Die Frauen von Greenwich - Lauren Weisberger - E-Book

Die Frauen von Greenwich E-Book

Lauren Weisberger

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Beschreibung

Der neue »Der Teufel trägt Prada«-Roman von Bestsellerautorin Lauren Weisberger

Ein köstlich-spritziger Lesespaß!
Für Emily Charlton sind Vorstadtidyllen das pure Grauen. Ihr Herz gehört New York, wo die Stylistin und Imageberaterin ihr Handwerk als Assistentin der Modepäpstin Miranda Priestly gelernt hat. Emilys Klienten sind die Stars des Film- und Musikgeschäfts, bis die Konkurrenz ihr die Aufträge wegschnappt. Nun sucht sie Trost bei ihrer Freundin Miriam in Greenwich, wo die Rasenflächen so perfekt manikürt sind wie die Fingernägel der gelangweilten Hausfrauen. Doch diese Welt der Schönheits-OPs, Fitnessclubs und zahllosen Cocktails ist härter als jedes Großstadtpflaster. Und mittendrin Emily, die nun auch noch den Ruf eines Supermodels wiederherstellen soll, das hier untergetaucht ist ...

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Buch

Für Emily Charlton sind Vorstadtidyllen das pure Grauen. Ihr Herz gehört New York, wo die Stylistin und Imageberaterin ihr Handwerk als Assistentin der Modepäpstin Miranda Priestley gelernt hat. Emilys Klienten sind die Stars des Film- und Musikgeschäfts, bis snapchattende Millennials ihr die Aufträge wegschnappen. Nun sucht sie Trost bei ihrer Freundin Miriam in Greenwich, wo die Rasenflächen so perfekt manikürt sind wie die Fingernägel der gelangweilten Hausfrauen. Doch diese Welt der Schönheits-OPs, Fitnessclubs und zahllosen Cocktails ist härter als jedes Großstadtpflaster. Und mittendrin Emily, die nun auch noch den Ruf eines Supermodels wiederherstellen soll, das hier untergetaucht ist …

Weitere Informationen zu Lauren Weisberger

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Lauren Weisberger

Die Frauen

von Greenwich

Roman

Aus dem Englischen

von Jeannette Bauroth

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »When Life Gives You Lululemons« bei Simon & Schuster, New York.

Die englische Ausgabe erschien unter dem Titel »The Wives« bei HarperCollinsPublishers Ltd, London.

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Deutsche Erstveröffentlichung März 2020

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Lauren Weisberger

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München,

nach einer Gestaltung von Simon & Schuster, New York

Umschlagillustration (Frau): Istock/Ralwel

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

AB • Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-19412-3V001

www.goldmann-verlag.de

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Für meine gesamte Familie, in Liebe

Teil 1

Kapitel 1

Schon wieder das Nazi-Outfit?

Emily

Emily zerbrach sich den Kopf. Es musste doch etwas geben, worüber sie sich beschweren konnte! Es war Silvester in Los Angeles, einer der nervigsten Abende des Jahres in der möglicherweise nervigsten Stadt der Welt. Warum fiel ihr also nichts ein?

Mit einem Skinny Martini in der Hand beobachtete sie von ihrer Liege aus, wie der wunderbare Körper ihres Ehemanns durchs Wasser schnitt wie eine bewegliche Kunstinstallation. Als Miles auftauchte, stützte er sich am Rand des beleuchteten Infinity Pools ab, in dem das türkisfarbene Wasser über die Seite hinweg geradewegs den Berg hinabzufließen schien. Hinter ihm funkelten meilenweit die Lichter aus dem Tal und ließen die Stadt verlockend, ja geradezu sexy wirken. Los Angeles strahlte eigentlich nur bei Nacht. Dann sah man nichts mehr von dem Smog und den Junkies und dem zermürbenden Verkehr. All das wurde durch die idyllische Aussicht auf den Nachthimmel und die stumm funkelnden Lichter ersetzt, als ob Gott selbst in die Hügel von Hollywood hinabgestiegen wäre und den perfekten Snapchat-Filter für seine am wenigsten geliebte Stadt auf Erden ausgewählt hätte.

Miles lächelte ihr zu, und sie winkte, doch als er ihr bedeutete, zu ihm ins Wasser zu kommen, schüttelte sie den Kopf. Rings um sie herum feierten die Menschen auf diese entschlossene Weise, die man nur an Silvester nach Mitternacht zu sehen bekam: Heute werden wir so viel Spaß haben wie noch nie zuvor, wir werden haarsträubende Dinge sagen und tun, wir lieben unser Leben und alle Menschen darin. Im riesigen Whirlpool saßen Dutzende Feiernde, alle mit einem Drink in der Hand, während andere Gäste sich am Rand niedergelassen hatten und damit zufrieden waren, ihre Füße ins Wasser zu halten und darauf zu warten, dass ein paar Zentimeter Platz frei wurden. Auf der Terrasse über dem Pool legte ein DJ einen Hip-Hop-Remix auf, und überall – auf der Veranda, im Pool, auf der Pool-Terrasse, auf dem Weg ins Haus und vice versa – bewegten sich die Leute glücklich zu seiner Playlist. Auf der Liege links neben Emily saß ein Mädchen, das nur ein Bikiniunterteil trug, rittlings auf einem Mann und massierte ihm die Schultern, während ihre Brüste frei herumschwangen. Sie arbeitete sich an seinem Rücken hinab und begann dann recht aggressiv, seine Pobacken zu kneten. Sie war vielleicht dreiundzwanzig, höchstens fünfundzwanzig, und obwohl ihr Körper alles andere als perfekt war – ihr Bauch war leicht gerundet und ihre Oberschenkel waren übermäßig kurvig –, gab es an ihren Armen keinen Winkespeck, und sie hatte keine Falten am Hals. Überhaupt nirgendwo Falten, nur jugendliche Haut. Anders als die kleinen Demütigungen an Emilys sechsunddreißigjährigem Körper: leichte Dehnungsstreifen an den Hüften, ein minimal absackendes Dekolleté, vereinzelte dunkle Haare entlang ihrer Bikinizone, die trotz Emilys regelmäßiger Wachsbehandlungen einfach so zu sprießen schienen. Sie war keine Schreckgestalt – sie war immer noch schlank und gebräunt, vielleicht sogar richtiggehend heiß in ihrem eleganten Zweiteiler von Eres –, aber es wurde mit jedem Jahr schwerer.

Eine unbekannte Nummer mit der Vorwahl 917 leuchtete auf ihrem Handydisplay auf.

»Emily? Hier spricht Helene. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber wir haben uns vor einigen Jahren bei der Met-Gala kennengelernt.«

Emily blickte gen Himmel, um sich zu erinnern. Obwohl ihr der Name bekannt vorkam, konnte sie ihn nicht zuordnen. Schweigen erfüllte die Luft.

»Ich bin die Managerin von Rizzo.«

Rizzo. Interessant. Er war der neue Bieber, der derzeit heißeste Popstar. Er war zu unsagbarem Ruhm gelangt, als er vor zwei Jahren mit sechzehn als jüngster Sänger aller Zeiten einen Grammy für das beste Album des Jahres gewonnen hatte. Helene war nach Hollywood gezogen, um dort bei einer Agentur zu arbeiten – ICM oder Endeavor, erinnerte Emily sich vage. Aber dass Helene jetzt Rizzo vertrat, war komplett an ihr vorbeigegangen.

»Natürlich erinnere ich mich. Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. Das konnte kein normaler Anruf sein.

»Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie um diese Uhrzeit anrufe«, erwiderte Helene. »Hier in New York ist es schon vier Uhr morgens, aber Sie halten sich vermutlich in L.A. auf. Es tut mir schrecklich leid, Sie zu stören …«

»Nein, das ist schon in Ordnung. Ich bin im Elternhaus von Gigi Hadid und nicht halb so betrunken, wie ich es eigentlich sein sollte. Was gibt’s?«

Vom Pool her ertönte ein Kreischen. Zwei Mädchen waren gemeinsam Hand in Hand hineingesprungen und spritzten jetzt Miles und seine Freunde nass. Emily verdrehte die Augen.

»Nun, äh …« Helene räusperte sich. »Das bleibt unter uns, richtig?«

»Natürlich.« Das klang vielversprechend.

»Ich weiß nicht genau, ob ich die Sache überhaupt selbst richtig verstanden habe, aber Riz ist heute Abend bei Seacrests Time-Square-Show aufgetreten, und alles hat problemlos geklappt. Anschließend wollte ich mich mit ein paar alten Collegefreunden treffen, und Rizzo machte sich auf den Weg zu einer Party im 1 OAK. Nüchtern, zumindest, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Zufrieden mit seinem Auftritt.«

»Okay …«

»Vor einer Minute hat mir allerdings ein Kollege, der im New Yorker Büro von ICM arbeitet und zufällig gerade im 1 OAK ist, ein Bild geschickt …«

»Und?«

»Und es sieht nicht gut aus.«

»Was ist los? Ist er bewusstlos? Liegt er in seinem eigenen Erbrochenen? Küsst er einen Kerl? Nimmt er Drogen? Befummelt er eine Minderjährige?«

Helene seufzte und sagte etwas, das jedoch von kreischendem Gelächter übertönt wurde. Im flachen Ende des Pools hatte sich ein Mädchen mit grellpinkfarbenen Haaren und in einem Stringbikini für einen improvisierten Hahnenkampf auf Miles’ Schultern gesetzt.

