IM ZAUBERGARTEN

UNTER VOLLEN SEGELN

DER SCHÖNE PRINZ

FLAUTE

DIE NEUNSCHWÄNZIGE

HÖLLISCHE BRUT

RADIKALE PHILOSOPHEN

DER STACHEL IM FLEISCHE

GELOBTES LAND

BERAUSCHENDE PFLANZENJAGD

EIN GRANDSEIGNEUR

DIE HÖLLE BRICHT LOS

GOTTES WERK UND TEUFELS BOTSCHAFT

GROßER WÜTENDER HIMMEL

DAS TEUFELSKAP

EINE GOTTLOSE GEGEND

EDLE WILDE

AM ENDE DER WELT

MYTHOS SÜDLAND

BÖSES BLUT

SEHNSUCHTSFLECKEN

WAHINE! WAHINE!

GLÜCKSELIGE INSEL

IN DER HÖHLE DES LÖWEN

FEST DER RATTEN

FAZIT EINES LEBENS

DER KREIS SCHLIEßT SICH

NACHTRAG

PERSONENREGISTER

GLOSSAR

AUSGEWÄHLTE QUELLEN

GLÜCKSSTERN

Es war eiskalt am 1. Februar 1767, als Jeanne über den Platz vor der Corderie Royale in Rochefort ging. Auf der langen Reeperbahn flochten an die hundert in Lumpen gekleidete Häftlinge Hanf zu langen Seilen und dicken Tauen. Jeannes Gesicht war so gerötet, dass die Sommersprossen auf der sonst so blassen Haut kaum zu sehen waren. Als Jeanne das Tor an der westlichen Stadtmauer passierte, fand sie sich mitten in der pulsierenden, lärmenden Geschäftigkeit des Hafens. Jeanne bekreuzigte sich, als sie unter all den Schiffen, die mit gerefften Segeln auf der Reede lagen, den Namen des großen Dreimasters las, der ganz vorne am Pier lag. Am Bug stand in geschwungenen Lettern: Étoile. Jeanne hoffte, dass dieser Stern ihr Glück bringen würde.

Die Étoile lag wie eine fette Gans im Wasser, mit breitem Hinterteil und dickem Bauch. Obwohl das Schiff schon seit Tagen Fracht für die große Reise aufnahm, stauten sich vor dem Pier dutzende Lastkarren. Fuhrleute bahnten sich peitschenknallend und schreiend einen Weg zum Schiff. Es war so kalt, dass viele den Kopf einzogen, sich in Decken wickelten und den Kragen ihres Übermantels hochstellten. Immer neue Ballen, Kisten und Tonnen aller Größen, auch Bretter, Balken und Feuerholz wurden angeliefert. Die Gesichter der jungen Offiziere in blauweißen Uniformen glühten rot vor Ärger, weil trotz lauthalser Befehle nur schwer Ordnung in das Durcheinander zu bringen war. Mithilfe eines Flaschenzugs hievten Matrosen eine blökende Kuh an Deck. Grüner Kot lief dem verängstigten Tier an den Beinen herunter und klatschte auf den Pier.

Neben Jeanne humpelte Philibert Commerson zum Schiff. Der Doktor der Medizin und Königliche Botaniker ärgerte sich über seine Unbeholfenheit, denn trotz einer früheren Verletzung hatte er normalerweise einen forschen Schritt. Auf dem Weg von Paris, an einer Poststation, war er jedoch einem unachtsamen Kutscher in die Quere gekommen. Ein Rad der Droschke war gegen sein lädiertes rechtes Bein gestoßen, das ihn nun noch mehr behinderte.

Phile, wie Jeanne ihn liebevoll nannte, war ungeduldig und in gereizter Stimmung, weil sich die Abfahrt der Étoile immer wieder verschoben hatte. Ständig dringlicher und ungehaltener waren seine Fragen nach den Ursachen des langen Aufenthalts geworden, aber der Kapitän hatte ihm keine stichhaltigen Erklärungen geben können. Anscheinend hatte der Hafenmeister die Reparatur und Versorgung des Schiffes aus unerfindlichen Gründen verzögert; Phile vermutete einen anderen Grund. Während Jeanne einen Teil ihrer persönlichen Habseligkeiten schleppte, überwachte Phile die Verladung der umfangreichen Ausrüstung. Jeannes Herz klopfte bis zum Hals. Hätte Phile nicht in seiner ganzen Gewichtigkeit neben ihr gestanden, wäre sie wohl nie an Bord gegangen. Auch er war nervös, verbarg es aber hinter einem besonders forschen Auftreten.

Jeanne hoffte, dass ihre graue Kniehose mit den schwarzen Strümpfen und Schnallenschuhen, der offene Gehrock aus grober Wolle, Weste und Halstuch mit Rüschen, ihre wahre Identität verbergen würden. Zum Glück hatte sie kleine Brüste, die sie mithilfe eines engen Leibchens so flach drückte, dass sie nicht mehr wahrnehmbar waren. Sie hatte eine braune Kurzhaarperücke über ihren noch immer ungewohnten Bubikopf gezogen, auf dem ein kleiner, schwarzer Dreispitz saß.

Seit Phile in Paris Jeannes lange Haare abgeschnitten hatte, fühlte sich ihr Kopf leichter an, aber auch nackt und verwundbar. Traurig hatte sie auf die Locken geschaut und sich mit einem Mal schutzlos gefühlt, einer ungewissen Zukunft ausgeliefert. Bei dem Gewühl wird wohl niemand auf den Assistenten eines fein gekleideten Herrn achten, versuchte sie sich zu beruhigen. Schließlich wirkte Phile in seiner gesetzten Haltung und dem gut geschnittenen Samtanzug ganz wie ein vornehmer Vertreter der Bourgeoisie.

*    *    *

Gerade einmal vier Monate waren vergangen, seit an jenem strahlenden Oktobertag ein Abenteuer seinen Anfang genommen hatte, das kein Mensch je für möglich gehalten hätte. Am wenigsten Jeanne selbst. Sie fixierte gerade eine gelbe Blüte des Habichtskrauts, als der Doktor der Medizin in das große Arbeitszimmer stürmte und Jeanne ein Pergament hinhielt, auf dessen oberem Teil ein blaues Lilienwappen prangte, das den Brief als Schreiben des Marineministers auswies. Philes Gesicht war gerötet. “Hier, Mademoiselle!“, drängte er ungeduldig. „Na, lies schon!“

Seine ungestüme Erregtheit übertrug sich auf Jeanne. Was war passiert, dass der sonst so gesetzte Naturforscher vor Freude überschäumte? Ihre Hände zitterten, als sie das Schreiben zu lesen begann. „Ausgehend von der Information, dass Sie umfassendes Wissen über alle Aspekte der Naturwissenschaften haben, ist Seine Majestät erfreut, Sie zum Doktor und Botaniker einer Expedition größten Ausmaßes zu berufen, damit Sie alle Beobachtungen und Entdeckungen tätigen, die an den Küsten und im Innern der angesteuerten Länder möglich sind. Sie sollen Proben diverser Pflanzen, Tiere und Mineralien mitbringen. Ich fordere Sie auf, genaue Aufzeichnungen zu tätigen, damit Sie am Ende der Reise in der Lage sind, einen exakten Bericht abzuliefern.“

Phile riss ihr das Papier aus der Hand, nahm Jeanne in seine Arme und wirbelte sie so heftig herum, dass ihr weites dunkelblaues Arbeitskleid flatterte, als hätte sie Flügel. „Ich habe vom König den Auftrag bekommen, an der ersten französischen Weltumsegelung teilzunehmen! - Denke nur, Jeanne, welche unerschöpflichen Möglichkeiten sich auftun, wenn ich als erster Naturkundler die Welt umrunde.“

Eine unheilvolle Ahnung stieg in ihr auf und schnürte die Kehle zu. Was sollte aus ihr werden?, fragte sie sich voll banger Gedanken, während Phile sie aus wasserblauen Augen anstrahlte. „So eine wissenschaftliche Expedition hat es noch nicht gegeben! Ich kann mehr unbekannte Spezies entdecken als irgendein Forscher vor mir. Und am Ende der Reise winken Ruhm und Anerkennung!“

Wie versteinert stand Jeanne im Salon, der zur Bestimmung der vielen getrockneten Pflanzen genutzt wurde. Panik erfasste sie. Was hatte sie sich nur für Hoffnungen gemacht! Wollte er sie nach allem, was zwischen ihnen war, nun einfach auf die Straße setzen? Sie hatte Angst, etwas zu verlieren, was sie gerade erst zu genießen gelernt hatte. Seit sie diesen Mann kannte, war ihr Leben völlig verändert. Der angesehene Bürger Commerson hatte sie zu sich emporgehoben, sie, ein Bauernmädchen. Ihr neues Heim kam ihr vor wie ein Palast, wenn sie an den Kuhstall dachte, in dem sie einst gehaust hatte.

Jeanne erinnerte sich noch genau: Schon bei ihrem ersten Zusammentreffen war sie beeindruckt gewesen von dem hohen Herrn, seiner vornehmen Kleidung, der kräftigen Statur. Dazu kam das ernste, runde Gesicht mit der feinen Nase. Sie liebte den schmalen Mund und die dichten Brauen, die wie zusammengewachsen aussahen, wenn er die Stirn runzelte. Ihr war sofort aufgefallen, dass der Mann statt einer Perücke seine natürlichen braunen Haare trug, die an den Seiten in fünf parallelen Rollen frisiert waren. Der Haaransatz auf der hohen Stirn war so weit zurückgesetzt, dass sie sich leicht vorstellen konnte, wie der Mann mit kahlem Kopf aussehen würde.

