Die Erziehungsgeheimnisse indigener Gemeinschaften - Michaeleen Doucleff - E-Book
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Die Erziehungsgeheimnisse indigener Gemeinschaften E-Book

Michaeleen Doucleff

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Beschreibung

Der internationale Erfolg und SPIEGEL-Bestseller jetzt im Taschenbuch

In ihrem internationalen Bestseller führt uns die amerikanische Journalistin Michaeleen Doucleff zu den Ursprüngen der Kindererziehung. Zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter Rosie reist sie zu indigenen Völkern und erforscht die oftmals erstaunlichen Erziehungsmethoden dieser alten Kulturen. Ihr Buch ist nicht nur ein faszinierender Bericht darüber, was sie dort erlebt und gelernt hat, sondern gibt ganz konkrete und praktische Anleitungen, wie auch wir unsere Kinder natürlich, gelassen und stressfrei begleiten können, so dass aus kleinen Menschen selbstbewusste und selbstbestimmte große werden.

Das Buch erschien zuerst 2021 unter dem Titel »Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll« im Kösel Verlag.

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Seitenzahl: 549

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DR. MICHAELEENDOUCLEFF hat in Berkeley an der University of California Chemie studiert. Sie hat viele Jahre als Redakteurin für Cell, eines der renommiertesten Wissenschaftsmagazine gearbeitet. Als Radio-Korrespondentin hat sie Preise gewonnen, und sie ist auf NPR (National Public Radio) eine der bekanntesten Bloggerinnen. Zahlreiche ihrer Artikel mit gesundheitlichen und pädagogischen Inhalten entwickelten sich auf NPR zu viralen Hits und erreichen dort ein Millionenpublikum. Ihr Buch über die Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen ist ein internationaler Erfolg. Doucleff lebt mit Mann, Tochter und der Schäferhündin Mango in San Francisco.

Michaeleen Doucleff in der Presse:

»Die Autorin besuchte mit ihrer kleinen Tochter indigene Völker und schaute sich an, wie die Familien dort leben. Ihr Fazit: Wir können alle von ihnen lernen.«

FAZ.net

»Michaeleen schreibt nicht über neue Paradigmen, sondern sie schafft neue.«

Vikki Valentine, Chefredakteurin von NPR

Michaeleen Doucleff

Die Erziehungsgeheimnisse indigener Gemeinschaften

Wie Kinder glücklich, gelassen und hilfsbereit werden

Aus dem Amerikanischen von Ulrike Kretschmer

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel Hunt, Gather, Parent bei Avid Reader Press, New York.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien zuerst 2021 unter dem Titel Kindern mehr zutrauen: Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen. Stressfrei – gelassen – liebevoll im Kösel Verlag.

Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Penguin Verlag, München Copyright © 2021 der deutschsprachigen Originalausgabe by Kösel Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: Favoritbuero, München Coverabbildung: Umschlagabbildung: Ruslana Iurchenko/Shutterstock Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31304-3V001

www.penguin-verlag.de

In Erinnerung an Mango,

die beste Buchhütehündin, die sich eine Autorin nur wünschen kann.

Für Rosy

Inhalt

Prolog

TEIL 1: Eigenartiger wilder Westen

1. Die eigenartigsten Eltern der Welt

2. Warum erziehen wir unsere Kinder, wie wir sie erziehen?

TEIL 2: Die Methode der Maya

3. Die hilfsbereitesten Kinder der Welt6

4. So helfen Kinder freiwillig

5. Anpassungsfähigkeit und Kooperation fördern

TEAM 1: Die TEAM-Erziehung – der bessere Weg zum Miteinander

6. Wesentliche Motivationsmerkmale – Was ist besser als Lob?

TEIL 3: Die emotionale Intelligenz der Inuit

7. Niemals wütend

8. Kinder und Wutkontrolle

9. Nicht mehr wütend auf das Kind sein

TEAM 2: Ermutigen, nicht zwingen

10. Erziehungswerkzeuge

11. Verhalten formen: Geschichten

12. Verhalten formen: Nachspielen

TEIL 4: Die Begabung der Hadza

13. Die Erziehungsmethoden unserer Urahnen

14. Die selbstsichersten Kinder der Welt

TEAM 3: Ein uraltes Mittel gegen Angst und Stress

15. Ein uraltes Mittel gegen Depression

TEIL 5: Westliche Erziehung 2.0

TEAM 4: Ein neues Paradigma für die Eltern der westlichen Welt

16. Schlaf

Epilog

Praktische Anleitungen

Übung 1: Erziehung zur Hilfsbereitschaft

Übung 2: Erziehung zur Kooperation

Übung 3: Kinder motivieren

Übung 4: Weniger wütend auf das Kind sein

Übung 5: Ohne Worte disziplinieren

Übung 6: Mit Geschichten erziehen

Übung 7: Durch Nachspielen erziehen

Übung 8: Selbstvertrauen und Eigenständigkeit stärken

Übung 9: Emotionale Unterstützung für die Familie aufbauen (und sich selbst eine Pause gönnen)

Anmerkungen

Danksagung

Personen- und Sachregister

Prolog

Ich erinnere mich noch gut an den Augenblick, in dem ich als Mutter an meinem absoluten Tiefpunkt angekommen war.

Es war fünf Uhr früh an einem frostigen Dezembermorgen. Ich lag im Bett und trug dasselbe Sweatshirt wie am Tag zuvor. Meine Haare hatte ich mir schon seit fast einer Woche nicht mehr gewaschen.

Draußen war der Himmel noch immer dunkelblau, die Straßenlaternen leuchteten noch immer gelb. Drinnen in unserem Haus herrschte eine gespenstische Stille. Alles, was ich hören konnte, war unsere Deutsche Schäferhündin Mango, die auf dem Boden unter dem Bett atmete. Alle schliefen, nur ich nicht. Ich war hellwach.

Ich bereitete mich auf die kommende Schlacht vor, ging wiederholte Male im Kopf durch, was ich bei der nächsten Begegnung mit dem Feind tun würde. Was werde ich tun, wenn sie mich wieder haut? Wenn sie mich schlägt, tritt oder beißt?

Es klingt furchtbar, meine Tochter den »Feind« zu nennen. Gott weiß, dass ich sie über alles liebe. Und in vielerlei Hinsicht ist sie eine wundervolle kleine Person. Sie ist blitzgescheit, unglaublich mutig und so stark wie ein Ochse, körperlich wie mental. Wenn Rosy auf dem Spielplatz hinfällt, steht sie einfach wieder auf, ohne Geschrei oder Heulerei.

Und habe ich schon erwähnt, wie sie duftet? Ich liebe ihren Duft, vor allem den ganz oben auf dem Kopf. Wenn ich für das National Public Radio auf Reportage bin, ist ihr Duft das, was ich am meisten vermisse, ihr Duft nach Honig, Lilien und feuchter Erde.

Dieser süße Duft ist betörend und irreführend zugleich. In Rosys Bauch lodert ein unkontrollierbares Feuer. Dieses Feuer treibt sie an, lässt sie mit wilder Entschlossenheit durch die Welt marschieren. Oder, wie es eine Freundin einmal ausgedrückt hat: Sie zerstört Welten.

Als Säugling hat Rosy viel geschrien, jeden Abend, stundenlang. »Wenn sie nicht gerade trinkt oder schläft, schreit sie«, erzählte mein Mann voller Panik der Kinderärztin. Die zuckte mit den Schultern. Offensichtlich war ihr das alles nicht neu. »Na ja, sie ist ein Baby«, sagte sie dann.

An jenem stillen Dezembermorgen war Rosy drei Jahre alt, und das Schreien hatte sich in Tobsuchtsanfälle und wahre Sturzbäche an elterlicher Beschimpfung verwandelt. Wann immer sie einen Trotzanfall hatte und ich sie auf den Arm nahm, schlug sie mir ins Gesicht. An manchen Tagen verließ ich das Haus mit einem feuerroten Handabdruck auf der Wange. Das tat weh.

Ich lag also im Bett und gestand mir endlich eine schmerzhafte Wahrheit ein: Zwischen Rosy und mir baute sich eine Mauer auf. Ich fürchtete mich mittlerweile vor der Zeit mit ihr, weil ich Angst davor hatte, was passieren würde: dass ich die Beherrschung verlieren würde (schon wieder), dass ich sie zum Weinen bringen würde (schon wieder), dass ich ihr Verhalten nur schlimmer machen würde (schon wieder). Und deshalb fürchtete ich, Rosy und ich würden Feinde werden.

Ich bin in einem Haus voller Wut aufgewachsen. Schreien, Türen zuknallen, sogar mit Schuhen nach anderen werfen – das waren alles grundlegende Kommunikationsmittel für meine Eltern, meine drei Geschwister und mich. Aus diesem Grund habe ich auch auf Rosys Tobsuchtsanfälle zuerst so reagiert, wie meine Eltern mich behandelt hatten: mit einer Mischung aus Zorn, Strenge und manchmal lauten, angsteinflößenden Worten. Doch dieser Schuss ging nach hinten los: Dann nämlich machte Rosy einen Buckel, kreischte wie ein Greifvogel und warf sich auf den Boden. Davon einmal abgesehen wollte ich es besser machen als meine Eltern. Ich wollte, dass Rosy in einer friedlichen Umgebung aufwuchs. Ich wollte ihr Kommunikationsmöglichkeiten beibringen, die produktiver waren, als jemandem einen Schuh an den Kopf zu werfen.

Also konsultierte ich Dr. Google und erklärte »autoritär« zur »optimalen Erziehungsmethode«, um Rosys Tobsuchtsanfälle in den Griff zu bekommen. Anscheinend bedeutete autoritär, »hart« zu bleiben, dabei aber »nicht böse« zu sein. Ich versuchte mich an diesem Balanceakt, musste aber wohl irgendetwas falsch gemacht haben, weil ich mit der autoritären Herangehensweise immer wieder scheiterte. Rosy wusste, dass ich noch wütend war, und so gerieten wir aufs Neue in den Teufelskreis. Meine Wut machte ihr Verhalten schlimmer, was mich wiederum wütender machte. Irgendwann wurden ihre Tobsuchtsanfälle dann richtiggehend gefährlich. Sie biss, schlug um sich, rannte durchs Haus und stieß Möbel um.