»Tut mir leid, können Sie das noch einmal wiederholen? Hier geht es gerade ein wenig chaotisch zu«, antwortete Emily und beobachtete, wie das winzige Stoffstück sogar noch enger zwischen die nackten Pobacken des Mädchens gezogen wurde, die auf den Schultern von Emilys Ehemann auflagen.

»Wie es aussieht, trägt er eine Nazi-Uniform.«

»Eine was?«

»Mit einer Hakenkreuzarmbinde und passendem Stirnband. Springerstiefeln. Das volle Programm.«

»Ach du lieber Himmel«, murmelte Emily, ohne nachzudenken.

»So schlimm?«

»Na ja, toll ist das nicht. Prinz Harry hat das vor einer Ewigkeit auch mal abgezogen, aber wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Ich will nicht lügen, Jungs oder Drogen wären mir lieber gewesen.«

Im Pool griff das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren auf Miles’ Schultern gerade auf ihrem Rücken nach der Schleife ihrer Bikiniträger, riss sie auf und begann, das Oberteil wie ein Lasso über ihrem Kopf zu schwingen.

»Das Wichtigste zuerst: Wer weiß davon?«, fragte Emily.

»Bisher wurde noch nichts online gepostet, aber das ist natürlich nur eine Frage der Zeit.«

»Nur, damit wir uns richtig verstehen: Sie rufen mich an, um mich zu engagieren, richtig?«, vergewisserte sich Emily.

»Ja. Auf jeden Fall.«

»Okay, dann schicken Sie Ihrem Kollegen eine Nachricht, dass er Rizzo auf die Herrentoilette schleppen und aus diesem Outfit rausholen soll. Mir egal, ob er anschließend in einem Tanga aus Goldlamé herumläuft, alles ist besser als diese Naziklamotten.«

»Darum habe ich mich schon gekümmert. Er hat Rizzo sein Hemd und seine Schuhe gegeben, die Armbinde konfisziert, ihm aber die Hose gelassen, die offenbar leuchtend rot ist. Es ist nicht perfekt, aber das Beste, was wir momentan tun können, zumal ich Rizzo selbst nicht erreiche. Aber garantiert postet bald jemand irgendwas.«

»Bestimmt, also hören Sie zu. Das hier ist unser Plan. Sie steigen jetzt in ein Taxi und holen ihn aus dem 1 OAK raus. Nehmen Sie ein Mädchen oder zwei mit, das wirkt besser, und dann bringen Sie ihn in seine Wohnung und sorgen dafür, dass er sie nicht verlässt. Setzen Sie sich vor seine verdammte Tür, wenn es sein muss. Kennen Sie seine Passwörter? Obwohl, vergessen Sie’s. Nehmen Sie ihm einfach das Handy weg. Werfen Sie es ins Klo. Wir müssen uns Zeit verschaffen, ohne dass er in der Zwischenzeit im Suff irgendeinen Tweet absetzt.«

»Okay. Wird erledigt.«

»Der nächste Flug von hier geht morgen früh um sechs. Ich fahre jetzt nach Hause, um zu packen, und dann zum Flughafen. Die Geschichte wird auf jeden Fall publik, wenn ich im Flieger sitze, wenn nicht sogar schon zuvor. Geben Sie auf keinen Fall eine Erklärung ab, hören Sie, auf keinen Fall! Lassen Sie ihn mit niemandem reden, nicht mal mit dem Lieferanten, der das Essen bringt. Absolute Informationssperre, verstehen Sie? Ganz egal, wie schlimm die Fotos sind oder wie entsetzt die Reaktionen, und vertrauen Sie mir, die werden entsetzt sein, ich will keine Reaktion von Ihrer Seite, bevor ich bei Ihnen bin, okay?«

»Danke, Emily. Ich bin Ihnen was schuldig.«

»Dann los!«, drängte Emily und verkniff es sich, laut auszusprechen, was sie eigentlich gerade dachte – dass die Rechnung für ihre Zeit, die Reisekosten und den Feiertagszuschlag Helene einen Herzinfarkt verpassen würde.

Sie nahm den letzten Schluck von ihrer Margarita, stellte sie auf dem Glastisch neben sich ab und stand auf. Dabei versuchte sie, das Paar auf der Nachbarliege zu ignorieren, das eventuell gerade tatsächlich Geschlechtsverkehr hatte.

»Miles? Schatz?«, rief Emily im höflichsten Ton, den sie zustande brachte.

Keine Antwort.

»Miles, mein Lieber? Kannst du ihre Schenkel mal dreißig Sekunden lang von deinen Ohren schieben? Ich muss weg.«

Zufrieden beobachtete sie, wie ihr Ehemann ohne Umschweife das Mädchen ins Wasser absenkte und zu ihr herübergeschwommen kam. »Du bist doch nicht sauer, oder? Sie ist doch nur ein naives Kind.«

Emily kniete sich hin. »Natürlich bin ich nicht sauer. Wenn du mich schon betrügen willst, dann such dir bitte jemanden, der um einiges schärfer ist als die da.« Sie nickte in Richtung des Mädchens, das nicht besonders begeistert davon schien, dass ihre Haare nass geworden waren. »Ich habe einen Anruf aus New York erhalten. Es geht um einen Notfall mit Rizzo. Ich fahre nach Hause, um zu packen, damit ich hoffentlich vor sechs am LAX sein kann. Ich rufe dich an, wenn ich gelandet bin, okay?«

Obwohl es keineswegs das erste Mal war, dass Emily mitten in irgendwas abberufen wurde – eine befreundete Chirurgin behauptete, Emily hätte schlimmere Bereitschaftszeiten als sie selbst –, wirkte Miles absolut schockiert.

»Aber es ist Silvester! Gibt es denn niemanden in New York, der sich darum kümmern kann?« Es war offensichtlich, dass er mit der Situation alles andere als glücklich war, und Emily verspürte einen Stich, bemühte sich aber um einen lockeren Ton.

»Tut mir leid, Schatz. Das hier kann ich nicht ablehnen. Bleib hier, amüsier dich. Aber nicht zu sehr …« Den letzten Satz hatte sie hinzugefügt, damit er sich besser fühlte. Sie machte sich nicht mal ansatzweise Sorgen, dass Miles etwas Dummes tun würde. Sie beugte sich vor und drückte ihm einen Kuss auf die nassen Lippen. »Ich ruf dich an«, versprach sie und wob sich einen Weg durch die Menge bis zur kreisrunden Einfahrt, wo einer der süßen Mitarbeiter vom Parkdienst ihr einen Wagen heranwinkte. Er hielt ihr die Tür auf, und sie schenkte ihm ein Lächeln und einen Zehndollarschein.

»Zwei Fahrtziele, bitte«, erklärte sie dem Fahrer. »Zuerst zum Santa Monica Boulevard, wo Sie auf mich warten werden, und dann zum Flughafen. Aber schnell.«

New York, ihre erste große und wahre Liebe, wartete.

Kapitel 2

Der gelebte Traum

Miriam

Sie hatte gerade erst die zweite Meile begonnen, und trotzdem überkam Miriam schon das Gefühl, gleich zu ersticken. Sie atmete hastig und unregelmäßig, doch egal, wie tief sie Luft einsog, es gelang ihr einfach nicht, ihren Puls zu senken. Zum tausendsten Mal während der vergangenen sechzehn Minuten überprüfte sie ihren Fitbit – wie konnten das nur erst sechzehn Minuten gewesen sein? – und machte sich kurz Sorgen, dass die angezeigte Herzfrequenz von 165 sie umbringen könnte. Was sie offiziell zur einzigen Frau in Greenwich, oder vielleicht sogar weltweit machen würde, die durch Joggen gestorben war. Und ganz ehrlich, eigentlich konnte man es kaum als Joggen bezeichnen, wenn man gerade mal eine lausige Meile innerhalb von sechzehn Minuten schaffte.

Aber sie hatte sich zum Joggen überwunden! Das war doch genau das, was all die Wellness-Blogger und Motivationsredner immer predigten, oder etwa nicht? Einfach machen! Wer anfängt, hat schon gewonnen! Erwarte keine Perfektion, einfach machen und gut! »Idioten«, murmelte sie und blies riesige Atemwolken in die eiskalte Januarluft. Sich am dritten Januar um sieben Uhr morgens zum Joggen zu motivieren, noch dazu an einem Sonntag, war mehr als einfach nur machen. Es war ein regelrechter Triumph.

»Morgen!«, rief eine Frau, während sie Miriam links überholte und damit das, was von ihrem Herzen übrig war, beinahe zum absoluten Stillstand brachte.

»Hi!«, rief Miriam dem Rücken der Frau hinterher, die wie eine schwarz gekleidete Gazelle wirkte: Sie hatte Leggings von Lululemons mit aufwendigen Netzeinsätzen an, die sowohl cool als auch extrem kälteanfällig wirkten. Dazu trug sie eine taillierte schwarze Daunenjacke, die an ihren nicht existierenden Hüften endete, schwarze Nike-Turnschuhe und eine Art technisch aussehende Mütze mit einem niedlichen Bommel. Ihre Beine schienen endlos, und ihr Po wirkte so fest, dass man vermutlich nicht mal eine Haarklemme darunter verstecken konnte. Ganz zu schweigen von einer Haarbürste, die Miriam einmal zu ihrem eigenen Entsetzen erfolgreich unter ihre linke Pobacke hatte klemmen können.