Auch Monsieur le Docteur hatte Gefallen gefunden an dem einst so unbedarften Mädchen, obwohl sie nie verstand, was ihn angezogen haben mochte. Sie hatte ihrem Äußeren nie Bedeutung beigemessen, nicht ihrer schlanken Figur mit den ausladenden Schultern: dem breiten Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollem Mund, den braunen Augen mit dichten braunschwarzen Brauen, dem langen kastanienbraunen Haar, das sie in Locken trug.

Jeanne fühlte sich müde und leer. Sie setzte sich an den Arbeitstisch und schaute wieder und wieder auf den Brief, der nicht nur ein Stück Papier mit dem imposanten Wappen des Königs war, sondern vor allem Unglücksbote. Am liebsten hätte sie das Schreiben zerrissen, die Uhr einfach zurückgedreht. Tränen liefen über ihre Wangen und ließen die Sommersprossen auf dem herben Gesicht noch dunkler erscheinen. Wie in ihrer Kindheit suchte sie auch jetzt Trost bei ihrer Puppe Bébé, drückte sie an sich und roch ihren beruhigenden Heugeruch. Unter allen Umständen wollte sie versuchen festzuhalten, was sie gewonnen hatte. Was immer ich tue, sagte sie sich, nur kein unbedachtes Wort, keine Klagen, keine Vorwürfe. Das würde ihn nur erzürnen. Sie musste versuchen zu schmeicheln, an sein Gewissen, seine Verantwortung appellieren und ihn unterschwellig an sein Versprechen erinnern.

Philes Begeisterung war wie weggewischt, als er sah, wie Jeanne mit verkniffenem Gesicht wahllos ein paar Pflanzen hin- und herschob. „Was ist mit dir? Freust du dich nicht?“ „Liebster Phile, du hast dir die Anerkennung wahrlich verdient. Natürlich freue ich mich für dich.“ Jeanne legte die Arme um seinen Hals und sah ihn zärtlich an: „Ich will dich nicht verlieren. Das ist alles.“ Langsam löste sie ihre Arme von seinem Nacken und schlug nach kurzem Zögern die Augen nieder. „Was soll aus mir werden, wenn du für Jahre weg bist?“ Phile nahm ihre Hände und drückte sie an seine Brust. „Ich habe über deine Zukunft nachgedacht, Jeanne. Du wirst hier in der Wohnung bleiben, bis ich wieder nach Paris zurückkomme. Du kannst während meiner Abwesenheit auf meine Bücher aufpassen und die Pflanzensammlung pflegen.“

Jeanne schwieg, was Phile mehr ärgerte, als wenn sie zornig widersprochen hätte. „Erwartest du etwa, dass ich diese einmalige Chance verpasse? Sei nicht trotzig, Jeanne! Für deinen Unterhalt wird gesorgt sein. Ich werde das nötige Geld hinterlegen.“ Phile wandte sich brüsk ab, verließ das Zimmer und ließ sie in ihrer Verzweiflung zurück.

Jeanne wusste wohl, dass sie allen Grund gehabt hätte, zufrieden zu sein. Statt sie auf die Straße zu setzen, garantierte er ihr ein Auskommen, obwohl er dazu keineswegs verpflichtet war. In den Augen der Welt war sie nichts weiter als seine „Metze“, die in Fleischessünde lebte. Aber Verzagtheit konnte sie sich nicht leisten, dazu stand zuviel auf dem Spiel. Ihre Gefühle für den Mann waren mit den Jahren immer mehr gewachsen. Die beiden waren nicht nur ein Liebespaar, sondern arbeiteten auch eng zusammen. Doch der scheinbaren Sicherheit, die ihr geboten wurde, traute sie nicht. Wenn Phile erst fort war, konnte viel passieren. Eine unverheiratete Frau hatte keinerlei Rechte. Es war ihr längst zur Gewissheit geworden: Als Frau war sie ohne Mann schutzlos.

*    *    *

Zuerst kam ihr die Idee verwegen vor, vor allem aber undurchführbar. Doch bald wurde Jeanne klar, dass es keinen anderen Ausweg gab, wenn sie nicht auf Jahre von Phile getrennt sein wollte. In ihrer Verzweiflung versuchte sie zunächst zaghaft, Phile zu überreden, sie mitzunehmen, indem sie ihn durch beiläufig hingeworfene Bemerkungen zu verunsichern suchte. „Phile, wie willst du alleine zurechtkommen? Du bist nicht gesund, dein Bein bereitet dir Probleme. Exkursionen in Urwälder, auf Berge und einsame Inseln sind anstrengend. Du brauchst Unterstützung.“ Aber Phile wies nur jedes Mal darauf hin, dass ihm für die Dauer der Weltreise ein Assistent seiner Wahl zugesichert worden sei. Der könne sich um ihn kümmern.

Nachdem sie sich abends geliebt hatten, glaubte Jeanne den rechten Moment gekommen, ihn direkt zu konfrontieren. „Phile, ich kann keine drei Jahre ohne dich leben. Ich fahre mit dir! Man wird mich nicht entdecken.“ „Das ist doch Unsinn! Frauen ist es streng verboten, auf einem Schiff der Kriegsmarine Seiner Majestät zu reisen! Das weißt du. Und wie willst du vor einer Mannschaft roher Kerle verbergen, dass du eine Frau bist? Das ist doch absurd!“ Doch Jeanne ließ sich nicht beirren und sagte trotzig: „Ich tarne mich als Mann!“ Phile schüttelte nur ungläubig mit dem Kopf. Er hielt die Idee für kindisch, ja närrisch, und wollte nichts mehr davon hören. - So lebte das Paar eine Zeitlang in unbehaglichem Schweigen, bis Jeanne sich ein Herz fasste und auf Phile einredete, schmeichelte und bettelte, weinte und argumentierte. Schließlich begann er sich ernsthaft auf die Idee einzulassen, und so reifte in Phile langsam der Entschluss, Jeanne mitzunehmen in die ferne Welt. Aus Jeanne Baret wurde Jean Bonnefoy, Phils Assistent. Es war eine mutige, ja tollkühne Entscheidung, schließlich stand nicht nur sein Ruf auf dem Spiel, sondern seine ganze Zukunft. Von der herben Strafe, die beide treffen würde, ganz zu schweigen.

*    *    *

Jeanne zuckte zusammen, als die barsche Stimme an der Gangway nach ihrem Namen fragte. „Bonnefoy, Jean“, antwortete sie kleinlaut. „Lauter!“, fuhr sie der Offizier ungeduldig an. „Jean Bonnefoy, Monsieur!“, rief sie mit erhobener Stimme und versuchte ihr dabei einen tieferen Klang zu geben. An Deck ein Gewusel von Schauerleuten, Stimmengewirr, laute Kommandorufe. Polternd rollten große Fässer über die Decksplanken, Holzwinden quietschten, über die Stauer schwere Lasten tief in den Bauch der Étoile abseilten.

Sie standen am großen Mast in der Mitte des Schiffs, als ein kleiner, drahtiger Mann auf das Paar zukam und sich vorstellte. „Pierre, Messieurs, Pierre Saussi, Maat an Bord Seiner Majestät Étoile!“ Dann steckte er seine von Tabaksud gebräunte Tonpfeife wieder in das wilde Bartgestrüpp, das den Mund überwucherte. Von seinem Gesicht waren nur die breite Nase und zwei schwarze Augen zu sehen. Der Unteroffizier trug eine dunkelblaue Hose und schwarze Jacke aus schwerem Wollstoff. Seine Strickmütze, deren Spitze überkippte, hatte er schräg über die Stirn gezogen, am Gürtel hing ein abgewetztes Lederfutteral, aus dem der Griff eines langen Messers herausragte. Jeanne mochte Pierre Saussi sofort, denn trotz seines verwegenen Aussehens wirkte er auf sie vertrauenswürdig.

Maat Saussi hielt das zerkaute Mundstück seiner Pfeife zwischen den Zähnen und nuschelte. „Das Schiff steht für die Dauer der Reise unter dem Kommando der königlichen Marine. Eigentlich ist es ein Handelsschiff mit den dazugehörigen Offizieren.“ Saussi wischte mit einer schnellen Handbewegung über die Étoile. „Damit Sie sich an Bord zurechtfinden, erkläre ich Ihnen die Örtlichkeiten. Wir stehen hier auf dem Hauptdeck. Die Plattform, die das Deck vom Mast in der Mitte des Schiffes bis zum Heck, also dem Ende des Schiffs, überragt, ist das Achterdeck.“ Der Maat wies mit dem Pfeifenstiel auf die hintere Hälfte des Schiffes. „Das Achterdeck ist sozusagen die Kommandobrücke. Ihre Unterkunft für die nächsten Jahre liegt genau darunter, im Deckshaus. Achtern logieren, über zwei Decks verteilt, alle Offiziere und die Überzähligen oder Die Messieurs, wie wir Seeleute die Gäste an Bord nennen, die keine seemännischen Pflichten haben.“

