Die Frau im veilchenblauen Mantel - Clarisse Sabard - E-Book

Die Frau im veilchenblauen Mantel E-Book

Clarisse Sabard

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Beschreibung

Jo ist mit ihrem Leben eigentlich ganz zufrieden: Sie ist Single, Anfang dreißig, hat eine Clique, mit der sie Pferde stehlen kann, und einen Opa, der immer für sie da ist. Jetzt müsste nur noch ihr bester Kumpel merken, dass zwischen den beiden mehr ist als nur Freundschaft …Bei einer Routineuntersuchung bekommt sie jedoch eine beunruhigende Diagnose: Sie muss sich einer Operation am Gehirn unterziehen, ein Aneurysma könnte ihr Leben gefährden. Um sie vor der wichtigen OP auf andere Gedanken zu bringen, schenkt Jos Opa ihr eine Kette mit einer geheimnisvollen Inschrift: »Von Charlotte für Gabriel«. Doch wer waren die beiden, und wie gelangte die Kette in den Besitz des Großvaters? Auf der Flucht vor der Gegenwart taucht Jo in ihre Familiengeschichte ein, ihre Suche wird sie bis ins Amerika der zwanziger Jahre führen – und ihr Leben für immer verändern.

Clarisse Sabard schreibt einfühlsam und leicht über die Liebe einer Mutter, die Geheimnisse der Vergangenheit und das Glück des Neuanfangs. Die Frau im veilchenblauen Mantel ist ein Feel-Good-Roman mit allem, was dazugehört – ein echtes Herzensbuch.

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Seitenzahl: 453

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Titel

Clarisse Sabard

Die Frau im veilchenblauen Mantel

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Feldmann

Insel Verlag

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel La femme au manteau violet bei Édition Charleston, Paris.

eBook Insel Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4915.

Erste Auflage 2022insel taschenbuch 4915Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2022© Charleston, une marque des éditions Leduc.s, 2020

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung von zero-media.net, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Greystone Books Ltd., Foto: Elisabeth Ansley/Trevillion Images, Brighton

eISBN 978-3-458-77353-5

www.suhrkamp.de

Widmung

Im Gedenken an meine Großeltern.Wo immer ihr jetzt auch seid, das hier ist für euch.

Motto

»Nicht alles lässt sich ändern, aber nichts ändert sich von selbst.«

James Baldwin

du magst geboren sein mit der schwäche zu fallen aber du bist auch geboren mit der stärke aufzustehen

Rupi Kaur: Milch und Honig

Die Frau im veilchenblauen Mantel

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Prolog

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Epilog

Playlist

Danksagung

Informationen zum Buch

Prolog

Paris, März 1957

Sie war da. Reglos, fast starr. Mit einer Würde, die scheinbar nichts zu erschüttern vermochte.

Victor hatte sie bemerkt, als sie ihren Platz einnahm, nicht weit vom Boxring entfernt. Vierte Reihe. Es war ihr Mantel, der seinen Blick auf sich gezogen hatte, derselbe wie damals, obwohl es zehn Jahre her war: ein langer, veilchenblauer Mantel. Er hätte sie vergessen, ihre kurze Begegnung aus seinem Gedächtnis löschen können. Was bedeuteten schon ein paar Minuten in einem ganzen Leben? Doch sie war da, und sie strahlte dieselbe Entschlossenheit aus, die ihm schon beim ersten Mal aufgefallen war. Schlagartig überkam ihn Panik.

»Was ist los? Du bist ja ganz blass.«

Victor drehte sich zu seinem Trainer um und griff nach den Bandagen. »Schon gut, Dédé. Ich bin nur ein bisschen nervös.«

Der Trainer nickte, einen Zahnstocher zwischen den Lippen. »Verstehe. Ist dein letzter Kampf. Du willst alles geben.«

Victor schluckte. Seine Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. »Hilfst du mir?«, fragte er und hielt ihm die Bandagen hin.

Diese rituellen Gesten hatte er mehr als hundertmal durchgeführt. Dieser Abend war sein letzter im Ring, weil seine Frau die Ungewissheit nicht mehr ertrug, in welchem Zustand er nach einem Kampf sein würde, die Angst, er könnte unter den Schlägen sterben. Außerdem mussten sie an den Jungen denken. Das war doch kein Leben, immerzu fürchten zu müssen, dass er von einem Tag auf den anderen ohne Vater dastand. Bei dieser neuen Generation von Kerlen, die um jeden Preis siegen und sich in diesem undankbaren Sport etablieren wollten, war alles möglich.

»So, fertig, Victor.« Dédé versetzte ihm einen freundschaftlichen Knuff in die Schulter. »Alles gut verpackt.«

Die Bandagen sollten Verletzungen der Mittelhandknochen verhindern und den Schweiß aufsaugen. Er musste seine Hände so gut wie nur möglich schützen. Eine gebrochene Nase, ein ausgeschlagener Zahn, eine aufgeplatzte Augenbraue, das war nicht weiter schlimm. Aber wenn seine Hände ausfielen, konnte er seine Karriere an den Nagel hängen. Wobei ihm das jetzt egal sein konnte.

Er zog die Handschuhe an und lauschte auf das Gemurmel des Publikums, ein entfesseltes und elektrisierendes Hintergrundgeräusch. Heute Abend kämpfte Victor Queyrioux zum letzten Mal. Das war schon etwas Besonderes.

»Bist du bereit?«

Er nickte nur und trat auf den Ring zu. Sechs mal sechs Meter. Drei mit Kunststoff überzogene Hanfseile, dreißig Zentimeter von den Pfosten entfernt. Boxen war ein Sport, in dem es vor allem auf Logik und Intelligenz ankam. Nichts war dem Zufall überlassen, das hatte er schnell gelernt: Man musste sich verteidigen, Schlägen ausweichen, ohne Kraft zu verschwenden, angreifen, genau zielen. Hier wird sich nicht geschlagen, hier lernt man boxen. Das war das Erste, was Raymond, sein Trainer damals nach dem Krieg, ihm beigebracht hatte.

»Dann mal los, Victor!«, verkündete Dédé. »Zeig uns, was du kannst. Dafür sind die Leute gekommen.«

Unter lautem Beifall stiegen die beiden Boxer in den Ring und begrüßten ihr Publikum. Draußen hämmerte der Regen auf die Dächer und Straßen, aber in der voll besetzten Halle war es fast zu warm. Victor spürte ein letztes Mal den Adrenalinstoß, der nötig war, um in den Kampf zu gehen. Würde er als Sieger oder als Verlierer aus dem Ring steigen? Er wusste es nicht. Er hatte nur sein Training, seinen Mut und seine Technik. Schläge einstecken und austeilen. Das Leben hatte ihn schon als kleinen Jungen mutig und flink gemacht, denn seinem jähzornigen Vater war schnell die Hand ausgerutscht, und er hatte gelernt, den Fäusten auszuweichen. Deshalb machte es ihm keine Angst, sich einem gut vorbereiteten Gegner zu stellen. Ihn, den die Lokalpresse den »Boxer mit der gnadenlosen Faust« nannte, konnte nichts mehr aus der Fassung bringen.

Bevor der Gong erklang, gab Victor einem Impuls nach und sah zu der Frau im veilchenblauen Mantel. Ihre Blicke kreuzten sich. Was tat sie hier? Nein, es musste ein Zufall sein. Eine andere Frau, die ihr bis aufs Haar glich. Vielleicht war sie eine von denen, die mit blutrünstigem Blick die Kämpfe verfolgte und »Bring ihn um!« brüllte, wenn ihr Favorit den Gegner bedrängte.

Die erste Runde begann, und Victor wich gerade noch rechtzeitig einem Schlag aus. Er beschloss, seinen Gegner zunächst durch Ausweichmanöver zu ermüden und erst in den letzten Runden zum Angriff überzugehen. Bolo Punch, Haken. Bis jetzt lief alles gut, und er brachte die drei Minuten unbeschadet hinter sich. Die Frau war immer noch da, leicht verschleiert durch den Zigarettenrauch ihrer Nachbarn. Sie beobachtete ihn die ganze Zeit angespannt, als fürchtete sie, er könne sich plötzlich vor ihren Augen in Luft auflösen. Der Mann, der sie begleitete, war älter als sie.

