Die Frömmigkeit des Kindes - Gerhard Bohne - E-Book

Die Frömmigkeit des Kindes E-Book

Gerhard Bohne

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Beschreibung

Der Religionspädagoge Gerhard Bohne (1895–1977) verfasste in den 1950er Jahren eine umfangreiche Forschungsarbeit unter dem Titel "Die Frömmigkeit des Kindes", die jedoch unveröffentlicht blieb. In dieser Studie beabsichtigte Bohne, seine in den 1920er Jahren gewonnenen Einsichten in die religiöse Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fortzuschreiben und mit den neueren Entwicklungen der erziehungswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Theoriebildung in Einklang zu bringen. Im vorliegenden Band wird diese Studie erstmals in Form einer historisch-kritischen Edition veröffentlicht, ergänzt um weitere einschlägige Texte Bohnes zum Thema Kindheitsreligiosität. Damit steht eine bislang unbeachtete Quelle für die historische Bildungsforschung zur Verfügung, die die weitere systematische Erschließung von Bohnes religionspädagogischer Theorie ermöglicht und Einblicke in die Entwicklung der Religionspädagogik der 1950er Jahre bietet. [Gerhard Bohne: The Piety of the Child. Introduced, Published and Annotated by Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein und Michael Wermke] The theologian and pedagogue Gerhard Bohne (1895–1977) wrote in the 1950s a study titled "The Piety of the Child", in which he investigates how a child becomes pious and how piety evolves during childhood. Now this study is published for the first time as a critical edition und will become an important resource for historical educational research and provides an insight into the evolve of religious pedagogy/education of the 1950s.

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Religiöse Bildung im Diskurs (RBD)

Herausgegeben von

Michael Wermke und Thomas Heller

Band5

Gerhard Bohne

Die Frömmigkeit des Kindes

Herausgegeben und kommentiert von Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein und Michael Wermke

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover und Layoutentwurf: Kai-Michael Gustmann, Leipzig

Coverbild: Jan-Peter Kasper, Jena

Satz: Christina Koch, Stotternheim/Jena

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-05127-4

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

TEIL I: EINLEITUNG

1 Zur vorliegenden historisch-kritischen Edition

2 Zu Gerhard Bohne

3 Zu Gliederung und Inhalt des Typoskripts

4 Zur Entstehungszeit des Typoskripts und dessen Einordnung in Bohnes Werk

5 Forschungsperspektiven

Literaturverzeichnis

TEIL II: GERHARD BOHNE: DIEFRÖMMIGKEIT DESKINDES (1961)

Einleitung

Erstes Kapitel: Die religiösen Urerfahrungen

Zweites Kapitel: Das Gebet

Drittes Kapitel: Die Gottesvorstellung

Viertes Kapitel: Das Weltbild

Fünftes Kapitel: Magie

Sechstes Kapitel: Metaphysisches Denken

Siebentes Kapitel: Das Kind und die geschichtliche Offenbarung

Achtes Kapitel: Kind und Gemeinde

Neuntes Kapitel: Die Schwäche der kindlichen Frömmigkeit

Zehntes Kapitel: Die Krisis des Kinderglaubens

Elftes Kapitel: Die religiöse Existenz und die Stufen der kindlichen Entwicklung

Literaturverzeichnis

TEIL III: ANHANG

Brief von Erwin Nolte vom 24. März 1955

Brief von Matthäus Berg vom 11. April 1961

Gerhard Bohne: Die Kindheitsreligion (1922)

Gerhard Bohne: Kinderpsychologie (1959)

Personenverzeichnis

Anmerkungen

TEIL 1: EINLEITUNG

1 Zur vorliegenden historisch-kritischen Edition

Das in diesem Band historisch-kritisch edierte Typoskript »Die Frömmigkeit des Kindes« stammt aus der Feder von Gerhard Bohne (1895–1977), einem der bedeutendsten deutschen Religionspädagogen des 20. Jahrhunderts. In dieser Studie setzte sich Bohne mit der Entstehung und dem Charakter kindlicher Religiosität auseinander und nutzte als Untersuchungsobjekte neben literarischen Autobiografien und gesammelten Schüleräußerungen über das Verständnis von Gott und Religion auch eigene Beobachtungen, die er bei seinen beiden Söhnen Hellmut (1921–1942) und Hans-Dieter (1923–1943) gemacht hat.

Die Abfassung sowie die Korrekturen des vorliegenden Typoskripts fanden im Zeitraum zwischen 1954 und 1961 statt; ein genauerer Entstehungszeitraum von Bohnes Forschungsarbeit lässt sich nicht mehr präzise rekonstruieren.1 Offenbar sollte die Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« die letzte große Publikation Bohnes vor seiner Emeritierung 1961 als Professor für Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Kiel sein sowie einen thematischen Bogen zu seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit, der 1922 veröffentlichten Dissertation »Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Pubertät. Auf Grund autobiographischer Zeugnisse«, schlagen und damit eine Klammer um sein gesamtes wissenschaftliches Œuvre bilden. Die vorliegende Edition schließt an den 2007 von David Käbisch und Michael Wermke herausgegebenen Band »Gerhard Bohne: Religionspädagogik als Kulturkritik« mit ausgewählten Aufsätzen Bohnes aus den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts an.2

Mit seiner entwicklungspsychologischen Theoriebildung befand sich Bohne auf dem zu seiner Zeit anerkannten Stand der aktuellen Forschung. Er verfasste für die dritte Auflage des renommierten Lexikons »Religion in Geschichte und Gegenwart« (1959) neben einem Artikel über die »Religionspsychologie des Jugendlichen« auch einen über die »Religionspsychologie des Kindes«, wobei dieser Artikel eine Art Zusammenfassung seiner in der Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« festgehaltenen Erkenntnisse über die Entwicklung der ›Kindheitsreligion‹ darstellt.3 Darüber hinaus wurden Bohnes Arbeiten auch in der Entwicklungspsychologie wahrgenommen. So nimmt der international renommierte Entwicklungspsychologe Heinz Remplein (1914–?) Bohnes Dissertation in das Literaturverzeichnis seines zwischen 1949 und 1971 in 17 Auflagen erschienenen Standardwerks »Die seelische Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter« im Literaturverzeichnis auf, ohne es allerdings zu zitieren.4

Das Typoskript weist eine Vielzahl handschriftlicher Durchstreichungen, Verbesserungen und Anmerkungen auf, von denen nicht klar ist, ob sie von Bohne selbst stammen oder von einem bzw. mehreren Korrekturlesern. Die handschriftlichen Ergänzungen wurden durchweg in Sütterlinschrift verfasst. Die Schreibweise mischt sich mit einer individuellen, z. T. unleserlichen Kurzschrift, sodass Teile der Anmerkungen und Ergänzungen nicht entzifferbar sind. Die entsprechenden Textstellen wurden in dieser Edition kenntlich gemacht. Es ist davon auszugehen, dass die maschinenschriftlichen Korrekturen von Bohne eingefügt wurden. Da das Typoskript stark durch die genannten handschriftlichen Ergänzungen geprägt und deren Autorenschaft unklar ist, fiel die Entscheidung hinsichtlich der Edierung zugunsten der frühen Hand aus. Rechtschreib- und Grammatikfehler wurden beibehalten, aber durch ein [sic!] markiert, sofern sie nicht den Sprachnormen der 1950er Jahre genügen. Für diese Vorgehensweise sprechen gleich mehrere Gründe und zwar zum Ersten ist der »erstmalige Druck eines Textes … meistens das Ergebnis einer intensiven Produktionsphase des Autors und markiert das vorläufige Ende des Entstehungsprozesses«.5 Zum Zweiten unterliegt die frühe Hand im Gegensatz zur späten Hand noch keiner Verpflichtung »auf ein bestimmtes historisches Niveau«.6 Zum Dritten stellt der Erstdruck eines Textes bzw. in diesem Fall die Weitergabe des Typoskriptes an Korrekturleser in der Regel den »erstmaligen Willen des Autors, den Text aus seiner privaten Werkstatt in die Öffentlichkeit zu entlassen«7 dar, und zum Vierten setzt mit der Weitergabe die »unmittelbare öffentliche Rezeption des Textes ein«,8 die in ihrer Rückwirkung auf den Autor teils zu massiven textlichen Veränderungen führen kann. Dies ist auch an dem Bohne-Typoskript sehr gut erkennbar, das sich durch die handschriftlichen Ausstreichungen und Ergänzungen in seinem Laut und Inhalt merklich verändert. Die Originalpaginierung wurde in eckigen Klammern zu Beginn der betreffenden Seite eingefügt.