Pierre Saussi lotste Jeanne und Phile in einen großen Raum im Deckshaus, dessen ganze Länge von einem großen Tisch eingenommen wurde. „Das ist die Messe, wo Sie und die Offiziere speisen werden.“ Als Pierre eine Tür öffnete und seelenruhig verkündete: „Hier ist Ihre Kajüte, Messieurs!“, schauten Jeanne und Phile in ein winziges Kabüffchen. Phile war so überrascht, dass er erst nach einigem Zögern seiner Empörung Ausdruck verlieh: „In so einem Loch soll ein Mann über zwei Jahre hausen?“ „Nicht einer, Sie beide, Messieurs. Sie werden sehen, wie eng dagegen der Rest der Mannschaft zusammengepfercht ist.“ Aber das interessierte Phile nicht. Er konnte es nicht fassen, der Raum sah aus wie eine schmale Besenkammer. „Zwei Mann in diesem Loch!“, schimpfte er. „Und wo soll unsere Ausrüstung hin? Wo sollen wir arbeiten?“ Als er den Kapitän sah, der gerade die Messe betrat, entrüstete sich Phile: „Monsieur Giraudais, so geht das nicht! Ich habe einen wichtigen Auftrag des Königs zu erfüllen! Wie sollen wir in so einem Verlies schlafen und arbeiten? Der Marineminister persönlich hat mir zugesagt, dass an Bord alles getan werde, damit ich meine Aufgaben zufriedenstellend erfüllen kann!“

Jeanne wunderte sich, dass der Kapitän über den anklagenden Ton nicht ungehalten zu sein schien. Hätte er keine farbenprächtige Uniform mit goldenen Epauletten und einen großen Dreispitz auf der schwarzen Perücke getragen, hätte sie das Männlein niemals für den Schiffsführer gehalten. Giraudais war klein und mager, am meisten fiel die lange, spitze Nase auf, die aus dem breiten, wettergegerbten und von scharfen Falten zerfurchten Gesicht ragte. Der Angeraunzte schien eher vergnügt denn verdutzt über den Wortschwall, der da über ihn hereinbrach. „Monsieur de Commerson! Es ist mir eine Ehre, Sie an Bord begrüßen zu dürfen“, sagte er freundlich und machte eine übertriebene Verbeugung. Noch bevor Phile reagieren konnte, wandte sich der Mann, der so selbstsicher und kontrolliert wirkte, an Jeanne. „Und Sie müssen wohl Monsieur Bonnefoy sein. So jung hatte ich mir den Assistenten eines bedeutenden Naturforschers nicht vorgestellt. Sie müssen ja besonders begabt sein.“ Eine Hitzewelle stieg in Jeanne auf und trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie hatte Angst, schon vor Beginn der Reise entlarvt zu werden.

„Monsieur le Capitaine, verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit“, sagte Phile endlich. Er war verlegen. „Die Pferde sind mit mir durchgegangen, weil mich die Umstände doch überrascht haben. Schon die nötigste Ausrüstung, auf die wir stets Zugriff haben müssen, nimmt viel Raum ein.“ „Schon vergessen Monsieur, schon vergessen! Sie bekommen alle Unterstützung.“ Der Kapitän wandte sich an den Maat, der mit der Mütze in der Hand hinter ihnen stand. „Monsieur Saussi, sagen Sie dem Zimmermann, er soll die Schotten zwischen der Kajüte dieser Herren und der angrenzenden Vorratskammer abschlagen. Für die Offiziersvorräte wird im Zwischendeck Raum geschaffen.“

Der Zimmermann entfernte die vorgefertigten Zwischenwände erstaunlich schnell. Trotz der großzügigen Erweiterung jedoch war die Kajüte gerade einmal dreieinhalb Meter lang und anderthalb Meter breit. Niedrige Deckenbalken ließen nur eine gebückte Haltung zu. Die leicht gekrümmte Rückwand war Teil des bauchigen Holzrumpfes der Étoile, in die ein winziges, rundes Fenster eingelassen war, das von außen durch eine Holzklappe verschlossen wurde. „Messieurs, Sie haben die größte Kajüte an Bord“, sagte Zimmermann Balladier voller Hochachtung für die, wie es schien, hochgestellten Gäste, und schaute dabei in Philes missmutiges Gesicht. „Ich werde sie in Zukunft Ballsaal nennen.“

Balladier löste ein paar Knoten an der Decke und ließ ein kistenartiges Gestell herab. „In Paris stehen die Betten fest auf dem Boden, hier hängen sie an vier Seilen, damit man im Schlaf nicht immer von den Bewegungen des Schiffes hin- und hergerollt wird. Man kann die Schwingkoje hochziehen, damit man am Tage mehr Platz hat.“ Balladier schaute Jeanne kurz aus seinen rot entzündeten Augen an und drehte ihr dann wieder den schmalen Rücken zu. „Gleich daneben ist noch so eine Schlafkiste vertäut.“ Mit dem Anflug eines Lächelns, als würde er einen Witz machen, fügte er noch hinzu: „Himmelbetten sozusagen!“

Jeanne war gespannt zu sehen, wie erst die Matrosen hausten, wenn dieser enge Verschlag ein Privileg sein sollte. Phile drehte sich zu ihr um, zeigte auf das Gepäck und sagte resigniert: „Dann packen Sie mal aus, Bonnefoy!“

Jeanne alias Jean verzurrte zuerst das „Himmelbett“ an der Decke und rückte dann die Kisten mit den Sachen, die sie immer bei sich haben wollten, so lange hin und her, bis die platzsparendste Anordnung gefunden war. An der Wand war eine Tischplatte fixiert, die man herunterklappen konnte. Auch zwei zusammenlegbare Stühle waren an der Innenwand angelascht. In zwei großen Kisten wurde der Teil der Kleidung untergebracht, auf den sie jederzeit Zugriff haben wollten, Arbeitskleidung für den Alltag, ausgewählte Anzüge für die Mahlzeiten in der Offiziersmesse. Jeanne betrachtete jedes Buch, das sie auf einem Wandbord mit Holzgitter platzierte, mit besonderer Freude. Auf der Reise würde sie genug Zeit haben, auch noch die kleine Bibliothek zu studieren, die im Sondergepäck verstaut war. Sie empfand es als eine Gnade, lernen zu dürfen, lernen, soviel sie nur wollte. Phile und die Bücher waren ihre besten Lehrmeister.

Jeanne konnte sich kaum noch in der Kajüte bewegen und errötete bei dem Gedanken, wie sie und Phile in dieser Enge auf dem wackligen Schiff aufeinanderliegen würden. Sie ahnte, dass es ein hartes und schwankendes Liebeslager sein würde.

BÉBÉ

Im Herbst des Jahres 1746 änderte sich Jeannes Leben zum ersten Mal drastisch. Sie musste sechs Jahre alt gewesen sein, da holte Onkel Paul Merçier das kleine Mädchen ab, ein Nachbar, der am Rande des winzigen Weilers Bande in Burgund wohnte. Der kleine, dünne Mann mit schlaffem Gesicht, schütterem Haar, schweren Lidern und vorquellenden Augen, sprach mit strenger Stimme. „Hol dein Bündel, Jeanne, du kommst jetzt mit mir.“ Die Eltern des Mädchens waren weggegangen und hatten es für den Tag alleingelassen. Das Kind sollte den Boden kehren und die Wasserkrüge auffüllen. Erst danach durfte es mit Claire herumtollen, der Nachbarstochter, deren Vater auch Tagelöhner war. Claire war das jüngste von zehn Kindern. Die beiden hatten sich ein Spiel ausgedacht, bei dem sie sich mit ihren Puppen auf eine Reise zum König aufmachten. Die spindeldürren Freundinnen pflückten Wiesenblumen und stellten die schönsten Farben zusammen, um einen Strauß für die Prinzessinnen in seinem Schloss zu binden.

Ihr Vater, Pierre Baret, war Lohnarbeiter, ein manoeuvre, der für die feinen Herren auf der niedersten Stufe des Menschseins stand. Schlimmer waren nur noch die Bettler und Wegelagerer dran. In Frankreich gab es zwei Millionen Manoeuvres, die all die niederen Arbeiten verrichteten, ohne die der Staat nicht funktionierte. Aus ihrer Masse wurden die Soldaten und Seeleute rekrutiert. In den Städten reinigten sie die Kloaken, waren Abdecker, Totengräber oder Dienstboten, auf dem Land stellten sie die Saisonarbeiter, die je nach Jahreszeit einigermaßen zurechtkamen oder Hunger litten. Pierre Baret verdiente ein paar Sous, wenn er mähte, erntete, drosch, Holz hackte oder Abwässergräben aushob, aber im Winter fand er meist keine Arbeit. Es war ein elendes Dasein, geprägt von der ständigen Angst zu verhungern. Zum Glück durfte die Familie einen kleinen Gemüsegarten bestellen.

Die Barets hausten in einer erbärmlichen kleinen Kate mit gestampftem Lehmboden. Wie alle Häuser war sie aus dem düsteren Stein gebaut, der typisch für die Region war. Das Häuschen bestand nur aus einem Raum, in dem Eltern und Tochter in einem Bett schliefen und die Mutter über einer offenen Feuerstelle kochte. Dazu lagerten an den Wänden die kärglichen Vorräte. Den Barets war Jeanne als einziges Kind geblieben, nachdem drei Geschwister schon bei der Geburt gestorben waren und zwei nicht einmal das zweite Jahr überlebt hatten.

Sie wusste, dass der Mann, den sie Onkel Paul nannte, ein weit entfernter Verwandter ihrer Mutter war, kannte ihn aber nur von gelegentlichen Besuchen. Als er ihre wenigen Kleidungsstücke auf den Leiterwagen warf und sie hinaufhob, ohne irgendetwas zu sagen, fühlte sich die Kleine plötzlich bedroht und wehrte sich schreiend mit Händen und Füßen. Sie riss sich los, lief ins Haus und griff die geliebte Puppe Bébé, die ihre Mutter für sie aus Stoffresten genäht hatte. Jeanne hütete Bébé bis ins hohe Alter, und wenn sie das Heu roch, mit dem ihr Liebling ausgestopft war, dachte sie sofort voller Trauer an die Mutter, die ihr im Traum oft wie ein Engel erschien.