Selbst die einfachste Aufgabe – sich beispielsweise morgens für die Kita fertig zu machen – artete regelmäßig in eine heftige Auseinandersetzung aus. »Würdest du dir jetzt bitte einfach die Schuhe anziehen?«, bettelte ich zum fünften Mal. »Nein!«, schrie sie, um sich anschließend auch noch das Kleid und die Unterwäsche vom Leib zu reißen.

An einem Morgen fühlte ich mich so schlecht, dass ich mich in der Küche vor das Spülbecken kniete und lautlos in den Unterschrank brüllte: Warum ist das immer so ein Kampf? Warum hört sie nicht? Was mache ich nur falsch?

Um ehrlich zu sein, hatte ich keine Ahnung, wie ich mit Rosy umgehen sollte. Ich wusste nicht, wie ich ihren Tobsuchtsanfällen ein Ende setzen konnte, ganz zu schweigen davon, wie ich ihr beibringen sollte, ein guter Mensch zu sein – ein gütiger, hilfsbereiter Mensch, der sich Gedanken um andere Menschen macht.

Um noch ehrlicher zu sein: Ich wusste nicht, wie man eine gute Mutter ist. Nie zuvor war ich so schlecht in etwas gewesen, worin ich so gut sein wollte. Nie zuvor war die Kluft zwischen meinem tatsächlichen Können und dem Niveau an Können, das ich anstrebte, so vernichtend groß gewesen.

Und so lag ich in diesen frühen Morgenstunden im Bett und fürchtete mich vor dem Augenblick, in dem meine Tochter – das geliebte Kind, das ich mir so viele Jahre lang sehnlichst gewünscht hatte – aufwachte. Ich lag da und zermarterte mir das Hirn auf der Suche nach einer Möglichkeit, Zugang zu einer kleinen Person zu finden, die häufig wie eine rasende Irre wirkte. Auf der Suche nach einer Möglichkeit, dem Chaos, das ich angerichtet hatte, zu entkommen.

Ich fühlte mich verloren. Ich war müde und ohne jede Hoffnung. Beim Blick in die Zukunft sah ich immer dieselbe Szene vor mir: Rosy und ich, in permanentem Kampf ineinander verbissen, wobei meine Tochter im Laufe der Zeit nur größer und stärker wurde.

Doch das ist nicht geschehen, und dieses Buch erzählt von dem unerwarteten und tief greifenden Wandel, der sich in unserem Leben ereignete. Er begann mit einer Reise nach Mexiko, wo ein Erlebnis mir die Augen öffnete und zu anderen Reisen in andere Ecken der Welt führte – jedes Mal mit Rosy an meiner Seite. Unterwegs begegnete ich einigen außergewöhnlichen Müttern und Vätern, die mir großzügigerweise unglaublich viel über das Erziehen beibrachten. Diese Frauen und Männer zeigten mir nicht nur, wie ich Rosys Tobsuchtsanfälle zähmen, sondern auch, wie ich mit ihr sprechen konnte, ohne zu schreien, zu nörgeln oder zu bestrafen. Sie zeigten mir, wie eine Kommunikation gelingen kann, die das Selbstvertrauen des Kindes stärkt, statt zu Spannungen und Konflikten mit den Eltern zu führen. Und was vielleicht am wichtigsten ist: Ich lernte, wie ich Rosy beibringen konnte, mir, ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber freundlich und großzügig zu sein. Und das alles war teilweise deswegen möglich, weil diese Mütter und Väter mir gezeigt haben, auf ganz neue Weise gütig und liebevoll zu meinem Kind zu sein.

Oder, wie die Inuit-Mutter Elizabeth Tegumiar an unserem letzten Tag in der Arktis zu mir sagte: »Ich glaube, du weißt jetzt besser, wie du mit ihr umgehen sollst.« Das weiß ich wirklich.

Ein Kind zu erziehen ist etwas ausnehmend Persönliches. Die Einzelheiten variieren nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern auch von Gemeinschaft zu Gemeinschaft, ja sogar von Familie zu Familie. Und doch kann man heute rund um den Globus einen roten Faden erkennen, der sich durch die überwiegende Mehrheit der verschiedenen Kulturen zieht. Von der arktischen Tundra über den Regenwald von Yucatán bis zur Savanne in Tansania und zu den Berghängen auf den Philippinen zeigen sich im Umgang mit Kindern bestimmte Gemeinsamkeiten. Dies trifft besonders auf Kulturen zu, die auffällig freundliche und hilfsbereite Kinder hervorbringen – Kinder, die morgens aufwachen und sofort damit beginnen, den Abwasch zu erledigen. Kinder, die ihre Süßigkeiten mit ihren Geschwistern teilen wollen.

Diese universelle Herangehensweise an die Erziehung von Kindern besteht aus vier Kernelementen. Man kann diese Elemente in kleinen Nischen Europas heute noch beobachten, und vor nicht allzu langer Zeit waren sie in den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika weit verbreitet. Oberstes Ziel dieses Buchs ist es, die Besonderheiten dieser Elemente herauszustellen und zu vermitteln, wie wir sie uns zunutze und es uns so leichter machen können.

Angesichts der Verbreitung, die der universelle Erziehungsstil überall auf der Welt und unter Jäger-Sammler-Gemeinschaften gefunden hat, ist er wahrscheinlich schon viele Tausende, wenn nicht Zigtausende Jahre alt. Biologinnen und Biologen können überzeugende Argumente dafür vorbringen, dass diese Form der Eltern-Kind-Beziehung entwicklungsgeschichtlich so vorgesehen ist. Erlebt man die Erziehungsmethode nämlich in Aktion – sei es nun beim Tortillabacken in einem Maya-Dorf oder beim Seesaiblingfischen im Arktischen Ozean –, denkt man unwillkürlich sofort: »Ach, so soll das mit der Erziehung eigentlich funktionieren!« Kind und Elternteil passen zusammen wie eine Nut-Feder-Verbindung.

Ich werde nie vergessen, wie ich das erste Mal Zeuge dieses Erziehungsstils wurde. Es war eine geradezu lebensverändernde Erfahrung.

Zu dieser Zeit war ich bereits sechs Jahre als Reporterin für das National Public Radio (NPR) tätig gewesen. Davor hatte ich sieben Jahre lang als in Berkeley ausgebildete Chemikerin gearbeitet. Deshalb lag mein Fokus als Reporterin auf medizinwissenschaftlichen Reportagen – ansteckenden Krankheiten, Impfstoffen und der Kindergesundheit. Meist arbeitete ich von meinem Schreibtisch in San Francisco aus, doch hin und wieder wurde ich von NPR in eine entlegene Ecke der Welt geschickt, um über eine exotische Erkrankung zu berichten. Ich war auf dem Höhepunkt des Ebola-Ausbruchs in Liberia, stocherte auf der Suche nach tauenden Grippeviren in arktischem Permafrost herum und stand in einer Fledermaushöhle auf Borneo, wo ein Virenjäger mich vor einer zukünftigen weltweiten Pandemie warnte (das war im Herbst 2017 gewesen).

Nachdem Rosy in unser Leben getreten war, nahmen diese Reisen eine neue Bedeutung für mich an. Ich sah die Mütter und Väter auf der ganzen Welt nicht mehr mit den Augen der Reporterin oder der Wissenschaftlerin, sondern mit denen der erschöpften Mutter, die verzweifelt nach jedem noch so kleinen Schnipsel Erziehungsweisheit suchte. Es muss etwas Besseres geben als das, was ich tue, dachte ich. Es muss einfach.

Und plötzlich, während einer Reise zur mexikanischen Halbinsel Yucatán, erlebte ich sie, die universelle Erziehungsmethode, aus allernächster Nähe. Die Erfahrung erschütterte mich im Innersten. Nach meiner Rückkehr begann ich, meine gesamte Karriere neu auszurichten. Statt mich weiterhin auf Viren und Biochemie zu konzentrieren, wollte ich so viel wie möglich über diese Art von Beziehung zu kleinen Menschen herausfinden, diese so verlockend sanfte und warmherzige Art, Kinder zu Hilfsbereitschaft und Autarkie zu erziehen.

Zunächst einmal möchte ich Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Zeit danken. Ich weiß, wie wertvoll beides für Eltern ist. Mithilfe eines fantastischen Teams habe ich hart dafür gearbeitet, dass sich das Buch für Sie und Ihre Familie als nützlich erweisen kann.

Zum anderen haben Sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach ein bisschen wie ich und mein Mann gefühlt – händeringend nach besseren Ratschlägen und Werkzeugen suchend. Vielleicht haben Sie schon andere Erziehungsratgeber gelesen und wie ein Wissenschaftler mit unterschiedlichen Methoden an Ihren Kindern experimentiert. Möglicherweise wirkten die Experimente auf den ersten Blick auch tatsächlich vielversprechend, stellten sich nach einigen Tagen jedoch leider als nutzlos heraus, was Sie natürlich noch mehr auslaugte. Ich habe diesen frustrierenden Zyklus in Rosys ersten zweieinhalb Lebensjahren selbst durchgemacht. Die Experimente scheiterten stets aufs Neue.

