Die erste Stadt - Leopold Hnidek - E-Book

Die erste Stadt E-Book

Leopold Hnidek

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Beschreibung

Ein Satellitenfoto von Ruinen einer achttausend Jahre alten Stadt in der Sahara stellt CIA, Mossad, MI6 und sogar den Vatikan vor ein Rätsel. Zwischen den Geheimdiensten entsteht ein Wettlauf, wer das Geheimnis dieser uralten Stadt zuerst lüften kann. Auch eine Karawane der Tuareg kommt auf ihrer Reise durch die Wüste an den Ruinen vorbei. Ihr Anführer Djamil weiß um die Bedeutung der alten Bauwerke und was ihr Auftauchen für sein Volk bedeutet. Denn die jahrtausendealte Kultur des Wüstenvolkes ist in Gefahr - und nur einer kann sie vor dem Untergang bewahren. Leopold Hnidek erzählt von der faszinierenden Kultur der Tuareg und verwebt dabei mystische Prophezeiungen mit den ganz realen Gefahren, die Globalisierung und Modernisierung für das Berbervolk bereithalten.

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DIE ERSTE STADT

LEOPOLD HNIDEK

DIE ERSTE STADT

Roman

Literaturgruppe Textmotor

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Leopold Hnidek: Die erste Stadt

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von:

MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

Land Niederösterreich

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2019

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-590-8

I

Ein Blick auf seinen Terminkalender ließ in Major Daniel Politzky die Überzeugung aufkeimen, dass die in wenigen Minuten folgende Besprechung eine überaus lästige Angelegenheit werden könnte. Er öffnete eine Lade seines Schreibtisches, holte ein Medikamentenröhrchen heraus und schüttelte eine Tablette in die linke Handfläche. Mit Schwung warf er sich die Tablette in den Mund, nahm einen Schluck Kaffee dazu und verzog wie üblich sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse, schüttelte sich und verstaute das Medikament wieder in der Tischlade.

Ein Systemposten war ihm vom israelischen Militär zugewiesen worden, nachdem ihm irgendein Heckenschütze der Fatah sein Bein zerschossen hatte. Er werde das Kreativzentrum der Truppeninspektion leiten, hatte man ihm gesagt. Schließlich seien israelische Militärangehörige pfiffige Köpfe, hätten viele Ideen, und an ihm werde es liegen, diese Ideen zu bewerten, auf ihre Umsetzungsmöglichkeit hin zu prüfen, an die richtigen Stellen weiterzuleiten oder auch abschlägig zu beantworten, ohne dabei den Ideengeber zu entmutigen.

Acht Jahre saß er nun hier in seinem engen Büro, mit zehn Kilo Übergewicht, einer Prothese statt des rechten Unterschenkels und einer massiven Gastritis. Der Psychologe, der ihn vor geraumer Zeit besucht hatte, stellte fest, dass in dem kleinen Büroraum nichts auf den Benutzer hinwies. Es gab keine Bilder an den Wänden, keine Fotos von Familienmitgliedern auf dem Schreibtisch. Alles war ordentlich, beinahe penibel sauber und aufgeräumt. Bereit zum Quittieren, hatte der Psychologe gedacht. Der Mann hat geistig mit seinem Beruf abgeschlossen. Wie alt ist er – knapp sechzig? Der Mann wird seine Arbeit machen, aber nicht mehr, war ausgebrannt, frustriert und wartete auf seine Pensionierung. Der Psychologe machte sich eine entsprechende Notiz.

Politzky trug in einen Akt einen kurzen handschriftlichen Vermerk ein, ordnete das Schriftstück in einen Hefter ein, legte ihn beiseite und starrte aus dem Fenster. Verdammt heiß ist es heute, dachte er, oder werde ich langsam empfindlich? Er wischte mit einem Papiertaschentuch über Stirn und Glatze, dann warf er einen bösen Blick auf den Ventilator über ihm, der träge seine großen Blätter kreisen ließ. Eine echte Klimaanlage war er der israelischen Armee scheinbar nicht wert. Abfall, dachte er, nichts anderes war er, und warf das Taschentuch zu den anderen in den Papierkorb.

Fünf Jahre noch, dann war Schluss. Schluss mit der stumpfsinnigen Arbeit hier. Jeden Tag kamen Dutzende von Memos in seinem Postfach an, Ideen von irgendwelchen Freaks, mit denen er sich herumzuschlagen hatte. Mal erfand einer Zusatztreibstoff zum Kerosin, der die Maschinen der Luftwaffe doppelt so schnell machen sollte; ein anderer schlug vor, einen Tunnel nach Damaskus zu treiben und die Stadt zu sprengen; auch Vorschläge zur verpflichtenden Einführung von ruthenischen Volkstänzen in der Armee gab es, um die Disziplin und den Kameradschaftsgeist zu fördern.

Das meiste war technisches Zeug, das er nicht verstand und an die jeweilige Einrichtung mit der Bitte um Prüfung weiterleitete. Die Antworten waren durch die Bank negativ, ab und zu kam eine positive Reaktion. Selten gab es wirklich pfiffige Ideen. Mit leichtem Schmunzeln erinnerte er sich an die Bitte eines Soldaten, der aus einer Familie ungarischer Juden stammte. Der Kerl bat so flehentlich um die Einführung des Pörkölts bei der Verpflegung, wenigstens einmal im Monat, dass Politzky sich mit dem Verpflegungsamt in Verbindung setzte und hartnäckig blieb, bis tatsächlich der Wunsch erfüllt wurde. Natürlich nicht genau, es war ein simples koscheres Gulasch und nicht Pörkölt von Mama. Trotzdem erhielt Politzky ein gerührtes Dankschreiben.