Schimpfend rannte Onkel Paul hinter dem Kind her und rief: „Hier kannst du nicht mehr bleiben!“ Er packte sie am Arm, schleifte sie nach draußen, hob sie auf den Wagen und drohte mit Prügeln, falls Jeanne noch einmal entwischen sollte. Sie wusste nicht, was mit ihr geschah, weinte vor Angst und presste Bébé eng an sich, während Onkel Paul die Deichsel packte und sie zum Haus der Merçiers zog. Der Weg war voller Schlammlöcher, es nieselte, Dreck spritzte auf, Kot. Jeanne zitterte nicht nur wegen der Kälte.

Das winzige Häuschen, in dem Onkel Paul mit seiner Frau Élise und zwei Buben hauste, war kaum größer als die Kate der Barets. An einer Hausseite war ein Stall aus Holzlatten angebaut, in dem ein paar Haustiere untergebracht waren. Onkel Paul gehörte zu den mainmortables, Leibeigenen, die es nach altem Feudalrecht nur noch in wenigen Departements Frankreichs gab. Paul Merçier bearbeitete ein kleines Stück Land, von dessen Ertrag er den größten Teil an seinen Herrn abgeben musste, Baron de Brandonne. Der Grand Seigneur besaß viele Dörfer, Wälder und Felder, und jeder musste sein Korn in der Mühle des Herrn dreschen und das Brot in seinen Öfen backen lassen. Nur er besaß das Jagdrecht in den Wäldern und das Fischrecht in den Bächen und Flüssen.

Die Merçiers konnten ihre Scholle nicht verlassen, andernfalls würde ihr ganzer Besitz dem Baron zufallen. Ein Mainmortable durfte nicht ohne die Zustimmung seines Herrn heiraten, und seine Kinder konnten nur erben, wenn sie das Land auch weiterhin bestellten.

Onkel Paul schubste Jeanne in den Stall und warf ihre wenigen Sachen auf ein Strohlager. Als sie laut schluchzend wegzulaufen versuchte, hielt er sie am Nacken fest und drehte grob ihren Kopf, so dass Jeanne mit verweintem Gesicht zu ihm aufblicken musste. Das bleiche, stoppelige Gesicht des Mannes flößte ihr Angst ein. „Hör endlich auf, so störrisch zu sein, Jeanne! In Zukunft wirst du bei uns wohnen. Dies ist dein Schlafplatz. Drinnen im Haus ist kein Platz für dich. Es ist kaum Raum genug für Élise, mich und die beiden Jungen.“ Leise, als würde es ihm große Mühe machen, es auszusprechen, fügte er hinzu: „Du bist jetzt eine Waise, Jeanne. Deine Eltern sind tot. Sie sind im Arroux ertrunken, als sie übersetzen und an der Beerdigung deines Onkels Gaston teilnehmen wollten.“ Onkel Gaston war der Bruder von Jeannes Vater und der einzige enge Verwandte, der in einem Dorf am anderen Ufer wohnte.

Onkel Paul ließ Jeanne frei und sagte mit rauer Stimme: „Deine Eltern kommen nie wieder. Gott hat sie zu sich geholt.“ Was wusste Jeanne schon vom Tod. Das Wort „Waise“ hatte sie noch nie gehört. Sie konnte nicht begreifen, was Onkel Paul ihr da sagte. Maman und Papa kommen nie wieder? Das konnte doch nicht sein! Sie waren doch eben erst aus dem Haus gegangen, und Maman hatte gesagt, sie kämen bald zurück.

Jeannes Ohren füllten sich mit einem betäubenden Rauschen. Sie fühlte einen beißenden Schmerz in der Brust und war wütend auf die Eltern, weil sie ihr so Schreckliches antaten. Wo seid Ihr?, schrie es in ihr. Warum holten die Eltern sie nicht heim? Als Onkel Paul seine schwielige Hand auf ihren Kopf legte, trat sie trotzig um sich und schrie ihren Schmerz heraus. „Das ist nicht wahr! Du lügst! Das ist nicht wahr!“ Onkel Paul versuchte vergeblich, sie zu beruhigen, doch als sie nicht aufhörte, verzweifelt „Maman! Maman!“ zu rufen, gab er ihr eine Ohrfeige; das tat er jedes Mal, wenn Jeanne wieder anfing, ihren Kummer herauszubrüllen. Mit zornesrotem Kopf rief er: „Du bleibst so lange im Stall, bis du dich beruhigt hast!“ und schlug die Tür hinter ihr zu. Jeanne trat immer wieder gegen das Holz, kreischte, weinte, aber vergebens. Endlich ging sie in die Knie, lehnte sich gegen die Holzwand und presste die Hände um die blutig geschlagenen Füße.

Wie ein scheues, verletztes Reh kauerte Jeanne am Boden. Was war nur geschehen, dass es ihre heile Welt plötzlich nicht mehr gab, dass sie allein und ohne Schutz war, fremden Menschen ausgeliefert? „Maman! Maman!“ Nur ein paar fadendünne Sonnenstrahlen drangen durch die Ritzen der Wände und tauchten den Stall in ein schummriges Licht. Eine Kuh scharrte nervös in ihrem Pferch. Obwohl sie sich früher solch eine Hausgenossin immer gewünscht hatte, jagte sie ihr in dem dunklen Stall Furcht ein. Jeanne glaubte sich in die Hölle verstoßen, von der die Eltern so oft gesprochen hatten.

Nur allmählich gewöhnte sie sich an ihre neue Umgebung und an die neue Familie, die nicht ihre war. Das Kind spürte, dass die Merçiers sie als Belastung empfanden, obwohl sie von ihrer Arbeitskraft profitierten. Und arbeiten musste die Kleine von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang: Stroh häckseln, Wasser schleppen, die Kuh Marie melken, Flachs spinnen. Am liebsten harkte sie Heu zusammen, nachdem die kleine Wiese vor dem Haus gemäht war. Sie liebte den Geruch von Heu, weil er sie an ihre Mutter erinnerte. Bébé roch ja auch nach Heu.

Sie fühlte sich nicht nur wie eine Fremde, sie wurde auch so behandelt. Während der fünf Jahre, die Jeanne bei Élise und Paul lebte, hatte sie die menschliche Kälte ihrer Zieheltern schmerzlicher gespürt als den beißenden Winterfrost, gegen den sie ihr dünnes, zerrissenes Leinenkleid nicht schützte. Aber auch die anderen Kinder im Weiler Bande froren, hungerten und kannten keine Liebe. Das elende Dasein ließ keinen Raum für Mitgefühl.

Etwas Wärme bekam Jeanne nur von der Kuh Marie, deren unmittelbare Nachbarschaft sie bald zu schätzen wusste. Nachts schmiegte sie sich an das weiche Fell, spürte die Lebendigkeit des mächtigen Tieres und erzählte ihm all ihren Kummer. Die immerwährende Ruhe der Kuh besänftigte die Unglückliche in der Nacht und gab ihr das Gefühl, nicht ganz allein zu sein. Ihre abgearbeitete Mutter hatte sie nicht mit Zärtlichkeiten verwöhnt, aber sie hatte ihrem einzigen Kind, das überlebt hatte, doch ab und zu mit schwieligen Händen über den Kopf gestrichen und ihr das Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Nachts, wenn Jeanne auf ihrem Strohlager schlief, beugte sich die Mutter in ihren Träumen wieder und wieder schemenhaft über das schweißnasse Mädchen. Sie sagte nichts, aber sie lächelte vertraut. „Maman, Maman“, murmelte Jeanne voller Sehnsucht.

In ihrer Einsamkeit verschloss sich Jeanne zunehmend in sich selbst. Sie erledigte ihre vielen Aufgaben so gut als möglich, war immer freundlich, so schwer es ihr auch fiel, und wartete doch vergebens auf ein Lob, ein anerkennendes Lächeln. Auf ihre kindlich naive Art kämpfte sie darum, sich einen Platz zu erobern. Und je älter sie wurde, desto mehr zeigte sich, wie zäh und unbeugsam sie war. Das bekamen die Söhne der Merçiers als erste zu spüren. Der dünne, stupsnasige Jean, der zwei Jahre älter war als Jeanne und der ein Jahr jüngere, plumpe, schwerfällige Nicolas piesackten sie ständig, schubsten und traten, wann immer sie dem „Kuhmädchen“ begegneten. Die Grobiane zogen sie an den Haaren hinter sich her, bewarfen sie mit Dreck und bürdeten ihr Arbeiten auf, die sie selbst hätten erledigen müssen. Jeanne wehrte sich jedes Mal, biss, kratzte, trat und schrie, aber mit den bösen Kerlen konnte sie es nicht aufnehmen. Dennoch stellte sie ihnen manchmal nach, war neugierig, was die Burschen trieben. Sie sah ja, dass die beiden so anders waren als sie selbst.