Zweite Runde. Abwehrhaltung. Plötzlich musste er an das Jahr 1947 denken. Stimmen, erst gedämpft, dann Schreie und Drohungen. Alles war so schnell gegangen! Sein Vater, der die Frau schlug und buchstäblich hinauswarf, die Verzweiflung in ihren Augen. In seine Gedanken versunken, sah Victor den Aufwärtshaken nicht kommen. Er flog in die Seile, einen stechenden Schmerz im Unterkiefer. Doch er richtete sich gerade noch rechtzeitig vor dem Ende der Runde auf, und der Sekundant gab ihm Wasser.

»Verdammt, was ist los mit dir?«, brüllte Dédé. »Du bist nicht bei der Sache!«

Victor schüttelte den Kopf. Er musste sich zusammenreißen! Wieso ließ er sich von dieser Frau ablenken, die bestimmt nur eine Verrückte war? Ja, sie konnte nur verrückt sein, wenn sie gekommen war, um ein Kind zu sehen, das seit vielen Jahren tot war.

Dritte Runde. Victor versuchte, sie aus seinem Kopf zu verjagen. Alles beiseiteschieben, sich ganz auf den Gegner konzentrieren. Jetzt ging es nur um den Kampf. Diesmal entschied er sich für eine aktive Abwehr. Es waren drei intensive, lebhafte Minuten. Es gelang ihm, eine Gerade zu landen und die Manöver seines Gegners zu durchkreuzen. Dédé, der sich nervös auf seinem Sitz wand, beruhigte sich allmählich. Die vierte und die fünfte Runde verliefen zu seinem Vorteil. Victor hatte seine Wachheit und seinen Kampfgeist wiedergefunden. Er würde sich nicht von einem zappeligen Jungen k. ‌o. schlagen lassen und seine Laufbahn mit einer Niederlage beenden. Nach der sechsten Runde trank er einen großen Schluck Wasser. Der Sekundant reichte ihm ein Handtuch, damit er sich den Schweiß abwischen konnte, der ihm aus den braunen Haaren bis auf die durchtrainierte Brust lief. Ohne recht zu wissen, warum, blickte er wieder zu der Frau. Vielleicht um sich zu vergewissern, dass sie nicht nur eine Vision gewesen war. Wenn sie verschwunden gewesen wäre, hätte er erneut die Last auf seinen Schultern verspürt. Doch sie saß immer noch da und ließ ihn nicht aus den Augen. Am liebsten wäre er über die Seile gesprungen und zu ihr gegangen, um ihr noch einmal zu sagen, dass Gabriel tot war. Tot, tot, tot. Gabriel war tot, aber er war da, er lebte. Und während der Gong für die siebte Runde schlug, überrollten ihn noch mehr Erinnerungen. Die heftige Reaktion seines Vaters, als er ihm seine Gewalt ihr gegenüber vorgeworfen hatte. Damals hatte er seine Sachen gepackt und war fortgegangen, und er hatte die Frau im veilchenblauen Mantel vollkommen vergessen.

Der Haken war brutal und schleuderte ihn erneut in die Seile. Unter den entsetzten Rufen der Zuschauer sank Victor in sich zusammen; er bekam keine Luft mehr. Schnell, er musste aufstehen, bevor er für k. ‌o. erklärt wurde, aber seine Beine trugen ihn kaum. Verdammt, so würde er seine Karriere nicht beenden, nicht nach siebenundachtzig Siegen! Beunruhigtes Gemurmel aus dem Publikum. Victor schloss die Augen und kratzte die Reste seines Willens zusammen, der ihn im Stich zu lassen drohte.

»Steh auf und kämpf!«, brüllte Dédé aus voller Lunge.

Da hocken zu bleiben und auf die Niederlage zu warten wäre einfach, denn ganz gleich, wie es ausging, er würde anschließend in die Vendée zurückkehren und in dem Bestattungsinstitut seiner Schwiegereltern arbeiten. Ihm blieben nur noch wenige Sekunden. Entweder das Risiko eingehen, weitere Schläge einzustecken, oder seine Ehre verlieren. Dédé flippte auf seinem Stuhl fast aus. Für einen kurzen Moment sah Victor wieder das wutverzerrte Gesicht seines Vaters vor sich, bevor es eine Tracht Prügel gab. Das genügte, um den Boxer in ihm wiederzubeleben. Ein letzter Sieg, dann hätte er auch die Vergangenheit besiegt. Und diesen Vater, der seine Liebe nur in Form von Wut zeigen konnte.

Unter Aufbietung all seiner Kräfte richtete Victor sich schwankend auf. Während der folgenden Runden griff er mit einer Geraden in den Solarplexus, diversen Fausthieben und Aufwärtshaken an. Das Publikum raste. Schließlich überraschte er seinen Gegner in der elften Runde mit einem Overhand. Der andere hatte den von oben geführten Schlag nicht kommen sehen und schaffte es nicht, innerhalb der vorgeschriebenen Zeit wieder auf die Beine zu kommen.

Damit hatte Victor Queyrioux seinen achtundachtzigsten Sieg errungen. Eine Woge von Gefühlen überrollte ihn, als das Ende des Kampfes verkündet wurde. Von jetzt an gehörte das Boxen der Vergangenheit an. Ein ganzer Lebensabschnitt ging zu Ende. Und zugleich war er außer sich vor Freude über den Ausgang dieses letzten Kampfes.

Dédé umarmte ihn fest. Ihm liefen Tränen über die Wangen, und er rief immer wieder: »Du hast es geschafft, Menschenskind! Du hast es geschafft!«

»Jetzt mach mal halblang. Ich bin ja nicht Weltmeister geworden«, erwiderte Victor lachend.

»Ist doch egal. Hauptsache, du hast gekämpft und diesem kleinen Scheißer, den sie dir vorgesetzt haben, gezeigt, wo der Hammer hängt. Du gehst mit erhobenem Kopf. Aber du hast mir ganz schön Angst gemacht.«

»Ja, ich mir auch, Dédé.«

Während er sprach, blickte Victor hinüber zu den Sitzreihen, die sich zu leeren begannen. Zu seiner großen Erleichterung war die Frau, deretwegen er beinahe den Kampf verloren hätte, nicht mehr da. Er ärgerte sich darüber, dass er sich so von ihr hatte ablenken lassen, zumal es wahrscheinlich gar nicht sie war, sondern eine andere Frau, die ihr ähnlich sah. Er hatte aus einer Mücke einen Elefanten gemacht. Ja, es war wirklich an der Zeit, dass er sich aus dieser aufregenden Welt der Kämpfe zurückzog.

»Gehen wir«, sagte er zu seinem Trainer.

Nachdem sie sich umgezogen hatten, verließen sie die Sporthalle und traten hinaus in den prasselnden Regen. Die Feuchtigkeit machte die Luft noch kälter, und Victor wollte nur noch so schnell wie möglich zu seinem Renault 4CV, den er sich im vergangenen Jahr gekauft hatte. Er würde seinen letzten Sieg feiern, wie es sich gehörte, Dédé nach Hause bringen und dann ab nach Montaigu. Plötzlich blieb er abrupt stehen. Da war die Frau im veilchenblauen Mantel wieder. Sie wartete neben einem Auto, geschützt von einem Schirm. Victor rieb sich übers Gesicht. Das war doch nicht möglich!

»Eine Verwandte?«, fragte Dédé und wies mit dem Kopf in ihre Richtung.

»Nein. Ich kenne sie nicht.« Victor ging mit schnellen Schritten weiter.

Doch die Frau kam auf sie zu. »Bitte warten Sie!«, rief sie.

Victor schloss die Augen. Er wollte keinen Skandal, vor allem nicht jetzt und hier. Langsam wandte er sich zu der Frau, die direkt vor ihm stehenblieb und ihn sichtlich aufgewühlt ansah.

»Ich muss mit Ihnen über Gabriel sprechen«, sagte sie leise.

Unwillkürlich wich Victor zurück. »Sie verwechseln mich.«

Für einen kurzen Moment schien die Frau zu zweifeln, doch dann wiederholte sie mit Nachdruck: »Ich muss mit Ihnen über Gabriel sprechen.«

Nein, er wollte keine Zeit mit den Fantastereien dieser Frau verlieren. Er hatte keine Lust, bei diesem Mistwetter hier stehenzubleiben und mit ihr über ein Kind zu reden, das seit bald dreißig Jahren tot war.

Er würde ihr sagen, dass sie ihn in Ruhe lassen sollte, sich umdrehen und in sein Auto steigen. Es war ganz einfach. Dachte er zumindest.