Nur ganz selten kam es vor, dass einer der Ideengeber persönlich vorsprechen wollte, denn die Ideen mussten schriftlich eingebracht werden. Aber einer dieser seltenen Fälle lag nun vor ihm. Ein Mann aus der Bildauswertungsstelle hatte um einen Termin gebeten. Wie hieß der Bursche? Schlomo Kardim.

Politzky zuckte mit den Schultern und schob den Aktenhefter vor ihm hin und her. Die Leute der Bildauswertungsstelle waren zumeist zivile Vertragsbedienstete des Militärs, und so war es auch in diesem Fall, wie seine Recherche in den Personaldaten ergeben hatte. Zumindest pünktlich ist der Bursche, dachte Politzky, als er eine Bewegung vor der Milchglasscheibe seiner Tür wahrnahm, gefolgt von einem fordernden Klopfen.

„Herein!“

Durch die Tür schob sich ein spindeldürrer junger Mann, aufgrund des langen schwarzen Kaftans, des schwarzen Hutes und der bis auf die Brust herabhängenden Schläfenlocken als einer der Ultraorthodoxen zu erkennen. Politzky seufzte innerlich. Er hatte nichts übrig für die sogenannten Orthodoxen, die in seinen Augen eher als Radikale denn als Religiöse vorgingen. Es waren diese Leute, die mit ihren immerwährenden Tiraden und hasserfüllten Aktionen, mit ihrer verbohrten Sturheit Israel nicht zur Ruhe kommen ließen. Was soll’s, dachte sich Politzky, the show must go on.

„Major Politzky?“, fragte der Bursche schüchtern und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

„Jawohl, mein Freund!“, entgegnete Politzky jovial, stand auf und reichte dem Besucher über den Schreibtisch hinweg die Hand. Über Kardims Gesicht glitt ein erfreutes Leuchten, er ergriff die dargebotene Hand mit beiden Händen und bearbeitete sie wie einen Pumpenschwengel. Politzky brachte seine Hand wieder an sich und wies auf den Besuchersessel. „Nehmen Sie doch Platz!“ Beide setzten sich. Politzky schüttelte, vom Besucher unbemerkt, seine Hand aus, legte sie dann wieder auf den Schreibtisch, beugte sich Interesse vortäuschend vor und fragte leutselig:

„Na, was haben Sie mir denn mitgebracht? In Ihrem Memo steht …“ Politzky öffnete umständlich den Aktenhefter. „… ah ja, da! Höchst wichtig, jedoch von militärisch nachgeordneter Bedeutung. Das klingt schon sehr interessant, nicht wahr?“

Der junge Mann ließ Politzky misstrauisch werden, doch das wollte er seinem Besucher nicht offenbaren. Die Ultraorthodoxen arbeiteten normalerweise nicht. Die waren üblicherweise nur an religiösen Studien interessiert und lagen dem Staat Israel auf der Tasche, da sie ihr Leben beinahe ausnahmslos durch die Sozialhilfe fristeten. Und nun saß doch tatsächlich einer von ihnen hier vor ihm. Wieso arbeitet der Kerl, fragte sich Politzky. Irgendetwas führte er im Schilde. Der ist nicht koscher.

„Ja, das ist es auch, tatsächlich!“ Der Bursche rückte auf dem Sessel herum, fuhr sich wieder mit der Zungenspitze über die Lippen. „Höchst wichtig!“

„Na, dann legen Sie los! Ich bin schon sehr gespannt!“ Politzky fragte sich, wohl zum hundertsten Mal, wie diese Kerle die Hitze Israels in ihren schwarzen Kaftans aushielten.

„Ja, also … es ist folgendermaßen … die Sache ist die …“ Der Bursche ist voller Hemmungen, dachte Politzky. Ich mach’s auf positiv.

„Lassen Sie sich Zeit. Ich hab mir extra für Sie eine ganze Stunde freigehalten, also können wir Ihre Idee in aller Ruhe besprechen. Und glauben Sie mir, ich höre Ihnen aufmerksam zu.“

„Danke.“ Der junge Mann nickte, wobei die Krempe seines Schabbesdeckels kurz sein Gesicht verdeckte. „Ja, also … ich bin in der Bildauswertungsstelle angestellt, arbeite dort schon zwei Jahre. Sie wissen, was wir dort machen?“

„Keine Ahnung.“ Politzky schüttelte den Kopf. „Ich komme aus der regulären Armee, und ich kenne leider nicht alle Stabsstellen. Ich glaube, Sie untersuchen Bilder, die von Aufklärungsflugzeugen und Drohnen gemacht werden, auf militärisch interessante Objekte. Stimmt’s?“

„Ja, also … im Prinzip schon, nur meine Abteilung hat ein Spezialgebiet, müssen Sie wissen. Wir werten nämlich die Bilder der amerikanischen Satellitenüberwachung aus.“

Politzky nickte. Jedermann wusste, dass Israel unbeschränkten Zugang zu allen Informationen hatte, welche die amerikanischen Aufklärungssatelliten aus Europa, Afrika und Asien lieferten.