Wie die Erwachsenen, so erledigten auch die Kinder ihr Geschäft wie selbstverständlich in Gegenwart Anderer. Wann immer Jeanne musste, hob sie einfach ihr zerrissenes Kleidchen und hockte sich hin, wo sie sich gerade aufhielt. Sie ärgerte sich, weil Jean und Nicolas sie höhnisch „Hackenpisser!“ riefen, und war neidisch auf die beiden, weil sie im Stehen pinkeln konnten. Sie beobachtete, wie die Kerlchen mit einem Griff ihre kleinen Schwänzchen aus dem langen Schlitz im Vorderteil ihrer Hosen zogen und ihr Wasser in hohem Bogen spritzen ließen. „Wer weiter kommt, ist Sieger!“, rief Nicolas dabei seinem Bruder zu und strahlte natürlich immer weiter als der kleinere Jean. Im Stehen pinkeln, das wollte Jeanne auch. Sie stellte sich breitbeinig hin, schob das Becken vor und sprenzte los. Ihre linkischen Versuche gab sie allerdings schnell wieder auf.

Je ärger die Burschen sie triezten, umso entschlossener war sie, der Quälerei bei günstiger Gelegenheit ein Ende zu machen. Als eines Tages die bösen Buben die Stalltür aufstießen, sich großspurig hinstellten und auf ihr Strohlager pinkelten, wurde Jeanne so zornig wie noch nie in ihrem jungen Leben. Sie packte die Mistgabel, mit der sie jeden Tag das kotige Stroh von Marie wegschaufelte, und rammte Nicolas die Spitzen in den Hintern. Als der Knabe hysterisch herumsprang, wie am Spieß schrie und schließlich fluchend zu seinen Eltern humpelte, wurde ihr angst und bang. Onkel Paul prügelte Jeanne windelweich, aber sie hatte die Genugtuung, dass Nicolas und Jean ihr in Zukunft aus dem Weg gingen.

Jahraus, jahrein lief Jeanne entweder barfuß oder trug Holzpantinen, die ihre Füße wundscheuerten, aber sie war es nicht anders gewohnt. Vielmehr litt sie darunter, dass sie oft von Onkel Paul geschlagen wurde. Mal hatte sie angeblich den Stall nicht sauber genug ausgemistet, dann wieder hatte sie auf dem Feld zu langsam gearbeitet. Sie konnte ihm einfach nichts recht machen. Tante Élise war eine knochige, verbitterte Frau, mit müden, wie ausgehöhlten Augen. Die strähnigen, fettigen Haare hatte sie zu einem Knoten gebunden und trug ein abgewetztes, vielfach geflicktes Kleid. Die harte Frau bestrafte „den überflüssigen Fresser“, wie sie Jeanne schimpfte, bei der geringsten Unachtsamkeit, indem sie ihr während der Hausarbeit Hiebe versetzte und ihr nichts zu essen gab.

Wie Jeannes Mutter war auch Élise von der ununterbrochenen Schufterei völlig ausgelaugt, dabei konnte sie trotz ihres zerfurchten Gesichts kaum älter als dreißig gewesen sein. Jeanne erinnerte sich nicht, jemals gesehen zu haben, dass Élise auch nur einen Augenblick lang die Hände in den Schoß legte. Die Bäuerin verschwendete keine Minute und verrichtete oft mehrere Aufgaben nebeneinander. Wenn sie Wasser holen ging, nahm sie ihren Spinnstock mit und spann auf dem Weg zum Brunnen und zurück zum Haus.

Hinter der Bauernkate lag eine Parzelle, die mit Flachs bebaut war, das Élise selbst verarbeitete. Tag für Tag hallte das Geklapper des Webstuhls aus dem kleinen Häuschen, und bald musste auch Jeanne lernen, was ein Kettfaden ist und was ein Schussfaden. Wie fast alle Bauern webten Frauen, Männer und Kinder grobes Leinen, aus dem die Kleidung der Bauern genäht wurde. Vor allem aber brachte es einen kleinen Nebenverdienst ein, ohne den die Familie kaum hätte überleben können. Trotz der ständigen Webarbeit trugen die meisten Landbewohner selbst nur zerlumpte Kleider.

So wie die meisten Bauern quälte auch Jeanne oft der Hunger. Sie aßen hauptsächlich einen Brei aus Buchweizen, Hafer- und Gerstenkleie, in den gehäckselte Strohstücke untergemischt wurden. Im Sommer gab es etwas Gemüse, dazu wurden wilde Beeren gepflückt. Fleisch konnte man sich nicht leisten.

Alles in der Natur um Jeanne herum äußerte sich für die Bauern bedeutungsschwer. Die Beschaffenheit der Wolken kündete von bedrohlichen Wesen, die dahinter hausten. Sterne lenkten den Alltag, und Schutzheilige sollten vor Übel bewahren. Die Menschen beteten Jesus und Maria an, fürchteten Teufel und Hexen, vertrauten Quacksalbern und Wahrsagern. Alle glaubten Gerüchten und Einflüsterungen mehr als ihren eigenen Augen, geschweige denn der Stimme der Vernunft. Die Welt war ein schreckenerregender, geheimnisvoller Ort, dem sich jedermann schutzlos ausgeliefert fühlte.

Ab und zu kamen Hausierer zum Weiler Bande, und das Mädchen bewunderte mit gierigen Augen den Flitterkram, den die bunt gekleideten Gauklergestalten anboten. Es war billiges Zeug, aber das Glitzern lockte, als wäre es der größte Schatz auf Erden. So gerne hätte Jeanne mit dem bunten Tand wieder Prinzessin gespielt, wie damals, als sie mit ihrer Freundin Claire Blumen für die Töchter des Königs geflochten hatte. Aber Claire war ja schon vor einiger Zeit an einer der vielen Krankheiten gestorben, die so viele Kinder dahinrafften. Als Prinzessin mussten mal Bébé und mal die Kuh Marie herhalten, die sie mit immer neuen roten Mohngirlanden, blau schimmernden Diademen aus Kornblumen oder weißen Mänteln aus geflochtenen Margeriten behängte.

Jeanne sah Männer in langen schwarzen Mänteln und Hüten, mit weit ausladenden, an den Seiten weich überhängenden Krempen, die in unregelmäßigen Abständen zum Weiler kamen. Sie mussten sich ins Fäustchen lachen, wenn sich das blöde Bauernpack die gepanschte Medizin andrehen ließ. Obskure Mittel sollten Schmerzen, böse Krankheiten oder Liebeskummer heilen. Jeanne sah, wie Élise Tinkturen gegen ihre großen Gesichtswarzen kaufte, obwohl sie doch bitterarm war. Vagabunden schwatzten den einfältigen Hinterwäldnern Horoskopkalender auf, magische Zahlen sagten die Zukunft voraus, die Form eines Gesichts oder die Farbe des Haares entschlüsselten den Charakter, förderten Laster und Tugenden zutage, prophezeiten das Schicksal. Und waren die Vorzeichen allzu beängstigend, gab es ja noch den Geisterbeschwörer, der den bösen Zauber mit einem Gegenmittel vertreiben konnte.

Dummheit und Aberglaube standen im Dienste der Herren. Trotz der brutalen Ausbeutung hatten sich die Bauern jahrhundertelang widerstandslos mit ihrem Schicksal abgefunden. Aber immer mehr Stimmen protestierten jetzt auch gegen die unerträglich hohen Abgaben an die Großgrundbesitzer. Jeanne beobachtete, wie es eine Abordnung der abhängigen Pächter wagte, bei Baron de Brandonne vorstellig zu werden, wie sie unterwürfig am Eingangstor zum Schloss knieten und verzweifelt um Erleichterung der Bürde baten. Doch der Verwalter hetzte die Männer mit seinen Hunden davon. Da dem Baron auch die Gerichtsbarkeit auf seinem Territorium unterstand, waren ihm seine Hörigen rechtlos ausgeliefert. Der Hass auf die Unterdrücker wuchs unaufhaltsam. Dass kaum eine Generation später ihre Köpfe unter der Guillotine rollen würden, war damals undenkbar.

KÖNIGREICH DER PFLANZEN

Jeanne hatte sich zu einem dünnen, staksigen Mädchen entwickelt, doch sie war zäh und kräftig und konnte bald mithelfen, den Wagen zu schieben, mit dem zweimal im Monat Mist zum Park Baron de Brandonnes geschafft wurde. Sein Obergärtner, Monsieur Henri Tierri, ließ es unter die vielen Blumenrabatte und die Erde in einem Haus aus Glas mischen, das er „Orangerie“ nannte. Für Jeanne war es ein Märchenschloss, weil es das erste Mal war, dass sie Glas sah. Sie konnte sich nicht sattsehen an den bunten Blumen, den fremdartigen Gewächsen und den Bildern von Pflanzen, die an die Scheiben geheftet waren. In Kübeln standen Bäume, an denen gelbe Früchte hingen. Die kurzen Besuche im Garten tauchten ihr Leben mit einem Mal in ein ihr unbekanntes helleres Licht, und sie spürte, dass es jenseits ihrer traurigen Erfahrungen noch etwas Anderes gab: etwas Schönes, Erhabenes.

Anfangs machte ihr der Gärtner Angst, weil er aussah wie ein Wiedergänger, wie einer der auferstandenen Toten, von denen die Leute manchmal furchtsam flüsterten. Seine Haut war schneeweiß, und seine Augen schimmerten so rot, wie sie es manchmal bei weißen Kaninchen gesehen hatte. Oft waren sie blutunterlaufen. Ohne Wimpern und Augenbrauen sah sein Gesicht nackt aus. Wenn der Gärtner seine graue Perücke abnahm, sah man, dass die Stoppelhaare auf dem kugelrunden Kopf ebenfalls weiß waren. Aber allmählich stieß sie das fremde Äußere des Mannes nicht mehr ab. Sie gewöhnte sich daran.