Miriam verlangsamte ihr Tempo bis auf Schrittgeschwindigkeit, doch bevor sie ihre Fassung wiedergewinnen konnte, kamen ihr auf der anderen Straßenseite zwei Frauen in gleichermaßen fabelhafter Trainingskleidung entgegen. Ein Golden Retriever zog glücklich an der Leine einer Frau in grellpinker Daunenjacke, während ein keuchender brauner Labrador neben einer Frau in Armeegrün hertrabte. Zusammen wirkten sie wie eine bewegliche Weihnachtskarte und waren in einem zügigen Tempo unterwegs.

»Gesundes neues Jahr!«, rief die Besitzerin des Golden Retrievers, als sie an Miriam vorbeisprinteten.

»Gleichfalls«, murmelte sie, erleichtert darüber, dass es sich bei ihnen nicht um Bekannte handelte. Wobei sie in den fünf Monaten, die sie jetzt hier wohnten, kaum andere Mütter kennengelernt hatte. Der Umzug war gerade rechtzeitig zum Beginn der Vorschule für die Zwillinge und der zweiten Klasse für Benjamin in der neuen öffentlichen Schule erfolgt. Bis auf eine kurze Begrüßung einiger anderer Moms beim täglichen Bringen und Abholen an der Schule hatte sie noch nicht viel Gelegenheit gehabt, sich mit anderen Frauen auszutauschen. Paul behauptete, dass das in allen reichen Vororten so war – die Menschen verkrochen sich in ihren großen Häusern, wo sie im Ober- oder Untergeschoss alles hatten, was sie brauchten: ihre Fitnessräume, ihre Filmräume, ihre Weinkeller und Probiertische. Da die Nannys mit den Kindern spielten, mussten die sich nicht mit anderen Kindern zum Spielen treffen. Die Einkäufe wurden von den Haushälterinnen erledigt. Angestellte, Angestellte und noch mehr Angestellte kümmerten sich um alles, angefangen vom Rasenmähen bis hin zum Poolreinigen oder dem Auswechseln der Glühbirnen.

Der berauschende Geruch von brennendem Holz begrüßte Miriam, sobald sie ihr Haus durch den Hintereingang betrat, und ein schneller Blick ins Wohnzimmer bestätigte, dass ihr Ehemann ihr Bedürfnis vorhergesehen hatte, am Kamin zu sitzen. Das gehörte zu den Dingen, die sie bisher am Vorstadtleben am meisten liebte: Kaminfeuer am Morgen. Sie machten ansonsten düstere Vormittage sofort gemütlich und ließen die Wangen ihrer Kinder noch rosiger strahlen als sonst.

»Mommy ist zu Hause!« Matthew, fünf Jahre alt und besessen von Waffen aller Art, verkündete das von der Sofalehne aus, auf der er im Schlafanzug balancierte und dabei ein realistisch aussehendes Schwert schwang.

»Mommy! Matthew gibt mir das Schwert nicht, dabei wollten wir uns abwechseln!«, beschwerte sich seine Zwillingsschwester Maisie lauthals von ihrer Position unter dem Küchentisch aus, was ihr Lieblingsort zum Schmollen war.

»Mom, gibst du mir dein Passwort, damit ich Hellion kaufen kann?«, fragte Benjamin, ohne von Miriams iPad aufzublicken, das er sich einfach genommen hatte.

»Nein«, erwiderte sie. »Wer hat dir denn jetzt Elektronikzeit erlaubt? Leg das iPad weg, jetzt ist Familienzeit.«

»Wie wär’s mit deinem Fingerabdruck? Bitte? Jameson sagt, es ist das coolste Spiel aller Zeiten. Warum darf er es haben und ich nicht?«

»Weil seine Mommy netter ist als ich«, antwortete sie und schaffte es, ihrem Sohn einen Kuss auf die Haare zu geben, bevor er ihr auswich.

Paul stand in einer Flanellschlafanzughose und einem Fleecepulli am Herd und wendete Pancakes in der Pfanne. »Ich bin echt beeindruckt«, sagte er. »Keine Ahnung, wie du dich heute Morgen dazu motivieren konntest.« Miriam stellte wieder einmal fest, wie gut aussehend er war, trotz der vorzeitig ergrauten Haare. Er war nur drei Jahre älter als sie, aber man hätte ihn leicht für mindestens ein Jahrzehnt älter halten können.

Miriam griff nach ihrer Taille und bekam zwei Hände voll Speck zu fassen. »Damit.«

Paul legte den letzten Pancake zu dem guten Dutzend anderer auf einen Teller und schaltete den Herd aus. Dann kam er herüber und umarmte sie. »So wie du bist, bist du perfekt«, versicherte er ihr automatisch. »Hier, iss einen.«

»Auf keinen Fall. Ich quäle mich doch nicht durch zwanzig höllische Minuten, um das alles mit einem Pancake wieder zunichtezumachen.«

»Sind sie fertig, Daddy? Ja? Ja?«

»Können wir Schlagsahne dazu essen?«

»Und Eis?«

»Ich will keine von denen mit Blaubeeren!«

Blitzschnell hatten sich alle drei Kinder an den Tisch gesetzt, wo sie vor Begeisterung beinahe Schnappatmung bekamen. Miriam versuchte, das Chaos zu ignorieren und sich darauf zu konzentrieren, wie sehr sich die Kinder freuten und wie nett ihr Mann drauf war. Aber das fiel gar nicht so leicht, wenn die Arbeitsplatte überall mit Mehl bedeckt war, Teigspritzer an den Fliesen hinter der Herdplatte klebten und auf dem Fußboden heruntergefallene Schokoladenstückchen und Blaubeeren lagen.

»Möchte jemand Obstsalat oder Joghurt?«, fragte sie und holte beides aus dem Kühlschrank.

»Ich nicht!«, riefen alle mit vollem Mund.

Ja, ich auch nicht, dachte Miriam, während sie sich ein wenig in eine Schüssel füllte. Sie steckte sich einen Löffel voll in den Mund und hätte ihn beinahe wieder ausgespuckt. Der Joghurt war ganz offensichtlich schlecht geworden, und nicht mal die süßen Erdbeeren konnten den ranzigen Geschmack überdecken. Sie kratzte den gesamten Inhalt der Schüssel in den Mülleimer und überlegte, ob sie sich ein paar Eier kochen sollte. Stattdessen knabberte sie an diesen ballaststoffreichen Kräckern, die wie Pappe schmeckten, doch nach zwei Bissen brachte sie das nicht mehr über sich.

»Gönn dir was«, murmelte sie, nahm sich einen Pancake mit Schokoladenstückchen vom Stapel und schob ihn sich in den Mund.

»Sind die nicht gut, Mommy? Möchtest du auch Schlagsahne dazu?«, fragte Benjamin und schwenkte den Behälter herum wie eine Trophäe.

»Ja bitte«, sagte sie und hielt ihm den Rest ihres Pancakes hin, damit er ihn besprühen konnte. Ach, egal. Schließlich lebte sie ihrer Tochter gerade vor, dass Essen kein Feind war. Alles in Maßen. In diesem Haus gab es keine Essstörungen. Sie hatte gerade eine Kapsel in die Kaffeemaschine eingelegt, als sie Paul »Ach du Scheiße« murmeln hörte.

»Daddy! So was sagt man nicht!«, ermahnte ihn Maisie und klang dabei genau wie Miriam.

»Daddy hat ein schlimmes Wort gesagt! Daddy hat ›Scheiße‹ gesagt!«

»Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte er, das Gesicht hinter der Zeitung versteckt, die Miriam auf den Tisch gelegt hatte. »Miriam, komm her und sieh dir das an.«

»Gleich. Willst du auch einen Kaffee?«

»Nein, komm bitte jetzt gleich.«

»Was ist denn los, Daddy? Was steht denn in der Zeitung?«

»Hier hast du noch einen Pancake«, antwortete Paul Maisie und reichte die Zeitung weiter an Miriam.

Unterhalb des Knicks, aber immer noch auf der Titelseite prangte die Schlagzeile: WEHE, WENN SIE LOSGELASSEN! FRAU DES SENATORS BETRUNKEN BEIM AUTOFAHREN ERWISCHT … MIT KINDERN IM AUTO!

»Heilige Scheiße.«

»Mommy! Du hast ›Scheiße‹ gesagt!«

»Daddy, jetzt hat Mommy ein schlimmes Wort gesagt!«

»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, sang Matthew vor sich hin.

»Wer möchte einen Film gucken?«, fragte Paul. »Benjamin, geh runter in den Keller und mach euch BossBaby an.« Wieder begann ein hektisches Stühlerücken, als die Kinder Richtung Treppe davonliefen, und Sekunden darauf legte sich wohltuende Stille über den Raum.

»Das kann nicht stimmen«, meinte Miriam und studierte das Polizeifoto ihrer alten Highschoolfreundin. Sie hatten sich in ihrem letzten Highschooljahr an der Amerikanischen Schule in Paris kennengelernt. Karolina war dort gewesen, um zu modeln und nebenbei Englisch zu lernen, und Miriams Eltern waren wegen einer Anstellung mit ihr dorthin gezogen. »So etwas würde Karolina niemals tun.«

»Aber hier steht es schwarz auf weiß. Sie hat den Alkoholtest bei der Polizeikontrolle nicht bestanden. Auf dem Rücksitz lagen leere Flaschen. Sie hat sich geweigert, in den Promilletester zu pusten. Außerdem hatte sie fünf Kinder im Auto bei sich, darunter ihr eigenes.«

»Das kann auf keinen Fall stimmen«, beharrte Miriam und überflog den Artikel. »Die Karolina, die ich kenne, macht so etwas nicht.«

»Wie lange ist es her, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt? Vielleicht hat sie sich verändert. Das Leben im Scheinwerferlicht, das die beiden jetzt führen, ist vermutlich nicht einfach.«

»Sie war zehn Jahre lang das Aushängeschild für L’Oréal! Der Megastar unter den Supermodels! Ich glaube kaum, dass sie Probleme mit dem Leben im Rampenlicht hat.«

»Ja, aber das Leben als Ehefrau eines Senators ist eine ganz andere Geschichte. Erst recht, wenn besagter Senator als Präsident kandidieren will. Da ist sie der Öffentlichkeit auf eine völlig andere Art und Weise ausgeliefert.«

»Kann sein, keine Ahnung. Weißt du was, ich rufe sie einfach an. Das kann nicht wahr sein.«

»Ihr habt seit Monaten nichts voneinander gehört.« Paul trank einen Schluck von seinem Kaffee.