Der kritische Fußnotenapparat, der in seiner Funktion der in der seit 1975 erscheinenden und u.a. von Rudolf Hirsch (1905–1996) herausgegebenen kritischen Ausgabe der Werke des österreichischen Schriftstellers Hugo von Hofmannsthal (1874–1929)9 beispielhaft definierten Aufgabe von Kommentaren folgt, enthält »Wort- und Sacherklärungen, Erläuterungen zu Personen, Zitat- und Quellennachweisen, Erklärungen von Anspielungen und Hinweisen auf wichtige Parallelstellen«.10 Er verzichtet aus Gründen der Übersichtlichkeit auf einen synoptischen Apparat zur Textgenese. Stattdessen werden Auslassungen, Korrekturen und Ergänzungen der frühen Hand jeweils an der betreffenden Stelle im Haupttext durch eine Fußnote gekennzeichnet und erläutert. Darüber hinaus finden sich in den Fußnoten des edierten Textes »Die Frömmigkeit des Kindes« Biogramme zu den Personen, auf deren Lebenserinnerungen oder wissenschaftliche Werke Bohne Bezug in seiner Studie nimmt. Kommen die entsprechenden Personen auch an anderer Stelle in den beigefügten Quellen in Teil III dieses Editionsbandes vor, wird lediglich auf die Fußnote mit dem Biogramm in Teil II verwiesen, um Mehrfachausführungen zu vermeiden.

Neben einem Abdruck des historisch-kritisch edierten Typoskripts in Teil II dieses Editionsbandes, sind in Teil III neben zwei Briefen von Erwin Nolte11 und Matthäus Berg,12 die sich auf Bohnes Studie beziehen, das erste Kapitel aus Bohnes Dissertation zum Thema »Kindheitsreligion«13 sowie der in der RGG3 (1959) erschienene Lexikonartikel Bohnes über die Religionspsychologie des Kindes14 enthalten. Die in das Typoskript eingelegten sieben Notizzettel von Friedrich-Karl Kurowski15 sind im Fußnotenapparat von Teil II »Die Frömmigkeit des Kindes« aufgenommen.

2 ZUGERHARD BOHNE

Gerhard Paul Bohne wurde am 2. April 1895 als drittes Kind einer Pfarrersfamilie in dem thüringischen Dorf Zeutsch, damals zum Herzogtum Sachsen-Altenburg gehörig, geboren. Nachdem er im März 1913 sein Abitur abgelegt hatte, begann er im Sommersemester mit dem Studium der Theologie in Leipzig und studierte bei dem Systematiker Ludwig Heinrich Ihmels (1858–1933), dem Systematiker und Neutestamentler Adolf Paul Johannes Althaus (1861–1925) und dem Alttestamentler Rudolf Kittel (1853–1929). Zur gleichen Zeit trat er in die »Deutsche Christliche Studenten-Vereinigung« (DCSV) ein. Ein Jahr später wechselte er nach Tübingen und studierte dort bei dem Neutestamentler Adolf Schlatter (1852–1938) und dem Systematiker Johann Theodor von Haering (1848–1928), bevor er – bedingt durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges – wieder zurück nach Leipzig wechselte.

Bohne hatte sich im August 1914 als kriegsfreiwilliger Infanterist und Offizieranwärter gemeldet und wurde am 26. Mai 1915 trotz seiner Herzschwäche als Kriegsfreiwilliger zu dem in Leipzig stationierten Infanterieregiment 106 einberufen und am 10. November 1915 nach Lothringen an die Westfront abkommandiert. In der Folge kämpfte er vor Verdun (Mai/April 1916), vor Reims in der Champagne (Mai bis September 1916) und schließlich an der Somme (Mitte September 1916), wo er am 16. September 1916 schwer verwundet wurde. Sein sog. Kriegserlebnis an der deutsch-französischen Front sollte für seine spätere religionspädagogische Entwicklung von prägender Bedeutung sein.16

Am 27. Juli 1917 legte er sein erstes theologisches Examen ab und begann ab dem Wintersemester neben seinem militärischen Dienst, den er in Leipzig als Rekrutenausbilder versehen konnte, mit dem Studium der Germanistik und Pädagogik in Leipzig, u.a. bei Eduard Spranger (1882–1963).17 Ab Februar 1919 war Bohne zudem als wissenschaftlicher Hilfslehrer in Thüringen am Altenburger Lehrer-Seminar tätig. Nach bestandenem Examen in den Fächern Pädagogik und Germanistik erhielt er im April 1919 die Lehrbefähigung für die Fächer Deutsch und evangelische Religionslehre an Lehrer-Seminarien. Im Dezember des gleichen Jahres legte er auch sein zweites theologisches Examen ab und blieb in Altenburg zunächst als Lehrer bzw. ab Ostern 1920 als Studienrat tätig. Im selben Jahr heiratete Bohne Marie Gertrud Lunderstädt (1898–1988). Zwei Jahre später, 1922, wurde er an der Leipziger Universität durch Spranger zum Dr. phil. promoviert. Der Titel seiner im Bereich der Pädagogik angesiedelten Dissertation lautete »Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit«, die im selben Jahr in gekürzter Version gedruckt erschien.18

Von 1922 bis 1928 war Bohne als Studienrat an der Oberrealschule in Altenburg beschäftigt. In jener Zeit wurden die beiden Söhne in Jena geboren. 1929 erschien die erste Auflage seines Buches »Das Wort Gottes und der Unterricht«, das die Religionsdidaktik bis in die 1960er Jahre hinein entscheidend prägte.19 Im selben Jahr bewarb sich Bohne erfolgreich auf eine ausgeschriebene Stelle als Studienrat mit Religionsfakultas an der Oberrealschule mit deutscher Aufbauschule in Jena. Ein Jahr später wurde ihm durch den preußischen Kultusminister Adolf Grimme (1889–1963) eine Professur an der im Aufbau befindlichen Pädagogischen Akademie in Frankfurt/Oder übertragen und ihm der Lehrauftrag für das Fach [evangelische] »Religionswissenschaft« erteilt.20 Aus jener Zeit dürfte die Mehrzahl der Beobachtungen Bohnes an seinen Söhnen stammen. 1932 wurde die Akademie in Frankfurt/Oder geschlossen, Bohne zunächst an die Pädagogische Akademie in Elbing (Ostpreußen) versetzt und 1933 als Professor für »Evangelische Religionslehre und Methodik des Religionsunterrichts« an die kurz zuvor in »Hochschule für Lehrerbildung« umbenannte Pädagogische Akademie in Kiel berufen.21 1935 wurde in Kiel die Tochter Ingrid geboren. Im Jahre 1938 wurde Bohne zunächst aus politischen Gründen suspendiert. Von 1939 bis 1945 nahm er als Offizier am Zweiten Weltkrieg teil und war am Russland-Feldzug beteiligt. Seine beiden Söhne Hellmut und Hans-Dieter, die ebenfalls eingezogen wurden, fielen 1942 bzw. 1943.22

Zu Beginn des Jahres 1946 wurde Bohne mit der Leitung der gerade eröffneten Pädagogischen Hochschule Flensburg betraut. Nach dem ersten Trimester wurde er im Juli 1946 infolge eines Konflikts mit der Britischen Militärregierung abgelöst und nach Burg in Dithmarschen versetzt, wo Bohne Lehrgänge zur Vorbereitung auf die 1. Lehrerprüfung für ehemalige Schüler der schleswigholsteinischen Lehrerbildungsanstalten leitete.23 Zwei Jahre später, 1948, wurde er zum Professor für evangelische Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Kiel berufen, wo er bis 1961 tätig war.24 In dieser Phase war er auch von 1959 bis 1961 Rektor der Pädagogischen Hochschule. Von 1948 bis 1970 wirkte Bohne als Lehrbeauftragter an der Evangelisch-Lutherischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel, die ihm im Jahre 1954 das Ehrendoktorat als Dr. theol. h.c. verlieh.25 Am 1. April 1961 wurde Bohne emeritiert; er führte jedoch bis 1969 weiterhin Seminare an der Kieler Hochschule durch.26 1963 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen. Am 11. Juni 1977 verstarb Gerhard Bohne in Heikendorf bei Kiel.27