Einmal schenkte Monsieur Tierri Jeanne zu ihrer übergroßen Freude einen gelben Ball. „Das ist eine Orange, Jeanne. Sie schmeckt gut. Probiere es“, sagte er gönnerhaft und achtete neugierig auf ihre Reaktion. Als sie vorsichtig in die Schale biss, das bittere Zeug angeekelt ausspie und „Igitt!“ rief, lachte er laut. „Du dummes Mädchen, du musst sie abpellen, bevor du sie essen kannst!“ Jeanne schaute den Mann so lange betreten an, bis er die Schale für sie entfernte. Erst hielt sie das seltsame Ding zögernd an die Nase, leckte dann vorsichtig an der fremden Frucht und verzog dabei das Gesicht, als fürchtete sie erneut den bitterscharfen Geschmack. Aber kaum hatte sie behutsam in die Orange gebissen, verklärte sich ihr Gesicht, und Jeanne bekam einen fast seligen Ausdruck. Wie himmlisch das schmeckte! Sie verschlang die süßsaure Frucht so gierig, dass ihr der Saft vom Kinn heruntertropfte und die Finger verklebte, die sie genüsslich, einen nach dem anderen, in den Mund steckte. So mussten all die leckeren Dinge im Schlaraffenland schmecken, von dem ihr die Mutter erzählt hatte. Wie oft war ihr dieser paradiesische Ort im Kuhstall im Traum erschienen. Essen, soviel man wollte! Ihr Leben lang blieb die Orange für Jeanne ein Symbol für die schönen Seiten des Lebens.

Die Welt der Blumen entpuppte sich als Ort der Glückseligkeit, den sie bestaunte, wann immer sie Gelegenheit dazu hatte. Wenn sie vorsichtig hier eine Blume betastete, dort an einer Blüte roch, verscheuchten sie die jungen hochnäsigen Gärtnergehilfen. Aber Monsieur Tierri bemerkte bald Jeannes großes Interesse an seiner Arbeit, wie er Samen einpflanzte, Knollen eingrub oder Äste von einem Baum schnitt und an einen anderen ansetzte. Eines Tages, sie war elf Jahre alt, fragte der Gärtner Paul Merçier, ob er ihm das neugierige Mädchen überlassen würde, da er gerade einen Gehilfen verloren habe. Merçier war einverstanden, nachdem er als Ausgleich für den Verlust von Jeannes Arbeitskraft das Versprechen erhielt, in Zukunft Feuerholz im Wald des Barons sammeln zu dürfen. Jeanne wusste sofort, dass damit ein neues Leben begann, der Aufstieg in eine aufregende, aber noch ungewisse Zukunft.

Voller Erwartung blickte Jeanne auf ihr neues Leben bei Monsieur Tierri, doch zugleich bedrückte sie auch das unbestimmte Gefühl, etwas zu verlieren. Obwohl es nur ein Viehstall war, in dem sie gehaust hatte, war er doch eine Zuflucht gewesen, etwas, woran sie gewöhnt war und das sie mit ihrer geliebten Kuh Marie geteilt hatte. In Gedanken schmiegte sie sich noch einmal an das braunweiß gefleckte Fell, hatte den vertrauten Geruch des Tieres in der Nase, lächelte bei der Erinnerung an die Sorgen, die sie in die großen Ohren Maries geflüstert hatte. Doch nach den unglücklichen Jahren bei den Merçiers, den gemeinen Streichen von Jean und Nicolas, der Einsamkeit, all den Schlägen, dem Hunger, schwang sie schließlich ihr kleines Bündel über die Schulter und machte sich voller Freude auf den Weg. Mit auf die Reise ging ihre Freundin, die Puppe Bébé.

Auch das Haus der Tierris war aus dem schwarzen Stein der Gegend gebaut, doch war es weitaus geräumiger als die Katen der Bauern. Die Eingangstür führte direkt in ein kleines Wohnzimmer mit offenem Kamin, vor dem ein runder, glänzend polierter Tisch mit vier Stühlen stand. Ein offener Durchgang führte zur Küche und der kleinen Schlafkammer der Tierris dahinter. Monsieur öffnete die Tür zu einem winzigen Zimmerchen. „Hier wirst du in Zukunft schlafen, Jeanne. Viel Platz hast du nicht, aber dafür bist du für dich. Die anderen Gehilfen schlafen alle nebeneinander in der Gerätehütte.“ In einer Ecke lag ein langer Strohsack, daneben stand eine grob zusammengenagelte, kleine Truhe. Aber was brauchte sie mehr. Ihr neues Heim war zwar viel kleiner als Maries Stall, aber dafür pfiff hier kein eisiger Wind durch die Ritzen. Die Wände waren aus gestampftem Lehm gebaut und die Decke aus dicken Balken.

Erst später erfuhr Jeanne, dass es die Frau von Monsieur gewesen war, die ihren Mann auf den Gedanken gebracht hatte, sie anzustellen. Gisèle Gisèle war schon an die vierzig, hatte schwarze, mit breiten grauen Strähnen durchzogene Haare, die sie stets unter einer schwarzen Haube verbarg. Wenn sie lächelte, kerbten tausend Falten ihr breites Gesicht, und ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem breiten Froschmaul. Gisèle trug meist ein langes Leinenkleid, dessen helles Braun zum verblichenen Dunkelrot ihres bestickten Schultertuchs passte. Sie litt darunter, dass sie keine Kinder bekommen konnte, wo doch die meisten Frauen in der Gegend sechs bis acht Bälger und oft sogar mehr hatten. Die fürsorgliche Frau steckte dem Mädchen etwas zu, wann immer sie es sah, mal ein Stück Brot, dann einen Apfel und einmal sogar einen abgelegten Rock. Von ihr ging eine Herzlichkeit aus, wie Jeanne sie nie zuvor erlebt hatte. Auch das Leben der Frau des Gärtners bestand aus ununterbrochener Arbeit, aber hungern mussten die Tierris nicht.

Ihr neuer Herr war streng, doch zumeist freundlich. Jeanne tat alles, um sich nützlich zu machen, und lernte schnell, alle Arbeiten zu verrichten, die im Haus und im Garten anfielen. Wie ein anhängliches Hündchen folgte sie Henry Tierri, den sie „Monsieur“ nannte, überallhin und ging ihm zur Hand, wenn er junge Kirsch- oder Apfelbäume eintopfte, Blumensamen in exakt ausgerichtete Beete säte oder an den Wänden eines viereckigen Innenhofs Jasmin und Rosenstöcke setzte. Bald schichtete Jeanne schon selbst Rabatten auf und steckte im Herbst hunderte Tulpen- und Lilienzwiebeln in die Erde, damit sie im Frühling blühten. Monsieur schlug Jeanne nie, auch wenn sie einmal etwas falsch machte. Er sah, wie eifrig und wissbegierig das sommersprossige Kind war und übertrug ihm immer mehr Aufgaben, die eigentlich die älteren Gehilfen hätten erledigen müssen. Die Burschen machten ihre Arbeit nur widerwillig und zeigten keinerlei Begeisterung dafür.

Es dauerte nicht lange, und Jeanne kannte die französischen Namen aller Bäume, Blumen und Pflanzen im Garten und im Gewächshaus. Sie hätte sich auch gern die Bezeichnungen eingeprägt, die auf Täfelchen unter einigen Gewächsen standen, aber leider konnte sie nicht lesen und schreiben. Nur der Dorfvorsteher hatte ein wenig Schreiben und Rechnen gelernt. Aber sie merkte sich einige der fremd klingenden Laute, die Monsieur Tierri vorsagte, wenn sie ihn dazu drängte. Er erklärte, Pflanzen würden mit den Namen einer alten, nicht mehr gesprochenen Sprache bezeichnet, die von Pflanzenkennern überall auf der Welt verstanden würde. Und obwohl sie keinen Sinn darin sah, lebendigen Dingen Worte einer toten Sprache zuzuordnen, da es doch die französische Sprache gab, die sie für die einzige existierende hielt, lernte sie begierig. Sie murmelte so lange vor sich hin, was Monsieur ihr vorsagte, bis der zufrieden nickte: „Tulpenbaum: Liriodendron tulipifera. Der rote Ahorn: Acer rubrum. Das Trompeten-Geißblatt: Lonicera sempervirens.”

Wenn sie in der Küche half, was zu ihren Pflichten gehörte, sagte Gisèle immer: „Jeanne, Jeanne, was stopfst du dir das Köpfchen mit soviel unnützem Wissen voll. Du bist doch ein Mädchen!“ Und wenn Jeanne dann antwortete: „Aber es macht mir doch so einen großen Spaß!“, schüttelte die Frau nur verwundert den Kopf.

Entlang der kurvigen Wege, die durch den Park führten, wuchsen Rosenhecken. Am liebsten pfropfte Jeanne jedes Jahr auf die alten Stöcke Ableger neuer Arten auf, wie sie es gelernt hatte. So versuchte sie neue Farbkombinationen zu kreieren, pfirsichfarbene, hellrot leuchtende oder hellgelbe Blüten in unterschiedlichen Formen. Ihre Lieblingsblumen aber waren Tulpen, die sie mit Hingabe züchtete: die gelben Ententulpen etwa mit ihren blutroten Einsprengseln am unteren Teil der Blütenblätter, dann die zartblättrigen Lacktulpen, deren Weiß von roten Streifen durchzogen war oder die dickstielige tulipa australis mit den weißgeränderten, scharlachroten Blättern. Wenn Jeanne nach der Blüte die alten Zwiebeln ausgrub, war sie neugierig, wie viele Ableger wohl diesmal gewachsen sein mochten. Meistens waren es drei, manchmal auch vier kleine Knöllchen, die sich an die Mutterzwiebel anschmiegten.