„Ich selbst bin für das nördliche Afrika zuständig.“

Wieder nickte Politzky.

„Wissen Sie …“ Kardim begann wieder nervös auf dem Sessel herumzurutschen, „… wir erhalten Bilder, in digitalisierter Form. Das heißt, wir bekommen eigentlich gar keine Bilder, sondern Datenströme, aus denen die Computer Bilder erzeugen. Bestandteile dieser Datenströme sind fixierte geografische Koordinaten und genaue Zeit- und Datumsangaben, sodass bei jedem neuen Bild eines Satelliten ein ganz genauer Vergleich mit der vorherigen Aufnahme aus derselben Region entsteht. Wenn es nun zu Abweichungen zwischen zwei Bildern kommt, können wir über die Koordinaten feststellen, ob es sich um Fahrzeuge auf einer Straße, Schiffsbewegungen, Baustellen oder ähnliches handelt. Die Daten werden gespeichert, selbstverständlich, daher sind wir in der Lage, auch historische Abläufe sichtbar zu machen. Etwa, welche Strecke ein Auto fährt, oder welche Fortschritte beim Bau eines Hauses in welcher Zeit gemacht werden und vieles mehr.“

„Na, das stelle ich mir aber kompliziert vor. Da haben Sie ja ständig eine Unmenge von Fotos vor sich, die Sie vergleichen müssen.“

„Nein, nein!“, er schüttelte heftig den Kopf. Politzky fürchtete schon, dass sich der Hut selbstständig machen und als schwarzes Ufo durch sein Büro segeln würde. Kardim drückte den Hut wieder fest. „Das geht natürlich mit Computervergleichsprogrammen. Wir können ja nicht alle Bewegungen von Fahrzeugen auf einer Straße kontrollieren. Das machen wir nur dann, wenn wir bestimmte Abläufe verfolgen wollen. Wir verfügen über entsprechende Software, welche die Vergleiche der Datensätze selbstständig vornimmt. Darüber sind noch Algorithmen und Regeln gelegt, die eben den Straßenverkehr und andere Dinge ausblenden. Wir sind also in der Lage, uns jederzeit auch die minimalste Veränderung genauer am Bildschirm anschauen zu können. Und dann gibt es Regeln, die vom Computer eine Meldung an uns Bildbeobachter auslösen, wenn Veränderungen eintreten, die völlig neu sind oder nach vorgegebenen Parametern speziell überwacht werden sollen.“

„Ah ja.“ Politzky nickte wieder, Verständnis signalisierend. Das sind diese Techniken, die ihm immer fremd geblieben waren und wohl für den Rest seines Lebens auch fremd bleiben würden. „Und Sie haben jetzt eine Idee, wie man diese elektronischen Auswertungen optimieren könnte?“

Kardim sah Politzky sprachlos, beinahe gelähmt an. In seine Augen trat Furcht, dass Politzky überhaupt nichts verstanden haben könnte. Wieder schüttelte er den Kopf, doch wesentlich weniger heftig als vorher.

„Nein, nein, das nicht. Das wäre ja militärisch höchst wichtig, oder?“

„Ja, ja, da haben Sie völlig recht“, meinte Politzky und nahm wieder die leicht nach vorn gebeugte, interessierte Haltung ein, blickte Kardim mit großen Augen an. Der beruhigte sich wieder und kam zu seiner nervösen Vorgangsweise zurück.

„Nein, ich habe etwas sehr Merkwürdiges entdeckt.“ Mit diesen Worten zog er aus seinem Kaftan einen Aktenhefter ähnlich jenem, den Politzky vor sich liegen hatte, schlug ihn auf und nahm vier großformatige Fotos heraus, legte sie der Reihe nach vor Politzky hin. „Das sind Aufnahmen aus dem Mursuq im Fezzan, jede jeweils im Abstand eines Monats aufgenommen.“

„Ah ja.“ Politzky betrachtete die Fotos, die ihm überhaupt nichts sagten. Er hatte keine Ahnung, was Mursuq und Fezzan bedeuteten, geschweige denn wo das war. Vor ihm lagen hochglänzende Farbfotos im Format B3, die langwellige Sanddünen aus der Vogelperspektive zeigten, im unteren Bereich der Fotos wurden die Sanddünen von Geröll und Felsen abgelöst. „Jetzt bitte ich um Nachsicht, Herr Kardim. Ich bin kein Spezialist der Fotoauswertung und weiß daher nicht, wie man an so etwas herangeht. Könnten Sie mir helfen?“

„Selbstverständlich!“ Wieder fuhr die Zunge über die Lippen. Kardim rückte näher und zeigte auf das Foto, auf einen Bereich, wo die Sanddünen ins Geröll übergingen. „Sehen Sie hier? Das war im Juni. Nachdem die Dünen langsam, aber sicher wandern, filtern wir diese Wanderbewegung aus unserem Analyseprogramm heraus, sodass der Computer keine Meldung über die normale Wanderbewegung gibt. Aber es kam trotzdem im Juli eine Meldung. Daher machte ich einen Ausdruck, und zwar diesen.“ Er deutete auf das zweite Foto. „Sehen Sie die Veränderung?“