1

Jo, 2018

»Komischer Typ. Eigentlich müsste er traurig sein, aber er klingt, als würde er gleich nackt in einem Mohnfeld tanzen.«

Ich meinte den Typen, der gerade im Radio sang. Adrien und ich saßen in seinem Auto. Er fuhr, und ich redete und redete, wie immer.

»Jo, wenn es dich nicht schon gäbe, müsste man dich erfinden«, sagte er, ohne den Blick von der Straße zu wenden.

Wir kamen von Adeline, meiner Freundin seit über zwanzig Jahren, meiner Schwester, meinem Double, derjenigen, mit der ich alles Wichtige im Leben geteilt hatte: das Heranwachsen, die ersten Jungs, die Liebeskummer, die bauchfreien Tops à la Britney Spears, das Studium, die kostenlosen Tees bei Nature & Découvertes, wenn das Konto mal wieder überzogen war, den Beginn der sozialen Medien, den Austausch der Hausschlüssel für den Fall, dass einer spurlos verschwand, die großen Freuden und die Dramen. Sie war mit ihren Eltern und ihrem Bruder nach Montaigu gezogen, als ich in die fünfte Klasse kam, und ihre bestimmende und draufgängerische Art hatte mich sofort fasziniert. An diesem Abend hatten wir uns mit Adeline in einer Käsebar getroffen. Sie hatte Probleme in ihrer Beziehung und brauchte jemanden zum Reden. Trotz der schwierigen Situation war es ein schönes Treffen gewesen, unter anderem dank der gemütlichen Atmosphäre in der Bar.

»Glaubst du, Adeline und Bruno kriegen die Kurve?«, fragte ich Adrien.

Die beiden waren seit sieben Jahren zusammen, und bisher hatte ich immer gedacht, sie würden den Rest ihres Lebens miteinander verbringen. Etwas anderes erschien mir unvorstellbar.

»Das wird sich zeigen.«

Adrien war stiller als sonst, aber ich schob das auf die Müdigkeit. Es war spät, und die Musik im Radio trug nicht gerade dazu bei, uns wach zu halten. Während wir durch den Landstrich zwischen Nantes und der Grenze zur Vendée fuhren, erklang die Melodie einer einzelnen Gitarre: »La Liste« von Rose.

Ich seufzte. »Na super! Jetzt kriegen wir auch noch vorgeführt, was man alles verpasst, wenn man Single bleibt.«

»Mir gefällt der Song. Ist doch knuffig.«

Adriens Lächeln wurde breiter, und er sah mich eine Sekunde zu lange an. Und die Sekunde reichte, um mich durcheinanderzubringen. Den ganzen Abend über war es schon so gewesen: Jedes Mal, wenn unsere Blicke sich kreuzten, machte mein Herz einen Satz, und mir wurde ganz warm. Was vollkommen lächerlich war.

»Knuffig«, sagte ich und rieb mir den Nacken. »Na ja, vielleicht ist es das, wenn man jemanden gefunden hat, bei dem man Lust kriegt, so eine Liste aufzustellen.«

Adrien sah mich nur wortlos an, was mich noch mehr aus dem Gleichgewicht brachte, dann wandte er sich wieder zur Straße. Während Rose all die Dinge aufzählte, die sie mit demjenigen tun wollte, der sie zum Flirren brachte, schwiegen wir beide. Ich warf ihm verstohlene Seitenblicke zu, und ich hätte schwören können, dass er dasselbe tat. Rose sang, sie wollte »dich zum Lachen bringen«, »deine Seufzer einatmen« und »ein kleines Mädchen haben«, und wir wussten nicht mehr, worüber wir reden sollten. Ich kam mir dumm vor, hütete mich aber, ihm das zu sagen.

»Wollen wir noch ein paar Schritte gehen?«, schlug Adrien vor und hielt beim Rathaus an.

Ich nickte nur, sprang aus dem Auto und lief zu der alten Steintreppe neben dem Portal der Chapelle Saint-Léonard, die zum Deich hinunterführte.

»Wer zuerst unten ist, hat gewonnen!«

Es war ein schöner, mondheller Abend, und die kühle Luft war erfüllt von den Gerüchen des Flusses. Adrien folgte mir ruhig, während ich mich beeilte, um vor ihm anzukommen. Ich spürte den Blick seiner dunklen Augen auf meinen Schultern. An der Brüstung blieb ich stehen und betrachtete den Ausblick. Als ob ich ihn nicht in- und auswendig kennen würde! Der Park unterhalb der Befestigungsmauer der Burg, die Seerosen, die aussahen, als hätte ein Maler sie auf das Wasser gesetzt. Tausend Jahre Geschichte lagen vor uns, und wir standen da und wussten nicht, was wir tun oder sagen sollten.

Plötzlich schoben sich Adriens Hände rechts und links an meinem Körper vorbei und stützten sich auf die Brüstung. Seine Arme umschlossen mich, ohne mich zu berühren, und seine Nähe ließ mich erzittern. Die Zeit schien stillzustehen, und wir bewegten uns nicht, erfüllt von einem eigentümlichen Gefühl. Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren. Der Drang, ihn zu küssen, war mit einem Mal so stark, dass ich kaum noch atmen konnte.

Was ist denn nur los mit mir? Warum traue ich mich nicht, mich umzudrehen?

Ich konnte doch nicht meinen besten Freund begehren! Gut, ich hatte mir vielleicht schon mal ausgemalt, wie es wohl wäre, wenn ich ihm die Kleider vom Leib reißen würde, aber das war doch kein Grund, oder?

»Du hast gewonnen«, murmelte er schließlich mit seltsam rauer Stimme.

Sein Atem an meinem Nacken war elektrisierend. Innerlich spielte ich dieses blöde Spiel, auf das man immer dann verfällt, wenn man sich nicht entscheiden kann.

Wenn er in den nächsten zehn Sekunden nichts mehr sagt, küsse ich ihn. Zehn Sekunden.

Drei Sekunden und neun Worte später fiel mein Enthusiasmus in sich zusammen wie ein Soufflé, wenn man die Ofentür zu früh öffnet.

»Wir sollten nach Hause fahren, Jo. Es ist spät.«

Kalte Dusche. Eiskalt.

Abrupt drehte ich mich um und starrte ihn an, gezwungen, den Kuss, der mir auf den Lippen lag, hinunterzuschlucken. Hatte ich mir das alles nur eingebildet?

Adrien hielt vor meiner Haustür, und gerade als ich aussteigen wollte, sah er mir tief in die Augen und strich mir über die Wange. Ich dachte, er würde etwas sagen, mich fragen, ob er noch mit raufkommen könnte, doch das tat er nicht. Also drehte ich mich mit knallrotem Kopf um und murmelte: »Gute Nacht.«

»Bis morgen.«

Mein Gehirn funktionierte nicht mehr richtig, und mein Herz und mein Magen hatten sich irgendwo in meinem Körper verirrt.

Ich hatte mich in Adrien verliebt. Und ich wusste nicht, ob das etwas Gutes war oder eine Katastrophe.

2

»Ich würde lieber über dich sprechen.«

Sofort fühlte ich mich ertappt, obwohl Lucette, soweit ich wusste, mit ihren dicken Brillengläsern nicht in meine Seele schauen und somit auch nichts wissen konnte.

Wie jeden Montag war ich nach der Arbeit in das Pflegeheim gegangen, das direkt neben meinem Mietshaus lag, um den ältesten Bewohnern etwas vorzulesen. Diese kostbaren Augenblicke gaben ihnen das Gefühl, dass jemand sich ein wenig um sie kümmerte und auch mal zuhörte, wenn sie in ihren Erinnerungen kramten und Geschichten aus der Vergangenheit erzählten. Meistens beendete ich meine Runde mit Lucette, die ich am liebsten mochte. Die einstige Schulleiterin, die über Jahrzehnte hinweg den Kindern der halben Stadt das Lesen beigebracht hatte, war von ihren beiden Söhnen dorthin verfrachtet worden, was sie ihnen ziemlich verübelte. Sie hatte das Gefühl, ihnen allein durch ihre Existenz zur Last zu fallen, als hätten sie vergessen, dass sie auch mal eine junge Frau mit einem erfüllten Leben gewesen war. Das hübsche Haus ihrer Kindheit hingegen, dessen Inventar sie gerade sichteten, um den Wert schätzen zu lassen, hatten sie nicht vergessen.