3 ZUGLIEDERUNG UNDINHALT DESTYPOSKRIPTS

Formal gliedert sich das Typoskript in eine Einleitung, elf Kapitel und einen Anhang, jedoch ist letzterer nicht mehr vorhanden. In der Einleitung verdeutlicht Bohne zunächst, dass er sich aus religionspsychologischer Perspektive näher mit der Frömmigkeit des Kindes und der Frage auseinandersetzen werde, ob ein Kind bereits ein echtes religiöses Leben führe und eine tatsächliche Beziehung zu Gott habe, oder ob entsprechend »der Auffassung Rousseaus, daß das religiöse Leben des Menschen eigentlich erst mit der Pubertätszeit, d.h. mit dem Erwachen der geistigen Selbständigkeit, begönne«,28 zugestimmt werden müsse. Deutlich wird bereits an dieser Stelle, dass Bohne selbst die Frömmigkeit des Kindes als eine reale und selbständige Frömmigkeit ansieht, auch wenn er einschränkt, dass Kinder in ihrem Glauben in der Regel von ihren Eltern beeinflusst werden. Neben dieser Benennung seines Forschungsinteresses klärt er in der Einleitung sein Verständnis verschiedener leitender Begriffe, die für seine weitere Untersuchung von zentraler Bedeutung sind. Zum Ersten ist dies sein Disziplinverständnis der ›Religionspsychologie‹, die seiner Ansicht nach immer Aussagen über ein »Ich-Du-Verhältnis, nämlich die Beziehung des Menschen zu Gott«29 treffe. Zum Zweiten der Begriff der ›Lebensbewegung‹, worunter nach Bohne die menschliche Entwicklung unter den Bedingungen von (genetischer) Anlage und Umwelt zu verstehen und näher zu definieren sei als Bewegung, die durch Wachstum und Entscheidung bestimmt werde.30 Zum Dritten der Begriff ›Kindsein‹, wozu Bohne ausführt, dass es zum Wesen der kindlichen Existenz gehöre, sich in seinem geistigen Leben noch nicht ganz vom Erwachsenen gelöst zu haben bzw. existenziell mit ihm verbunden zu sein, dabei jedoch bereits auch ein eigenes Leben und eine eigene Entscheidungsgewalt zu besitzen. Bohne spricht hier vom Getragensein des Kindes durch die Erwachsenen, was zum Wesen des Kindseins gehöre.31 Zum Vierten der Begriff der ›Offenbarung‹, die Bohne aus theologischer Sicht als »Selbstbezeugung Gottes« definiert, die als »allgemeine oder zeitlose Offenbarung [auftrete], in der Gott durch die Schöpfung oder den Ruf des Gewissens oder auch durch mystische Innenschau« für jeden Menschen erfahrbar werden könne und die eine gewisse menschliche Reife voraussetze, um die Offenbarung Gottes überhaupt zu erkennen.32 Und schließlich beendet Bohne seine Einleitung mit dem Unterkapitel »Der Beginn des religiösen Lebens«, in dem er konstatiert, dass dieser Beginn ab dem Zeitpunkt einsetze, wo der Mensch verstehe, was mit dem Wort ›Gott‹ gemeint sei.33 Entsprechend auf das Kind und seine Frömmigkeit angewandt, erklärt Bohne:

»Das religiöse Wachstum aber beginnt, wenn das Kind das, was mit dem Worte »Gott« gemeint ist fassen und sein Leben in irgendeinem, wenn auch noch begrenzten Sinne auf Gott ausrichten, also etwa, wenn es beten kann. Daß es in alledem von den Eltern abhängig ist, von ihnen getragen wird, gilt für alle kindlichen Lebensäußerungen und schließt deshalb die Echtheit und Wahrheit des religiösen Lebens nicht aus.«34

Mit diesen Ausführungen fasst Bohne noch einmal seine Forschungsthese zusammen, der er in den folgenden elf Kapiteln unter Darlegung seiner Überlegungen und Erkenntnisse zur Entstehung und Formung kindlicher Religiosität und deren Ausdrucksmöglichkeiten nachgehen wird.

Die Kapitel tragen folgende Überschriften: ›Die religiösen Urerfahrungen‹ (Kap. 1), ›Das Gebet‹ (Kap. 2), ›Die Gottesvorstellung‹ (Kap. 3), ›Das Weltbild‹ (Kap. 4), ›Magie‹ (Kap. 5), ›Metaphysisches Denken‹ (Kap. 6), ›Das Kind und die geschichtliche Offenbarung‹ (Kap. 7), ›Kind und Gemeinde‹ (Kap. 8), ›Die Schwäche der kindlichen Frömmigkeit‹ (Kap. 9), ›Die Krisis des Kinderglaubens‹ (Kap. 10) und schließlich das Zusammenfassungskapitel ›Die religiöse Existenz und die Stufen der kindlichen Entwicklung‹ (Kap. 11). Darüber hinaus ist Kapitel 1 in die beiden Unterkapitel ›I. Die unmittelbare Gotteserfahrung‹ und ›II. Die mittelbare Gotteserfahrung‹ gegliedert und ersteres mit weiteren unnummerierten Teilkapiteln versehen: ›Geborgenheit in Gott‹, ›Erhabenheit Gottes‹, ›Gottes heiliger Wille‹ und ›Vergebung‹. Auch Kapitel 2 ist in drei größere Unterkapitel gegliedert (›Das Wesen des Gebetes beim Kind‹, ›Wachstum im Gebet‹, ›Schwierigkeiten‹) die ebenfalls unnummeriert sind und zum Teil noch eine dritte unnummerierte Gliederungsebene aufweisen (›Das Wesen des Gebetes beim Kind‹: ›Erstes Gebet‹, ›Erste Krisis‹, ›Schuld und Vergebung‹, ›Scheu‹, ›Erste Fragen‹, ›Wechsel der formulierten Gebete‹, ›Anbetung‹; sowie ›Schwierigkeiten‹: ›Das naive Gebet‹, ›Das Angstgebet‹, ›Gebetserhörung als Frage‹). Das Kapitel 7 wiederum besitzt nur zwei Unterkapitel: ›I. Erkenntnis und Glaube‹ und ›II. Erfahrung und Leben‹, das Kapitel 8 ›Kind und Gemeinde‹ besitzt keine Unterkapitel, während das 9. Kapitel vier unnummerierte Unterkapitel aufweist: ›Die Fraglichkeit der Zeugen‹, ›Die Zwiespältigkeit der Erfahrung‹, ›Das Missverständnis der göttlichen Wahrheit‹, ›Und doch Glaube‹, und Kapitel 10 sieben unnummerierte Unterkapitel besitzt: ›Die Ursache der Glaubenskrise in der Jugend‹, ›Die gesunde Entwicklung‹, ›Die Krise als Lebensvorgang‹, ›Belastung‹, ›Enttäuschung am Leben‹, ›Verlockung‹ und ›Die Lösung der Krise‹. In seinem letzten Kapitel macht Bohne wie auch schon in seiner Dissertation ein fünfstufiges Stufenmodell kindlicher Religiosität aufgrund seiner Beobachtungen aus: ›Der Anfang‹, ›Die frühe Kindheit‹, ›Die Hinwendung zur geschichtlichen Offenbarung‹, ›Das Erwachen der metaphysischen Frage‹ und ›Die Pubertät‹.35 Gerade an den Unterkapiteln verdeutlicht Bohne, auf welche Aspekte er in den jeweiligen Kapiteln gezielt eingeht, und es zeigt sich gleichzeitig bereits an der Wortwahl die theologische Perspektive, die er einnimmt und mit einer (religions-)psychologischen Perspektive verknüpft.

Bohne verzichtet in seiner Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« auf neuere biografische Literatur und untersucht ausschließlich Autobiografien, die aus der Zeit zwischen 1802 und 1920 stammen und zum größeren Teil bereits in seiner Dissertation untersucht wurden. Aber anders als in seiner Dissertation zieht Bohne weitere, nichtliterarische Zeugnisse wie seine eigenen Beobachtungen zur religiösen Entwicklung der beiden Söhne Hellmut und Hans-Dieter sowie eine Anzahl zeitgenössischer Schüleraussagen heran.36 Die 39 gesammelten Schüleräußerungen waren der Forschungsarbeit Bohnes ursprünglich als ein Anhang angefügt bzw. geplant, der jedoch fehlt.