»Was spielt denn das für eine Rolle!« Miriam bemerkte, dass sie laut geworden war, und senkte die Stimme. »Wir kennen uns seit unserer Teenagerzeit.«

Paul hob beschwichtigend die Hände. »Grüß sie von mir, okay? Ich schau mal nach den kleinen Monstern.«

Es klingelte fünf Mal auf Karolinas Handy, bevor der Anruf auf die Mailbox umgeleitet wurde. »Hi. Dies ist die Nummer von Karolina. Ich kann Ihren Anruf derzeit leider nicht entgegennehmen, aber wenn Sie mir eine Nachricht hinterlassen, rufe ich Sie schnellstmöglich zurück. Danke!«

»Lina? Ich bin’s, Miriam. Ich habe diesen grässlichen Artikel gesehen und wollte mit dir sprechen. Ich glaube keine Sekunde lang, was da in der Zeitung steht, und das gilt auch für alle anderen, die dich kennen. Ruf mich zurück, sobald du diese Nachricht abhörst, okay? Pass gut auf dich auf, meine Liebe. Mach’s gut.«

Miriam drückte auf die rote Taste und starrte dann aufs Display, als könnte sie Karolinas Anruf telepathisch herbeizaubern. Doch dann hörte sie einen Schrei aus dem Keller – einen echten Schmerzensschrei – keinen Ich-hasse-meine-Geschwister-Schrei oder einen Ich-bin-jetzt-dran-Schrei –, daher holte sie tief Luft und stand auf, um nachzusehen.

Das Jahr war noch nicht mal zweiundsiebzig Stunden alt, und schon deutete sich an, dass es ein Loser-Jahr werden würde. Auf dem Weg zum Keller schnappte sie sich einen inzwischen kalten Pancake vom Teller: 2018 konnte sich seine Neujahrsvorsätze sonst wohin stecken.

Kapitel 3

Wie eine gewöhnliche Kriminelle

Karolina

»Hey, Siri! Spiel ›Yeah‹ von Usher!«, rief Harry vom Rücksitz des SUVs. Die Jungs jubelten, als Siri bestätigte: »Okay, ich spiele ›Yeah‹ von Usher«, und die Bässe durch die Lautsprecher zu dröhnen begannen.

Karolina lächelte. Sie hätte niemals gedacht, dass eine Autofahrt mit zwölfjährigen Jungen so viel Spaß machen konnte. Sie waren laut und rauflustig und ja, manchmal rochen sie nicht allzu gut. Aber Harrys Freunde waren auch lieb und fröhlich und gaben sich Mühe, sich ordentlich zu benehmen, zumindest wenn sie dabei war. Es waren gute Jungs aus guten Familien, und sie war wieder mal sehr dankbar für den Umzug, der sie aus New York, der Stadt der gesellschaftlichen Tretminen, nach Bethesda gebracht hatte, wo alles ein wenig lockerer zu sein schien.

Mein Goldjunge, dachte Karolina zum tausendsten Mal, während sie im Rückspiegel einen Blick auf Harry warf. Von Tag zu Tag sah er mehr wie ein Teenager aus: Seine Schultern wurden breiter, über der Lippe spross ein dunkler Flaum, und auf den Wangen zeigten sich vereinzelt Pickel. Aber genauso oft wirkte er noch wie ein kleiner Junge; man wusste nie, ob er gleich mit Lego spielen oder seinen Freunden Handy-Nachrichten schicken würde. Harry war kontaktfreudig und selbstbewusst wie sein Vater, aber er hatte auch eine weichere, sensiblere Seite. Ungefähr zur Zeit ihres Umzugs hatte er begonnen, Graham ungewöhnlich viele Fragen nach seiner verstorbenen Mutter zu stellen: wo sie und Graham sich kennengelernt hatten, welche Bücher sie gern gelesen hatte, wie es ihr während der Schwangerschaft ergangen war. Und immer hatte Graham ihn vertröstet und ihm versprochen, ihm später mehr über seine Mutter zu erzählen. Später, wenn er den Bericht zu Ende gelesen hätte. Später, am Wochenende, wenn sie mehr Freizeit hätten. Später, während ihres Skiurlaubs, weil seine Mutter so gern Ski gefahren sei. Später, später, später. Karolina wusste nicht genau, ob Graham seinen Sohn vertröstete, weil er faul war oder weil das Thema tatsächlich zu schmerzlich für ihn war; aber sie wusste, dass Harry Antworten brauchte. Es dauerte fast drei Tage, während Graham arbeitete und Harry in der Schule war, bis sie alle Fotos, Briefe und Zeitungsausschnitte zusammengesucht hatte, die sie finden konnte, doch als sie Harry die Schachtel mit den Erinnerungen an seine Mom übergab, belohnten seine Erleichterung und seine Freude jede Minute davon. Als sie ihm versicherte, dass seine Mom immer seine Mom bleiben würde und dass es absolut in Ordnung war, sich an sie zu erinnern und über sie zu sprechen, war Karolinas großer, starker Fast-Teenager in ihren Armen zusammengebrochen wie ein Kindergartenkind, das nach seinem ersten Tag woanders nach Hause zurückkehrt.

»Wisst ihr was?«, meldete sich Nicholas, ein schlaksiger Lacrosse-Spieler mit zotteligen blonden Haaren, von seinem Sitz in der dritten Reihe aus zu Wort. »Mein Dad hat uns Karten für das Spiel der Skins gegen die Eagles am nächsten Wochenende besorgt. Es ist das erste Play-off-Spiel. Wer kommt mit?«

Die Jungs johlten.

»Hey, Mom, meinst du, Dad geht mit mir dorthin?«, fragte Harry.

»Mein Dad hat gesagt, die Karten waren nicht besonders teuer«, versicherte ihm Nicholas.

Karolina zwang sich zu einem Lächeln, obwohl die Jungs sie auf dem Fahrersitz nicht sehen konnten. »Das macht er bestimmt gern«, log sie und warf einen verstohlenen Blick auf Harry, um zu sehen, ob er ihrem Ton etwas angemerkt hatte. Obwohl Harry sich sehr für American Football interessierte, ganz besonders für die Redskins, und Graham als US-Senator für jeden beliebigen Platz im Stadion Eintrittskarten bekommen konnte, hatten Vater und Sohn bisher noch nie gemeinsam ein Spiel besucht. Jedes Jahr versprach Graham Karolina und Harry, dass sie in der Loge des Eigentümers sitzen, zu einem wichtigen Auswärtsspiel fliegen oder Harrys Freunde einladen würden, um mit ihnen an der Fünfzig-Yard-Linie zu sitzen, und jedes Jahr verging eine weitere Spielzeit ohne einen Stadionbesuch der Hartwell-Männer. Harry war bisher bei genau einem Spiel gewesen, und zwar vor zwei Jahren, als Karolina aus Mitleid mit ihm Karten bei StubHub gekauft hatte. Er war begeistert gewesen und hatte sich beim Anfeuern die Seele aus dem Leib gebrüllt, von Kopf bis Fuß in Fankleidung gehüllt, aber sie wusste, dass er lieber mit Graham zu dem Spiel gegangen wäre: Karolina hatte aus Unwissenheit Tickets für die Seite der Gegenmannschaft gekauft, und sie konnte nicht wirklich folgen, wer im Ballbesitz war, und egal, wie sehr sie sich bemühte, am Ende jubelte sie immer an der falschen Stelle.

»Mom! Hey, Mom!«, unterbrach Harry ihre Gedanken. »Hinter uns ist Polizei – mit eingeschaltetem Blaulicht.«

»Hmhm?«, murmelte Karolina mehr zu sich selbst. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und sah zwei Polizeifahrzeuge so dicht hinter sich, dass sie beinahe die Stoßstange des SUVs berührten. »Du lieber Himmel, da scheint ja was Wichtiges los zu sein. Okay, okay, einen Moment, ich fahre rechts ran«, sagte sie laut.

Sie war dankbar, dass Harry bei ihr im Wagen saß, denn sie wurde immer nervös, wenn sie ein Einsatzfahrzeug in ihrer Nachbarschaft entdeckte. Selbst wenn ihr Haus brennen würde – solange Harry in ihrer Sichtweite und in Sicherheit war, käme sie mit allem zurecht. Sie schaltete den Blinker ein und steuerte das schwerfällige Fahrzeug so würdevoll wie möglich an den Straßenrand, während sie in Gedanken eine Entschuldigung an die Crains schickte, die fünf Häuser von ihnen entfernt wohnten und denen der wunderschöne Rasen gehörte, den sie vermutlich gerade mit ihren Reifenspuren ruinierte. Allerdings rasten die Polizeifahrzeuge nicht links an ihr vorbei wie erwartet, sondern fuhren ebenfalls rechts ran und hielten direkt hinter ihr.