Politzky bemühte sich ehrlich, in dem von Kardim bezeichneten Bereich des Fotos einen Unterschied zum vorherigen zu entdecken, es gelang ihm jedoch nicht. Er schüttelte den Kopf. „Nein, leider, ich kann keinen Unterschied erkennen.“

„Das wäre auch sehr schwer.“ Kardim nickte zustimmend und zeigte nun auf das dritte Foto. „Und erkennen Sie hier einen Unterschied zur ersten Aufnahme?“

Politzky sah es nun. Eine Düne hatte sich offenbar bewegt und dadurch Strukturen freigegeben, die Politzky an Mauern erinnerten. Ein Blick auf das vierte Foto überzeugte ihn. Einige rechtwinkelige Strukturen wie von altem Gemäuer waren von der Düne freigelegt worden.

„Ja, jetzt erkenne ich es auch.“

„Gut“, meinte Kardim und legte ein weiteres Foto dazu. Auf diesem waren einige Mauern mehr zu erkennen. „Und das ist vom Januar, die jüngste Aufnahme, die ich habe.“

Politzky nahm dieses Foto, betrachtete es, nickte dann und legte es zu den anderen. „Sehr schön. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entdeckung. Und wie, meinen Sie, soll nun das israelische Militär dazu in Verbindung gebracht werden? Gibt es da irgendeine militärische Konsequenz?“

„Nicht in erster Linie“, sagte Kardim. „Wie gesagt sind diese Ruinen im Mursuq aufgetaucht, das ist sicherlich weit jenseits unserer militärischen Interessensphäre.“

Politzky nickte. Wo, zum Teufel, ist dieses Mursuq? „Gut. Gehen wir die Sache methodisch an. Sie entdecken im Mursuq Ruinen, die bisher vom Dünensand bedeckt waren, nicht wahr?“

„Genau.“ Kardim richtete sich auf, nahm eine feierliche Haltung an. „Und nachdem die israelische Armee dem israelischen Staat verpflichtet ist …“

„Zweifellos“, nickte Politzky.

„… ist es die Verpflichtung der israelischen Armee, die Ruinen zu untersuchen!“

„So, meinen Sie. Wo liegt denn dieses Mursuq?“

„Im Fezzan.“

Politzky sah Kardim an, bewegte einige Male rasch die Augenlider, um zu signalisieren, dass er nahe daran war, die Geduld zu verlieren. „Gut. Und wo liegt der Fezzan?“

„Ach so, Sie sind mit den geografischen Gegebenheiten nicht vertraut.“ Beinahe erleichtert schlug Kardim eine Karte von Nordafrika vor Politzky auf. „Sehen Sie, hier, im westlichen Libyen, nahe den Grenzen zu Algerien und Niger.“

„Aber das ist ja mitten in der Sahara!“

Kardim nickte eifrig.

„Und was soll die israelische Armee 2500Kilometer entfernt von Tel Aviv mit alten Ruinen?“

„Sie erforschen natürlich.“

Politzky blies Luft aus. „Also, ich meine, Sie haben etwas ganz Außerordentliches entdeckt. Ich gratuliere Ihnen, wirklich. Mazel tov. Aber bei uns sind Sie da an der falschen Adresse, glaube ich. Das ist doch sicherlich für das Archäologische Amt im Bautenministerium interessanter.“

„Nein.“ Kardim wirkte plötzlich ganz bestimmt. „Es ist für den Staat Israel von enormem Interesse. Und daher hat die Armee die Pflicht, dieses Interesse festzustellen und zu schützen.“

„Bitte sagen Sie mir, wieso diese alten Gemäuer in der Sahara für Israel von enormem Interesse sein sollen.“ Politzky konnte seinen Sarkasmus nicht mehr unterdrücken.

„Weil es sich ganz bestimmt um die Siedlungen des verlorenen dreizehnten Stammes Israels handelt!“

Politzky atmete tief durch. Immer wenn die Ultraorthodoxen ihre Hände irgendwo dranhatten, gab es Schwierigkeiten. Wie kam dieser Kerl dazu, aus alten Mauern in der Sahara, die zugegebenermaßen erst jetzt aufgetaucht waren, zu schließen, dass diese dem dreizehnten Stamm Israels, dem verlorenen Stamm, zuzuordnen waren?

„Ah ja. Und weshalb meinen Sie, dass dies die Spuren des verlorenen Stammes sind?“

„Aber das ist doch ganz klar! Das geht aus der Geschichte Josefs hervor, der berichtete, dass der Stamm nach Westen zog – genau hierher!“ Kardim tippte erregt mehrmals auf das Foto.