Um meine liebe Lucette ein wenig abzulenken, las ich ihr Krimis von Agatha Christie vor. Im Gegenzug erzählte sie mir mit boshaftem Funkeln die Pläne, die sie ausheckte, um ihre Sprösslinge zu ärgern. Zum Beispiel hatte sie sich einmal klammheimlich aus dem Staub gemacht, als ihr ältester Sohn (der schlimmere von beiden, die Raffgier in Person) seinen Besuch angekündigt hatte, zweifellos nur, um nachzusehen, ob sie noch lebte. Zwei Stunden nach dem Alarm hatte die Polizei sie im Café de la Place gefunden, wo sie vor einer Limonade saß, aufgebracht, weil die Bedienung sich geweigert hatte, ihr eine Piña Colada zu servieren. Seit man sie dabei erwischt hatte, wie sie einen Fünf-Euro-Schein mit Blümchen bemalte, galt sie als nicht mehr ganz richtig im Kopf. Auf mich wirkte sie jedoch vollkommen klar.

»Ich fände es interessanter, über dich zu reden«, wiederholte sie und bedeutete mir, das Buch wegzulegen. »Das ist mal was anderes als die Gesundheitsprobleme meiner Nachbarn.«

Okay, verstanden. Wenn sie so anfing, konnte das nur bedeuten, dass Pépé, mein Großvater, ihr aufgetragen hatte, mich nach meinem Liebesleben auszufragen. Die beiden waren schon immer gute Freunde gewesen, und während der letzten zehn Jahre hatten sie sich noch mal deutlich angenähert. Ich vermutete eine Romanze zwischen ihnen, was die beiden aber vehement abstritten.

Pépé wusste, dass Lucette es immer schaffte, mir etwas zu entlocken. Sie wickelte mich mit Tee und leckeren Keksen um den Finger, mit ihrem strahlenden Lächeln und dem Leuchten in ihren Augen, wenn ich sie zum x-ten Mal bat, mir beizubringen, wie man Walzer tanzt, weil ich wusste, wie viel Freude es ihr bereitete. Außerdem beschwerte sie sich nie, wenn ich ihr dabei auf die Füße trat.

»Was soll daran interessant sein?«, entgegnete ich. »Meine Kunden erzählen mir ja nie etwas Spannendes.«

»Wenn es bei mir so weit ist, werde ich mich bemühen, es besser zu machen«, bemerkte sie mit einem Augenzwinkern.

Lassen Sie sich ruhig noch ein bisschen Zeit.

Lucette beugte sich mit einem wissenden Blick zu mir. »Es ist Adrien, nicht wahr?«

Wenn ich eine Heuchlerin gewesen wäre, hätte ich behaupten können, dass ich gar keinen Adrien kannte. Aber Lucette hatte mich durchschaut. Ich biss in einen Keks, um meine Verlegenheit zu überspielen, und nickte.

»Jetzt erzähl schon!«, drängte sie. »Schließlich habe ich nicht ewig Zeit!«

»Na ja … Ich glaube, gestern Abend ist etwas passiert.«

»Das wurde aber auch Zeit! Der Gute ist so knackig wie einer von unserem Rugby-Nationalteam«, bemerkte sie genießerisch. »Wenn ich so alt wäre wie du …«

Ich nickte nur mit einem dümmlichen Lächeln.

Adrien … Mit seinen dunklen Haaren und Augen und der bretonischen Abstammung hätte er den perfekten düsteren Helden abgegeben, aber er sprühte vor Lebensfreude und hatte sich sogar eine Sonne innen auf das Handgelenk tätowieren lassen. Gestern Abend war er einfach … puh, kein Kommentar. Ich musste mir eingestehen, dass ich mich tatsächlich in einen meiner engsten Freunde verliebt hatte, und um ehrlich zu sein, machte mir das ganz schön Angst.

Lucette in ihrem Sessel schmiedete bereits Zukunftspläne.

»Willst du ihn heiraten? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber in deinem Alter wird's langsam Zeit.«

»Ich bin zweiunddreißig!«, rief ich aus.

»Eben. Jetzt erzähl mal – küsst er wie ein Gott?«

Ich musste lachen und gab meinen Widerstand auf. »Wir haben uns noch gar nicht geküsst.«

Was echt schade ist.

Die alte Dame sah mich enttäuscht an.

»Wir hatten uns mit Adeline getroffen«, erklärte ich ihr. »In ihrer Beziehung läuft es im Moment nicht so gut. Auf dem Rückweg habe ich dann gemerkt, dass irgendetwas zwischen uns dabei war, sich zu verändern.«

Lucette hing gebannt an meinen Lippen. Selbst die Pendeluhr, die über unseren Köpfen an der Wand hing, schien in ihrem Ticken innezuhalten. Die Uhr …

Mist! Ich sprang auf, als hätte mein Stuhl Feuer gefangen.

»Lieber Himmel, es ist ja schon fünf! Es tut mir leid, aber ich muss zu Adeline.«

»Du kannst doch jetzt nicht einfach gehen!«, protestierte Lucette. »Ich will wissen, was dann passiert ist.«

Nein, ich durfte nicht nachgeben. Ich hatte meiner Freundin versprochen, pünktlich zu sein – was für mich einer Heldentat gleichkam –, und ich wollte ihr beweisen, dass ich das schaffte.

»Ich versuche, morgen wiederzukommen. Außerdem wissen wir immer noch nicht, ob Hercule Poirot den Schuldigen findet.«

Sie schnalzte mit der Zunge. »Poirot siegt immer, meine Liebe, der kann warten. Morgen erzählst du mir, wie Adrien dein Herz auf den Kopf gestellt hat, basta.«

Ich schnappte mir meine Handtasche und warf ihr einen Luftkuss zu.

»Sie sind wirklich erfrischend, Lucette. Ich verstehe, warum Pépé Sie gern hat.«

Damit zog ich die Tür hinter mir zu und lief los, ahnungslos, dass diese Unbeschwertheit wenige Stunden später der Vergangenheit angehören würde.

Adeline und ich hatten uns in einem unserer Lieblingscafés in Nantes verabredet, in der Passage Pommeraye. Die Käsekuchen dort waren einfach unwiderstehlich. Ich hätte zu Fuß dorthin gehen und die herrliche Frühlingssonne genießen können. Wenn ich den Quai de Malakoff genommen hätte, der an der Erdre entlangführte, und von da aus ins Stadtzentrum abgebogen wäre, hätte ich nur zwanzig Minuten gebraucht. Aber ich war zu lange bei Lucette geblieben.

In flottem Tempo verließ ich den Bahnhof, entschlossen, die erste Straßenbahn zu nehmen, die ich kommen sah. Im Gehen ließ ich zum hundertsten Mal den Film vom Abend zuvor Revue passieren und legte mir zurecht, wie ich das Ganze Adeline erzählen würde. Im Geist hörte ich schon ihre aufgeregten Ausrufe. Seit dem Ende unserer Teenagerzeit, als ich begriffen hatte, dass ich niemals den geheimnisvollen und superattraktiven Max aus der Serie Roswell heiraten würde, wartete sie verzweifelt darauf, dass ich endlich einen vernünftigen Typen kennenlernen würde. Und nun stellte sich heraus, dass ich ihn womöglich schon seit Monaten direkt vor der Nase gehabt hatte …

Ich hatte beschlossen, allen Mut zusammenzunehmen und Adrien zu bitten, heute Abend zu mir zu kommen. Vielleicht würde ich mich ins kalte Wasser stürzen, mit dem Risiko, mir eine mordsmäßige Erkältung einzufangen, aber es war auch gut möglich, dass mir meine strengen Prinzipien dazwischenfunkten, denn für mich kam ein Freund als Freund eigentlich nicht in Frage. Auf jeden Fall wollte ich Klarheit darüber, was wir beide wirklich füreinander empfanden, und da würde mir ein Gespräch mit Adeline sehr helfen.