»Oh Mrs Hartwell, jetzt haben die Cops Sie erwischt!«, rief Harrys Freund Stefan, und die Jungs lachten. Karolina lachte ebenfalls.

»Ach, ihr kennt mich doch«, spielte Karolina mit. »Zwanzig Meilen pro Stunde in einem Wohngebiet. Ich muss verrückt geworden sein.« Sie beobachtete im Rückspiegel, wie die Polizisten neben ihrem Nummernschild stehen blieben und etwas in ein iPad-ähnliches Gerät tippten. Gut, dachte sie. Dann würden sie gleich die Regierungsnummernschilder finden, die sich an allen ihren drei Autos befanden, und der Spuk wäre vorbei.

Aber die beiden Polizisten, die zu ihr ans Fenster traten, lachten nicht. »Ma’am? Ist das Ihr Fahrzeug?«, fragte die Polizistin, während ihr Kollege hinter ihr stehen blieb und zusah.

»Ja, natürlich«, antwortete Karolina und fragte sich, warum man ihr so eine alberne Frage stellte. Schließlich fuhr sie das Auto doch. »Officer, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass ich zu schnell unterwegs gewesen sein soll. Wir haben buchstäblich gerade erst die Einfahrt verlassen. Sehen Sie? Wir wohnen dort drüben. Ich fahre nur rasch die Freunde meines Sohnes …«

Die Polizistin blieb unbeirrt. »Den Führerschein und Ihre Fahrzeugpapiere, bitte.«

Karolina blickte der Frau ins Gesicht. Ganz offensichtlich war das kein Scherz. Sorgfältig nahm Karolina ihren Führerschein aus der Brieftasche und stellte erleichtert fest, dass sich die Fahrzeugpapiere vorbildlich im Handschuhfach befanden. »Ich bin … äh, wie Sie vermutlich an meinem Namen auf dem Führerschein erkennen können, mit Senator Hartwell verheiratet«, erklärte Karolina und schenkte der Polizistin ihr schönstes Lächeln. Normalerweise hielt sie nichts davon, mit Prominamen um sich zu werfen, aber normalerweise wurde sie auch nicht von wütend aussehenden Cops angehalten.

Der männliche Polizist zog die Brauen zusammen. »Ma’am, haben Sie getrunken?«

Karolina nahm unterbewusst wahr, dass die Jungs bei der Frage still wurden, und ihre Gedanken wanderten eine Stunde zurück, als sie eine Flasche von Grahams sündhaft teurem Cabernet geöffnet hatte, den er in letzter Zeit kistenweise kaufte. Harry und seine Freunde hatten Pizzen vertilgt, und natürlich hatte sie gewusst, dass sie alle kurz darauf nach Hause fahren würde, daher hatte sie nur ein halbes Glas getrunken. Wenn überhaupt. Eigentlich hatte sie den Wein nicht mal trinken wollen, aber es war irgendwie befriedigend gewesen, die Flasche in dem Wissen zu öffnen, dass der Wein schlecht werden würde, bevor Graham nach Hause kam, von wo auch immer er diese Woche weilte. Falls er überhaupt verreist war.

Sie setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf und probierte es mit direktem Augenkontakt: »Officers, ich habe Kinder im Auto. Ich versichere Ihnen, dass ich nichts getrunken habe. Ich glaube auch nicht, dass ich zu schnell gefahren bin, aber möglich wäre es natürlich. Falls es so war, tut es mir leid.«

Bei der Erwähnung der Kinder nahm der Polizist seine Taschenlampe hoch, schaltete sie ein und ging dann um das Auto herum. Es schien ihn nicht zu interessieren, dass er die Jungs damit blendete. Karolina sah, wie sie alle die Augen zusammenkniffen.

»Mom, was ist denn los?«, wollte Harry wissen. Er klang nervös.

»Nichts, Schatz. Ich bin sicher, es handelt sich lediglich um ein Missverständnis. Wir lassen sie einfach tun, was sie tun müssen.«

In diesem Moment rief der Polizist nach seiner Kollegin und deutete mit der Taschenlampe auf etwas. Sie tauschten einen Blick. Karolina spürte ihr Herz stolpern, obwohl es nicht den geringsten Grund für sie gab, nervös zu sein.

»Mrs Hartwell, bitte verlassen Sie das Auto. Langsam«, befahl die Polizistin.

»Wie bitte?«, erkundigte sich Karolina. »Warum um alles in der Welt sollte ich aussteigen? Ich habe ja nicht mal eine Jacke an …«

»Sofort!«, brüllte der Polizist, und damit wurde unmissverständlich klar, dass es sich hier nicht um eine routinemäßige Verkehrskontrolle handelte.

Karolina sprang so schnell aus dem Wagen, dass sie nicht mal das Trittbrett benutzte. Als Folge davon verdrehte sie sich den Knöchel und musste sich an der Tür festhalten, um nicht umzuknicken.

Erneut tauschten die Polizisten einen Blick.

»Mrs Hartwell, wir haben rücksichtsloses Fahren bei Ihnen festgestellt und leere Alkoholflaschen auf dem Rücksitz Ihres Wagens gefunden. Nehmen Sie die Arme seitlich herunter und gehen Sie in der Straßenmitte ungefähr sechs Meter geradeaus. Am Ende der Straße stehen Polizisten, es wird Ihnen also kein Fahrzeug entgegenkommen.«

»Was? Was haben Sie in meinem Auto gefunden? Das muss ein Irrtum sein«, widersprach Karolina und versuchte, nicht zu zittern. »Mein Mann wird fuchsteufelswild werden, wenn er das hier erfährt.«

Die Polizistin deutete auf die regennasse Straße, in der Karolina wohnte, damit sie zu gehen begann. Ohne nachzudenken, schlang sich Karolina die Arme um die Brust, um sich in ihrer viel zu dünnen Seidenbluse warm zu halten, und ging selbstbewusst auf ihr Haus zu. Wenn es etwas gab, das Karolina besser konnte als jeder andere, dann war es, einen Laufsteg entlangzuflanieren. Was sie jedoch nicht erwartet hatte, waren die Gesichter ihrer Nachbarn, die in geöffneten Haustüren und hinter den Vorhängen erschienen. In ihren Mienen spiegelte sich die Erkenntnis, wer hier mitten auf ihrer wunderschönen, stillen Straße einen Alkoholtest absolvierte wie eine gewöhnliche Kriminelle.

Ist das Mrs Lowell?, wunderte sich Karolina, als sie eine ältere Frau hinter einem steifen Leinenvorhang hervorspähen sah. Ich wusste gar nicht, dass sie zu Besuch ist. Kaum zu fassen, dass sie mich jetzt so sieht. Karolina merkte, wie ihr trotz der Kälte Hitze in die Wangen stieg, und irgendwie musste sie das kleine Schlagloch vor sich übersehen haben, denn bevor sie sichs versah, stolperte sie und stürzte beinahe hin.

»Haben Sie das gesehen?«, fragte sie die Polizisten, die sie genau beobachteten. »Wir beschweren uns schon seit Ewigkeiten bei der Stadt darüber, dass diese Straße unbedingt repariert werden muss.«

Die beiden warfen sich wieder diesen bedeutsamen Blick zu. Ohne ein Wort mit seiner Partnerin zu wechseln, trat der Polizist an Karolina heran. »Ma’am, ich verhafte Sie wegen des Verdachts auf Trunkenheit am Steuer. Sie haben das Recht zu …«

»Was, wie bitte?«, kreischte Karolina, bevor sie bemerkte, dass Harry den Kopf zum Fenster des SUVs herausgestreckt hatte und das Ganze aufmerksam beobachtete. »Ich bin verhaftet?«

»… zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor einem Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf …«

Die Worte waren ihr natürlich vertraut. Zusammen mit Graham hatte sie sich viele Krimiserien angesehen, und in ihren Singlezeiten hatten sie ganze Marathons mit Law & Order eingelegt – aber wer hätte gedacht, dass dieser Text auch im echten Leben aufgesagt wurde? Passierte das hier gerade wirklich? Es kam ihr so unwirklich vor: In der einen Sekunde war sie nichts weiter als eine Mom, die die Freunde ihres Sohnes nach Hause fuhr, und in der nächsten wurde sie auf den Rücksitz eines Polizeiautos geschoben.

»Entschuldigung, warten Sie! Sir! Hören Sie, ich kann doch nicht einfach die Kinder hier im Auto zurücklassen!«, rief Karolina, als die Tür zugeknallt wurde. Sie befand sich allein auf dem Rücksitz, komplett abgeschnitten von der Welt durch eine dicke Scheibe kugelsicheres Glas.

Durch eine Art Lautsprecher drang die Stimme des Polizisten: »Officer Williams wird sich um Ihren Sohn und seine Freunde kümmern und dafür sorgen, dass alle sicher nach Hause kommen. Ich nehme Sie jetzt mit aufs Revier.«

Der Motor wurde angelassen und damit auch die Sirene. Karolina konnte Harry nicht hören, aber sie sah, dass er »Mom!« brüllte und sich angestrengt bemühte, nicht zu weinen. Sie legte die Hand ans Fenster und formte mit den Lippen die Worte: »Keine Angst, alles wird gut«, obwohl sie wusste, dass er das nicht sehen konnte. Die jaulende Sirene schnitt durch die stille Nacht, und das Polizeiauto entfernte sich von Karolinas Sohn.

»Was fällt Ihnen ein!«, brüllte Karolina den Officer an, bevor ihr die blinkende Kamera in der Ecke über dem Fenster auffiel, doch er sah nicht mal auf. Noch nie hatte sich Karolina so hilflos gefühlt. So vollkommen allein.