Dieses Buch hat es sich zum Ziel gesetzt, Sie aus dem frustrierenden Zyklus zu befreien. Durch die hier vorgestellte universelle Herangehensweise an die Kindererziehung bekommen Sie Einblick in die Art und Weise, wie Kinder seit Tausenden von Jahren erzogen wurden, wie erzogen zu werden sie von der Evolution programmiert worden sind. Sie beginnen zu verstehen, wie es überhaupt zu Fehlverhalten kommt, und werden befähigt, es an seiner Wurzel auszurotten. Sie lernen eine Eltern-Kind-Beziehung kennen, die jahrtausendelang von Müttern und Vätern auf allen Kontinenten der Erde getestet wurde und die aktuell in anderen Erziehungsratgebern nicht vorkommt.

Ratschläge an Eltern kranken derzeit an einem Hauptproblem: Der Großteil davon gibt einzig die europäisch-amerikanische Perspektive wieder. Amy Chua zeigt fesselnd in Die Mutter des Erfolges. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte, wie man als chinesischstämmige Amerikanerin erfolgreiche Kinder großziehen kann, doch insgesamt basieren die zeitgenössischen Erziehungsvorstellungen fast ausschließlich auf dem westlichen Paradigma. Dies hat dazu geführt, dass amerikanische Mütter und Väter lediglich wie durch ein winziges Schlüsselloch auf die Erziehungslandschaft spähen können. Diese eingeschränkte Sichtweise blendet nicht nur viele der bestechendsten und nützlichsten Elemente aus, sie hat auch weitreichende Konsequenzen: Sie ist einer der Gründe dafür, warum es heute so anstrengend ist, Kinder großzuziehen – und warum Kinder und Teenager in der westlichen Welt in den vergangenen Jahrzehnten immer einsamer, ängstlicher und depressiver geworden sind.

Heute hat rund ein Drittel aller Teenager in den USA schon Symptome, die die Kriterien einer Angststörung erfüllen, so Wissenschaftler aus Harvard. Mehr als sechzig Prozent der Studierenden berichten von einem Gefühl der »erdrückenden« Angst, und die Generation Z, also diejenigen, die zwischen Mitte der Neunzigerjahre und Anfang des neuen Jahrtausends zur Welt gekommen sind, ist die einsamste Generation seit Dekaden. Dennoch bewegt sich der vorherrschende Erziehungsstil in den USA in eine Richtung, die diese Probleme verschärft, statt sie einzudämmen. »Eltern sind in einen Kontrollmodus übergegangen«, so die Psychotherapeutin B. Janet Hibbs 2019. »Früher haben sie die Selbstständigkeit, die Autonomie der Kinder gefördert … Heute aber üben sie mehr und mehr Kontrolle aus, was die Kinder ängstlicher macht und weniger vorbereitet auf das Unvorhersehbare.«

Wenn der sogenannte Normalzustand von Teenagern in unserer Kultur ängstlich und einsam ist, sollten wir als Eltern vielleicht einmal darüber nachdenken, was eine »normale« Erziehung ist. Wenn wir unsere kostbaren Bündel der Freude wirklich verstehen wollen – wirklich eine Beziehung zu unseren Kindern aufbauen wollen –, müssen wir dazu vielleicht den Sprung aus unserer kulturellen Komfortzone wagen und mit Eltern sprechen, von denen wir selten etwas hören.

Vielleicht ist es an der Zeit, unsere eingeschränkte Sichtweise zu weiten. Vielleicht sehen wir dann, wie schön – und wirkmächtig – Erziehung sein kann.

Und genau darin besteht ein weiteres Ziel dieses Buchs: die Lücken in unserem Erziehungswissen zu füllen. Dazu richten wir das Augenmerk auf Kulturen, die eine enorme Menge an nützlichem Wissen besitzen – auf die Jäger und Sammler sowie auf andere indigene Kulturen mit ähnlichen Werten. Sie haben ihre Erziehungsstrategien im Laufe von Tausenden von Jahren immer weiter verfeinert. Ihre Großmütter und Großväter haben ihr Wissen von einer Generation zur nächsten weitergereicht und so neue Mütter und Väter mit einem riesigen Kasten unterschiedlicher und wirksamer Werkzeuge ausgestattet. Damit wissen Eltern, wie man Kinder dazu bringt, Aufgaben zu erledigen, ohne darum bitten zu müssen, wie man Geschwister dazu bringt zu kooperieren (und nicht zu streiten) und wie man diszipliniert, ohne zu schreien, zu schimpfen oder Hausarrest zu verhängen. Diese Eltern sind wahre Meistermotivatoren und Experten darin, die exekutiven Funktionen der Kinder zu stärken, darunter auch Fähigkeiten wie Resilienz, Geduld und Impulskontrolle.

Besonders auffällig ist, dass in vielen Jäger-und-Sammler-Kulturen Eltern eine Beziehung zu kleinen Kindern aufbauen, die sich von der in der westlichen Welt gepflegten erheblich unterscheidet. Diese Beziehung basiert auf Kooperation statt auf Konflikt, auf Vertrauen statt auf Angst und auf persönlich abgestimmten Anforderungen statt auf standardisierten Entwicklungsmeilensteinen.

Während ich also Rosy mit nur einem einzigen Werkzeug erziehe – einem wirklich lauten Hammer –, bedienen sich zahlreiche Eltern überall auf der Welt eines ganzen Koffers an Präzisionsinstrumenten und wenden mal den Schraubenzieher, mal den Flaschenzug und mal die Wasserwaage an, ganz nach Bedarf. In diesem Buch möchte ich Ihnen so viel wie möglich über diese großartigen Werkzeuge erzählen, damit sie Ihnen fortan auch im eigenen Zuhause zur Verfügung stehen.

Dafür wenden wir uns direkt der Quelle der Informationen zu – den Müttern und Vätern selbst. Wir werden drei verschiedene Kulturen besuchen, die Maya, die Inuit und die Hadza, die sich jeweils in Erziehungsaspekten auszeichnen, mit denen die westliche Kultur zu kämpfen hat. Maya-Mütter sind Meisterinnen im Großziehen hilfsbereiter Kinder. Sie haben eine ausgeklügelte Form der Zusammenarbeit entwickelt, die Geschwister lehrt, nicht nur miteinander auszukommen, sondern wirklich gemeinschaftlich tätig zu sein.

Die Inuit verfügen über bemerkenswert effektive Methoden, Kindern emotionale Intelligenz beizubringen, insbesondere hinsichtlich der Wutkontrolle und des Respekts anderen gegenüber.

Hadza-Eltern sind Weltmeister im Großziehen selbstbewusster und selbstbestimmter Kinder. Bei ihnen kennt man kindliche Angststörungen und Depressionen, die in den USA weit verbreitet sind, nicht.

Jeder dieser Kulturen ist jeweils ein Hauptteil des Buchs gewidmet. Darin lernen wir verschiedene Familien kennen und erfahren etwas über ihren Tagesablauf: wie sie die Kinder morgens für die Schule fertig machen, wie sie sie abends ins Bett bringen und wie sie sie motivieren zu teilen, liebevoll zu ihren Geschwistern zu sein und neue Verantwortungen zu übernehmen, wenn sie ihre Fähigkeiten so weit entwickelt haben.

Und obendrein stellen wir diese großartigen Mütter und Väter noch vor eine ganz besondere Herausforderung, geben ihnen ein Erziehungsrätsel auf, das sie vor unseren Augen lösen sollen: Rosy.

Um dieses Buch zu schreiben, habe ich mich auf eine epische – und manchmal vielleicht auch wahnwitzige – Reise begeben. Mit einem Kleinkind im Schlepptau reiste ich zu drei hoch geachteten Gemeinschaften rund um den Globus, lebte dort bei verschiedenen Familien und versuchte, alles über die Tricks und Kniffe ihrer Kindererziehung herauszubekommen. Rosy und ich schliefen in einer Hängematte unter dem Maya-Vollmond, halfen einem Inuit-Großvater bei der Narwaljagd im Arktischen Ozean und lernten von Hadza-Müttern in Tansania, wie man nach Wurzeln und Knollen gräbt.

Darüber hinaus kommen auch Anthropologen und Evolutionsbiologen zu Wort, die verdeutlichen, dass die beschriebenen Erziehungsstrategien nicht nur für diese Familien und diese Kulturen spezifisch, sondern heute überall auf der Welt verbreitet sind und sich zudem durch die gesamte Menschheitsgeschichte ziehen. Von Psychologen und Neurowissenschaftlern wiederum erfahren wir, welchen Einfluss die einzelnen Erziehungswerkzeuge und -tipps auf die geistige Gesundheit und die Entwicklung von Kindern haben können.

Außerdem finden Sie in jedem Hauptteil praktische Anleitungen, mit denen Sie die Ratschläge zu Hause ausprobieren können. Mit verschiedenen Tipps können Sie gewissermaßen erst einmal »Erste Schritte« gehen und herausfinden, ob die Erziehungsmethode zu Ihrem Kind passt. Die ausführlicheren Anleitungen helfen Ihnen dabei, die geeigneten Methoden in Ihren Alltag zu integrieren. Die praktischen Abschnitte beruhen auf meiner persönlichen Erfahrung sowie auf den Erfahrungen von befreundeten Familien, die ebenfalls in San Francisco leben und selbst kleine Kinder haben.

Auf unserer Reise, die uns über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinausführt, werden wir die westliche Herangehensweise an die Kindererziehung allmählich mit anderen Augen sehen. Denn wenn es um unsere Kinder geht, zäumen wir das Pferd nur allzu oft von hinten auf: Wir greifen zu viel ein. Wir haben zu wenig Vertrauen in unsere Kinder. Wir vertrauen nicht darauf, dass sie mit einer ganz besonderen Fähigkeit auf die Welt gekommen sind: dass sie von Natur aus wissen, was sie brauchen, um wachsen zu können. Und häufig sprechen wir noch nicht einmal ihre Sprache.