4 ZURENTSTEHUNGSZEIT DESTYPOSKRIPTS UND DESSENEINORDNUNG INBOHNES WERK

Bohnes Schriftenverzeichnis lässt deutlich erkennen, dass er sich Zeit seines Lebens entwicklungs- und religionspsychologischen Themen zuwandte.37 Die Grundlage dafür hatte er bereits in den frühen 1920er Jahren mit seiner bei Eduard Spranger angefertigten Dissertation gelegt, in der er sich mit der religiösen Entwicklung von der Kindheit bis ins Erwachsenalter auseinandersetzte.

Eduard Spranger, der heute als Vertreter der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik zu den sogenannten Klassikern der Pädagogik zählt, übte maßgeblichen Einfluß auf die Etablierung der Pädagogik als selbständiger akademischer Disziplin aus und nahm auch großen Einfluss auf die Gestaltung der Lehrerbildung in der Weimarer Republik und nach dem Zweiten Weltkrieg.38 Für Gerhard Bohne war sein Doktorvater eine »prägende Gestalt seines Lebens«.39 Deutlich wird dies nicht nur an ihrem lang gepflegten persönlichen Verhältnis, sondern auch daran, dass Bohne sich vor allem mit psychologischen Fragestellungen auseinandersetzte, wie sie für die Forschungsperspektive Sprangers typisch waren.40

Überhaupt reiht sich Bohnes Dissertation thematisch – bei aller inhaltlichen Differenz – geradezu nahtlos in die Forschungsschwerpunkte Sprangers ein, der selbst beispielsweise 1921 seine psychologische Typenlehre41 und 1924 eine jugendpsychologische Forschungsarbeit42 veröffentlichte.43 Die »Lebensformen« gelten heute als bedeutendstes Werk Sprangers, das Einfluss auf die Psychologie, Geisteswissenschaften und Kulturphilosophie nahm. Spranger konstruierte darin »Idealtypen der Individualität« (z.B. der religiöse, der ästhetische, der politische, der soziale, der theoretische und der ökonomische Mensch), um mit deren Hilfe den Menschen in seinen komplexen Lebenszusammenhängen zu bestimmen und vor allem zu verstehen, d.h. nicht allein in seinen Kausalzusammenhängen zu sehen – wie dies etwa die philosophische Psychologie versucht – sondern in seinen ›Sinnzusammenhängen‹. So vertritt Spranger in seinem Werk die Ansicht, dass der Mensch nicht nur in den beiden Seinsbereichen des Psychischen und Physischen, sondern auch des Geistigen als einer anderen ontischen Realität verortet sei, in die die Seele strukturell eingebettet ist. Der Mensch sei also nur in seinem Denken und Handeln verstehbar, wenn der Gesamtzusammenhang betrachtet werde, in dem er sich befinde und der durch die Kultur bestimmt werde, die Spranger als »objektiven Geist« und Recht und Moral als überindividuelle, normative Ordnungen als »normativen Geist« bezeichnete. Neben den »Lebensformen« erlangte dieses Werk besondere Bedeutung für Psychologie, Kulturphilosophie und auch Pädagogik. Spranger führt darin seinen Ansatz aus den »Lebensformen« weiter, aber mit dem Fokus auf der spezifischen Entwicklung des Jugendlichen. Er erklärt, dass die Seele des Menschen allmählich in den objektiven und normativen Geist der jeweiligen Zeit wachse und schon der junge Mensch seelischen Anteil an unterschiedlichen Kulturgebieten habe, die jeweils Bedeutung als konstituierendes Teil seines persönlichen ›Wertganzen‹ besitzen. Das Neue an Sprangers Ansatz war gerade die Betrachtung des jugendlichen Menschen als ein Ganzes, das sich zwar im Laufe des Lebens verändert und weiter entwickelt, aber nicht als etwas Unfertiges zu sehen ist. Ähnlich argumentiert Bohne auf das Kind bezogen, das er zwar als noch in der Entwicklung zum Erwachsenen befindlich erkennt, ihm aber gleichzeitig bereits volle Wertigkeit als Individuum und damit ebenfalls einen Status als eines – in Sprangers Worten –›Wertganzen‹ zuspricht.

Bereits in seiner Dissertation zeigte Bohne deutlich, dass er sich in seinen Überlegungen zur Entwicklung des Menschen in der Jugendzeit eng auf Sprangers Vorstellung einer Abhängigkeit der Entwicklung eines Individuums von seiner (kulturellen) Umwelt bezog und ebenfalls hinsichtlich der Beobachtung und Bewertung der Entwicklung des Jugendlichen Wert auf das Verstehen der Entwicklungsprozesse legte. Und auch in »Die Frömmigkeit des Kindes« definiert er Entwicklung als Zusammenspiel von Wachstums- und Bewegungsprozessen, denen das Kind unterliegt, die es prägen und die man nur durch Verstehen ergründen könne, wobei das Kind als selbständiges Individuum zu betrachten sei.44

Die Richtung der Geisteswissenschaftlichen bzw. Verstehenden Psychologie, die 1894 von Wilhelm Dilthey (1833–1911) begründet und von Spranger seit 1914 vertreten wurde, zeichnet sich dadurch aus, dass sie – anders als die (spätere) naturwissenschaftlich-empirisch ausgerichtete Psychologie – das Seelische »bezogen auf die Wertverwirklichungen des objektiven Geists«45 im Blick hatte. So bilden bei ihr der »Sinn und Wert des ps.[ychischen] Daseins den Mittelpunkt auch der Erlebnisbetrachtung«46 und es wird von ›Struktur‹ und ›Lebensformen‹ gesprochen, d.h. das »Individuelle wird zielgemäß gerichtet gesehen und erscheinungsgemäß durch Ausdeutung (Interpretation) und ›Verstehen‹ bestimmbar gemacht«.47 Für Spranger stellt sich das Verhältnis zwischen Wert und Subjekt wie folgt dar:

»Ein Wert zeichnet sich ferner dadurch aus, dass er ›immer eine Beziehung zwischen einem Subjekt und einem Gegenstand‹ ausdrückt. Es gibt also keine Werte ›an sich‹, sondern immer nur für eine konkrete Person in einer konkreten Lebenssituation, die wiederum in ihrer Gesamtheit die Lebensform eines Menschen bestimmen. Dabei nehmen die Wertgebiete eine Rangordnung ein, die gerade in ihrer individuellen Verschiedenheit die individuelle Lebensform konstituieren. Die Position, die ein Wert in der individuellen Rangordnung der Werte einnimmt, ist dabei weniger von rationalen Erwägungen, sondern vielmehr vom subjektiven Erleben eines Wertes abhängig.«48

Entsprechend wandte sich diese psychologische Richtung erfolgreich dem Verstehen historischer Erscheinungen zu. Doch »[t]rotz ihrer beträchtl.[ichen] Wirkung im philos.[ophischen] und prakt. [isch]-theol.[ogischen] Denken erreichte diese psycholog.[ische] Theoriegestalt im wissenschaftl.[ichen] Betrieb der P.[sychologie] keine bleibende Geltung«.49 Anders verhält es sich jedoch im Fall Spranger und Bohne. Beide wandten diese Form der Strukturpsychologie auf religionspsychologische Fragestellungen an und waren darum bemüht, empirisch-psychologische und historisch-soziologische Perspektiven bei der Betrachtung des ›Phänomens‹ Religion miteinander zu verbinden.50 Entsprechend richtet Gerhard Bohne in seiner Dissertation nicht nur seinen Fokus auf die Jugendzeit, deren Religiositätsentwicklung er am Beispiel von Autobiografien nachzeichnet und dabei kritisch Bezug auf die Arbeiten der Begründer der Religionspsychologie William James (1842–1910),51 Granville Stanley Hall (1846–1924)52 sowie Edwin Diller Starbuck (1866–1947)53 nimmt, sondern versucht dies in einer empirisch-(religions)psychologischen Perspektive zu tun. Damit wendet er ebenso wie Starbuck in seiner Forschung empirische Methoden zur Beforschung menschlicher Religiosität an, was er auch in seinen späteren Arbeiten fortführen wird. Deutlich zeigt sich diese Arbeitsweise ebenfalls an seinem Typoskript »Die Frömmigkeit des Kindes«, in dem er am biografischen Beispiel seiner Söhne und in Ausschnitten auch am Beispiel von Schüleraussagen zu Fragen über ihr Gottes- und Religionsverständnis Rückschlüsse auf die Entwicklung und nähere Bestimmbarkeit kindlicher Religiosität (›Frömmigkeit‹) zieht. Die in dem geplanten Anhang zu Bohnes Forschungsarbeit enthaltende Zusammenstellung von 39 Kinderäußerungen sollte ihm als Beleg für die Ausführungen zur kindlichen Frömmigkeitsentwicklung dienen. Bohne hatte diese Äußerungen von einem Studenten erhalten, der während seines Schulpraktikums Schülerarbeiten zur Vorstellung der Kinder über Gott und Religion hatte anfertigen lassen.54 Diese Schüleräußerungen hat Bohne systematisiert und nummeriert, wie folgender Abschnitt zeigt:

»Mir liegen hier eine Reihe von Kinderäußerungen vor, die nach mancher Hinsicht aufschlußreich sind. Ein Student, der während eines Schulpraktikums zu einer Klasse von 39 Jungen ein besonderes Vertrauensverhältnis gewonnen hatte, ließ eine kleine Arbeit schreiben: »Meine Gedanken über Gott und Religion«, in der sich die Schüler, denen unbedingte Vertraulichkeit zugesichert war und die ihren Namen nicht beizusetzen brauchten, sehr offen äußerten. Die Äußerungen werden im Anhang mitgeteilt. Hier sei nur einiges besonders hervorgehoben.

Es ist nicht möglich, festzustellen, wieviele von den Jungen noch wirklich durch die Autorität der Erwachsenen bestimmt sind. Die meisten Schüler äußern einfach ihre Überzeugung ohne direkt auf die Meinung der Erwachsenen Bezug zu nehmen. Nur in der Formulierung läßt sich die Abhängigkeit teilweise erkennen (Nr.1, 14). Seltsamerweise berufen sich nicht die Gläubigen, sondern die Ungläubigen am häufigsten auf die Autorität der Erwachsenen (Nr.14, 17, 24). Einer bekennt sich in ausdrücklichem Gegensatz zu der Meinung vieler Erwachsener zum Glauben (Nr.7). Andere stehen in Zwiespalt, weil die Erwachsenen und auch die Lehrbücher sich widersprechen und sie sich selbst noch nicht in der Lage fühlen, sich für eine der verschiedenen [67] Meinungen zu entscheiden (Nr.24, 34, 22). Jedenfalls ist deutlich, daß sich das Kind bereits mit elf Jahren in einer sehr selbständigen Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott befindet, in der es weniger nach der Meinung der Erwachsenen als nach der Überzeugungskraft einleuchtender Gründe und nach der persönlichen Erfahrung fragt. Dabei kreist das Denken der Kinder in erster Linie um die Schöpfung als Erweis für die Wirklichkeit Gottes. Von den 39 Äußerungen erwähnen 29 die Frage der Schöpfung!«55

Es lässt sich nicht mehr eindeutig klären, aus welchen Gründen die vorliegende Forschungsarbeit zur kindlichen Religiosität entstanden ist. Ebenso fehlen ältere Manuskriptvorlagen oder weitere schriftliche Quellen wie etwa Notizen oder Briefe Bohnes, mit deren Hilfe der Entstehungsprozess der Studie und seine Veranlassung rekonstruierbar wären. Es existieren jedoch zwei Briefe des Psychologen Dr.Erwin Nolte (1902–1987)56 vom 24. März 1955 und des Lehrers Matthäus Berg (1901–1976)57 vom 11. April 1961 sowie mehrere nicht datierbare, dem Typoskript beigefügte Notizzettel des Pfarrers Friedrich-Karl Kurowski (1930–2015).58 Diese Dokumente kommentieren einerseits aus fachlicher Perspektive kritisch den Inhalt des Typoskripts und dokumentieren andererseits dessen Überarbeitung im Zeitraum von 1954 bis 1961. Im Typoskript selbst finden sich drei handschriftlich am Rande angegebene Daten und zwar »20.5.55«,59 »10.6.55«60 und »11.6.55«,61 die höchstwahrscheinlich Markierungen des Arbeitsstandes einer Überarbeitung darstellen. Einen deutlichen Hinweis darauf gibt der Brief von Erwin Nolte an Bohne von 1955.62 Noltes Bemerkung, dass er das ›Manuskript‹ gelesen habe und vor allem an dem Schlusskapitel aus psychologischer Sicht Kritik üben müsse, verweist darauf, dass Bohnes Arbeit zu diesem Zeitpunkt bereits in einer ersten Version vorlag und er sie nun zur Korrektur herausgegeben hatte. Entsprechend dürften also die handschriftlich vermerkten Daten im Typoskript Überarbeitungszeitpunkte sein.

Sechs Jahre später, 1961, versandte Bohne sein Typoskript zu einer weiteren kritischen Durchsicht an Matthäus Berg. Bergs briefliche Äußerung, dass Bohnes Abhandlung ursprünglich als »für eine wissenschaftliche Arbeit zum 2. Lehrerexamen«63 dienen sollte, jedoch nicht als solche eingereicht wurde, da es – so Berg weiter – durch »einen Zufall« herausgekommen sei, »daß vor etlichen Jahren bereits ein ähnliches Thema im gleichen Kreise behandelt wurde« ist nicht erschliessbar, da nicht klar ist, auf welche Examensarbeit Berg Bezug nimmt.64 Die Frage, warum Bohne sein Manuskript, z.B. beim Verlag »Die Spur«, der eine Reihe seiner späteren Publikation verlegte, nicht erscheinen ließ, ist ebenfalls ungeklärt. Der Grund dürfte kaum darin gesehen werden, dass sich Bohne durch Bergs kritische Äußerungen zu sehr beeindrucken ließ, liegen diese doch ganz auf der Linie der Anhänger der dialektischen Theologie, denen Bohne wiederum distanziert gegenüberstand.65

Zweifellos steht Bohnes Idee für die Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« in engem inhaltlichen und methodischen Bezug zu seiner Dissertation, die 1922 in Leipzig unter dem Titel »Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit. Auf Grund autobiografischer Zeugnisse« erschien. In seiner Dissertation beschreibt und deutet Bohne auf Basis von 31 literarischen Autobiografien des 19. Jahrhunderts66 die Entwicklung der Frömmigkeit in der Jugendzeit, wobei sein Vorbild für diese empirisch angelegte Studie der Band »Religionspsychologie. Empirische Entwicklungsstudie religiösen Bewußtseins« von Edwin Diller Starbuck67 bildete, die 1899 erstmals veröffentlicht wurde und 1909 in deutscher Sprache in Leipzig erschienen ist. Im ersten Kapitel der Dissertation widmet sich Bohne der Kindheitsreligion (S.6–19) und stellt aufgrund der Studie seiner ausgewählten Autobiografien fest, dass – entgegen üblicher Orientierung an Rousseaus Auffassung von einer relevanten Religiosität erst ab dem Jugendalter68 – bereits bei Kindern eine religiöse Anlage vorhanden sei und ihre Frömmigkeit nicht allein der Nachahmung unterliege.69 Entsprechend misst er der Kindheitsreligion eine wichtige Bedeutung für die religionspsychologische Entwicklung des Menschen bei, da sie deren Kontinuität beweise:

»Ja die Kindheitsreligion muß auch einen gewissen Selbstwert besitzen, da sie der Mensch ins seinem späteren Leben als Erlebnisfaktor gelten läßt. Es wäre damit erwiesen, daß die religiöse Anlage bereits in der Kindheit, wenn auch in kindlicher Form tätig ist, und nicht erst zur Zeit der sexuellen Pubertät erwacht. Als wichtigstem Einwand wäre dabei immer dem zu begegnen, daß es sich bei diesen Erscheinungen religiösen Eigenlebens um Vorläufer der Pubertät handelt.«70

Ausgehend von diesen Feststellungen teilt Bohne im Folgenden unter den Gesichtspunkten des Selbstwertes und der Bedeutung der Kindheitsreligion für die Entwicklung des Menschen die Erscheinungen religiöser Kindheitserlebnisse in drei Gruppen ein. Zum Ersten in ›(positive) religiöse Erlebnisse‹ (S.9–15), worunter Bohne »entscheidende Erlebnis[se] der Realität des Transzendenten, Göttlichen«71 oder Erlebnisse »der Realität der religiösen Objekte«72 versteht, die bei einem Kind zu einem »Erwachen zu selbständiger Religiosität«73 führen, die sich wiederum auch in der Pubertätszeit weiterhin beobachten lassen werde und so in den Entwicklungen des betreffenden Menschen fortwirke. Zum Zweiten in eine ›Kindheitsreligiosität als Phantasietätigkeit‹ (S.15–17), wobei die dazugehörige Gruppe von Erzählern laut Bohne dazu neige ihre religiösen Kindheitserlebnisse als Teil ihrer kindlichen Phantasie zu deuten und auf eine Stufe mit Märchen zu stellen. Dennoch verweist er auch kritisch darauf, dass diese Erzählergruppe teils nur schwer von der ersten zu trennen sei:

»Natürlich sind beide Gruppen nicht scharf voneinander zu scheiden. Auch bei Kindern, die eindrucksvolle Erlebnisse in ihrer Kindheit machen, fehlt die Betätigung der Phantasie nicht und ihre religiösen Vorstellungen mögen sich oft mit denen der Märchen aufs engste berühren. Umgekehrt fehlen bei dieser zweiten Gruppe begleitende Gefühlserlebnisse nicht, die man aber nicht höher einschätzt, als die, die sich bei Märchenerzählungen wohl einstellen.«74

Dennoch sieht Bohne die zweite Gruppe durchaus kritisch, da junge Menschen mit solchen Kindheitserfahrungen eher dazu neigen würden, »alles Religiöse als nichtwirklich von sich zu weisen«, was wiederum beweise, dass eine Kontinuität der Entwicklung bestehe und die Natur des Menschen eine Pflege der religiösen Anlage sowie ein Erleben der Realität religiöser Objekte bereits in der Kindheit verlange, damit eine ruhige Entwicklung stattfinden könne.75 Zum Dritten identifiziert Bohne eine Gruppe von Erzählern, die von ›religionszerstörenden Erlebnissen in der Kindheit‹ (vgl. S.17–19) berichten, wodurch laut Bohne »die religiöse Anlage geschädigt werden und ein bleibender Widerwille gegen alles Religiöse entstehen«76 könne, was sich bis in die Pubertätszeit hinein auswirke. Ähnliche Ausführungen finden sich auch in seinem Typoskript.77

Am Ende des Kapitels über die Kindheitsreligion in seiner Dissertation liefert Bohne schließlich folgende Zusammenfassung seiner Ergebnisse, die auch wegweisend für sein Typoskript »Die Frömmigkeit des Kindes« ist:

»Die religiöse Anlage ist beim Kind bereits vorhanden. Sie regt sich spontan, ist in der Lage, Naturereignisse und ähnliches religiös zu werten, von Persönlichkeiten ausgehende lebendig-religiöse Anregung aufzunehmen und für sich fruchtbar zu machen, sie ist bildungs- und entwicklungsfähig. Fördernd wirkt nur die dem Kind zuträgliche Nahrung. Falsche religiöse Beeinflussung und Überfütterung mit falscher religiöser Nahrung kann das Kind zwar nicht zurückweisen, aber seine religiöse Anlage wird dadurch für immer geschädigt. Das Spiel der Phantasie mit religiösen Objekten ist nicht religiös zu werten, wenn nicht religiöse Gefühle damit verbunden sind. Vor allem ist das Kind bereits in der Lage, das unverlierbare Erlebnis der göttlichen Realität zu machen und religiöse Wirkungen (z.B. durch Gebet) hervorzurufen. Damit ist die Kontinuität der Entwicklung als Möglichkeit und Tatsache in vielen Fällen erwiesen. Von dem religiösen Leben der späteren Zeit unterscheidet sich das der Kindheit dadurch, das geistige Objekte oft sinnenfällig vorgestellt werden, daß die religiöse Funktion sich bisweilen auf menschliche Objekte richtet, daß das religiöse Organ jederzeit empfangsbereit und sehr bildsam ist und daß sich im Kind leicht religiöse Gleichgefühle wachrufen lassen, die häufig wie bloße Nachahmung aussehen.«78

Ausgehend von diesen ausgewählten Beispielen wird der Bezug zwischen Bohnes Dissertation und seinem unveröffentlichten Typoskript mehr als deutlich. Augenscheinlich vertritt er in seinem Typoskript die gleichen Thesen wie bereits in seiner Dissertation, baut diese aber weiter aus und unterlegt sie mit empirischen Befunden, die er insb. aus Äußerungen erhoben hat, die in seinem familiären Umfeld sowie im unterrichtlichen Kontext entstanden sind. Die Kontinuität, in der seine in den 1950er Jahren entwickelten Thesen und Auffassungen über das Wesen des Kindes, dessen Religiosität und die Entwicklungsweise dessen Glaubensverständnisses mit seinen früheren Forschungsarbeiten aus den 1920er Jahren stehen, ist deutlich erkennbar. Als Vorarbeiten zu seiner Studie sind das Kindheitskapitel in seiner 1921 beendeten Dissertation79 sowie die Ausführungen zur Kindheitsreligiosität in seinem 1926 erschienenen Aufsatz »Die Bedeutung der Strukturpsychologie für den Religionsunterricht«80 und in seinem 1928 erschienenen Bändchen »Warum unsere Kinder den Glauben verlieren?«81 zu identifizieren.

In seiner Literaturauswahl für die Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« greift Bohne überwiegend auf Werke aus den Jahren 1890 bis 1935 zurück82 – insofern angesichts mehrheitlich fehlender Quellenangaben diese ermittelt werden konnten – ergänzt durch zwei Werke aus den Jahren 1941 und 1947. Er bezieht sich damit offensichtlich zu einem Teil auf dieselben Quellen, die er bereits für seine Dissertation83 und auch für seine Publikation »Warum unsere Kinder den Glauben verlieren?« benutzt hat.

Bei der Auswahl der Autobiografien für »Die Frömmigkeit des Kindes« fällt zunächst – ebenso wie bei derjenigen für seine Dissertation – auf, dass Bohne Autobiografien weiblicher und männlicher Personen untersucht, die entweder evangelische Theologen waren oder künstlerischen Tätigkeiten nachgingen. In alphabethischer Reihenfolge sind zu nennen: der Schriftsteller und Politiker Ernst Moritz Arndt (1769–1860), der Maler, Zeichner und Bildhauer Ernst Heinrich Barlach (1870–1938), der österreichische Neurologe Moritz Benedikt (1835–1920), die Schriftstellerin Lily Braun (1865–1916), der Schriftsteller Paul Eberhardt (1871–1923), der literarisch tätige Arbeiter Karl Fischer (1841–1906), der Schriftsteller und Lyriker Walter Flex (1887–1917), der evangelische Pfarrer und Volkserzähler Otto Funcke (1836–1910), der Schriftsteller Ludwig Albert Ganghofer (1855–1920), der Dichter, Naturwissenschaftler und Staatsmann Johann Wolfgang von Goethe (1749–1782), der Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel (1813–1863), die Schauspielerin Johanne Luise Heiberg (1812–1890), die Fröbel- und Sozialpädagogin Erika Hoffmann (1902–1995), die Schriftstellerin Christine Holstein (1883–1939), die Schriftstellerin Frieda Jung (1865–1929), der Dramatiker und Politiker Gottfried Keller (1819–1890), der Theologe und Schriftsteller Samuel Keller (1856–1924), der Porträt- und Historienmaler sowie Schriftsteller Wilhelm von Kügelgen (1802–1867), der Sammelband mit Auszügen aus Lebensbeschreibungen und aus der Dichtung der beiden Pädagogen August Miehle und Friedrich Pagel,84 der Dichter Conrad Ferdinand Meyer (1825–1898), der evangelische Theologe Friedrich Heinrich Ranke (1798–1876), dessen Bruder Historiker Leopold von Ranke (1795–1886) und schließlich der Maler und Zeichner Ludwig Richter (1803–1884).

Bohne hat in seiner Studie zudem Bezug auf den Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900), eine Fabel des französischen Dichters Jean de La Fontaine (1621–1695), die Sammlung geflügelter Worte des deutschen Philologen Georg Büchmann (1822–1884), Gedichte Johann Wolfgang von Goethes, Gedichtzeilen des Lyrikers Rainer Maria Rilke (1875–1926), Aussagen zu Jesus des Politikers und Schriftstellers Ernst Graf zu Reventlow (1869–1943) sowie die Propagandaschrift »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« des Politikers und Schriftstellers Alfred Rosenberg (1893–1946) genommen.