„Gut.“ Politzky hatte einen Entschluss gefasst. „Ich bewundere Ihr Engagement, Herr Kardim, aber ich bin mir sicher, dass wir hier in der Armee nicht zuständig sind.“

„Wer sonst?“

Politzky zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich das Archäologische Amt. Wir jedenfalls nicht.“

„Da irren Sie sich gewaltig.“

Politzky, der die Fotos gemustert hatte, hob den Kopf und sah in das Gesicht eines zu allem entschlossenen Kardim. „Wie bitte?“

„Herr Major! Es handelt sich um die wichtigste Entdeckung der Geschichte des Volkes Israel. Da können wir nicht einfach die Hände in den Schoß legen und es den Schlafmützen im Archäologischen Amt überlassen! Hier haben wir im Interesse des Volkes Israel und seines Einen Herrn zu handeln! Wissen Sie, in welchem Staat diese Ruinen liegen?“

„Ja, in Libyen. Und was, bitte, sollen wir im Hinterhof der Nachfolger von Muammar al-Gaddafi machen? Glauben Sie, die werden uns freundlich empfangen, wenn wir ihnen sagen, entschuldigt bitte, große arabische Revolutionäre, aber wir haben gerade auf eurem Territorium eine jüdische Stadt entdeckt und jetzt werden wir sie untersuchen und in Besitz nehmen. Glauben Sie wirklich, dass die das zulassen werden?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Aber um des Herrn Willen, warum sind Sie dann hier bei mir?“

„Sind wir die Armee oder nicht? Haben wir unsere Leute aus Entebbe herausgehauen oder nicht? Und Entebbe ist viel weiter weg als das hier!“ Kardim war aufgesprungen und hatte sich weit über den Schreibtisch gelehnt. Politzky sprang ebenfalls auf.

„Glauben Sie wirklich, dass wir uns auf einen Krieg mit den verrückten Warlords dort einlassen sollen, um diese Ruinen in Besitz zu nehmen?“

„Ja!“

„Lächerlich.“ Politzky ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. „Absolut lächerlich. Packen Sie Ihren Kram zusammen und dann raus hier!“

„Sicher nicht.“

„Was?“

„Wenn Sie“, Kardim fuhr mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte nieder, als ob er sie aufspießen wollte, „wenn Sie nicht die militärische Führung dieses Landes davon überzeugen wollen, dass es im Sinne des Staates Israel und seines Einen Herrn notwendig ist, diese heilige Stätte zu untersuchen, dann werde ich der Parteiführung berichten, dass die Militärs wie erwartet zu feige, zu träge und wie immer völlig inkompetent sind! Wir werden für einen politischen Hexenkessel sorgen, gegen den das Amtsenthebungsverfahren des Präsidenten ein Mailüftchen war! Die Armee hat den Interessen dieses Staates zu dienen! Und das einzige Interesse dieses Staates ist, seinen Bürgern, dem Volk Israels, ein gottgefälliges Leben zu ermöglichen!“ Kardim brüllte nun beinahe. „Und ich sage, es ist gottgefällig!“

Politzky rieb sich über das Gesicht. Er hatte es ja gleich geahnt. Mit den Ultraorthodoxen gab es nur Schwierigkeiten. Der Kerl war imstande, seine Drohung wahrzumachen. Wenn dieses Thema mit einer derart radikalen Ansicht in den Geheimausschuss der Knesseth kam, wo die Ultraorthodoxen natürlich auch Sitz und Stimme hatten, dann war ein politisches Erdbeben ungeahnten Ausmaßes vorprogrammiert, womöglich mit internationalen Verwicklungen. Und wenn es schieflief, was anzunehmen war, da die Israelis und ganz besonders jene Israelis, die in der Knesseth saßen, das Talent hatten, alles immer zu verkomplizieren, könnte wirklich eine militärische Aktion daraus werden. Das war entschieden einige Nummern zu groß für ihn. Das sollten andere entscheiden.

„Gut, Herr Kardim. Setzen Sie sich wieder.“ Zögernd ließ sich der junge Mann wieder auf seinem Stuhl nieder, seine Unterlippe zitterte vor verhaltener Wut. „Ich habe Ihre Argumente verstanden und gestehe Ihnen gerne zu, dass sie gewichtig sind. Nachdem solche Entscheidungen natürlich weit über meine Kompetenz hinausgehen, muss ich vorgesetzte Stellen informieren. Ich bin nächste Woche zu einem Gespräch im Generalstab kommandiert. Ich gebe Ihnen hier und heute mein Ehrenwort, dass ich Ihre Sache dort vorbringen werde.“

„Sie vertrösten mich nicht?“

„Nein, verdammt nochmal“, knurrte Politzky. „Ich möchte genau das, was Sie so zart angedeutet haben, dringend vermeiden. Sie werden von mir hören. Und lassen Sie mir diese verdammten Fotos da!“ Kaum war Kardim gegangen, nahm Politzky das Telefon und tippte die Nummer der Armeeleitung ein. Es meldete sich eine Telefonistin, Politzky bat, mit General Sali ben Lev verbunden zu werden. Es knackte in der Leitung, eine fröhliche junge Frau flötete ins Telefon.

„Stab von General ben Lev. Was kann ich für Sie tun?“

„Mein Name ist Daniel Politzky, Major im Kreativzentrum der Truppeninspektion. Ich möchte einen Termin beim Herrn General, und zwar schnellstens.“

„Sehr gerne“, tirilierte das Mädchen, „machen Sie es auf dem Amtsweg mit dem elektronischen Formular über den Computer. Sie bekommen dann Antwort.“

„Liebes Kind, das weiß ich selbst, dass dies der normale Weg ist. Ich habe aber nichts Normales, weswegen ich den General sprechen möchte. Und es ist relativ dringend. Und allen Ernstes kann ich in das elektronische Formular, das alle einsehen können, nicht gut mein Ansuchen schreiben. Da wäre dann die Kacke am Dampfen.“

„Oh.“ Sie machte eine kurze Pause, keineswegs verlegen wegen des Kraftausdrucks.