Erst beinahe zwei Stunden nach ihrer Verhaftung wurde Karolina ein Anruf gestattet. War das überhaupt legal?, fragte sie sich und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Wenigstens war die Polizistin in ihrer Zelle vorbeigekommen, um ihr zu sagen, dass Harry und seine Freunde alle zu Hause waren. Die Eltern der Jungs waren aufs Revier gekommen, um ihre Söhne abzuholen, und als niemand Graham finden konnte, hatte Harry vorgeschlagen, seine Großmutter Elaine anzurufen, die Harry mit zu sich nach Hause genommen hatte. Karolina war erleichtert, dass Harry sich in Sicherheit befand, aber es graute ihr davor, ihn bei ihrer Schwiegermutter abholen zu müssen.

»Mein Mann geht nicht ans Telefon«, erklärte sie dem Polizisten, der ihren Anruf überwachte.

Er hockte an einem Schreibtisch und erledigte Papierkram. Ohne aufzusehen, zuckte er mit den Schultern. »Versuchen Sie es bei jemand anderem.«

»Es ist beinahe Mitternacht«, erinnerte ihn Karolina. »Wen soll ich denn anrufen, damit er mich mitten in der Nacht vom Polizeirevier abholt?«

Damit hatte sie die Aufmerksamkeit des Polizisten geweckt. »Abholen? Nein, tut mir leid, Mrs Hartwell. Sie bleiben heute über Nacht hier.«

»Das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein!« Sie war sich beinahe sicher, dass er Witze machte.

»Strikte Anordnung von oben. Alle Fahrer unter Alkoholeinfluss müssen mindestens fünf Stunden lang ausnüchtern, bevor wir sie auf freien Fuß setzen. Und wir lassen Häftlinge ausschließlich zwischen sieben Uhr morgens und Mitternacht frei, daher haben Sie wohl Pech.«

»Wirke ich auf Sie betrunken?«, fragte Karolina ihn.

Der Officer sah auf. Er wirkte kaum alt genug, um Bier kaufen zu dürfen, und dass ihm Röte den Hals entlangkroch, machte es nicht besser. »Tut mir leid, Ma’am. So lauten die Vorschriften.«

Karolina wählte die einzige Nummer, die sie auswendig kannte. Trip, der Anwalt ihrer Familie und Grahams bester Freund, ging beim ersten Klingeln ran.

»Lina? Was hast du gesagt, von wo aus rufst du an?«, fragte er schlaftrunken.

»Du hast schon richtig gehört, Trip. Aus der Ausnüchterungszelle im Bethesda County Jail. Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe, aber ich war mir sicher, du verstehst das. Ich habe es bei Graham versucht, aber der ist nirgendwo aufzutreiben. Was mich nicht überrascht.«

Trip und Graham waren Zimmergenossen in Harvard und Trauzeugen bei der Hochzeit des jeweils anderen gewesen. Außerdem waren sie gegenseitig Paten ihrer Kinder. Trip war für Karolina immer beinahe so etwas wie eine Erweiterung von Graham gewesen, ein zusätzliches Paar Augen und Ohren, ein akzeptabler Ersatz, eine Bruderfigur. Normalerweise hatten sie ein warmherziges Verhältnis zueinander. Doch an diesem Abend versuchte sie nicht einmal, ihren Unmut darüber zu verbergen, dass sie mit Trip sprach und nicht mit Graham.

»Kannst du mich bitte aus diesem Drecksloch holen?«, flüsterte sie ins Telefon. »Sie haben gesagt, dass ich erst morgen früh freigelassen werde, aber das kann unmöglich sein.«

»Ich rufe ein paar Leute an und kläre das«, versprach Trip mit beruhigendem Selbstbewusstsein.

»Beeil dich bitte.«

Doch entweder beeilte er sich nicht, oder er konnte nichts tun, denn Karolina sprach erst wieder mit Trip, als er um sieben Uhr am nächsten Morgen erschien, um ihre Kaution zu hinterlegen. Ohne Graham.

Trip erkannte sofort, was sich in ihrer Miene spiegelte. »Graham wollte natürlich mitkommen. Ich war derjenige, der ihm davon abgeraten hat.«

Karolina setzte sich auf einen der Plastikstühle neben Trip. Ihr ganzer Körper schmerzte von der Liege in der Arrestzelle, die weniger Zelle war als eine Art nicht mehr zeitgemäßes Boardinggate auf einem alten Flughafen.

»Ich bin nicht blöd, Trip. Ich verstehe sehr gut, dass es nicht besonders gut aussieht, wenn ein Senator ins Gefängnis geht, um seine Frau gegen Kaution abzuholen. Aber du nimmst mir ja wohl nicht übel, dass ich mir wünsche, er hätte es trotzdem getan«, sagte Karolina und bemühte sich, die Tränen zurückzuhalten. »Kannst du mir verraten, was zum Teufel hier los ist?«

Trips Handy meldete sich zu Wort, doch er stellte den Ton aus, ohne auch nur einen Blick auf das Display zu werfen. »Ich will ehrlich zu dir sein, Lina. Das Ganze ist ein absoluter Albtraum.«

»Glaubst du, das wüsste ich nicht? Ich bin schließlich diejenige, die letzte Nacht im Gefängnis geschlafen hat. Im Gefängnis. Und wo ist mein Ehemann, verdammt noch mal?«

Trip zog die Brauen zusammen und räusperte sich. »Lina, es ist nicht …«

Karolina hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. »Nicht. Zuerst will ich wissen, wo Harry ist. Wer bringt ihn zur Schule?«

Wieder ein Räuspern. Beinahe fühlte sich Karolina schuldig, weil sie ihre Wut auf Graham an Trip ausließ. Beinahe. Er wirkte so elend. »Harry hat bei Elaine übernachtet.«

»Er ist immer noch dort?«

»Du weißt, dass Harry sie angerufen hat, als du gestern Abend verhaftet wurdest. Natürlich haben einige Journalisten die Nachricht im Polizeifunk abgehört, und als Elaine Harry bei eurem Haus absetzen wollte, warteten dort schon Kameras auf sie. Also ist sie weitergefahren und hat ihn wieder mit zu sich genommen. Die Presse kampiert vor eurem Haus, und dem wollten wir ihn nicht aussetzen. Wenigstens weiß niemand, wo er ist.«

Karolina nickte. So wenig sie ihre Schwiegermutter auch mochte und so wenig ihr der Gedanke, dass ihr Sohn sich bei Elaine verstecken musste, auch gefiel, es klang tatsächlich nach der besten Lösung. »Schön. Und wie gehen wir jetzt mit dem Rest dieses Albtraums um? Das ist Freiheitsberaubung! Unrechtmäßige Verhaftung! Wir sollten klagen!«

Trip hustete, betrachtete Karolina und hustete erneut.

»Trip? Was ist hier los?«

»Es ist so, dass … Na ja, es ist kompliziert.«

»Kompliziert? Das ist eine merkwürdige Umschreibung. Verwirrend trifft es meiner Meinung nach eher. Ich bin jedenfalls sehr verwirrt, dass ich wegen Alkohol am Steuer verhaftet wurde, wenn ich nicht unter Alkoholeinfluss gefahren bin. Und selbst wenn ich das getan hätte – was nicht der Fall war: Mein Mann ist ein Senator der Vereinigten Staaten mit mehr Kontakten als ein Teenager auf Instagram, und ich weiß sehr genau, wenn er gewollt hätte, dass das hier unter den Teppich gekehrt wird, wäre das längst passiert«, zischte Karolina.

Durch den Lautsprecher drang eine verzerrte Durchsage, und eine Polizistin eilte an ihnen vorbei und zur Tür hinaus.

»Warum erzählst du mir nicht, was passiert ist, Lina? In allen Einzelheiten.«

Erst jetzt, viele Stunden nach Beginn ihres Martyriums, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, die Tränen nicht mehr zurückhalten zu können. Während der Verhaftung war sie stoisch geblieben und tapferer, als sie sich zugetraut hätte, selbst als ihr klar wurde, dass niemand sie abholen würde. Doch jetzt, wo sie Trips vertrauter Freundlichkeit ausgesetzt war und seiner offensichtlichen Sorge – obwohl eigentlich ihr Ehemann hätte hier sitzen sollen –, kostete es sie große Mühe, nicht in Tränen auszubrechen.