Als Kind hatte Jeanne gerne Feld- und Wiesenblumen gepflückt und sich an ihrer Buntheit erfreut, aber ihren Duft, die mal zarten, mal kräftigen Gerüche der Pflanzenwelt, hatte sie erst durch Monsieurs Schulung zu unterscheiden gelernt. Früher musste ihre Nase wohl von den strengen Gerüchen der Tiere und dem immerwährenden Mistgeruch verstopft gewesen sein. Nun aber wurde sie nicht müde, ihr Gesicht wieder und wieder in die bunte Blütenvielfalt zu pressen. Sie war glücklich, als nach trostlosen Wintermonaten endlich goldgelbe Narzissen ihre Blätterkelche entfalteten und der erste Duft des Jahres ein wohliges Gefühl in ihr auslöste.

Als einmal Baron de Brandonne ins Gewächshaus kam, starrte Jeanne ihn mit offenem Mund an. War der Mann mit der langen, weiß gewellten Perücke über dem aufgedunsenen, rot geäderten Gesicht Gott, von dessen Aussehen sie eigentlich nur nebulöse kindliche Vorstellungen hatte? Samtkleider spannten sich über seinen mächtigen Bauch, und die grünen Schuhe schmückten große Silberschnallen. Seine dicken Finger schienen jede Blume, die er pflückte, zu zerquetschen, aber wie der Baron zärtlich über besonders schöne Blüten strich und die Art und Weise, wie er mit näselnd schleppender Stimme über einzelne Gewächse sprach, zeigte Jeanne, wie stolz er auf seine Pflanzensammlung war.

Einmal brachte der Herr seinen kleinen Sohn mit, der genauso reich gekleidet war wie sein Vater und etwa zwei Jahre jünger war als Jeanne. Nie zuvor hatte sie solch ein quengelndes, unerzogenes Kind gesehen. Während sein Vater das Mädchen keines Blickes würdigte, kommandierte Pierre-Gaston sie herum. „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“, fragte er und warf mit einem Stein nach ihr. „Zeige mir, dass du ein Mädchen bist.“

Der Quälgeist lachte Jeanne aus, weil sie lange Hosen trug, was völlig ungewöhnlich war für Mädchen wie für Frauen. Jeanne trug sie, weil es nichts Bequemeres bei der Arbeit gab und weil sie sich nicht von den männlichen Gehilfen unterscheiden wollte. „Lies vor!“, befahl er herrisch mit piepsig hoher Stimme. Jeanne sollte dem verzogenen Jungen die Worte auf den Blumenschildchen vorlesen, aber natürlich wusste er, dass Bauernmädchen nicht lesen konnten, und verspottete die „Blöde“ nur. Jeanne hätte ihm am liebsten die Perücke heruntergerissen und sein geschminktes Gesicht ins Blumenbeet gestukt, doch das wagt sie nicht.

Die Überheblichkeit des jungen Herrn ärgerte Monsieur Tierri so sehr, dass er seiner Schülerin fortan jeden Tag Unterricht gab. So lernte Jeanne mit der Zeit lesen und schreiben und schließlich auch rechnen. Bald behandelte der Gärtner sie wie eine Tochter, der er sein Wissen vermachte, wodurch sich der Wissbegierigen eine völlig neue Welt erschloss. Am Tag pflanzte sie seltene, dreißig Zentimeter lange Schösslinge von Granatäpfeln oder beackerte Gemüsebeete. An den Abenden lernte sie eifrig und las sogar in der Bibel, einem der wenigen Bücher im Haus der Tierris.

Jeanne war glücklich in ihrem Garten Eden. Die Wertschätzung und Zuneigung durch Gisèle und Monsieur hatte viele Wunden geheilt, die das Mädchen nach dem Tod seiner Eltern empfangen hatte. Jeanne begriff schnell, dass ihr das Leben bei den Tierris Möglichkeiten eröffnete, die nur wenigen Kindern ihres Standes vergönnt waren.

Ihre alten Feinde, den dürren Jean und den dicken Nicolas, sah Jeanne nur gelegentlich, wenn die Brüder die monatlichen Fuhren Mist ablieferten. Sie versuchte ihnen aus dem Weg zu gehen, weil die Burschen sie feindselig anstierten und sogar einmal bespuckten. Onkel Paul und Tante Élise besuchte Jeanne nie, weil sie ihre Zieheltern in abstoßender Erinnerung hatte. Es hatte zwei aufeinanderfolgende Missernten und eine schreckliche Hungersnot gegeben. Monsieur berichtete, dass zuerst die Kinder zu Tausenden starben und dann die unterernährten Erwachsenen. Der Preis für das Hauptnahrungsmittel Brot verdoppelte, verdreifachte, ja vervierfachte sich in kurzer Zeit. Um nicht zu verhungern, hatten die Merçiers Geld zu üblichen Wucherpreisen geborgt. Als sie die Zinsen nicht bezahlen und dem Grand Seigneur keine Pacht mehr entrichten konnten, war ihr Schicksal besiegelt. Vier Jahre nachdem das Mädchen zu den Tierris gezogen war, wurde der karge Besitz der Merçiers gepfändet und die Familie vom Hof gejagt. Sie reihte sich ein in die Armee der zweihunderttausend Landstreicher und Vagabunden, die im ganzen Land herumirrten, bettelten, stahlen, krepierten. Mitleid hatte niemand.

DAS ENDE DER UNSCHULD

Jeanne war eine schlaksige Dreizehnjährige, deren kastanienbraune Haare verfilzt vom Kopf abstanden und deren Sommersprossen auf der sonnengebräunten Haut kaum noch zu sehen waren, als die Zeit der Unschuld für sie überraschend endete. Eines frühen Morgens hatte sie Rücken- und Kopfschmerzen, und dann geschah etwas Schreckliches. Das Mädchen spürte, wie eine Flüssigkeit aus ihm herauslief. Ängstlich fasste Jeanne sich zwischen die Beine und sah, dass sie blutete. Sie lag zusammengekrümmt auf ihrem Strohsack, hatte panische Angst und war sicher, sie würde sterben. Als es draußen hell wurde und der Lehrling nicht in der Gärtnerei erschien, klopfte Monsieur und rief: „Wach auf, du Langschläferin! Auf, auf, die Arbeit ruft!“ Jeanne hörte, wie er die Tür öffnete, weil sie nicht antwortete. „Was ist mit dir, Jeanne? Nun steh endlich auf!“ Schluchzend stieß sie hervor: „Es tut so weh, Monsieur. Es tut so weh!“ Monsieur Tierri war beunruhigt. „Warte Jeanne, ich hole Gisèle.“

Gisèle kam sofort, kniete sich vor Jeannes Strohsack und wischte ihrem Liebling mit der Hand über die Stirn, dass die harten Schwielen zu spüren waren. „Was ist mit dir, Kind? Was hast du denn?“ Jeanne schaute sie verlegen an und erzählte dann zögerlich von ihrem Unglück. Gisèle lachte erleichtert auf und schlug ihre großen, roten Hände zusammen. „Ach, du dummes Ding, du bist nicht krank! Das machen alle Frauen durch, wenn sie in dein Alter kommen. Gott hat uns damit für Evas Sünde gestraft, derentwegen Gott sie und Adam aus dem Paradies vertrieben hat. Alle vier Wochen blutet deshalb jede Frau fünf Tage lang.“

Jeanne verstand nicht, was Gott damit zu tun hatte. Sie wollte einfach nur, dass das widerliche Blut verschwand. „Was soll ich nur machen, Tante Gisèle?“ „Ganz einfach, mein Liebes. Damit das Blut aufgesaugt wird, bindest du dir ein Tuch um die Beine und tauschst es immer wieder gegen ein neues aus. Die gebrauchten Tücher wäschst du aus und benutzt sie wieder.“ Dann brachte Gisèle ihr ein paar Leinenlappen und zeigte dem verunsicherten Schützling, wie man sie anlegte.

Gisèles Gesicht bekam einen bedeutungsschweren Ausdruck, den sie immer dann aufsetzte, wenn sie wollte, dass man ihr genau zuhörte und ihre Anweisungen befolgte. „Kind, man sagt, Frauen seien während ihrer besonderen Tage unrein. Deshalb soll sich eine Frau während dieser Zeit von ihrem Mann fernhalten. Nun, das betrifft dich noch nicht, aber es gibt Regeln, die du jetzt schon beachten musst.“ Gisèle blickte ernst aus ihren kleinen braunen Augen. „Wenn du deine Blutungen hast, darfst du keine Sahne schlagen, da sie sonst schlecht wird. Du darfst kein Obst und Gemüse einkochen, und du darfst nur mit Handschuhen putzen. Warum das so ist, kann ich dir nicht sagen. Es war schon immer so. Alle Frauen richten sich danach.“

Jeanne schämte sich, plötzlich eine Frau zu sein. Sie fühlte sich von Verboten eingeschnürt, als hätte sie Schuld auf sich geladen. Gestern war sie noch ein fröhliches Mädchen gewesen und konnte nicht begreifen, warum sie nun wegen Adam und Eva bluten musste. Aber sie wusste, dass sich wieder ein neues Kapitel in ihrem Leben auftat, dessen Inhalt sie noch nicht kannte.