Darüber hinaus hat Bohne einige wissenschaftliche Veröffentlichungen von zu seiner Zeit namhaften Vertretern ihres Faches herangezogen. Zu diesen zählen die Entwicklungspsychologin Charlotte Bühler (1893–1974), der evangelische Theologe Rudolf Bultmann (1884–1976), der Philosoph Martin Heidegger (1889–1976), der katholische Theologe, Philosoph, Psychologe und Religionshistoriker Johann Friedrich Heiler (1892–1967), der Philosoph und Psychiater Karl Theodor Jaspers (1883–1969), der evangelische Religionspädagoge Richard Kabisch (1868–1914), der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto (1869–1937), der schweizerische Pädagoge, Schul- und Sozialreformer Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der deutsche Entwicklungspsychologe Heinz Remplein (1914–?) sowie der deutsche Neurologe Paul Vogel (1900–1979). Diese Bezugnahme zeigt, in welche Perspektiven er seine Untersuchung einordnet, nämlich als einen Beitrag zu Fragen der Theologie, Pädagogik, Philosophie und Psychologie.85

5 FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN

Bohnes Untersuchung zur stufenweisen Entwicklung der Religiosität des Kindes beansprucht, sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem methodischen Vorgehen der Entwicklungspsychologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bewegen. Die Beforschung des Kinderglaubens mit Hilfe von empirischen Methoden wie der Befragung von Schülern oder die Auswertung von Autobiografien war nicht nur eine gängige Arbeitsweise im späten 19. und ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, sondern bis zur Mitte der 1960er Jahre in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Entwicklungspsychologie wie auch in der Religionspädagogik üblich.

Die tiefgreifenden Reformen in den bundesdeutschen Erziehungswissenschaften durch die Ablösung der geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik – die sog. »empirische Wende« – um die Mitte der 1960er Jahre zeitigten auch in der Religionspädagogik erhebliche Wirkungen. So wurde gegenüber der Religionspädagogik der 1950er und frühen 1960er Jahre der Verwurf der »Verleugnung des Kindes« erhoben. Als besonders wirkmächtig hat sich die 1964 erschienenen Studie von Werner Loch (1928–2010) erwiesen, in der er gegenüber der seit dem Ersten Weltkrieg geführten religionspädagogischen Debatte den Vorwurf erhob, das Kind in seiner Lebens- und Glaubensform ignoriert zu haben.86 So warf Loch der Religionspädagogik vor, »keinerlei empirische Forschungsbefunde über die Erziehungs- und Glaubenswirklichkeit des Kindes und des Jugendlichen ihrer Zeit« berücksichtigt zu haben: »Wir suchen vergeblich [in den religionspädagogischen Publikationen] nach einem Kapitel über das Kind und dem als die dem Erzieher gegenüberstehenden Menschen«.87 Als Ursache dieses Defizits machte Loch die Wort-Gottes-Theologie Karl Barths (1886–1968) aus, deren verkündigender Ansatz entwicklungspsychologische Einsichten in die Prozesse religiöser Entwicklung von Kindern und Jugendlichen maßgeblich verhindert habe.88 Interessanterweise hielt wenige Jahre zuvor Matthäus Berg in gegensätzlicher Weise Bohnes Studie vor, dass sie als Ausdruck einer verfehlten »existenzialen Pädagogik« nicht konsequent genug offenbarungstheologisch gedacht werde.89

Auch wenn sich der Vorwurf der Empirielosigkeit der Religionspädagogik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mühelos widerlegen lässt und mittlerweile die Einflussnahme der dialektischen Theologie auf die Religionspädagogik, insb. auf die Konzeption Gerhard Bohnes relativiert werden konnte,90 stellt sich dennoch die Frage, welchen Beitrag die in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre veröffentlichten religionspädagogischen Studien für die Einsicht in das Kind-Sein als eines eigenen »Modus der Menschlichkeit« geliefert haben.91 In diesem Zusammenhang ließe sich in synchronischer Perspektive Bohnes empirischer Zugang zu den religiösen Selbstzeugnissen von Kindern und Jugendlichen mit weiteren, in seiner Zeit entstandenen entwicklungspsychologischen Untersuchungen vergleichen.92 In diachronischer Perspektive wäre der Befund zu untersuchen, dass Bohne in seiner Dissertation und später auch in der Studie »Die Frömmigkeit des Kindes« Biografien wie beispielsweise von Friedrich Hebbel, Wilhelm von Kügelgen und Gottfried Keller als Quellenmaterial heranzieht, die der liberalen Religionspädagogik zuzurechnende Religionspädagoge Richard Kabisch in seinem erstmals 1910 erschienenen Standardwerk »Wie lehren wir Religion?« ebenfalls untersucht hat.93 Möglicherweise diente Bohne Kabischs Vorgehensweise bereits bei der Abfassung seiner Dissertation neben den von ihm herangezogenen (entwicklungs)psychologischen Werken als Vorbild. Damit wäre zumindest in methodischer Hinsicht die Nähe Bohnes zur liberalen Religionspädagogik größer als bislang angenommen.

Weitere Forschungsperspektiven ergeben sich aus der besonderen Wertschätzung Bohnes für die Pädagogik Friedrich Fröbels (1782-1852), die für sein Verständnis von Kindheit und kindlicher Entwicklung offensichtlich prägend war.94 Vor dem Hintergrund der Fröbelschen Pädagogik, die nicht nur bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein, sondern in der Bundesrepublik Deutschland bis zur Mitte der 1960er Jahre für die Kleinkindpädagogik bestimmend gewesen ist, könnte zum einem untersucht werden, inwieweit das romantisch-idealistisch und -individualistisch geprägte Bild Fröbels vom Wesen und der Entwicklung des Kindes für Bohnes Studien zur kindlichen Religiosität zwischen 1921 und 1961 grundlegend gewesen ist. Zum anderen ließe sich im Kontext der Fröbel-Rezeption des 20. Jahrhunderts eine Verortung Bohnes im allgemeinpädagogischen Diskurs vornehmen.

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TEIL II: GERHARD BOHNE: DIEFRÖMMIGKEIT DESKINDES (1961)

EINLEITUNG

Während die Kinderpsychologie die Lebensäußerungen des Kindes nach allen nur möglichen Hinsichten als Ausdruck eines zwar kindlichen, aber doch echten, vollgültigen Lebens betrachtet, ist sie auf dem Gebiet der Religionspsychologie noch weithin der Auffassung Rousseaus, daß das religiöse Leben des Menschen eigentlich erst mit der Pubertätszeit, d.h. mit dem Erwachen der geistigen Selbständigkeit, begönne.95 Die Gründe, die dafür angeführt werden, sind immer wieder die gleichen: Das Kind sei völlig abhängig von der Religiosität der Eltern, es glaube alles, was man ihm sage, Wahrheit und Lüge, und es wende sich Laufe der Pubertät meist von seinem Kinderglauben ab. Deshalb könne es in seinem religiösen Leben noch nicht ernstgenommen werden. Wie fraglich diese Begründungen sind,96 wird deutlich, wenn wir diese Beweisführung97 auf ein anderes Lebensgebiet übertragen und etwa sagen.98 Das Kind ist in seinem physischen Leben völlig abhängig von der Mutter, es lebt mit der Muttermilch unmittelbar aus dem physischen Organismus der Mutter, es nimmt Gift, das man ihm reicht, ebenso bereitwillig wie gute Nahrung, – also hat es noch garkein [sic!] physisches Leben. Es ist gewissermaßen noch gar nicht da! Niemand wird diesen Schluß ziehen.99

Dann ist es aber auch fraglich, ob man behaupten darf, daß das Kind noch gar kein echtes religiöses Leben, keine wirklich Beziehung zu Gott habe, nur weil es auch in dieser Hinsicht, wie in allen anderen Hinsichten seines Lebens, getragen wird vom Erwachsenen oder von ihm zerstört werden kann.100 Es ist deshalb an der Zeit, daß wir die Frage nach der101 Frömmigkeit des Kindes mit anderen Augen sehen.

Ehe wir das religiöse102 Leben des Kindes selbst ins Auge fassen, sind aber einige grundsätzliche Vorbemerkungen nötig.