»Tut mir leid«, sagte sie und unterdrückte einen Schluchzer. »Ich bin einfach … überfordert.«

Trip räusperte sich. »Warst du mit Harry gestern Abend irgendwo?«

»Nein, natürlich nicht. Es sei denn, du zählst einen Ausflug in den Supermarkt gegen fünf mit, wo ich Nachschub an Chips und Salsa für die Jungs besorgt habe. Er hatte vier Freunde zu sich nach Hause eingeladen. Ich habe ihnen Pizza bestellt, und sie haben Xbox gespielt und wer weiß was gemacht; was zwölfjährige Jungs halt so tun. Mit Mädchen gefacetimed? Sich gegenseitig? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht stolz darauf, aber aus Trotz habe ich eine von Grahams Tausend-Dollar-Flaschen Cabernet aufgemacht und ein halbes Glas getrunken. Ich wusste, dass ich nicht mehr trinken würde, aber es war sehr befriedigend, die kaum angebrochene Flasche in den Kühlschrank zu stellen. Ich wusste, wenn er sie dort entdeckt, würde er einen Herzinfarkt bekommen, und ganz ehrlich, ich habe mich auf diesen Moment gefreut. Aber das war alles. Ein halbes Glas.«

»Okay, und was ist dann passiert?«

»Nichts! Die Jungen haben eine ganze Eistorte in ungefähr dreißig Sekunden hinuntergeschlungen, und gegen halb zehn sind sie alle in den SUV gestiegen. Bevor ich es auch nur bis zu Billy Posts Haus geschafft habe, das weniger als eine Meile entfernt ist, tauchten plötzlich wie aus dem Nichts zwei Streifenwagen auf. Mit Blaulicht und Sirene, wie bei einem echten Notfall. Ich bin rechts rangefahren, um sie vorbeizulassen, aber dann haben sie angehalten und an mein Fenster geklopft.«

Trip nickte, als bestätigte Karolina, was er bereits wusste. »Was haben sie gesagt?«

»Sie haben mich gefragt, ob ich getrunken hätte. Als ich das verneinte, haben sie behauptet, ich wäre sehr auffällig gefahren. Was lächerlich ist, denn ich fahre in unserer Wohngegend immer besonders langsam.«

»Angeblich haben sie hinten im SUV leere Champagnerflaschen herumrollen sehen.« Das sagte Trip sehr leise und blickte hinab auf seine Hände.

»Ach ja? Das ist unmöglich. Ich mag Champagner nämlich nicht mal, und Graham auch nicht. Wir bekommen beide Kopfschmerzen davon …« Sie hielt inne. Es sei denn, die Jungs wären das gewesen. Karolina zog die Nase kraus und dachte nach. War das möglich? Mit zwölf war man natürlich nicht zu jung, um zum ersten Mal heimlich Alkohol zu stibitzen. Hatte sie sich lediglich vorgemacht, dass Harry niemals trinken würde? Nein, sie kannte ihr Kind. Sie wusste, dass er genau wie jeder andere Teenager alles Mögliche ausprobieren würde, aber sie war sich hundertprozentig sicher, dass er noch nicht so weit war. Und selbst wenn sie sich irrte und die Jungs Grahams kostbaren Weinkeller geplündert hatten – fünf Zwölfjährige hätten niemals unbemerkt eine Flasche Champagner öffnen können, ganz zu schweigen davon, zwei Flaschen komplett leer zu trinken. Sie erinnerte sich an den Vorabend zurück: Harry und seine Freunde hatten sich völlig normal benommen – aufgedreht, ja, aber ganz bestimmt nüchtern. »Nein. Das kann nicht sein. Ich habe keine Ahnung, wie die Flaschen dorthin gekommen sein könnten.«

Trip legte seine Hand auf ihre, und die Berührung war warm und tröstlich. »Es tut mir sehr leid, Lina. Das hier kann nicht einfach für dich sein.«

Lediglich diese kleine Mitgefühlsbekundung war nötig, damit die Tränen wieder zu fließen begannen. Garantiert liefen Karolina drachenartige Wimperntuscheströme die Wangen hinab, aber wenn man bedachte, dass sie gerade eine Nacht im Gefängnis verbracht hatte, war das vermutlich nicht ihr größtes Problem, was ihr Erscheinungsbild betraf.

»Aber eins ergibt überhaupt keinen Sinn: Sie haben mich hierhergebracht und ohne einen Alkoholtest über Nacht in die Zelle gesteckt. Mit welcher Begründung? Leere Flaschen in meinem Auto? Ist das überhaupt erlaubt?«

Trips Handy klingelte erneut, und es erschreckte sie, mit welcher Vehemenz er auf »Ablehnen« drückte. Er räusperte sich. »Die Polizei sagt, du hast sowohl den Atemtest als auch einen Blutalkoholtest verweigert. Maryland gehört zu den Bundesstaaten mit automatischer Zustimmung, das bedeutet, allein der Besitz eines Führerscheins stellt eine Zustimmung zum Test dar. Die Verweigerung aller chemischen Tests resultiert automatisch in einer Verhaftung wegen Trunkenheit am Steuer.«

»Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein.«

»Du weißt, dass ich hauptsächlich für Unternehmen arbeite, Lina. Ich habe kaum mit Zivilprozessen zu tun, von Strafrechtsprozessen ganz zu schweigen. Aber ich habe mich von einem Kollegen beraten lassen, bevor ich hergekommen bin, und er hat mir die Gesetzeslage erklärt.«

»Nein, ich meine, das kann ja wohl nicht dein Ernst sein, dass sie behaupten, ich hätte mich geweigert, ins Röhrchen zu pusten. Genau das Gegenteil ist der Fall, ich habe sogar darum gebeten, regelrecht darum gebettelt! Ich wusste, dass sich dieses Missverständnis sofort erledigen würde, wenn ich …«

»Lina? Du weißt, dass Graham und ich die allerbesten Leute auf diesen Fall ansetzen werden. Solange wir also alle die Ruhe bewahren, können wir ganz sicher …«

Der Rest seiner Worte verschwamm, während in ihrem Kopf allmählich die Auswirkungen der Geschehnisse Gestalt annahmen, und zwar in den grellsten Farben. Sie konnte praktisch schon die Schlagzeile vor sich sehen: EHEMALIGES SUPERMODEL UND JETZIGE EHEFRAU DES SENATORS TRINKT BEI FAHRT MIT KINDERN, und sie konnte die intensive Medienberichterstattung prophezeien, genau wie die Scham der Leute, die glauben würden, dass sie so etwas tat. Und die Auswirkungen auf Harry. Vor allem Harry. Zwölfjährige sollten sich für die Jeans schämen, die ihre Stiefmutter trug, nicht dafür, dass sie verhaftet wurde, weil sie betrunken mit einem Auto voller Kinder herumgefahren war.

Und dann überfiel sie ein anderes Gefühl, dessen Intensität sie überraschte: eine Sehnsucht nach ihrem Ehemann, die so tief aus ihrem Inneren kam, dass sie ihr beinahe den Atem nahm. Wie waren sie an diesen Punkt gelangt? Wo sie eine Nacht im Gefängnis verbracht hatte und ihr Mann, ihr Lebenspartner, sie hier gelassen und dann am Morgen seinen Freund geschickt hatte, um sie abzuholen. Nein, das konnte nicht sein. Irgendetwas ging hier vor sich, etwas, das außerhalb ihrer Kontrolle lag. Ja, in letzter Zeit hatte sich Distanz zwischen ihnen aufgebaut. Sie hatte sich noch weiter entfernt von Graham gefühlt als sonst. Es hatte weniger Intimität gegeben. Sie hatte sogar vermutet, dass er sie wieder betrog. Aber das hier war Graham. Der Mann, der akribische Vorkehrungen getroffen hatte, um die finanzielle Absicherung ihrer gesamten Verwandtschaft zu garantieren. Die Person, die ihr mindestens zehn Mal am Tag versicherte, wie schön sie war. Sie erinnerte sich noch an den Tag ihrer Hochzeit, als wäre es gestern gewesen. Die leuchtend grünen Weinberge hatten einen wunderschönen Hintergrund für den unerwarteten Regen geboten, der einem anderen Paar womöglich den Tag ruiniert hätte, aber ihnen nicht. Sie hatten das Wetter kaum bemerkt, so sehr waren sie mit tanzen, lachen und einander beschäftigt gewesen. Karolina hatte am Tisch gesessen und zu ihrem starken, attraktiven Ehemann aufgesehen, der sich bei den Gästen dafür bedankte, dass sie gekommen waren, um den Tag gemeinsam mit ihnen zu feiern. Als er sich ihr zugewandt und ihr seine Hand entgegengestreckt hatte, waren ihr die Tränen in seinen Augen aufgefallen, und seine an sie gerichtete Tischrede war so aufrichtig und aus tiefstem Herzen empfunden gewesen. Und jetzt das hier.

Trip sprach immer noch, irgendetwas über einen Präzedenzfall. Erschöpfung überfiel sie, und mit ihr auch Traurigkeit, Scham und Einsamkeit.

»Ich bin müde«, sagte sie und wischte sich erneut über die Augen. »Kannst du mich zu Harry bringen?«

»Natürlich. Holen wir dich hier raus.«

Schweigend fuhren sie zum Haus ihrer Schwiegermutter in Arlington. Sobald Karolina die Veranda erreicht hatte, fuhr Trip ab.

»Karolina«, wurde sie von Elaine begrüßt, als sie die Tür öffnete. Es klang, als hätte Elaine gerade etwas Bitteres gekostet.

»Elaine. Danke, dass du Harry abgeholt hast«, zwang sich Karolina zu erwidern, als sie ihren Mantel auf der Bank im Flur ablegte und ihrer Schwiegermutter unaufgefordert in die Küche folgte.

»Jemand musste es ja schließlich tun. Und die Eltern der anderen Jungen informieren.«

»Ja, auch dafür danke. Wo ist Harry?«

»Er schläft noch«, antwortete ihre Schwiegermutter. »Es war eine traumatische Nacht für ihn.«

Karolina ignorierte diese Bemerkung demonstrativ, und nachdem sie vergeblich auf ein entsprechendes Angebot gewartet hatte, stand sie auf, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. »Möchtest du auch eine?«, fragte sie Elaine, die jedoch lediglich abwinkte.