Adrien und ich hatten uns letztes Jahr kennengelernt, und zwar unter Umständen, die nicht gerade dazu angetan waren, sich ineinander zu verlieben. Damals hatte er gerade eine Trennung hinter sich und obendrein noch seinen Job verloren (die Firma, für die er gearbeitet hatte, gehörte seiner Ex). Seinem Sachbearbeiter beim Arbeitsamt war nichts Besseres eingefallen, als ihm eine Umschulung zum Thanatopraktiker zu empfehlen, und ich hatte eingewilligt, ihm die Feinheiten des Berufs näherzubringen. Ja, genau, ich bin Thanatopraktikerin – oder Einbalsamiererin, wie man das umgangssprachlich auch nennt. Mit meinem blauen Kittel und den scharfen Instrumenten (keine Sorge, ich bin nicht die Nachfolgerin von Ted Bundy) werde ich es wohl nie auf die Titelseite von Vogue oder Glamour schaffen. Meine Aufgabe besteht darin, den Toten ein menschlicheres Gesicht zu geben, sie zu verschönern und friedlich wirken zu lassen. Im Gegensatz zu den herrschenden Vorurteilen ist das kein Beruf für morbide Charaktere, im Gegenteil, ich gelte zum Beispiel als ausgesprochen frohes Gemüt. Ein Thanatopraktiker lernt, innerlich Abstand zu halten, und denkt in erster Linie an die Hinterbliebenen.

Wie dem auch sei, ich hatte nicht damit gerechnet, einen großen dunklen Typen mit Wuschelkopf und funkelndem Charme vor mir zu haben. Und noch weniger hatte ich damit gerechnet, dass er aus den Latschen kippte, als ich anfing, dem Verstorbenen, um den ich mich an dem Morgen kümmerte, die Körperflüssigkeiten abzusaugen. Er war ohne jede Vorwarnung einfach weggesackt, und zuerst dachte ich, er hätte einen Herzinfarkt oder so was. Ein paar Minuten später brachte ich ihm einen Kaffee, damit sein Kreislauf wieder in Schwung kam.

»Ist das nicht ein ziemlich seltsamer Beruf?«, fragte er.

Ich zuckte die Achseln. Meine Eltern führten schon seit Ewigkeiten ein Bestattungsinstitut, deshalb war es für mich etwas ganz Normales.

»Alle Berufe, die mit dem Tod zu tun haben, sind den Leuten suspekt. Aber irgendjemand muss es ja schließlich machen, oder?«

Ich sah die Verwirrung in seinen dunklen Augen.

»Stimmt. Aber irgendwie hatte ich mir jemand … Düstereren vorgestellt.«

»So eine Art Mischung aus Marilyn Manson und Morticia Addams?«, erwiderte ich spöttisch. »Tut mir leid, ich inszeniere keine Rabenopfer, um die Toten ins Jenseits zu geleiten.«

»O Mann, ist das peinlich«, sagte er und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Man sollte sich nie auf seine Vorurteile verlassen.«

»Aber lustig ist dein Job doch auch nicht, oder?«

»Na ja, wenn wir zu den Leuten fahren, holen wir nicht gerade die Maracas und Sombreros raus.«

Wir mussten beide lachen, und da sprang sofort eine Art Funke zwischen uns über; der Beginn einer Freundschaft. Damals hatte ich kein Interesse an einer Liebesgeschichte. Ich war mit meinem Ex übel auf die Nase gefallen, und das hatte mich ganz schön mitgenommen. Ich hatte kein Selbstvertrauen mehr, jedenfalls nicht genug, um etwas Ernsthaftes mit Adrien in Betracht zu ziehen. Und bei der ersten Begegnung in Ohnmacht zu fallen gehörte auch nicht gerade zu den Qualitäten, die ich bei einem Mann suchte. Nein, Freundschaft genügte mir. Er hatte sich dann entschieden, in der Tourismusbranche zu arbeiten, war nach Montaigu gezogen, wo ich auch lebte, und war zu einem sehr guten Freund geworden. Ein Freund, der genauso verrückt nach Schokoladeneclairs war wie ich und ebenfalls den alten Song »God Only Knows« von den Beach Boys liebte. Ein Freund, mit dem ich über jeden Blödsinn lachen, um zwei Uhr morgens über den Sinn des Lebens nachsinnen und an dessen Schulter ich mich ausheulen konnte, wenn ich daran zweifelte. Zumindest hatte ich bis gestern gedacht, dass er das wäre: ein Freund.

In der Ferne entdeckte ich einen hellen Punkt, der näher kam und mich aus meinen Gedanken riss: die Straßenbahn.

Beeil dich, dann kriegst du sie noch!

Plötzlich hörte ich das schrille Kreischen von Bremsen, und jemand stürzte auf mich zu.

»Vorsicht!«

Ich flog buchstäblich quer über die Straße und schlug so heftig auf, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf hätte sich durch die Steine gebohrt. Ich hörte eine Art metallisches Quietschen und ein paar Schreie, dann lautes Hupen. Bevor ich das Bewusstsein verlor, sah ich noch, wie sich eine schmale Gestalt mit langer, gebogener Nase über mich beugte, und ich dachte: Ein Vogel hat mich gerettet.

Dann schloss ich die Augen, und lauter Sterne explodierten.

3

»Mensch, Jo, du hast uns vielleicht einen Schreck eingejagt!«, rief Adeline aufgelöst, als sie in die Notaufnahme kam. »Hat dir keiner beigebracht, dass man erst nach rechts und links guckt, bevor man über die Straße läuft?«

Ich lächelte schwach. Ich war mittlerweile seit ungefähr einer Stunde wieder bei Bewusstsein, aber die Ärzte hatten darauf bestanden, eine CT zu machen.

»Ich wollte nicht schon wieder zu spät kommen.«

Sie trat zu mir, um mich zu umarmen, und schwenkte drohend den Zeigefinger vor meiner Nase. »Mach das ja nicht noch mal!«

»Willst du mir ein Knöllchen wegen Einjagens eines groben Schrecks verpassen?«

Bevor Adeline vor zwei Jahren auf den Verkauf von Biokosmetik umgestiegen war, hatte sie, genau wie ihr Vater und ihr Bruder, bei der Polizei gearbeitet. Doch sie hatte bald gemerkt, dass sie es öde fand, durch die Straßen des Stadtzentrums zu patrouillieren und Strafzettel zu verteilen, und so hatte sie gekündigt und sich ihrer Leidenschaft für die Schönheit zugewandt. Was ihr Bruder übrigens immer noch nicht verwunden hatte.

»Ein Knöllchen?«, entgegnete sie. »Du hättest es verdient, dass ich dich einloche!«

Adeline hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Und wenn sie lachte, klang es nach ihren eigenen Worten wie eine Mischung aus Lastwagenfahrerin und Hexe. Zugleich war sie wunderschön mit ihren großen grünen Augen und ihrer alabasterfarbenen Haut. Sie erinnerte mich immer an eine zarte Blume und hätte die Muse eines Dichters aus den Zwanzigerjahren sein können.

Meine Freundin setzte sich und pustete sich ihre blonden Ponysträhnen aus der Stirn.

»Ich war kurz davor, Trauerkleidung anzuziehen, als das Krankenhaus angerufen hat«, sagte sie, nur halb im Scherz. »Was sagen die Ärzte?«

»Ich warte noch auf das Ergebnis der CT. Aber mir geht's gut, abgesehen von der Beule an der Stirn.« Vorsichtig betastete ich die Stelle und zuckte vor Schmerz zusammen.

Adeline verzog ebenfalls das Gesicht. »Schön ist sie nicht, aber sie gibt dir das gewisse Etwas. Du siehst aus wie eine Extremabenteurerin, die beim Dschungelcamp mitgemacht hat.«

»So schlimm?«

»Ja. Aber du hast noch Glück gehabt – du hättest dir auch alle Zähne ausschlagen oder völlig entstellt sein können. Das wird schon wieder.«

»So kann ich immerhin meinem Schutzengel danken. Man hat mir gesagt, dass mich ein Mann gerettet hat, der gerade Prospekte verteilte.«

Was das metallische Quietschen erklärte, das ich gehört hatte, bevor ich ohnmächtig geworden war.

»Der arme Kerl – ich hatte ihn für einen Vogel gehalten.«

»Was war denn los mit dir? Du bist doch sonst nicht so unvorsichtig.«

»Genau deshalb wollte ich ja mit dir reden«, erwiderte ich, bemüht, meine Aufregung im Zaum zu halten. »Gestern Abend ist etwas zwischen Adrien und mir passiert.«

Adeline riss die Augen auf. »Echt?«, rief sie. »Habt ihr endlich die Scheuklappen abgenommen?«

Ich bedeutete ihr, sich zu beruhigen, und erzählte ihr das Ganze in allen Einzelheiten.

»Aber warum hast du ihn nicht geküsst?«, fragte sie, als ich fertig war.

Weil ich total dämlich bin.