„Ist der General überhaupt anwesend?“

„Oh ja, das ist er. Im Moment läuft zwar eine Besprechung und er hat noch zwei wichtige Termine, aber ich glaube, dass ich ihn heute noch für einige Minuten sprechen kann.“ Das hieß im Klartext, dass Sali ben Lev sich gerade zu Tode langweilte und überlegte, ob er Tennis oder Golf spielen gehen sollte.

„Sehr gut“, meinte Politzky, „dann bitte ich Sie, dem General zu sagen, dass ich einen Termin bei ihm brauche, und zwar sehr schnell. Mein Name ist Politzky, Daniel, und ich war mit dem Herrn General gemeinsam in der gleichen Einheit, als wir den Golan stürmten.“

„Na schön“, klang sie nun ein wenig pikiert, „aber irgendeinen Grund muss ich dem Herrn General schon sagen!“

Nein, Mäuschen, dachte Politzky, das musst du nicht. Du kannst es nur nicht leiden, wenn irgendetwas läuft und du weißt rein gar nichts darüber. Aber ich geb’ dir eine Nuss zu knacken.

„Das verstehe ich. Sagen Sie dem Herrn General, es ist Politzky, Daniel, so heiße ich. Und sagen Sie dem Herrn General: Der Fiedler steht auf dem Dach.“

„Der Fiedler steht auf dem Dach?“ Sie klang wie das personifizierte Fragezeichen.

„Ja, der Fiedler steht auf dem Dach, und es ist sehr heiß!“ Politzky legte auf und lehnte sich zufrieden zurück.

„Das Essen war hervorragend!“, sagte Politzky und deutete eine Verbeugung in Richtung Rahel ben Lev an. Die Ehefrau des Generals lächelte geschmeichelt und erhob sich.

„Es freut mich, wenn es Ihnen geschmeckt hat, Major.“ Sie kam um den Tisch herum, um abzuservieren. „Und jetzt bitte ich die Herren ins Wohnzimmer, ich habe noch in der Küche zu tun.“

„Komm, Daniel“, sagte der General, „wir nehmen den Kaffee mit.“ Er griff zur Kanne, Politzky nahm das Tablett mit Zucker und den noch leeren Tassen. Ben Lev schloss hinter ihnen die Tür. Politzky stellte das Tablett ab, nahm ben Lev die Kaffeekanne aus der Hand und goss für beide ein. Einige Momente sprachen sie nicht und blickten einander auch nicht an. Der General rührte scheinbar in Gedanken versunken in seinem Kaffee, dann hob er den Blick.

„Also, Daniel, was ist los am Golan?“

„Am Golan?“ Politzky war erstaunt.

„Du wolltest doch einen Termin bei mir wegen des Golans.“

„Häh?“ Politzky blickte seinen alten Kampfgefährten völlig verblüfft an. „Nein, sicher nicht. Was mir über den Weg gelaufen ist, hat mit dem Golan nichts zu tun.“

„Nicht? Aber du hast das Kennwort verwendet.“

„Welches Kennwort?“

„Sag nicht, dass du dich nicht erinnerst.“ Ben Lev drohte scherzhaft mit dem Finger.

Politzky war völlig verblüfft. Er kannte überhaupt keine Codewörter, schließlich war er in seiner Funktion und seinem körperlichen Zustand zu einem Einsatz seit Jahren nicht mehr zu gebrauchen, daher war er in keinerlei Code-Systematik eingeweiht. Was für ein Kennwort sollte er verwendet haben? War es etwa die Nuss, die er der Sekretärin zu knacken gegeben hatte …

„Nein, Sali“, meinte Politzky, „ich habe wirklich keine Ahnung. Deine Sekretärin wollte unbedingt wissen, weshalb ich dich sprechen will, deshalb habe ich irgendeinen Unsinn gesagt.“

„Wie bitte?“ Ben Levs Augenbrauen stiegen in die Höhe. „Du hast gar nicht gewusst, dass du ein Codewort verwendet hast?“

„Nein, wirklich nicht. Sie hat mich geärgert, und deshalb habe ich mir gedacht, ich gebe irgendeine mysteriöse Sache von mir und sage: ‚Der Fiedler steht auf dem Dach, und es ist sehr heiß‘. Ist das ein Codewort?“

„Ja.“ Sali ben Lev begann zu grinsen, dann zu kichern. „Es bedeutet, dass Gefahr besteht, dass der Golan wieder von den Syrern besetzt werden soll.“ Ben Levs Schultern zuckten vor verhaltenem Lachen. „Und du hast das nicht gewusst?“

„Nein.“ Nun begann auch Politzky zu schmunzeln, schloss sich dem hellen Lachen ben Levs an, und schließlich lachten beide aus vollem Hals, Tränen liefen ihnen übers Gesicht.