Vor allem konzentriert sich unsere Kultur fast ausschließlich auf einen Aspekt der Eltern-Kind-Beziehung: die Kontrolle. Darauf, wie viel Kontrolle die Eltern über das Kind ausüben, und darauf, wie viel Kontrolle das Kind über die Eltern auszuüben versucht. Die am weitesten verbreiteten Erziehungsmodelle drehen sich alle um Kontrolle. Helikoptereltern üben maximale Kontrolle aus, Eltern, die sich dem Free-Range Parenting, dem pädagogischen Freiraum, verschrieben haben, nur minimale. Aus der Perspektive unserer Kultur hat also entweder der Erwachsene die Kontrolle oder das Kind.

Doch diese Ansicht bringt ein großes Problem mit sich: Sehen wir Erziehung so, kommen wir nicht ohne Machtkämpfe, Streit, Schreien und Tränen aus. Niemand wird gern kontrolliert. Sowohl die Kinder als auch die Eltern lehnen sich dagegen auf. Interagieren wir also in Form von Kontrolle mit unseren Kindern – kontrollieren die Eltern das Kind oder umgekehrt –, führt das automatisch zu einer konfliktreichen, feindschaftlichen Beziehung. Spannungen entstehen, Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung und Machtkämpfe unvermeidlich. Und bei einer kleinen Zwei- oder Dreijährigen, die noch nicht mit Emotionen umgehen kann, verschaffen sich diese Spannungen in einem körperlichen Ausbruch ein Ventil.

Dieses Buch stellt Ihnen eine andere Dimension der Erziehung vor, die in unserer westlichen Welt im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre größtenteils verloren gegangen ist. Eine Möglichkeit der Eltern-Kind-Beziehung, die nichts mit Kontrolle zu tun hat, und zwar weder mit dem Ausüben noch mit dem Erdulden derselben.

Vielleicht ist vielen Eltern noch nicht bewusst, dass es in den meisten Erziehungskämpfen im Grunde um Kontrolle geht. Streichen wir jedoch die Kontrolle aus der Erziehungsgleichung oder kürzen wir sie zumindest, lösen sich Kämpfe und Widerstand ganz erstaunlich schnell in Luft auf und schmelzen wie Butter in der heißen Pfanne. Halten Sie durch! Probieren Sie aus, was in diesem Buch steht, und Sie werden sehen, dass die frustrierendsten Augenblicke der Erziehung – die nachgeschmissenen Schuhe, der Tobsuchtsanfall im Supermarkt, der Kampf beim Zubettbringen – immer seltener stattfinden und schließlich sogar ganz verschwinden werden.

Zum Schluss noch ein paar Worte zu der Absicht, die ich mit diesem Buch verfolge.

Das Letzte, das ich will, ist, dass Ihnen auch nur ein Abschnitt darin das Gefühl vermittelt, Sie seien schlechte Eltern. Eltern kämpfen ohnehin schon mit so vielen Selbstzweifeln und Unsicherheiten, dass ich diesen nicht noch mehr hinzufügen möchte. Sollte das doch einmal der Fall sein, schreiben Sie mir bitte umgehend eine E-Mail. Denn meine Absicht mit diesem Buch ist das genaue Gegenteil: Ich will Sie als Eltern befähigen und stärken, Ihnen ganz neue Werkzeuge und Ratschläge an die Hand geben, die in unseren Erziehungsdiskussionen heute fehlen. Ich habe dieses Buch geschrieben, um diejenige zu sein, die ich mir an jenem dunklen, kalten Dezembermorgen an meiner Seite gewünscht hätte, als ich als Mutter ganz unten angekommen war.

Mein anderer Wunsch ist es, mit diesem Buch meiner Wertschätzung den vielen Eltern gegenüber, die darin erwähnt werden, Ausdruck zu verleihen. Sie haben Rosy und mich in ihrem Zuhause und in ihrem Leben willkommen geheißen. Diese Familien entstammen Kulturen, die sich von der meinen unterscheiden – und wahrscheinlich auch von der Ihren. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, mit diesen Unterschieden umzugehen. In den USA konzentrieren wir uns nur allzu oft auf die Probleme dieser Kulturen und kritisieren die Menschen, die in ihnen leben, wenn sie den Regeln unserer Kultur nicht folgen. Hin und wieder schlägt das Pendel aber auch zu weit in die entgegengesetzte Richtung aus: Dann verklären wir fremde Kulturen, unterstellen ihnen ein »uraltes magisches Wissen« oder beneiden sie um ihr »verlorenes Paradies«. Beide Denkweisen sind grundsätzlich falsch.

Keine Frage: Das Leben in diesen Kulturen kann hart sein – genauso wie in jeder anderen auch. Gemeinschaften und Familien hatten und haben Tragödien, Krankheiten und schwere Zeiten zu erleiden (manchmal auch aufgrund der westlichen Kultur). Genau wie Sie und ich arbeiten auch diese Eltern unglaublich hart und üben meist mehrere Jobs aus. Auch sie machen Fehler bei der Erziehung und bereuen gelegentlich Entscheidungen. Genau wie Sie und ich sind auch diese Eltern nicht perfekt.

Gleichzeitig ist aber auch keine dieser Kulturen ein Relikt, ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Ganz im Gegenteil: Die Familien in diesem Buch sind so »aktuell« – leider fällt mir kein besseres Wort dafür ein – wie Sie und ich. Sie haben Smartphones, sehen auf Facebook nach, schauen Die Eiskönigin – völlig unverfroren und Coco – lebendiger als das Leben. Die Kinder bekommen Froot Loops zum Frühstück und dürfen nach dem Abendessen noch fernsehen. Die Erwachsenen beeilen sich morgens, um die Kinder für die Schule fertig zu machen, und trinken an faulen Samstagabenden mit Freunden ein Bier.

Allerdings haben diese Kulturen etwas, das der westlichen Kultur augenblicklich fehlt: tief verwurzelte Erziehungstraditionen und den Wissensschatz, der damit einhergeht. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Eltern in diesem Buch unglaublich talentiert darin sind, mit ihren Kindern zu kommunizieren, sie zu motivieren und mit ihnen zu kooperieren. Verbringen Sie nur ein, zwei Stunden mit einer dieser Familien, und die Beweise liegen auf der Hand.

Deshalb ist es mein erklärtes Ziel in diesem Buch, Ihre Aufmerksamkeit auf die herausragenden Fähigkeiten dieser Eltern zu lenken. Auf meinen Reisen wollte ich anderen Menschen begegnen, mich so echt wie möglich mit ihnen verbinden und aus ihren ungeheuer reichen Erfahrungen lernen. Dies wollte ich anschließend an Sie, meine Leserin oder meinen Leser, weitergeben. Dabei möchte ich die Menschen in diesem Buch und die Gemeinschaften, denen sie angehören, ehren und ihnen meinen Respekt erweisen, so gut ich nur kann. Und ich will ihnen etwas zurückgeben. Aus diesem Grund gehen fünfunddreißig Prozent meines Vorschusses für dieses Buch an die Familien und Gemeinschaften, die Sie kennenlernen werden. Und um jedem gleichermaßen gerecht zu werden, werde ich ab der zweiten Erwähnung nur noch den jeweiligen Vornamen benutzen.

Bevor wir uns nun auf die Reise machen und in drei der geachtetsten Kulturen der Welt eintauchen, müssen wir uns noch einer anderen Sache zuwenden. Wir müssen einen Blick auf uns selbst werfen, um zu verstehen, warum wir unsere Kinder so erziehen, wie wir sie erziehen. Sie werden sehen: Viele der Techniken und Werkzeuge, die wir für selbstverständlich halten – und auf die wir immens stolz sind –, haben einen recht überraschenden und eher unsoliden Ursprung.

TEIL 1

Eigenartiger wilder Westen

KAPITEL 1

Die eigenartigsten Eltern der Welt

Im Frühjahr 2018 saß ich am Flughafen Cancún und fühlte mich beinahe wie gelähmt. Geistesabwesend starrte ich auf die Flugzeuge, in Gedanken noch immer mit dem beschäftigt, was ich gerade miterlebt hatte. Konnte es wirklich wahr sein?

Konnte Erziehung tatsächlich so einfach sein?

Nur ein paar Tage zuvor war ich zu einem kleinen Maya-Dorf mitten auf der Halbinsel Yucatán gereist. Ich arbeitete an einer Radioreportage über die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern, nachdem ich in einer Studie gelesen hatte, dass sich Maya-Kinder in bestimmten Situationen besser konzentrieren können als amerikanische Kinder. Und ich wollte wissen, warum.

Doch schon nach meinem ersten Tag im Dorf witterte ich eine größere Geschichte, die sich unter diesen Strohdächern verbarg.

Danach verbrachte ich viele Stunden damit, die Mütter und Großmütter des Dorfs über die Erziehung ihrer Kinder zu befragen und ihnen genau dabei zuzusehen – wie sie mit Trotzanfällen kleiner Kinder umgehen, die Kinder zu den Hausaufgaben motivieren und sie überreden, zum Abendessen ins Haus zu kommen. Im Grunde genommen also nichts anderes als der ganz normale Alltag einer Familie. Ich befragte sie auch zu den schwierigeren Prozeduren, beispielsweise dazu, wie sie es schaffen, die Kinder morgens pünktlich aus dem Haus oder abends ins Bett zu bringen.

Was ich erfuhr und erlebte, verblüffte mich. Ihre Erziehungsmethoden unterschieden sich vollständig von allem, was ich diesbezüglich je gesehen hatte – von den Erziehungsmethoden der Übermütter in San Francisco, von denen, mit denen ich erzogen worden war, ganz bestimmt aber von denen, mit denen ich Rosy erzog.