Und weil ein kleiner Teil von mir fürchtete, mich wieder in einen Mann zu verlieben, den meine sechs bis acht Kilo zu viel störten. Was, wenn Adrien meine etwas zu gut gepolsterten Schenkel nicht mochte? Aber ich wusste, wie Adeline sich ereifern würde, wenn ich ihr das gestand.

»Weil ich Angst hatte, mir einen Korb zu holen. Schließlich weiß ich ja nicht, ob er meine … Gefühle teilt.«

Das Wort kam mir ganz komisch vor, weil ich mich noch nicht an den Gedanken gewöhnen konnte. Aber ich merkte, wie mein Herz schneller schlug, wenn ich an sein Lächeln dachte, das bis zu den Augenwinkeln reichte. Lieber Himmel, es hatte mich voll erwischt!

»Wann hört ihr endlich auf, euch etwas vorzumachen?«, sagte Adeline genervt. »Bei euch hat es von Anfang an gefunkt, und es ist vollkommen zwecklos, dagegen anzugehen.«

In dem Moment ging die Tür auf, und ein Arzt kam herein, der sich als Neurologe vorstellte. Er sah zu mir, dann zu Adeline, und seine grauen Augen wirkten ernst. Meine Muskeln spannten sich an.

»Wir haben die Ergebnisse der CT«, verkündete er und hielt eine Mappe hoch. »Ihre Freundin kann natürlich rausgehen, aber um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, wenn sie hierbliebe.«

Sofort ging alles in mir auf Alarmstufe Rot.

»Was ist los?«, fragte ich und richtete mich auf.

»Keine Sorge«, sagte der Arzt mit einer beruhigenden Handbewegung. »Es ist nichts Irreparables, aber …«

Er sah erst Adeline, dann mich fragend an.

»Sie bleibt hier«, erklärte ich, und Adeline rückte schützend an mich heran.

Er wirkte erleichtert. Und sofern er nicht scharf auf meine Freundin war, ließ das nichts Gutes erahnen.

»Auf den Bildern ist eine Aussackung an einer Arterie zu erkennen. An der rechten mittleren Hirnarterie, um genau zu sein, und zwar hier«, sagte er und zeigte mit der Spitze seines Kugelschreibers auf die Aufnahme.

»Eine Aussackung?«, wiederholte ich mit zittriger Stimme.

»Ein sogenanntes Aneurysma. Das ist eine anormale Ausdehnung einer Arterienwand, in der sich Blut sammelt.«

»Und ist das etwas Schlimmes?«, fragte Adeline.

Der Arzt wiegte den Kopf hin und her. »Diese Ausdehnung kann sich durch einen plötzlichen Anstieg des Blutdrucks vergrößern, und dadurch wird die Arterienwand dünner. Im Allgemeinen ist das Risiko, dass ein Aneurysma platzt, relativ gering.«

Hä? Wovon redet er?

Nach kurzem Zögern fuhr er fort: »In Ihrem Fall jedoch ist dieses Risiko ziemlich hoch. Sie sind noch nicht in akuter Gefahr, aber Sie müssen eine Entscheidung treffen.«

Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich und meine Eingeweide sich verflüssigten.

»Was für eine Entscheidung?«, stammelte ich.

»Entweder Sie lassen sich operieren, was ich für die beste Lösung –«

»Sie wollen mir den Schädel aufmachen?!«

Dr. Schlechte Nachricht versuchte, mich zu beruhigen. »Wir öffnen den Schädel nicht mehr, die Techniken in der Neurochirurgie haben große Fortschritte gemacht«, sagte er voller Stolz, als wäre er allein dafür verantwortlich.

Er legte die Aufnahmen beiseite und erklärte mir, dass die Operation unter radiologischer Kontrolle mittels eines Katheters erfolgte, der über die Oberschenkelarterie eingeführt würde. Ich war so in Panik, dass ich nur einzelne Worte aufschnappte: Gefäßerweiterung, Platinspirale, Aneurysmaverschluss. Ich nickte, ohne wirklich zu verstehen, was er sagte.

»Gut, dann machen wir es so. Wie lange dauert das? Eine Stunde?«

Der Arzt lächelte bedauernd. »So einfach ist es leider nicht, und ich möchte Sie bitten, in Ruhe darüber nachzudenken, bevor Sie sich entscheiden, denn diese Operation ist nicht ohne Risiken.«

Je länger er sprach, desto fester klammerte sich Adelines Hand um meine.

»Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die Operation zum Tod führen oder neurologische Schäden nach sich ziehen kann, unter anderem Lähmungen oder Sehbehinderungen.«

Blind oder gelähmt. Bei meinem Glück wahrscheinlich sogar beides.

»Aha«, sagte ich, nachdem ich diese Informationen verarbeitet hatte. »Das ist also eine ziemlich riskante Option. Und wenn ich mich nicht operieren lasse?«

»Das ist selbstverständlich Ihr gutes Recht«, antwortete er, plötzlich angespannt. »Aber das Aneurysma kann jederzeit platzen und zu einer gefährlichen Hirnblutung führen. In dem Fall liegt die Todesrate bei fünfzig Prozent.«

»Ach du Scheiße!«, rief Adeline aus. »Entschuldigung, das ist mir so rausgerutscht … Gibt es denn keine andere Alternative?«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein.«

Ich war wie gelähmt und brachte kein Wort heraus. Schließlich gelang es mir zumindest, ihn zu fragen, ob diese Aussackung durch meinen Unfall entstanden war.

»Wahrscheinlich ist sie schon seit Jahren da. Wenn man bei Ihnen vorher noch nie eine CT des Kopfes gemacht hat, ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht entdeckt wurde.«

»Wie viel Zeit habe ich, um mich zu entscheiden?«

Wie viele Tage habe ich noch zu leben?

»Je eher, desto besser.«

»Ich verstehe.« Ich hielt inne und stieß ein kurzes Lachen aus. »Nein, ich verstehe nicht. Für jemanden, der mit einem Bein im Grab steht, fühle ich mich ziemlich fit.«

»Sie stehen nicht mit einem Bein im Grab«, widersprach er.

Meinetwegen, aber nach allem, was er gesagt hatte, würde es nicht mehr lange dauern. Es sei denn, das Ganze war nur ein Albtraum oder eine Wahnvorstellung, was immerhin möglich war. Schließlich hatte ich einen ziemlich heftigen Schlag auf den Kopf bekommen. Der Neurologe äußerte sein Bedauern und riet mir erneut, in Ruhe darüber nachzudenken.

»Ich habe Sie für fünf Tage krankgeschrieben. Ein bisschen Ruhe wird Ihnen guttun.«

»Ist das wirklich nötig? Ab nächste Woche habe ich sowieso Urlaub.«

»Dann haben Sie jetzt eine zusätzliche Woche«, erwiderte er ungerührt. »Vermeiden Sie plötzliche Anstrengungen und Aufregungen, die Ihren Blutdruck in die Höhe treiben könnten. Und keinen fordernden Sport!«

Ich hütete mich zu erwähnen, dass meine letzten sportlichen Aktivitäten mindestens zehn Jahre her waren. Prompt sprang Adeline für mich ein: »Da besteht keine Gefahr, Jo steht von jeher mehr auf Spritz als auf Sport.«

Ich versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen.

»Hm … Alkohol ist auch nicht förderlich, Mademoiselle«, bemerkte er vorwurfsvoll.

»Kurz gesagt, ich soll leben wie eine alte Frau.«

Der Arzt zuckte nur die Achseln. »Wenn Sie ungewöhnliche Kopfschmerzen haben und Ihnen übel wird, kommen Sie sofort hierher.«

»Verstanden. Kann ich jetzt nach Hause?«

Er nickte, ermahnte mich aber nochmals zur Vorsicht.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie sich entschieden haben«, sagte er und gab mir die Krankschreibung und den Umschlag mit diesen verdammten Gehirnaufnahmen.

»Mache ich.«

Der Arzt verabschiedete sich von uns und ging hinaus, vermutlich, um weiteren ahnungslosen Patienten wenig ermutigende Untersuchungsergebnisse mitzuteilen.

»Puh, das ist echt scheiße«, stieß Adeline aus.

»Ja, sehe ich auch so«, bestätigte ich.

Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, da wurde mir schlagartig übel, und ich musste mich übergeben.

Ein riesiges schwarzes Loch hatte meine Zukunft verschlungen.