„Ich werde“, keuchte ben Lev und wischte sich übers Gesicht, „den Code ändern lassen.“ Sie kicherten noch einige Zeit vor sich hin, dann wollte der General wissen, was Politzky am Herzen lag. „Meine Sekretärin ist noch immer böse auf mich, weil ich ihr nicht gesagt habe, was deine Mitteilung bedeutet. Sie meint, es müsse eine supergeheime Sache sein. Und jetzt zerbricht sie sich den Kopf, wer denn dieser Politzky ist. Mehr und mehr missfällt mir dieser Politzky …“ Ben Lev kicherte über sein abgewandeltes Zitat. „Nun sag mir schon, was los ist. Dass irgendetwas am Kochen ist, liegt auf der Hand, sonst hättest du nicht versucht, mit mir in Kontakt zu treten.“

„Ja.“ Politzky blickte in seine Kaffeetasse. „Du weißt ja, wo ich derzeit arbeite. Und da ist heute ein Bildauswerter bei mir aufgetaucht, einer dieser Ultraorthodoxen.“

„Oweh. Die machen nur Schwierigkeiten.“

„Genau. Er hat festgestellt, dass im westlichen Libyen Ruinen von Wanderdünen freigegeben wurden. Und er verlangt, dass die israelische Armee die Ruinen untersucht, weil sie angeblich von einem verirrten Stamm Israels errichtet wurden. Und weil wir Juden zivil nicht in Libyen herumgraben können, muss es die Armee tun.“

„Der ist ja komplett meschugge.“

„Natürlich. Aber du weißt, wie es ist. Er hat scheinbar schon seine Parteifreunde verständigt und angedroht, dass er eine Staatsaktion daraus machen will. Und wir wissen alle, welchen Zirkus die Typen veranstalten können.“

„Scheiße.“ Sali ben Lev blickte aus dem Fenster. „Wir können keinen Aufruhr um die Armee brauchen. Nicht nach dem misslungenen Feldzug im Libanon, der hat uns in jeder Hinsicht geschadet, innenpolitisch wie auch international. Und gebracht hat er auch nichts. Und jetzt, mit der Affäre um den amtlich vergewaltigenden Präsidenten und diesem unsäglichen Gewerkschafter … Wir machen uns zum Gespött der ganzen Welt.“

„Glaube mir, Sali, der Kerl war völlig von der Rolle, hat herumgebrüllt und gedroht, beinahe mit Schaum vor dem Mund. Darum habe ich ihm versprochen, dass ich etwas mache. Ich will gar nicht daran denken, was für ein Aufruhr im Geheimausschuss entstehen kann.“

Der General nickte langsam. „Ja. Und wenn sie hier nicht kriegen, was sie wollen, machen sie in Amerika Druck. Kannst du dir vorstellen, was international los sein wird, wenn dieser Analphabet im Weißen Haus sich einmischt? Und er wird sich einmischen, weil’s ja wieder um die Brüder in Israel geht, und man den Arabern eins in die Schnauze hauen kann, wie schon damals Reagan.“ Der General stand auf und ging zur Terrassentür, durch die er nach draußen starrte. Schweigen breitete sich im Zimmer aus.

Nach einigen Minuten wurde es Politzky unbehaglich. „Sali“, meinte er leise, „was machen wir?“

Der General wandte sich um, blickte mit müden, traurigen Augen Politzky an. „Was bleibt uns übrig? Wir werden den Wunsch dieses Typen wohl oder übel erfüllen müssen. Irgendwie.“ Ein Seufzer folgte. „Ich werde die Oberste Heeresleitung informieren. Dann sehen wir weiter. Lass mir morgen alle Unterlagen dazu, die du hast, in einem versiegelten Umschlag zukommen. Unter irgendeinem Projektnamen.“

„Na ja“, brummte Politzky vor sich hin.

„Wie wär’s mit ‚Blattsalat‘, was meinst du?“

„Blattsalat?“, ben Lev verzog das Gesicht.

„War nur so ein Einfall.“ Politzky zuckte mit den Schultern. „Wie der Fiedler auf dem Dach. Sagt nichts aus. Kann keiner was hineininterpretieren.“

„Warum nicht? Ein meschuggener Name für eine meschuggene Sache. Unternehmen Blattsalat! Darauf stoßen wir an!“ Ben Lev holte aus einem Schränkchen eine Flasche französischen Cognac und zwei Schwenker, stellte die Gläser auf den Tisch neben ihnen und goss ein. Sie betrachteten die langsam in den Gläsern kreisende Flüssigkeit. „Auf Blattsalat. Und möge er uns nicht sauer aufstoßen.“

Leise klingend stießen die Gläser aneinander.

II

Als der durchdringende Ruf des Muezzins ertönte, war Djamil schon wach. Wie immer, dachte er. Rundum waren die gedämpften Geräusche der Männer zu hören, die ihre Gebetsteppiche ausrollten, sich niederknieten und dem Muezzin im Morgengebet folgten. Gemurmeltes „Allahu akbar“ vernahm er ringsum, gefolgt von den rituellen Worten.

Djamil war kein Muslim. Sein Vater war keiner gewesen und auch sein Großvater nicht. Keiner seiner Vorfahren in seiner Sippe des Stammes der Kel Diranagh aus dem Volk der Tuareg, von den legendenumwobenen Vorvätern bis zu ihm herab, war je Muslim gewesen. Fast alle Menschen seines Volkes lebten im Glauben an Allah und die Prophezeiungen Mohammeds, sogar die meisten der Kel Diranagh. Nur seine Sippe war noch eine der wenigen, die im alten Glauben lebten. Doch er respektierte den muslimischen Glauben seiner Männer, so wie sie ihn respektierten.