Mein Erziehungsstil ähnelte einer Wildwasserfahrt mit Drama, Herumbrüllen und vielen Tränen, ganz zu schweigen von den endlosen Verhandlungen und dem Gezänk auf beiden Seiten. Bei den Maya-Müttern hingegen fühlte ich mich wie auf einem breiten, ruhigen Fluss, der mit spiegelglatter Wasseroberfläche gemächlich durch ein Bergtal mäandert. Sanft, locker, mit nur sehr wenig Drama. Ich hörte kein Geschrei oder Herumkommandieren (weder in die eine noch in die andere Richtung) und nur sehr wenig Nörgeln. Und trotzdem waren die Methoden ungeheuer effektiv. Die Kinder zeigten sich respektvoll, freundlich und kooperativ, und zwar nicht nur ihren Eltern, sondern auch ihren Geschwistern gegenüber. Ich konnte es kaum glauben: Die meiste Zeit über mussten die Eltern ihr Kind noch nicht einmal darum bitten, die Tüte Chips mit der kleinen Schwester oder dem kleinen Bruder zu teilen – das Kind teilte freiwillig.

Was mich dann vollends erstaunte, war die Hilfsbereitschaft der Kinder. Wohin ich auch blickte – überall Kinder in jeder Altersstufe, die eifrig ihren Eltern zur Hand gingen. Ein neunjähriges Mädchen sprang von seinem Fahrrad, um für seine Mutter den Wasserschlauch aufzudrehen. Ein vierjähriges Mädchen bot sich begeistert an, auf dem Markt um die Ecke ein paar Tomaten zu holen (natürlich mit dem Versprechen, dafür eine kleine Süßigkeit zu bekommen).

Am letzten Morgen meines Besuchs schließlich wurde ich Zeuge des ultimativen Aktes der Hilfsbereitschaft, der aus einer völlig unerwarteten Richtung kam: von einem Mädchen, das noch keine dreizehn war und gerade Ferien hatte.

Ich saß in der Küche der Familie und unterhielt mich mit der Mutter des Mädchens, Maria de los Angeles Tun Burgos, während sie schwarze Bohnen über einem Steinkohlenfeuer zubereitete. Sie trug ihr langes Haar zu einem seidig glänzenden Pferdeschwanz gebunden und hatte ein marineblaues, weit ausgestelltes Kleid mit Gürtel an.

»Die beiden älteren Mädchen schlafen noch«, sagte Maria und setzte sich zum Ausruhen in eine Hängematte. Sie waren spät ins Bett gegangen, weil sie sich einen Film hatten ansehen wollen. »Um Mitternacht habe ich sie alle zusammen aneinandergekuschelt in einer Hängematte vorgefunden«, fuhr Maria leise lachend fort. Dann lächelte sie. »Also erlaube ich es, dass sie etwas länger schlafen.«

Maria arbeitet sehr hart. Sie kümmert sich um den gesamten Haushalt, kocht alle Mahlzeiten – und damit meine ich jeden Tag frisch aus Maismehl aus der Steinmühle zubereitete Tortillas – und hilft darüber hinaus noch im Geschäft der Familie. Und egal wie chaotisch es während unseres Besuchs auch zuging, Maria blieb stets gelassen. Selbst wenn sie ihre Jüngste, Alexa, dazu ermahnte, nicht ins Feuer zu fassen, blieb ihre Stimme ruhig und ihr Gesicht entspannt. Es waren keinerlei Anzeichen von Dringlichkeit, Angst oder Stress zu erkennen. Und im Gegenzug verhielten sich ihre Kinder ihr gegenüber wirklich fantastisch. Sie kamen ihren Bitten – fast immer – nach. Sie stritten nicht und gaben auch keine Widerworte.

Wir unterhielten uns noch einige Minuten, und als ich gerade aufstand und gehen wollte, kam Marias zwölfjährige Tochter Angela aus ihrem Zimmer. Mit ihren schwarzen Caprihosen, dem roten T-Shirt und den goldenen Kreolen sah sie wie jedes andere gleichaltrige Mädchen aus Kalifornien aus. Dann aber tat sie etwas, das ich in Kalifornien noch nie gesehen habe. Sie ging an mir und ihrer Mutter vorbei, nahm sich, ohne ein Wort zu sagen, eine Schüssel mit Seifenwasser und begann, das Geschirr vom Frühstück abzuwaschen. Niemand hatte sie darum bitten müssen. An der Wand hing keine Aufgabenverteilungsliste. (Tatsächlich, das werden wir später noch sehen, können solche Listen freiwilliges Tätigwerden sogar verhindern.) Nein, Angela hatte einen Blick auf das schmutzige Geschirr in der Spüle geworfen und sich direkt an die Arbeit gemacht, Ferien hin oder her.

»Wow!«, entfuhr es mir. »Hilft Angela öfter freiwillig?«

Ich war vollkommen überrascht, Maria nicht im Mindesten. »Nicht jeden Tag, aber oft«, entgegnete sie. »Wenn sie sieht, dass etwas erledigt werden muss, zögert sie nicht. Einmal musste ich mit ihrer jüngeren Schwester in die Klinik, und als wir zurückkamen, hatte Angela das ganze Haus geputzt.«

Ich ging zu Angela hinüber und fragte sie selbst, warum sie mit dem Spülen angefangen hatte. Ihre Antwort brachte mein Herz zum Schmelzen.

»Ich helfe meiner Mutter gern«, erwiderte sie in weichem Spanisch und schrubbte dabei einen gelben Teller.

»Und wenn du deiner Mutter gerade nicht hilfst, was tust du dann gern?«, fragte ich sie weiter.

»Dann helfe ich meiner kleinen Schwester«, antwortete sie stolz.

Ich war baff. Welche Zwölfjährige steht morgens auf und beginnt als Allererstes damit, das Geschirr zu spülen – und das auch noch in den Ferien?, dachte ich. Gibt es das wirklich oder ist es vielleicht doch nur ein Traum?

Und so musste ich auch Tage später am geschäftigen Flughafen Cancún, als ich geistesabwesend auf die Flugzeuge blickte, immer noch an Angela denken – an ihren aufrichtigen Wunsch zu helfen und ihre Liebe zu ihrer Familie. Wie brachten Maria und die anderen Maya-Mütter das zustande? Wie erzogen sie ihre Kinder zu so viel Kooperation und Respekt?

Diese Frauen schafften es, dass Erziehung – darf ich es so sagen? – wie ein Kinderspiel wirkte. Darüber wollte ich unbedingt mehr wissen. Ich wollte ihnen all ihre Erziehungsgeheimnisse entlocken. Ich wollte, dass auch zwischen mir und Rosy eine solche Ruhe und Entspannung herrschte. Ich wollte runter vom Wildwasser und rauf auf den breiten, vor sich hin mäandernden Fluss.

Als ich mich von den Flugzeugen abwandte, fiel mein Blick auf die amerikanischen Touristen, die mir gegenübersaßen und sich bereit machten, das Flugzeug zurück nach San Francisco zu besteigen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vielleicht hatte ich nicht deshalb so viele Schwierigkeiten mit Rosy, weil ich eine schlechte Mutter war, sondern weil ich einfach nur niemanden gehabt hatte, der mir beigebracht hätte, wie man eine gute Mutter ist? Hat meine Kultur schlicht vergessen, wie man Kinder am besten erzieht?

Hier möchte ich Ihnen ein kleines Experiment zeigen. Sehen Sie sich die beiden Linien an. Welche ist kürzer: Linie A oder Linie B?

Die Antwort liegt auf der Hand, stimmt’s? Oder doch nicht?

Was wäre, würde man das Experiment mit einem Viehhirten in Kenia durchführen? Oder mit einem Jäger und Sammler auf einer winzigen philippinischen Insel? Wer würde die Frage korrekt beantworten und wer sich von der Illusion täuschen lassen?

In den 1880er-Jahren wollte ein junger deutscher Psychiater namens Franz Carl Müller-Lyer herausfinden, wie das menschliche Gehirn die Welt wahrnimmt. Er war zwar erst Anfang dreißig, aber schon eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Zu dieser Zeit waren optische Täuschungen in der Psychologie äußerst beliebt, und da Müller-Lyer auch an dem Erfolg teilhaben wollte, begann er herumzukritzeln. Er zeichnete zwei genau gleich lange Linien: Eine davon endete in zwei nach außen weisenden Pfeilen – wie die abgebildete Linie A –, die andere in zwei nach innen weisenden – wie Linie B darunter. Ihm war schnell klar, dass die Linien zwar exakt gleich lang waren, aber ganz und gar nicht so aussahen. Die Form der Pfeile trickst das Gehirn aus, und so denken wir, Linie B sei länger als Linie A.

Mit dieser Zeichnung schuf er die später berühmteste optische Täuschung der Menschheitsgeschichte.

Er veröffentlichte sie 1889, woraufhin Wissenschaftler sofort herausfinden wollten, warum uns unsere Augen – oder unser Gehirn – in diesem Fall derart im Stich lassen. Warum können wir die Linien nicht so sehen, wie sie sind, also gleich lang? Die optische Täuschung von Müller-Lyer schien etwas Universelles hinsichtlich der menschlichen Wahrnehmung zu offenbaren.

Mehr als ein Jahrhundert später stellte ein Forscherteam das Gebiet der Psychologie auf den Kopf und veränderte für immer, wie wir die Müller-Lyer-Illusion sehen – ganz zu schweigen von unserem Verständnis des menschlichen Gehirns.

2006 war Joe Henrich gerade in sein neues Büro an der University of British Columbia in Vancouver gezogen, als er dort Freundschaft mit einem anderen Psychologen schloss. Er ahnte damals nicht, dass diese Freundschaft schließlich zu einer grundlegenden Veränderung auf dem gesamten Gebiet der Psychologie führen würde, oder, wie Henrich selbst es formuliert: »zu einem Stich ins Herz der Psychologie«.

Joe Henrich ist ein großer Denker. Er studiert, was Menschen dazu motiviert, miteinander zu kooperieren – beziehungsweise umgekehrt, was sie motiviert, Kriege gegeneinander anzufangen –, und wie die Entscheidung zusammenzuarbeiten dazu beigetragen hat, dass unsere Spezies die dominanteste auf Erden wurde.