4

»Sag mal, hast du sie noch alle? Der Neurologe hätte dir lieber gleich eine Hirntransplantation vorschlagen sollen!«, schimpfte Adeline am anderen Ende der Leitung.

Als ich gestern aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte ich meine Verabredung mit Adrien unter einem Vorwand abgesagt. Zum ersten Mal, seit wir uns kannten, hatte ich ihn angelogen, aber ich brauchte Zeit für mich, um die Informationen des Arztes zu verdauen. Ich musste über die Möglichkeiten nachdenken, die ich hatte, und ehrlich gesagt machten sie mir eine Riesenangst.

»Jetzt ist es doch völlig undenkbar, dass er mehr von mir will als Freundschaft«, widersprach ich.

»Mein kleiner Finger sagt mir, dass es dafür schon zu spät ist«, erwiderte sie. »Hast du mal an ihn gedacht?«

»Ich denke kaum an etwas anderes.«

Mir war bewusst, wie extrem meine Entscheidung wirken musste, aber ich hatte erlebt, wie mein Großvater gelitten hatte, als meine Großmutter drei Monate nach Ausbruch ihrer Krankheit gestorben war, und ich wollte nicht, dass Adrien dasselbe durchmachen musste.

»Ich kenne Adrien«, beharrte Adeline. »Er wäre für dich da.«

Genau das war ja das Problem. Wenn ich ihm erklärte, dass mir der Himmel brutal auf den Kopf gestürzt war, wäre er imstande, sein Leben auf Pause zu stellen, weil der Fortgang meines Lebens ungewiss war.

»Ich finde es ja auch schrecklich«, seufzte ich, »aber ich sehe keine andere Lösung. Er hat mir eine SMS geschickt, dass er mich seltsam findet, und ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.«

»Keine Ahnung, vielleicht so was wie: ›Gestehen wir uns unsere Gefühle, und sei mein Bradley Cooper‹?«

Ich schüttelte heftig den Kopf, obwohl sie mich nicht sehen konnte. »Es wäre zu grausam, wenn ich ihm die Chance nähme, jemand anders kennenzulernen. Eine gesunde Frau, die ihm nicht mitten im Orgasmus wegstirbt, zum Beispiel.«

»Das wäre immerhin ein schöner Tod«, bemerkte Adeline. »Und was hast du jetzt vor?«

»Mich dorthin zurückziehen, wo ich in Ruhe nachdenken kann.«

Am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg zum Haus meines Großvaters, das eine halbe Stunde von Montaigu entfernt lag. Im Autoradio sang Bob Marley »No Woman No Cry« und versicherte mir, dass alles gutgehen würde: »Everything's gonna be all right.«

Von wegen! Es könnte kaum schlimmer sein. Aber wir wollen dem guten alten Bob ja nicht widersprechen.

Obwohl es unlogisch war, ärgerte ich mich mittlerweile über diesen Dr. Schlechte Nachricht, der mit seiner Diagnose meine Zukunft ruiniert hatte. Er konnte zwar nichts dafür, aber in diesem Moment hätte ich ihn am liebsten einen Kopf kürzer gemacht. Bevor er aufgetaucht war, war in meinem Leben alles rund gelaufen, und die Zukunft hatte ausgesprochen rosig ausgesehen. Warum musste das ausgerechnet mir passieren? Ich war noch jung, und ich hatte nie auch nur einer Fliege etwas zuleide getan. Das war einfach total unlogisch.

Warum muss das Schicksal immer dazwischenfunken, wenn gerade alles gut läuft, so, als hätte das Glück einen Preis?

Ich hatte das seltsame Gefühl, als würde ich nach einem Erdbeben wieder aufstehen.

Das Natursteinhaus mit den grünen Fensterläden kam in Sicht, und Pépé trat heraus, als ich gerade das Auto parkte. Es war ein hübsches kleines Haus auf einem Waldgrundstück im Herzen der Vendée. Von klein auf hatte ich diesen Ort geliebt, und ich fühlte mich dort zu Hause. Er war mein Anker, und die heitere Landschaft war wie Balsam für meine Seele. Hierhin zog ich mich zurück, wenn meine Welt aus den Fugen geriet, in diesen »grünen Winkel, den ein Bach befeuchtet«, wie es in einem Gedicht von Rimbaud heißt. Nichts beruhigte mich so wie das Plätschern des Bachs im Hintergrund.

»Da ist ja meine Schönste!«, rief mein Großvater fröhlich aus und kam mir entgegen.

Er hieß eigentlich Victor, aber alle nannten ihn nur Pépé. Ob meine Familie, meine Freunde, der Postbote oder die Krankenschwester, die sich um ihn gekümmert hatte, als sein Herz aus dem Takt geraten war – ich hatte noch nie gehört, dass irgendjemand ihn mit seinem Vornamen ansprach. Und ja, insgeheim war ich eifersüchtig, weil ich meinen Pépé mit so vielen anderen teilen musste. Wir waren uns immer sehr nah gewesen. Als ich klein war, hatten wir unsere Gewohnheiten und Rituale. Unzählige Male hatte ich mich auf seinen Gepäckträger gesetzt, und dann waren wir mit seinem Fahrrad am Petit Lay entlanggefahren, der sich durch das Dorf Mouchamps schlängelte, wo meine Großeltern in den Sechzigerjahren ihr Haus gekauft hatten. Während Pépé in die Pedale trat und ein Chanson von Yves Montand oder Serge Reggiani summte, betrachtete ich die alten, blumengeschmückten Gassen des Ortes, der auf einem Felshügel erbaut worden war. Oft hatte er mich auch auf seinem Boot zum Angeln mitgenommen, und mit einem Tim und Struppi in der Hand hatte ich die friedliche Zeit auf dem Fluss genossen.

Sein weißer Schnurrbart kitzelte mich, als er mich auf die Wangen küsste, und ich folgte ihm ins Haus und weiter in die Küche, die immer noch genauso aussah wie früher: die gelbe Farbe an den Wänden, die schon abblätterte, der Deckenventilator, der jeden Sommer auf höchster Stufe lief, die Tablettendöschen auf dem Buffet neben der Mikrowelle, der Kalender von der Post, der an der Tür hing, und dazu die Duftmischung aus Mentholbonbons, die er gern lutschte, und Ajax, womit er die Spüle scheuerte. Und mittendrin thronte neben einem Briefständer das alte Telefon mit der Wählscheibe, das schon ewig nicht mehr funktionierte, aber das mein Großvater aufbewahrte wie eine kostbare Reliquie, Zeuge einer längst vergangenen Zeit.

»Wie wär's mit einem Kaffee?«, fragte er und nahm das Nescafé-Glas aus dem Küchenschrank.

Statt einer Antwort bereitete ich die Mazagran-Tassen vor (bei Pépé gab es keine Becher) und brachte sie nach draußen zum Gartentisch. Als mein Großvater mit dem Wasserkessel dazukam, bemerkte ich staunend, dass seine Rosen schon Knospen hatten.

»Der Frühling ist dieses Jahr zeitig gekommen«, erwiderte er. »Und man kann nicht traurig sein, wenn das Wetter schön ist, das haben meine Blumen verstanden.«

Ich musste daran denken, dass die Natur nach jedem Winter wieder auflebt, während wir Menschen irgendwann verschwinden. Ich hatte nie Angst vor dem Tod gehabt, dazu war er mir zu vertraut. Doch seit zwei Tagen kreisten meine Gedanken ständig darum. Da ich nicht wusste, wie ich das Thema anschneiden sollte, lächelte ich ihm nur zu und legte die zitternden Hände um die Tasse.

»Was ist mit dir, Jo?«, fragte er verwundert, weil ich gar nichts sagte. »Ich habe Lucette einen Blumenstrauß gebracht, und sie hat mir das mit dir und Adrien erzählt. Da müsstest du doch eigentlich glücklich sein.«

Das kommt davon, wenn man Lucette ein Geheimnis verrät.

»Ich glaube, da hat Lucette etwas übertrieben. Adrien und ich sind nur befreundet, weiter nichts«, erwiderte ich traurig.

Überrascht lehnte mein Großvater sich auf seinem Stuhl zurück. Die Sonne blendete, sodass ich seine Augen nicht richtig sehen konnte.