*    *    *

Monsieur legte Wert darauf, seiner Schülerin auch Bibelunterricht zu erteilen. Eigentlich gehörte es zu den Aufgaben eines Kirchenmannes, Kinder auf die Kommunion vorzubereiten, aber da das nächste Dorf, das eine Pfarrei hatte, zu weit entfernt war von den Gärten des Baron Brandonne, unterwies Monsieur sie stellvertretend in Absprache mit Curé Marcel, dem Priester von Saint Barthe. „Das Sakrament der heiligen Kommunion ist nach der Taufe der wichtigste Schritt zur Aufnahme in den Schoß der katholischen Kirche“, erklärte ihr Monsieur sehr ernst. “Erst nach der Kommunion darfst du das Abendmahl empfangen, den Leib Christi.“

Am entscheidenden Tag, dem ersten Sonntag nach Ostern, fuhr Monsieur das Kommunionkind mit einem Pferdewagen, den er vom Schlossverwalter ausgeliehen hatte, nach Saint Barthe, was einen halben Tag kostete. Pfarrer Marcel war ein kleiner, unscheinbarer, verdrießlich dreinblickender Herr, der in seiner schwarzen ungepflegten Perücke und der fleckig schwarzen Soutane aussah wie ein vertrockneter Strunk im Garten von Mabel. Sein eingefallenes, spitzes Gesicht erinnerte Jeanne an ein Frettchen. Bei der Prüfung beteten die Kommunionkinder in ihren braunen Bauernkitteln der Reihe nach das Glaubensbekenntnis herunter. Jeanne war der einzige Prüfling, der fehlerlos aufsagte.

Als sie mit den anderen Kindern in die Kirche ging, war Jeanne so aufgeregt, dass sie später nur bruchstückhafte Erinnerungen an die Zeremonie hatte. Sie spürte noch die zitternde Kerze in ihrer Hand, sah ihr Licht, das sich mit den vielen anderen Talglichtern zu einem großen Strahlen verband. Alles war so feierlich, so geheimnisvoll unwirklich, dass Jeanne sich wie von Engeln umringt fühlte. Sie kniete nieder und spürte ein dünnes, trockenes Keksplättchen auf ihrer Zunge, das ihr trotz des winzigen Schluckes Wein, der ihre Lippen benetzte, fast im Halse stecken blieb. Sie schauderte ein wenig. Hatte sie jetzt den Leib Christi gegessen und sein Blut getrunken? Monsieur hatte ihr doch vom Abendmahl erzählt und davon, was es damit auf sich hatte, dass der Herr Jesus ein Stück Brot abgebrochen und seinen Jüngern gereicht hatte. Das Brot sollte der Leib Jesu gewesen sein und der Wein, den man ihnen zu trinken gab, sein Blut, das für alle Menschen vergossen worden war.

Jeanne fühlte sich beseelt und irgendwie stolz. Der Curé hatte ja gesagt, dass sie nun Teil eines großen Ganzen sei, dazugehörte. Inbrünstig schlug sie das Kreuz, so wie sie es tagtäglich gesehen hatte. Ihre Mutter hatte immer wieder mit ausgestreckten Fingern die Stirn, die Brust und dann die linke und die rechte Schulter berührt. Kindlich verspielt hatte sie die unverständliche Bewegung nachgeahmt. Tante Élise hatte es auch gemacht und dabei stets etwas gemurmelt. Aber erst Monsieur hatte ihr erklärt, dass es der Herr Jesus sei, der durch die Geste immer wieder ans Kreuz geschlagen würde. Die Geschichte von den unsäglichen Leiden des Heilands hatte sie mehrmals in Monsieurs Bibel gelesen, und jedes Mal hatte sie von Neuem ein gruseliger Schauder erfasst. Wie grausam, wie traurig, wie herzzerreißend die Erzählung war.

Ein Bild von Maria mit dem Jesuskind an der Kirchenwand zog Jeanne besonders in Bann. Kniend bestaunte sie das gütige Gesicht der Heiligen und flüsterte voller Sehnsucht: „Mutter, Mutter“. Das Gesicht Marias verschmolz mit dem Sehnsuchtsbild, das in ihrem Gedächtnis war. Das zarte Jesuskind auf ihrem Arm, das war doch sie, die kleine Jeanne. „Mutter“, schluchzte sie und schlug das Kreuz.

Am Tag bevor die Jugendlichen das Abendmahl empfingen, predigte ihnen der Pfarrer: „Vergesst nicht, dass Gott jedem von uns seinen Platz auf Erden zugewiesen hat. Es ist eine gerechte Ordnung, über die unser König gebietet, der von Gottes Gnaden über uns gesetzt ist. Lasst euch sagen: Der Mensch ist nicht von Gott geschaffen, um auf dieser Welt glücklich zu sein.“ Nach einer Pause, die der strenge Mann nutzte, um jedem in die Augen zu sehen, als wollte er Gottes Bannstrahl in sie fahren lassen, fuhr er, den Kopf gen Himmel gewandt, salbungsvoll fort. „Erst im Paradies wartet das Glück auf euch! Und noch etwas möchte ich euch Jungen und Mädchen ans Herz legen!“ Der Curé hieb mit dem Zeigefinger auf und nieder. „Vergesst nicht: Das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist Gottes, sodass ihr nicht mehr in der Lage seid, Seinen Willen zu tun! Die Wollust ist der Stachel im Fleische, darum sollt ihr die Wollust hassen wie die Sünde selbst!“

Wollust? Sünde? Jeanne verstand nicht, was der Pfarrer seinen Schäflein einbläuen wollte. Leider erklärte es ihr auch Monsieur nicht.

Im Unterricht, der meist im Wohnzimmer vor dem Kamin der Tierris stattfand, hatte er ihr wiederholt Geschichten vorgelesen, in denen von Sünde die Rede war. Da sie vor langer, unvorstellbar langer Zeit geschehen waren, konnte Jeanne sie nicht mit ihrem Leben in Einklang bringen. „Warum“, fragte sie Monsieur einmal schüchtern, „warum wurden Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben, nachdem sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten?“ Und dann: „Wofür straft Gott alle Frauen bis heute, wie Gisèle gesagt hat?“ Aber Monsieur antwortete nur ausweichend und machte dabei ein verlegendes Gesicht. „Das wirst du erst später verstehen, mein Kind“, sagte er nur, was Jeanne ärgerte. Sie war doch kein dummes Kind mehr.

Jahre später sagte sich Jeanne, dass sie vielleicht noch lange unschuldig geblieben wäre, wenn man ihr nicht verschwiegen hätte, was Adam und Eva Sündiges getrieben hatten. So hatte Antoine, der älteste Gehilfe von Monsieur, leichtes Spiel mit seiner Auserwählten. Jeanne hatte sich inzwischen zu einem Mädchen mit ansprechenden Rundungen entwickelt, was Antoine nicht entgangen war. Er war ein hoch aufgeschossener Junge mit rotem Wuschelhaar und schmalem, pickligem Gesicht. Wann immer der Gärtnergehilfe an Jeanne vorbeiging, und das wurde immer häufiger, klapste er ihr auf den Hintern, streichelte ihn kurz oder kniff hinein. „Widerlicher Kerl!“, schrie sie den aufdringlichen Burschen an, aber wenn sie ihn zu fassen versuchte, entwischte der ihr jedes Mal lachend. Sie mochte den linkischen Jungen eigentlich nicht, aber sie fand die wiederholten Spielchen allmählich kribbelig und spürte plötzlich eine Erregung, die ihr völlig neu war. Wenn Antoine sie unvermittelt links liegengelassen hätte, wäre sie sehr enttäuscht gewesen.

Als die beiden während der Arbeit in einem Heckenlabyrinth zusammentrafen, taten sie so, als sei es Zufall gewesen, dabei wusste Jeanne, dass Antoine beobachtet hatte, wo sie hinging. Als das Paar plötzlich allein war, machte der Bursche keine Annäherungsversuche, sondern setzte sich verlegen neben sie und sah sie nur verstohlen von der Seite an. Jeanne war so aufgeregt, dass sie meinte, Antoine müsse ihr Herz klopfen hören. Dann war sie es, die nahe an in heranrückte und schließlich all ihren Mut zusammennahm und kurz den Kopf auf seine Schulter legte. Antoine lächelte wie erlöst, ohne sie anzuschauen. Als er ihre Hand nahm und sie drückte, bündelten sich plötzlich all ihre Gefühle in ihren Fingern. Kein Wort wurde gesprochen, und dennoch wussten beide, dass sie sich wieder heimlich treffen würden.

Es war ein aufregendes Sehnen, das sie in Antoines Nähe empfunden hatte und das sie nur wenige Tage später wieder zum Versteck lockte. Antoine, dem keine Schüchternheit mehr anzumerken war, hatte eine Flasche Wein aufgetrieben. Er trank in großen Zügen daraus und hielt sie dem Mädchen an die Lippen, bis es den Mund öffnete und das saure Zeug widerstrebend schluckte. Bald schwirrte Jeanne der Kopf, und sie begann, albern zu kichern, wenn der Junge an ihr herumgrabschte und seine Hände über ihren Körper wanderten. Immer wieder griff er zwischen ihre Schenkel, und jedes Mal schlug sie seine Hand zurück, ohne etwas zu sagen. Das verbotene Spiel war so aufreizend, dass ihr vor aufwallender Hitze der Schweiß ausbrach. Als sie danach in ihrem Bett lag, verspürte sie so ein lustvolles Ziehen in ihrer Scham, dass sie ihre Hand ganz fest hineinpresste.