Henrich wendet sich außerdem einem seltenen Bereich der Psychologie zu, nämlich dem »interkulturellen«. Er führt seine Experimente nicht nur mit Amerikanern oder Europäern durch, sondern reist auch an entlegene Orte wie die Fidschi-Inseln oder den Amazonas, um zu sehen, wie Menschen anderer Kulturen in diesen Experimenten abschneiden.

Etwas weiter den Flur hinunter war ein anderer interkultureller Psychologe namens Steve Heine tätig. Er studiert, was den Menschen »Sinn« in ihrem Leben schenkt und was mit der Vorstellung vom Lebenssinn in verschiedenen Kulturen rund um den Globus gemeint ist. Ebenso wie Henrich wollte auch Heine herausfinden, wie das menschliche Gehirn funktioniert, und nicht nur das europäisch-amerikanische.

Als sie festgestellt hatten, dass sie beide große Wertschätzung für andere Kulturen hegten, begannen die beiden Psychologen, sich einmal im Monat zum Mittagessen zu treffen. Sie gingen zum Food-Court der Universität, holten sich etwas Chinesisches und unterhielten sich dann über ihre aktuellen Forschungen. Und wiederholt stießen sie auf dasselbe: Die Europäer und die Amerikaner neigen dazu, sich anders zu verhalten als andere Kulturen. »Wir waren Ausreißer, was unsere Experimente betraf«, so Henrich. »Und das verblüffte uns. Allmählich fragten wir uns, ob Nordamerikaner vielleicht die eigenartigsten Menschen der Welt sind.«

Zu diesem Zeitpunkt war die Idee nur eine beim Mittagessen aufgestellte Hypothese. Doch Henrich und Heine waren von ihr so fasziniert, dass sie beschlossen, einige Tests durchzuführen. Sie holten ihren Kollegen Ara Norenzayan mit an Bord, einen Psychologen, der untersucht, wie Religionen zu Kooperation anspornen und sie fördern. Gemeinsam nahm sich das Trio methodisch Dutzende von Studien aus den Fachbereichen Psychologie, Kognitionswissenschaften, Ökonomie und Soziologie vor.

Prompt stieß das Team auf ein großes Problem: Die Psychologie hat eine massive Vorliebe. Die überwiegende Mehrheit der Studien – rund sechsundneunzig Prozent – hatte sich ausschließlich Menschen mit europäischem Hintergrund zum Gegenstand gemacht. Und das obwohl Menschen mit europäischer Abstammung nur etwa zwölf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. »Das gesamte Gebiet der Psychologie studiert also nur einen geringen Teil der Menschheit«, so Henrich.

Eine solche Vorliebe für den Westen ist kein Problem, wenn das Ziel der Forschung darin besteht herauszufinden, wie westliche Menschen denken und sich verhalten. Zu einem großen Problem wird die Vorliebe dann, wenn das Ziel der Forschung darin besteht herauszufinden, wie der Mensch denkt und sich verhält, und vor allem wenn der Teil der Menschheit, der untersucht wird, wirklich eigenartig ist – wie sich herausgestellt hat. Das ist, als würde man sich in ein Eiscafé setzen, einzig die Sorte Pistazie probieren, die restlichen dreißig Geschmacksrichtungen ignorieren und dann einen wissenschaftlichen Artikel publizieren, in dem behauptet wird, jedes Eis der Welt enthalte Pistazienstückchen.

Doch was passiert, wenn man auch die anderen dreißig Sorten probiert?

Um das – selbstverständlich im übertragenen Sinn – herauszufinden, analysierten die drei Forscher die Handvoll Experimente, die mit Menschen außerhalb der USA durchgeführt worden waren, und verglichen sie anschließend mit denen, die Menschen aus dem Westen zum Gegenstand gehabt hatten. Oftmals passten die Ergebnisse nicht zusammen. Die Menschen aus dem Westen stachen an einem Ende der Verhaltensskala hervor, Menschen aus indigenen Kulturen versammelten sich hingegen meist eher in der Mitte.

Die Schlussfolgerung aus diesen Analysen ist mehr als interessant: Die Menschen der westlichen Gesellschaft, »darunter auch kleine Kinder, gehören zu den am wenigsten repräsentativen Bevölkerungen, die man nur finden kann, wenn man hinsichtlich der Menschheit verallgemeinernde Aussagen treffen will«, schrieb das Team 2010. Es dachte sich sogar ein griffiges Akronym aus, um das Phänomen zu beschreiben: Unsere Kultur sei WEIRD, eigenartig, was für Western, Educated, Industrialized, Rich und Democratic steht, zu Deutsch: westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch.

Henrich und seine Kollegen veröffentlichten ihre Ergebnisse in einer wissenschaftlichen Arbeit mit dem Titel »Die eigenartigsten Menschen der Welt?«, die das Ende der ethnozentrischen Sicht der Psychologie markierte. Nicht, dass der Kaiser keine Kleider getragen hätte – er tanzte nur in westlicher Kleidung herum und tat dabei so, als repräsentiere er die gesamte Menschheit.

Die WEIRDs sind in dutzendfacher Hinsicht eigenartig, so die Schlussfolgerung der Arbeit, etwa in der, wie wir mit anderen kooperieren, Strafen verhängen, Fairness sehen, über das »Selbst« denken, Entscheidungen wertschätzen und dreidimensional sehen.

Dazu dient das Beispiel der optischen Täuschung, mit der wir uns eingangs beschäftigt haben.

In den 1950er- und 1960er-Jahren testeten Wissenschaftler die Müller-Lyer-Illusion in mindestens vierzehn verschiedenen Kulturen, darunter bei Fischern in Nigeria, Wildbeutern in der Kalahari und Jäger-Sammlern im ländlichen Australien. Zudem legten sie die optische Täuschung Südafrikanern europäischer Abstammung vor sowie Erwachsenen und Kindern in Evanston, Illinois.

Das Experiment war ganz simpel. Die Wissenschaftler zeigten den Menschen die optische Täuschung und fragten sie, wie unterschiedlich ihnen die beiden Linien vorkamen. Die Ergebnisse waren so überraschend, dass manche Psychologen sie kaum glauben konnten und noch heute über die Ursache, die den Ergebnissen zugrunde liegt, debattieren.

Die Amerikaner waren für die optische Täuschung recht anfällig. Im Durchschnitt dachten Freiwillige in Illinois, Linie B sei um etwa zwanzig Prozent länger als Linie A. Diese Ergebnisse passten zu früheren Studien, hier gab es also nichts Neues.

Als sich die Forscher jedoch die Ergebnisse der anderen Kulturen ansahen, wurde es interessant. Bei manchen indigenen Völkern, etwa bei Jägern und Sammlern im südlichen Afrika sowie bei Bauern der Elfenbeinküste, ließen sich die Menschen von der optischen Täuschung überhaupt nicht hinters Licht führen. Sie sahen die beiden Linien so, wie sie tatsächlich gezeichnet worden waren – gleich lang. Und bei allen anderen Kulturen pendelte sich die Anfälligkeit für die optische Täuschung zwischen diesen beiden Extremen ein – zwischen den »hereingefallenen« Amerikanern und den unbeeindruckten Afrikanern. Menschen aus vierzehn weiteren Kulturen glaubten, die beiden Linien seien unterschiedlich lang, aber nicht annähernd so unterschiedlich, wie die Amerikaner dachten.

Die Forscher stellten die Hypothese auf, die optische Täuschung sei bei Amerikanern deshalb am effektivsten, weil diese in einer »gezimmerten Umgebung« leben, in einem Umfeld der rechten Winkel. Mit anderen Worten: Wo wir auch hinsehen, sind wir von Schachteln umgeben. Wir leben in Schachteln (auch bekannt als Häuser), schlafen auf Schachteln (auch bekannt als Betten), kochen auf Schachteln (auch bekannt als Herde), fahren in Schachteln zur Arbeit (auch bekannt als Züge) und füllen unser Heim mit Schachteln (auch bekannt als Kommoden, Schreibtische, Sofas, Kleiderschränke und dergleichen mehr).

Daraus wiederum leiten Wissenschaftler die Hypothese ab, dass dieses ganze Umgebensein von Schachteln unser Gehirn darauf trainiert, die Müller-Lyer-Illusion auf eine bestimmte Weise zu sehen: Wir sehen die beiden Pfeile, woraufhin unser Gehirn eine Abkürzung nimmt. Unser Unterbewusstsein verwandelt die zweidimensionalen Linien auf dem Papier in die Kanten dreidimensionaler Schachteln (oder genauer: in die Zeichnungen von Kanten). Doch warum macht diese unterbewusste Verwandlung uns glauben, die obere Linie sei kürzer als die untere? Stellen Sie sich vor, die beiden Linien seien die Ecken von Gebäuden. Die untere Linie, die mit den »umgekehrten« Pfeilen, ähnelt einer Ecke, die sich von unserem Standpunkt entfernt, beziehungsweise einer, die weiter von uns entfernt ist. Die Linie oben, die mit den »normalen« Pfeilen, ähnelt einer Ecke, die zu uns weist, beziehungsweise einer, die weniger weit entfernt ist. Unser Gehirn längt also die Linie unten, weil sie weiter von uns entfernt erscheint als die Linie oben.

Doch in vielen Kulturen rund um den Erdball sind die Menschen nicht von Schachteln und rechten Winkeln umgeben, sondern eher von gewölbten, weicheren Formen. Wohnhäuser und andere Gebäude laufen oft kuppelförmig aus oder bestehen aus biegsameren Materialien wie Schilf oder Lehm. Verlassen die Menschen das Haus, treffen sie nicht gleich auf Gehwege mit Straßenlaternen (die zusammen wieder einen rechten Winkel ergeben). Sie treffen auf Natur – auf Bäume und andere Pflanzen, auf Tiere und Erde. Und die Natur hat es nicht so mit rechten Winkeln – sie liebt Kurven.