»Hat er dir wehgetan? Wenn du willst, knöpfe ich ihn mir vor.«

»Das ist es nicht …«

Pépé ballte die Faust und spannte seinen Bizeps unter dem Pullover an. »Ich kann ihm ein paar Knochen brechen. Dafür bin ich immer noch fit genug.«

In den Fünfzigerjahren war mein Großvater ein sehr erfolgreicher Boxer gewesen, und er hatte immer noch einen Respekt einflößenden Körperbau, auch wenn sein Rücken sich unter der Last der Jahre zu krümmen begann. Ich hatte ein paar Zeitungsartikel über ihn gelesen, die meine Großmutter sorgfältig in ein Album geklebt hatte. Damals war Pépé für seinen vernichtenden Schlag berühmt gewesen. 1957 hatte er dann aus Liebe zu meiner Großmutter mit dem Boxen aufgehört und es nie bereut. Die Lokalzeitung hatte, wie ich nicht ohne Stolz feststellte, auf der Titelseite über ihn berichtet:

»Victor Queyrioux – nach 88 Siegen hängt der einstige Europameister die Boxhandschuhe an den Nagel und lässt sich mit seiner Familie in der Vendée nieder.«

Ich suchte nach Worten, die mir nicht wieder die Tränen in die Augen treiben würden, und sagte schließlich: »Adrien hat mir nichts getan. Ich … Ich habe es mir anders überlegt.«

»Dabei hätte ich darauf gewettet, dass ihr zwei eines Tages heiratet.«

»Dann hättest du verloren«, erwiderte ich mit einem Kloß im Hals.

»Trotzdem gefällt es mir nicht, dass du traurig bist, und schon gar nicht wegen eines Mannes. Das da hat er dir doch hoffentlich nicht verpasst, oder?«, fragte er und deutete auf die Beule an meiner Stirn.

So viel zur Wirksamkeit der Abdeckcreme.

»Nein, Adrien hat nichts damit zu tun. Ich hatte vorgestern einen kleinen Unfall.«

Pépé zog die Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Also erzählte ich ihm alles: wie ich blindlings über die Straße gelaufen war, den Zusammenstoß mit dem Auto und das Urteil des Neurologen.

»Egal, wie ich mich entscheide, es besteht das Risiko, dass ich dabei draufgehe«, schloss ich.

Mein Großvater stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ja eine schöne Bescherung.«

Er schwieg einen Moment, und ich fürchtete mich vor dem, was er als Nächstes sagen würde. Normalerweise brachte ihn nichts so leicht aus der Ruhe, und ich hätte ihm das gern erspart, aber ich wollte es ihm auch nicht verschweigen.

»Komm«, sagte er und stand abrupt auf. »Wir schauen uns meine Blumen an.«

Schweigend hakte ich mich bei ihm ein, und wir spazierten langsam zwischen den schon üppig blühenden Beeten hindurch. Mit dem Alter war sein Gang steifer geworden, aber selbst wenn ihn diese Schwäche ärgerte, ließ er sich nichts anmerken, sondern strahlte wie immer Lebensfreude aus.

»Die sind wunderschön«, sagte ich und blieb vor einem Tulpenbeet stehen.

Ich bewunderte auch seine Pfingstrosen und Narzissen. Er freute sich sichtlich über meine Komplimente, erwiderte aber bescheiden: »Ach, das ist nur so ein Zeitvertreib.«

Nach dem Tod meiner Großmutter vor fünfzehn Jahren hatte sich mein Großvater von einem Tag auf den anderen ins Gärtnern gestürzt. Das hatte ihm besser als alles andere geholfen, über seine Trauer hinwegzukommen. Mémé war seine Rose gewesen, seine Blume, sein Wunder der Natur. Bestimmt sprach er auch mit ihr, wenn er sich hinunterbeugte und mit seinen dicken Fingern über ein Blütenblatt strich.

Ein Stück weiter stieg mir der Duft von Maiglöckchen in die Nase und erinnerte mich daran, dass der Frühling nun wirklich da war. Pépé beobachtete mich von der Seite, sagte aber nichts.

»Siehst du die Schmetterlinge?«, fragte er plötzlich und deutete auf die Falter, die um die Blüten herumschwirrten, um Nektar zu sammeln. »Sie haben nichts außer ihrer Freiheit. Ihre Existenz ist von kurzer Dauer, aber das wissen sie nicht, deshalb können sie nur nach vorn leben. Wenn sie Angst vorm Fliegen hätten, würden sie nirgendwohin kommen.«

Ich setzte mich auf die niedrige Mauer, die den Garten umschloss. »Was willst du mir damit sagen?«

»Dass du nicht die Arme hängen lassen darfst. Nur schlechte Boxer lassen sich von der Gewalt des Kampfes abschrecken.«

Die Zärtlichkeit in seiner Stimme war von einem Hauch Traurigkeit durchzogen.

»Ich bin keine Boxerin.«

»Nein, aber du bist meine Enkelin. Mein Fleisch und Blut. Eine Kämpferin.«

Seine Worte wühlten mich auf, doch ich wollte nicht, dass er es merkte, und so beugte ich mich hinunter und pflückte einen Maiglöckchenstängel.

»Der Tod ist was für gewöhnliche Leute«, sagte er. »Und du bist außergewöhnlich.«

»Du überschätzt mich, Pépé. Der Neurologe sieht die Dinge nicht so poetisch wie du.«

Streng deutete er mit dem Finger auf mich. »Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass du dich vor mir aus dem Staub machen kannst, oder? Denn wenn du vorhast, in den nächsten Tagen zu sterben, sag mir bitte Bescheid, damit ich mich vorher schon mal da oben umsehen kann.«

»Verstanden, Chef.« Obwohl ich einen Kloß im Hals hatte, bemühte ich mich um einen scherzhaften Ton, denn ich traute es ihm durchaus zu, dass er seine Drohung wahrmachte.

Er lächelte leise und fuhr sich mit der Hand durch das weiße Haar.

»Bleibst du über Nacht hier?«

5

Am nächsten Tag musterte ich mich eingehend vor dem Spiegel, um zu sehen, ob sich irgendetwas verändert hatte. Innerlich war ich wie erstarrt, und ich fragte mich, ob die Tatsache, dass ein Damoklesschwert über mir schwebte, mich vorzeitig altern ließ, aber mein eher rundliches Gesicht sah genauso aus wie immer. Die Knubbelnase, die roten Wangen, alles da. Meine haselnussbraunen Augen wirkten vielleicht etwas matter, und seit ein paar Tagen fiel es mir schwerer zu lächeln, aber nichts wies darauf hin, dass der Tod bereits um mich herumschlich. Im Gegenteil, meine widerspenstigen kastanienbraunen Haare schienen sich an diesem Morgen geradezu über mich lustig zu machen. Ihr kupfriger Glanz erschien mir so unpassend, dass ich kurz erwog, sie mir rabenschwarz zu färben. Aber es gab schon genug morbide Klischees, was meinen Beruf anging, da musste ich mich nicht auch noch wie Edward mit den Scherenhänden stylen.

Ich legte den Spiegel zur Seite und betrachtete den Raum, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Schon mit sechs Jahren hatte ich oft in diesem Zimmer mit den meerblauen Wänden geschlafen, das früher meinem Vater gehört hatte. Das Bett war immer noch dasselbe: ein altes Boot, das Pépé damals, als sein Sohn Seemann werden wollte, umgebaut und gestrichen hatte. Früher, wenn ich hier übernachtete, hatte sich Félix, der alte Labrador, immer neben mir auf den Bettvorleger gelegt, vermutlich, um aufzupassen, dass ich nachts nicht von einer Horde Piraten überfallen werde.

»Solange er da ist, kann dir nichts passieren«, hatte mir mein Großvater immer versichert.

Ich seufzte, als ich an diese entflohenen Kindheitsmomente dachte. Bevor ich zum Frühstück nach unten ging, warf ich einen verzweifelten Blick auf mein Handy. Adrien hatte nicht versucht, mich zu erreichen. Wahrscheinlich hatte er beschlossen zu warten, bis ich mich bei ihm meldete, und da, wo seine Anwesenheit zuvor gewärmt hatte, schmerzte mich jetzt seine Abwesenheit. Aber ich wollte nicht, dass er von dem, was ich durchmachte, in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Als ich in die Küche kam, war Pépé gerade dabei, sein Brot mit Butter zu bestreichen. Er hatte mir bereits eine dampfende Schale Nescafé hingestellt und sang leise ein Lied von Michel Polnareff, »Dans la maison vide«. Ich sagte, wie seltsam ich es fand, dass eine so schwungvolle Melodie einen so traurigen Text hatte.