Es bleibt auch gar nichts anderes übrig, dachte er. Die Zeit ändert die Menschen. Die Zeit ist wie die Wüste, sie weht über die Menschen wie der Sand über die Dünen, ungreifbar und doch spürbar. Sachte und beinahe unmerkbar kerbt sie in jeden Menschen und alles um ihn herum ihre kleinen Spuren, jeden Tag eine, bis man die Menge der Spuren sieht und spürt. Und sieht und spürt, was die Menge der vielen kleinen Spuren verändert hat. Die Wege, die Siedlungen, die Menschen. Vor so unglaublich vielen Jahren, als er die große Flugmaschine zum ersten Mal gesehen hatte, war eine Ahnung in ihm hochgestiegen, dass die Welt nicht mehr bleiben würde, wie sie ihm bis dahin erschienen war, wie sie Vater und Großvater kannten und beschrieben.

Und wie recht hatte er gehabt. Viele Dinge hatten die Menschen aus Europa gebracht. Fahrzeuge, Maschinen, Gegenstände aus Blech und Plastik. Machthaber waren gekommen und gegangen, Staaten entstanden und vergangen. Er hatte all die Änderungen gesehen. Er hatte gelernt, damit zu leben, sich anzupassen.

Die Zeit verändert auch die Menschen. Nicht nur durch das fortschreitende Alter, das die Haut gerbte und in Falten legte. Viele hatte er in seiner Sippe zur Welt kommen sehen, sah sie aufwachsen, selbst Familien gründen, neue Kinder kamen. Viele hatte er sterben sehen, viele hatte er überlebt. Er kannte niemanden, der älter war als er selbst. Alles heute war so grundlegend anders als in seiner Kindheit. Der Wandel kam nicht auf einmal, sondern mit ganz kleinen, unmerklichen Schritten, wie Sandkörner, die der Wind in einer stillen Ecke behutsam zusammenweht, so lange, bis er daraus eine große Düne formt.

Auch an seiner Familie waren die Änderungen nicht spurlos vorübergegangen. Und er wusste, dass er diese Änderungen nicht verhindern konnte. Das hatte er begriffen, damals, vor vielen Jahren, damals, an diesem bestimmten Tag, als Bandul, sein Ältester, zu ihm ins Zelt gekommen war. Er erinnerte sich daran, als ob es gestern gewesen wäre, unauslöschlich waren die Bilder in seinem Gedächtnis verblieben. Seine Frau polierte einen kupfernen Teller, er spielte Kalaha mit seinem greisen Vater. Da trat Bandul, sein Ältester ein. Zwanzig Jahre zählte er damals, und er war sein ganzer Stolz. Ein junger Mann, schlank, groß, mit glühenden Augen. Kaum gebändigte Kraft sprach aus seinen Schritten, aus seinen Gesten. Und klug war er. Djamil hatte seinem Sohn alles beigebracht, was er selbst wusste. Er hatte ihn gelehrt, auf die Töne der Wüste zu hören, ihre Zeichen richtig zu deuten, er lehrte ihn den Umgang mit den Kamelen, lehrte ihn die Sitten und Gebräuche ihres Stammes, erzählte ihm die Geschichte ihres Volkes.

Und schließlich, da er der Erstgeborene in Djamils Familie, einer Adelsfamilie, ein Immagaren war, erhielt er auch das geheime Wissen der Vorväter. Djamil hatte dieses Wissen von seinem Vater erhalten, dieser wieder von dem seinen und so fort bis an den Anfang der Tage. Denn Djamils Familie hatte das Amt des Bewahrens des geheimen Wissens inne.

„Möge die Gottheit Friede und Gesundheit in dieses Zelt bringen!“, grüßte der junge Mann. Erst als er im Zelt war und sich aufgerichtet hatte, löste er die Verhüllung seines Gesichts.

„Der Friede sei auch mit dir, Bandul, mein Sohn“, sagte Djamil und wies auf ein Kissen neben ihm. „Mache uns die Freude und leiste deinen Eltern und deinem Großvater Gesellschaft. Setze dich zu uns.“ Der junge Mann ließ sich neben seinem Vater nieder. Djamils Frau legte den Kupferteller beiseite, goss Wasser in die Kanne und setzte sie ins Feuer.

„Nun, das Spiel kann warten“, sagte Djamils Vater. „Hast du Neuigkeiten mitgebracht?“

Bandul wiegte den Kopf. „Berkas ist mit seiner Karawane eingetroffen. Er hat den langen Weg aus dem Iforas glücklich hinter sich gebracht.“

„Die Gottheit segne die glückliche Rückkehr des Freundes“, sagte Djamil ernst. „Sind alle wohlbehalten?“

„Vollzählig sind sie eingetroffen“, nickte Bandul, „und auch die Waren sind ohne Schaden. Ihr wisst ja, dass es wohl eine seiner letzten Reisen war. Er sagt, dass es sich bald nicht mehr lohne, Karawanen zu führen. Mit den Fahrzeugen und Flugzeugen geht alles viel schneller, sowohl für die Waren als auch für die Menschen.“