Blickt also eine San-Frau in der Kalahari auf die beiden Linien der Müller-Lyer-Illusion auf einem Blatt Papier, lässt sie sich von den Pfeilen nicht austricksen. Ihr Gehirn zieht nicht automatisch den voreiligen Schluss, die Linien stünden für die 3D-Kanten einer Schachtel. Stattdessen sieht sie, was wirklich da ist: zwei Linien gleicher Länge.

Indem sie den Müller-Lyer-Test bei verschiedenen Kulturen durchführten, legten die Wissenschaftler einen riesigen Riss im Fundament der Psychologie offen. Ihre Ergebnisse zeigten, dass die Kultur und die Umgebung, in denen wir aufwachsen, einen großen Einfluss auf unsere grundlegenden Hirnfunktionen wie etwa die visuelle Wahrnehmung haben können.

Wenn das stimmt, könnte die Kultur unser Gehirn dann auch auf andere Arten verändern? Welche anderen »menschlichen Universalien« oder »generellen Prinzipien« der Psychologie sind vielleicht gar nicht universal, sondern einzigartig für die westliche Kultur – Folgen des Lebens und Erzogenwerdens in einer WEIRD-Umgebung, einer spezifischen, besonders eigenartigen Umgebung?

Man könnte es auch so ausdrücken: Wenn die Tatsache, Mitglied einer bestimmten Kultur zu sein, etwas so Simples wie unsere Wahrnehmung von zwei schwarzen Linien auf einem Blatt Papier verzerren kann, welchen Einfluss könnte diese Kultur dann auf komplexere psychologische Vorgänge haben? Auf unsere Erziehungsphilosophie oder die Art und Weise, wie wir das Verhalten von Kindern sehen? Was, wenn sich einige der Vorstellungen, die wir für »universal« in der Kindererziehung halten, als von unserer Kultur geschaffene optische Täuschungen entpuppen?

Nach meiner Rückkehr aus dem Maya-Dorf auf der Halbinsel Yucatán war ich ungeheuer motiviert und energiegeladen – und das erste Mal seit Jahren voller Hoffnung. Vielleicht, nur vielleicht bekam ich ja jetzt den Dreh raus bei der Sache mit der Erziehung, und es würde mir gelingen, das wilde Tier in unserem Haus nicht nur zu zähmen, sondern aus ihm auch einen hilfsbereiten und respektvollen Menschen zu machen. Die Aussicht darauf stimmte mich geradezu euphorisch.

Also begann ich das zu tun, was ich am besten kann: recherchieren. Ich wollte so viel wie möglich darüber herausfinden, wie Maya-Eltern ihre Kinder erziehen. Ich vergrub mich in wissenschaftlicher Literatur, sprach mit Experten und las entsprechende Bücher. Auch zeitgenössische Erziehungsratgeber nahm ich mir vor.

Und beinahe umgehend schlug mein Tatendrang in Frustration um: In den gängigen Ratgebern fand ich kaum Informationen über die Kindererziehung der Maya. Tatsache ist, dass ich kaum Informationen über die Erziehungsmethoden irgendeiner nicht-westlichen Kultur fand. Und in den seltenen Fällen, in denen Praktiken aus anderen Kulturen erwähnt wurden, behandelte man dieses Wissen eher wie eine intellektuelle Kuriosität denn einen wertvollen Hinweis, der gestressten Müttern und Vätern wirklich helfen könnte.

Da fiel mir zum ersten Mal die massive Lücke in unseren heutigen Erziehungsratschlägen auf. Wir beziehen unsere Informationen fast ausschließlich aus westlichen Quellen, die so viele Stimmen und Standpunkte ausschließen. Dabei ist die westliche Welt vielleicht nicht einmal der beste Ort, um nach Lösungen zu suchen, wenn das Baby nicht schlafen kann oder sich das Kleinkind auf den Gehweg wirft und sich weigert, wieder aufzustehen, bis die geliebte Freundin kommt.

Zunächst einmal ist die westliche Kultur ein relativer Neuling auf dem Gebiet der Kindererziehung, gewissermaßen die Debütantin im Ballsaal der Welt. Viele unserer Methoden gibt es erst seit etwa hundert Jahren, in einigen Fällen sogar erst seit wenigen Jahrzehnten. Diese Praktiken können »die Zeiten« gar nicht »überdauert« haben. Oftmals verändern sich die Ratschläge so rasch von einer Generation zur nächsten, dass einem schwindlig werden könnte. Dazu ein Beispiel: die empfohlene Schlafposition für Babys. Als ich auf die Welt kam, rieten die Ärzte meiner Mutter, sie solle die neugeborene Michaeleen zum Schlafen auf den Bauch legen. Heute würde dieser Ratschlag als unglaublich gefährlich gelten, als Vernachlässigung des Kindeswohls erachtet, weil sich inzwischen herausgestellt hat, dass das Schlafen in Bauchlage das Risiko des plötzlichen Kindstods erhöht.

Vergleicht man die westlichen Erziehungsstrategien mit denen der restlichen Welt – und mit denen in der Menschheitsgeschichte –, erscheint das, was wir tun, außerdem häufig als wirklich WEIRD, eigenartig.

Lange bevor Henrich, Heine und Norenzayan in ihrer bahnbrechenden Studie den Westen zur eigenartigsten Kultur der Welt ernannten, hatte sich der Anthropologe David Lancy bereits gefragt, ob »eigenartig« nicht auch der angemessene Begriff für unsere Erziehungsmethoden sei. Ist unsere Herangehensweise vielleicht die Ausnahme? Sind wir diejenigen, die aus der Reihe tanzen?

Nachdem sich Lancy jahrzehntelang mit dem Analysieren anthropologischer Daten, ethnografischer Beschreibungen und historischer Aufzeichnungen beschäftigt hatte, lautete seine Antwort auf diese Frage: eindeutig Ja! Viele bei uns verbreitete Methoden, die wir für essenziell oder entscheidend in der Kindererziehung halten, gibt es in keiner anderen Kultur der Welt – oder dort zumindest erst seit kurzer Zeit. »Die Liste der Unterschiede ist sehr, sehr lang«, erzählte mir David Lancy. Er fasst diese Gegensätze in seinem erhellenden Buch The Anthropology of Childhood: Cherubs, Chattel, Changelings zusammen. »Wir tun vierzig bis fünfzig Dinge, die in anderen Kulturen nicht getan werden.«

Ist beispielsweise Lob wirklich der beste Weg, um Kinder zu motivieren? Ist es Aufgabe der Eltern, die Kinder beständig anzuregen und zu unterhalten? Sind Worte die ideale Möglichkeit, um mit kleinen Kindern zu kommunizieren? Eignen sich verbale Anweisungen am besten, um Kindern etwas beizubringen? Viele dieser westlichen Vorstellungen erschweren das Erziehen eher und arbeiten häufig gegen die natürlichen Instinkte von Kindern, so Lancy.

Betrachten wir unter diesen Aspekten einmal die Kernfamilie. In der westlichen Kultur herrscht der allgemeine Glaube, die ideale Familie bestünde aus einer Mutter, einem Vater und ihren Kindern, die alle zusammen unter einem Dach wohnen. Noch »idealer« wäre diese Familie in den Augen mancher Menschen, bliebe die Mutter zu Hause und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Kinderbetreuung. Das ist das »traditionellste« Familienmodell, stimmt’s?1

Nein, das stimmt nicht im Mindesten. Sieht man sich in der Welt und in der Menschheitsgeschichte um, stellen sich die Kernfamilie und die Mutter, deren Job einzig in der Kindererziehung besteht, als wohl eines der untraditionellsten Modelle überhaupt heraus. 99,9 Prozent der Zeit, in der der Mensch nun schon die Erde bevölkert, war die Kernfamilie schlicht nicht existent. »Diese Familienstruktur gibt es erst seit einem Wimpernschlag in der Geschichte der Menschheit«, so der Historiker John Gillis von der Rutgers University, der sich schon seit über dreißig Jahren mit der Entwicklung der westlichen Familie beschäftigt. »Sie ist nicht alt. Sie ist nicht traditionell. Sie hat keine echten Wurzeln in der Vergangenheit.«

Und die Kernfamilie ist definitiv nicht die Art von Erziehung, die die Evolution für menschliche Kinder vorgesehen hat: Sie entbehrt der Schlüssellehrer. Zigtausende von Jahren war die Erziehung eine Mehrgenerationenangelegenheit. Aus Sicht der Evolution sollen Kinder von vielen verschiedenen Menschen jeden Alters lernen – von den Urgroßeltern, den Großeltern, Onkeln, Tanten, Freunden der Familie, Nachbarn, Cousins und Cousinen sowie allen dazugehörigen Kindern.

Im Laufe der vergangenen rund tausend Jahre schrumpfte die westliche Familie allmählich von einem riesigen Mehrgenerationenbüfett auf einen winzigen Gruß aus der Küche zusammen, der lediglich aus Mutter, Vater, zwei Kindern und vielleicht noch einem Hund oder einer Katze bestand. Dabei sind uns nicht nur Oma, Opa, Tante Heidi und Onkel Karl abhandengekommen, sondern auch das Kindermädchen Margarete, der Koch Hermann und eine Vielzahl von Nachbarn und Besuchern, die es sich auf der Veranda gemütlich machten oder auf der Couch schliefen. Und als sie weg waren, blieb der Großteil der Erziehungslast an den Eltern hängen.