»Du hast hier eine echte … Situation geschaffen, Karolina. Es geht mich zwar nichts an, aber wenn du Schwierigkeiten hast, hättest du dir Hilfe suchen müssen. Aber Fahren unter Alkoholeinfluss? Als Frau eines Senators? Des zukünftigen Präsidenten der Vereinigten Staaten? Dass du nicht an dich denkst, ist eine Sache, aber keinerlei Rücksicht auf Grahams Karriere zu nehmen …«

»Du meinst bestimmt Harrys Sicherheit? Ich muss das eben gerade falsch verstanden haben.«

Elaine winkte erneut ab und schnalzte abfällig mit der Zunge. »Du weißt, dass ich mich nicht gern in deine und Grahams Angelegenheiten einmische, aber diesmal liegen die Umstände …«

»Mutter, bitte.«

Grahams Stimme ließ Karolina zusammenzucken, und sie verschüttete Kaffee auf ihre Bluse. »Graham?«, fragte sie, obwohl er direkt vor ihr stand, gut aussehend wie immer. Karolina wartete darauf, dass er zu ihr kam und sie in seine Arme zog, und sie streckte ihm ihre Arme entgegen. Er rührte sich nicht. Stattdessen stand er im Türrahmen, blickte zwischen seiner Mutter und seiner Ehefrau hin und her und sah aus, als wäre er am liebsten überall, bloß nicht hier. Alles an ihm war makellos, von seinem maßgeschneiderten Anzug und den Manschettenknöpfen mit Monogramm bis hin zu den dichten dunklen Haaren, die er sich jeden Freitag schneiden ließ. Kaschmirsocken. Professionell rasiert. Aktentasche von Hermès. Und winzige Anzeichen von Krähenfüßen um die grünen Augen, gerade genug, um ihm Würde zu verleihen. Ein Meter neunzig kostspielig gepflegte männliche Perfektion.

»Ich wusste nicht, dass du hier bist«, hörte Karolina sich mit quiekender Stimme sagen, während sie unsicher die Arme wieder herunternahm. »Trip hat gesagt, der Senat tagt.«

»Ich wollte gerade los«, entgegnete er und ging an ihr vorbei in die Küche. Seine Stimme war so kalt und unpersönlich wie die Kühlschranktüren aus Edelstahl.

»Wo gehst du hin?«, fragte Karolina, entsetzt über seine Distanz. Er war sauer auf sie? Natürlich war ihm klar, dass sie die Kinder nicht betrunken gefahren hatte – gerade er wusste besser als jeder andere, dass sie inzwischen beinahe komplett abstinent lebte. Sollte sie nicht eigentlich die Gekränkte sein, nachdem er sie über Nacht in einem Gefängnis für ein Verbrechen hatte schmoren lassen, das sie nicht begangen hatte?

»Hier, Liebling, lass mich dir eine Tasse Kaffee holen«, sagte Elaine zu Graham und sprang mit neu erwachtem Elan von ihrem Stuhl auf.

»Elaine, könntest du uns bitte einen Moment allein lassen?«, bat Karolina.

Das schien Elaine zutiefst zu beleidigen, und sie blickte fragend zu Graham, der nickend seine Zustimmung gab. »Danke, Mutter.«

Mit dramatischer Geste nahm Elaine ihren Kaffee und eine Banane. Sobald sie das Zimmer verlassen hatte, rannte Karolina praktisch hinüber zu Graham. »Hey, was ist denn mit dir los?«, wollte sie wissen. Und verzweifelt um einen lockeren Ton bemüht, setzte sie hinzu: »Ich weiß nicht, ob du es gehört hast, aber ich habe die Nacht im Knast verbracht.«

Ruckartig drehte er sich zu ihr um und schüttelte ihre Hände von seinem Arm ab. »Findest du das lustig? Ist das alles nur ein Witz für dich?«

Karolina fiel die Kinnlade herunter. »Lustig? Natürlich nicht. Es war schrecklich, jede einzelne Sekunde davon! Und wo warst du? Du hast Trip geschickt? Du weißt, dass ich …«

»Ich weiß nur, was mir die Polizei von Bethesda gesagt hat, Karolina. Laut Chief Cunningham wurdest du bei einer routinemäßigen Verkehrskontrolle verhaftet, weil du den Alkoholtest nicht bestanden hast.«

Dass er sie bei ihrem vollen Namen, Karolina, nannte, statt nur »Lina« zu benutzen, verfehlte seine Wirkung bei ihr nicht.

»Graham, ich weiß, was die gesagt haben, aber ich weiß auch, dass …«

Er schlug mit der Hand auf die Arbeitsplatte. »Wie konntest du nur? Wie konntest du nur so dumm sein?« Rote Flecken sprossen auf seinem Gesicht und seinem Hals. »Und noch dazu mit meinem Sohn im Auto!«

»Deinem Sohn?«, wiederholte Karolina. »Du meinst sicher unserem Sohn. Auch wenn er mein Stiefsohn ist, du weißt ganz genau, dass ich ihn nie anders genannt oder ihn als etwas anderes betrachtet habe als mein eigen Fleisch und Blut.«

Graham stellte seine volle Kaffeetasse in die Spüle und hielt ihr einen Finger vors Gesicht. Seine Augen waren nur noch enge Schlitze. »Du wirst jetzt sofort Harry wecken und ihn sicher nach Hause bringen. Bist du dazu in der Lage? Selbstverständlich mit einem Uber, da du garantiert nicht selbst fahren wirst. Diese Blutsauger« – er deutete auf die gepflegte Bethesda-Straße vor dem Haus – »werden dir folgen. Ich hoffe, ich muss nicht extra erwähnen, dass du auf keinen Fall mit ihnen sprichst. Kein einziges Wort. Nicht mal Blickkontakt. Hast du mich verstanden?«

Karolina trat näher an ihn heran in der Hoffnung, ihn ein wenig sanfter werden zu sehen. »Warum benimmst du dich so? Du weißt, dass ich nicht betrunken gefahren bin. Du weißt, wie zurückgezogen ich lebe. Du weißt, dass ich niemals, niemals etwas tun würde, was Harry gefährdet, oder andere Kinder.« Karolina klang verzweifelt, flehend, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es war eine Sache, dass ihr Ehemann sie nicht aus dem Gefängnis holte, aber etwas ganz anderes, dass er wegen eines Verbrechens, das sie nicht begangen hatte, so wütend auf sie war.

In seinen Augen entdeckte sie eine ganz neue Härte. »Ich komme heute Abend gegen sieben nach Hause. Denk dran, du sprichst mit niemandem.« Und mit diesen Worten verließ er die Küche.

Kapitel 4

Einige meiner besten Freunde sind Juden

Emily

Als sich die Fahrstuhltüren zu dem Apartment mit raumhohen Fenstern, die den Blick auf den Freedom Tower und sowohl den East River als auch den Hudson River freigaben, öffneten, bemühte sich Emily um einen nonchalanten Gesichtsausdruck. Sie war schon in einigen sehr beeindruckenden Häusern gewesen. Die Residenz der Kardashians in Hollywood war nicht allzu übel. Das Anwesen von George und Amal am Comer See war annehmbar. Und niemand konnte behaupten, dass Miranda Priestlys Haus an der Fifth Avenue nicht spektakulär wäre. Doch dieses zwölf Millionen teure Penthouse im achtundfünfzigsten Stock hatte in seiner gläsernen Pracht etwas an sich, das ihr den Atem nahm. Da es in Tribeca nicht besonders viele Wolkenkratzer gab, vermittelte es das Gefühl, als schwebte man allein in den Wolken. Die Wohnung wurde von so viel Tageslicht durchflutet, dass Emily die Augen zusammenkneifen musste, und die ausgeprägt moderne Einrichtung und der riesige, offene Raum verliehen ihr eine außerweltliche Atmosphäre.

»Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagte Helene und schob sich die Haare zurück. Schon so lange sich Emily erinnern konnte, trug Helene einen spektakulären Afro – wild, massiv und fabelhaft –, doch heute hatte sie ihn zu einer Milliarde fester, glänzender Zapfenlocken gebändigt, die ihr gesamtes Gesicht umrahmten.

»Natürlich«, erwiderte Emily und stellte ihre vollgestopfte Goyard-Tasche auf der Bank im Eingang ab. Auf dem Weg vom Flughafen hierher hatte sie sechs panische Nachrichten von ihrer Assistentin Kyle erhalten. Ganz offensichtlich stand Helene kurz vor einem Nervenzusammenbruch. »Ist er hier?«

Helene nickte, und ihre Locken hüpften. »Seine Trainerin ist bei ihm. Sie sollten in ein paar Minuten fertig sein. Kann ich Ihnen irgendwas anbieten? Kaffee? Einen Drink? Ich könnte jedenfalls einen brauchen.«

»Wie wär’s mit einer Kombination aus beidem? Dazu sage ich nicht nein.«

Emily folgte Helene in die blendend weiß gestrichene Küche, wo eine hispanische Frau in Dienstkleidung vor einer Espresso-Maschine von Starbucks-Ausmaßen stand. »Clara, könnten wir bitte beide einen Flat White mit einem Schuss Baileys bekommen?« Falls Clara es merkwürdig fand, dass diese beiden Karrierefrauen um neun Uhr morgens einen Kaffee mit Schuss bestellten, ließ sie es sich nicht anmerken. Fachmännisch bereitete sie das Gewünschte zu und führte sie zu einer weißen Ledercouch, von wo aus man einen freien Blick auf die spektakuläre Aussicht hatte.

»So, dann wollen wir mal mit dem Offensichtlichen beginnen«, sagte Emily und nahm einen Schluck. »Warum hat er sich für die Kostümparty ein Nazi-Outfit ausgesucht?«

Helene blickte auf ihre Hände hinab, als suchte sie dort nach Kraft. »Es war keine Kostümparty.«

»Was?«