In der Folge müssen die Mutter und der Vater zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit diese verrückt-schwierige Sache namens Erziehung plötzlich allein bewältigen (manchmal sogar ganz allein). »Die Vorstellung, dass sich nur zwei Menschen um ein Kind kümmern, ist absurd. Absolut absurd«, so Gillis. »Zwei Menschen verrichten die Arbeit, die eigentlich Aufgabe vieler verschiedener Menschen ist.«

David Lancy vergleicht dieses Erziehungsmodell mit dem, was geschieht, wenn eine Mutter mit ihrem Kind durch einen Schneesturm allein im Haus eingesperrt ist. Die Isolation zwingt die Mutter dazu, der einzige Spielkamerad für das Kind zu sein – die einzige Quelle der Liebe, der sozialen Verbundenheit, der Unterhaltung und der Anregung. Diese Umstände können zu Spannungen und Erschöpfung führen. »Wir haben jeden Grund zu der Annahme, dass die modernen Lebensbedingungen, in denen Säuglinge und Kleinkinder in Alleinerziehenden- oder Kernfamilienhaushalten von Gleichaltrigen isoliert sind, eine ganz ähnliche Wirkung entfalten«, schreibt Lancy in seinem Buch.

Diese völlige Isolation – das familiäre Eingesperrtsein durch virtuelle Schneestürme – hat der geistigen Gesundheit von Eltern und Kindern wahrscheinlich nicht allzu gutgetan. Viele der Psychologen, mit denen ich gesprochen habe, halten das Verschwinden der erweiterten Familie für die Hauptursache der hohen Raten an Postpartaler Depression in den USA sowie der epidemisch sich ausbreitenden Angst und Depression unter Kindern und Jugendlichen. Die Mütter, Väter und Kinder sind einfach einsam.

Die Isolation hat noch eine weitere schädliche Auswirkung: Die Mütter und Väter haben auch ihre Berater verloren. Und vielleicht sogar vergessen, wie wichtig diese Berater sind.

In der westlichen Kultur neigt man dazu zu glauben, die Mutterschaft sei »ein Instinkt, der Frauen ebenso angeboren ist wie der Geschlechtstrieb den Männern«, schreibt John Gillis in seinem Buch A World of Their Own Making. In Wirklichkeit aber ist das Kindererziehen eine erlernte Fähigkeit, und die traditionellen Wissensquellen sind die Frauen und Männer, die eigenen Nachwuchs großgezogen haben – eben jene Omas, Opas, Tanten, Onkel und neugierigen, aber hilfreichen Nachbarn. Mit diesen älteren Generationen verschwanden auch ihr Erziehungswissen und ihre Erziehungsfähigkeiten. Die neuen Mütter und Väter sind heute auf sich gestellt und müssen die Basics der Kindererziehung selbst herausfinden, etwa wie man einem Baby dabei hilft, die Nacht durchzuschlafen, ein Kleinkind mit Trotzanfall beruhigt oder einem Mädchen beibringt, den kleinen Bruder lieb zu haben, statt ihn zu hauen.

Deshalb stecken die Mütter heute wirklich in der Klemme: Sie tragen mehr Erziehungsverantwortung als jemals zuvor in der Geschichte und sind am wenigsten darauf vorbereitet.

»Niemals zuvor ist das Muttersein für Mütter eine solche Last gewesen«, fasst Gillis zusammen.

Kein Wunder also, dass ich am Sonntagnachmittag erschöpft bin, wenn ich das Wochenende mit Rosy verbracht habe. Zwei Tage hintereinander habe ich den Job von drei bis vier Menschen gemacht. Ich bin nicht nur ihre Mutter, sondern auch ihre Großmutter, eine Cousine und eine ältere Schwester. Und obendrein muss ich auch noch ziemlich viel improvisieren.

Anders ausgedrückt: Die Erschaffung der Kernfamilie hat verändert, wie wir erziehen, und auch verändert, wie wir zu erziehen lernen. Tschüss, Oma. Tschüss, Tante Susanne. Und Auf Wiedersehen Erziehungswissen, Erziehungsfähigkeiten und zusätzliche Arme zum Halten, Kochen und Rückenkratzen zur Schlafensgehzeit. Hallo Isolation, Erschöpfung und Stress.

Warum sind wir so eigenartige Eltern?

Nachdem ich erfahren hatte, wie eigenartig ich erziehe, wurde ich den Verdacht nicht los, dass es einen Grund dafür geben musste. Natürlich gibt es für etwas so Komplexes wie die Kindererziehung viele Gründe. Doch noch immer fragte ich mich, ob es vielleicht ein Schlüsselereignis gab, das eine ganze Lawine an Veränderungen in der westlichen Kultur ausgelöst hatte – und uns Eltern im Laufe von Hunderten von Jahren schließlich in den erschöpften, gestressten Zustand geführt hatte, den wir Mutter- oder Vaterschaft nennen.

Also setzte ich mich ans Telefon, rief monatelang unzählige Historikerinnen und Historiker sowie Psychologen und Psychologinnen an und stellte allen dieselbe Frage: Warum ist unsere Erziehungsweise so WEIRD, so eigenartig?

Jede Person, die ich anrief, gab mir eine andere Antwort: Das liegt am Zeitalter der Aufklärung, am Kapitalismus, an der industriellen Revolution, an der geringeren Kindersterblichkeit, daran, dass es in den Familien im Schnitt immer weniger Kinder gibt, daran, dass wir lieber unter uns bleiben wollen.

Die Antwort auf meine Frage besteht sicherlich aus vielen Facetten.

Dann aber rief ich Joe Henrich an, einen der drei Psychologen, die das Akronym WEIRD geprägt haben. Und seine Antwort hat mich wirklich überrascht: »Ich schreibe im Augenblick tatsächlich ein Buch mit dem Titel WEIRD, in dem ich mich mit der Frage auseinandersetze, wie die Menschen im Westen in psychologischer Hinsicht so eigenartig geworden sind. Im Grunde liegt das an der katholischen Kirche.«

»Wie ist das möglich?«, fragte ich verblüfft.

In den darauffolgenden zwanzig Minuten erzählte Henrich mir faszinierende Einzelheiten aus seiner neuen Studie.

Vor wenigen Tausenden von Jahren ähnelten die Familien in Europa denen vieler anderer Völker heute: Sie waren groß, bestanden aus mehreren Generationen und besaßen einen engen Zusammenhalt. Das Zuhause war ein eher poröses Gebilde, in dem Verwandte, Diener, Arbeiter, Nachbarn und Freunde ganz selbstverständlich ein und aus gingen.

Gleichzeitig genossen Kinder ein hohes Maß an Autonomie. Der gigantische Familienverband bildete eine schützende Hülle um seine kleinen und größeren Mitglieder. Die Mütter und Väter mussten nicht glucken, da immer ein anderer Erwachsener – oder ein fürsorgliches älteres Kind – in der Nähe war und half. Deshalb kamen die Kinder im Mittelalter (und auch sonst in der westlichen Geschichte) ab etwa sechs Jahren größtenteils ohne elterliche Anweisungen aus. Sie mögen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten im Haus gehabt haben, doch im Großen und Ganzen stellten sie ihre eigenen Regeln auf und entschieden selbst, was sie am Tag tun wollten.

Ein wichtiger Aspekt des Lebens der Kinder war allerdings immer noch elterlich geregelt: die Eheschließung. Heute zucken wir beim Gedanken daran ein wenig zusammen, doch haben Sie noch einen Augenblick Geduld: Für diese Einmischung hatten die Eltern nämlich einen triftigen Grund.

In vielen Fällen ermutigten (oder überredeten) sie ihre Kinder dazu, eine Person zu heiraten, die der Familie nahestand, also beispielsweise einen entfernten Cousin, die Verwandte eines Angeheirateten oder einen Paten, so Henrich. Solche Ehen wurden als »innerhalb der Familie« erachtet, meist aber gab es keinen »biologischen« Grund, der die Heirat hätte verhindern können. Braut und Bräutigam waren weder bluts- noch so eng verwandt, dass gesundheitliche Probleme infolge von Inzucht hätten auftreten können.

Diese Ehen dienten einem wichtigen Zweck: Sie bildeten ein Band, das die erweiterte Familie zusammenhielt. Und mit diesen Bändern webten die Familien farbenfrohe und robuste Tapisserien. Durch die Ehen blieben Land und Eigentum im Besitz des Clans, der im Laufe der Zeit immer mehr an Geld, Prestige und Macht gewann. Außerdem – das ist in unserem Zusammenhang von größerem Interesse – stellte der Clan Eltern eine Unmenge an Hilfe zur Verfügung. Die Familien blieben auf eine relativ sichere Art und Weise groß und die Kinder autonom.

Dann, um 600 n. Chr., begann die katholische Kirche, an den Tapisserien zu zerren, und diese fransten aus.

»Die katholische Kirche beschäftigte sich auf einmal obsessiv mit dem Thema Inzucht«, so Henrich – oder was sie als Inzucht bezeichnete.

Sie begann zu bestimmen, wer wen heiraten durfte. Zunächst einmal verbot sie Cousins und Cousinen ersten Grades die Eheschließung, eine nicht ganz unvernünftige Restriktion angesichts der Tatsache, dass die Betroffenen rund zwölf Prozent ihrer Gene gemeinsam haben und Inzucht zu gesundheitlichen Problemen führen kann.

Im 7. Jahrhundert jedoch dehnte die Kirche das Verbot auf alle Verwandten aus, egal wie eng diese miteinander verwandt waren. Fünfzig Jahre später prangerte sie auch die Eheschließung mit Paten und Angeheirateten an. So konnte beispielsweise eine Frau, deren Mann gestorben war, nicht mehr dessen Bruder heiraten, was damals durchaus weit verbreitet und eine biologisch sichere Möglichkeit für Witwen gewesen war. Die Strafe für diejenigen, die sich nicht an diese Gesetze hielten, war hart: Ihnen entzog die Kirche ihr Hab und Gut. Bis zum 11. Jahrhundert hatten die Päpste und Könige in ganz Europa so viele Heiratsverbote verhängt, dass noch nicht einmal Cousins und Cousinen sechsten Grades vor den Traualtar treten durften. Zur Erinnerung: Sie sind über 128 Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großeltern miteinander verwandt und haben etwa 0,01 Prozent ihrer DNA gemeinsam. Im biologischen Sinne sind sie also gar nicht miteinander verwandt.