DIE MÖGLICHKEIT DER RELIGIONS-PSYCHOLOGISCHENAUSSAGE

Jede religionspsychologische Äußerung, die den Anspruch erhebt, über die Wirklichkeit des religiösen Lebens eine Aussage zu machen, – und jede andere ist hier bedeutungslos – meint immer ein Ich-Du-Verhältnis, nämlich die Beziehung des Menschen zu Gott. Sie ist also niemals nur eine Aussage über den Menschen [2] sondern immer auch Aussage über Gott. Gott ist aber mit den Mitteln der wissenschaftlichen Forschung nicht faßbar. Über ihn sind nur Glaubensaussagen möglich. Damit überschreitet jede – jede! – ernsthafte Äußerung über die Frömmigkeit die Grenze der Psychologie als Wissenschaft,103und greift hinüber in Bereiche des Glaubens. Wer den Versuch macht, die Religionspsychologie zu betreiben als Beschreibung religiöser Zustände des Individuums, ohne nach der Wahrheit und Gültigkeit der Gottesbeziehung zu fragen, der tut ungefähr dasselbe wie jemand, der die Ehe untersuchen will und sich begnügt mit der Untersuchung der subjektiven Zustände des einen Partners, ohne nach der Wirklichkeit des Gatten (und seines Einflusses)104 überhaupt zu fragen.105

Wer so verfährt, kann nicht den Anspruch auf Wissenschaft106 erheben, wirklich ernst genommen zu werden. Es ist die selbstverständliche Grundbedingung aller wissenschaftlichen Arbeit, daß sie sich ihren Gegenständen auf die ihnen gemäße Weise nähert. Wer also das religiöse Leben untersuchen und damit Gott in seine Fragestellung einbegreifen will, muß es auch wagen, die Grenze der rein exakten, mit naturwissenschaftlichen Methoden arbeitenden Untersuchung zu überschreiten und Glaubensaussagen zu machen. Das ist in diesem Falle die einzige Methode, die den Anspruch erheben darf, wissenschaftlich, d.h. sachgemäß, zu verfahren.

Es liegt auf der Hand, daß die Fachpsychologie eine gewisse Scheu hat, in so schwerwiegender Weise die Grenzen zu überschreiten, in denen sie sich sicher und auf festem Boden fühlt, und sich in ein Gebiet zu wagen, wo ganz andere Wege der Wahrheitsfindung gültig sind. Das ist wohl auch der Grund, weshalb die Religionspsychologie im allgemeinen und die des Kindes im besonderen noch weithin unbearbeitetes Gebiet sind und sich Beurteilungen gefallen lassen müssen, die an der Wahrheit vorbeistoßen.

DASWESEN DERLEBENSBEWEGUNG

Wir können die besondere Eigenart der kindlichen Frömmigkeit nur dann verstehen, wenn wir auf der einen Seite das Wesen des Lebensvorganges überhaupt, auf der anderen die Existenz des Kindes, das eigentliche »Kindsein«, richtig verstehen. Beides kann hier nur in Kürze angedeutet werden.107

[2a]108 Wir pflegen die Lebensbewegung in der Jugend heute allgemein mit dem Wort »Entwicklung« zu bezeichnen.109 Dieser Begriff ist unzureichend, denn er ist aus dem Vergleich mit der Pflanze genommen. Entwicklung bedeutet genau: die Herauswickelung der im Keim angelegten Eigenschaften: Ich – entwickele – mich. Die Lebensbewegung geht also zwischen ich und mich. Zwar weiß man, daß zu dem Ich gewissermaßen von außen etwas dazu kommt. Man sagt: die Entwicklung ergibt sich aus Anlage und Umwelt. Aber auch der Begriff Umwelt ist aus dem Vergleich mit der Pflanze genommen, die in ihrem Wachstum durch Lage, Boden,110 Licht und Schatten, Klima kurz: eben durch die Umwelt111 mitbestimmt wird. Gewiß ist das beim Menschen auch so, es kommt aber bei ihm etwas nur ihm Eigentümliches hinzu, das bei der Pflanze keine Vergleichung hat: Der Mensch kann Entscheidungen fällen, die irgendwie aus metaphysischer Freiheit kommen. Das kann die Pflanze nicht.112 Und diese Entscheidungen bestimmen den Lebensweg des Menschen ganz wesentlich mit.113 Wir können uns durch Entscheidung »wandeln«, indem wir uns vom Guten dem Bösen zuwenden oder umgekehrt. Das Sein im Guten und das Sein im Bösen sind aber zwei Seinsweisen, die wir damit verwirklichen. Zwar sind sie beide irgendwie als Möglichkeit im Menschen angelegt114, aber sie »erwachsen« nicht. Man kann deshalb hier nicht von Entwicklung sprechen.115 Der Akt der Entscheidung, durch den wir die eine oder andere Möglichkeit verwirklichen, bleibt immer ein spezifisch menschliches Verhalten.

Wenn wir also den Begriff der Entwicklung für das Ganze der Lebensbewegung festhalten wollen, – wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden ist – dann muß man berücksichtigen, daß die menschliche Entwicklung im Gegensatz zur Pflanze zwei wesensmäßig völlig verschiedene Elemente umfaßt: nämlich Wachstumsvorgänge und Entscheidungen. Diese beiden Vorgänge werden im folgenden grundsätzlich unterschieden werden. Wenn also von »Wachstum« gesprochen wird, ist nicht dasselbe gemeint wie »Entwicklung«, sondern nur die eine gewissermaßen pflanzenhafte Seite der menschlichen Entwicklung, während mit Entscheidung die andere, spezifisch menschliche Seite gemeint ist. Das Wort Entwicklung aber soll, wo es gebraucht wird, immer beide Seiten des Lebensvorganges116 umfassen.

[3]117 Die Lebensbewegung des Menschen ist bestimmt118 durch Wachstum und Entscheidung. Diese beiden Lebensvorgänge können zwar119 beschrieben werden, bleiben aber im Grunde immer ein Geheimnis. Das Wachstum ist dem Willen unmittelbar entzogen, hier stehen wir unter Gesetzen des Geschehens, die wir nicht ändern können. Die Entscheidung ist ein Akt des Willens, der aber in seiner Tiefe auch nicht begreifbar ist, da er irgendwie Freiheit voraussetzt. Wachstum und Entscheidung widersprechen sich also in ihrem Wesen. Und doch ist jede Lebensäußerung immer durch beide gleichzeitig bestimmt.

Das Wachstum ist bedingt durch innewohnende Keimkräfte und von außen kommende Nahrungskräfte. Wir besitzen die Fähigkeit, Kräfte, die in der Nahrung gespeichert sind, zu entbinden und sie durch Übung für uns fruchtbar zu machen. Das gilt für jeden Wachstumsvorgang. Daß Körper und Geist wachsen, wissen wir, daß aber auch die Seele – das innerste Personsein des Menschen – wächst, machen wir uns oft nicht bewusst. Wir wissen meist auch nicht, wodurch sie wächst. Der Körper wächst durch Speisen und Bewegung, der Geist durch Erkenntnis120 und Denkaufgaben. Die Seele aber wächst nicht durch das, was man absichtlich in sie hineingibt, sondern durch das, was in Wahrheit geschieht. Wenn z.B. ein Religionslehrer gleichgültig Religionsunterricht erteilt, so nimmt die Seele nicht die gesprochenen und vielleicht richtigen Worte auf, sondern die Gleichgültigkeit. Denn sie ist das, was in Wahrheit geschieht. In diesem Falle wird zwar der Geist vielleicht mit religiösen Geschichten gefördert, die Seele aber bleibt tatsächlich ohne Nahrung. Das hat seine wesentliche Bedeutung für das religiöse Wachstum des Kindes.

Das Wachstum umfaßt auch nicht nur das Individuum, Wir wachsen auch in unserer Beziehung zum anderen Menschen, also in unserem Gut- oder Bösesein. Denn beides ist nur in Beziehung zum anderen da. Man kann also in den Gehorsam und in den Ungehorsam, in Vertrauen und in Mißtrauen, in Liebe und in Haß, und also auch in Frömmigkeit und in Gottlosigkeit hineinwachsen. Es ist dabei, als zögen wir unsere Nahrung aus zwei verschiedenen Bereichen. Leben wir im Bösen, dann saugen wir aus jedem Geschehnis das in ihm enthaltene Gift. Da wird jede Enttäuschung, jedes Unrecht, das wir erleiden, zum zerstörenden Ereignis, aus dem uns Mißtrauen, Bitterkeit und Abwehrbereitschaft zuwachsen, und sogar das Glück macht uns selbstsüchtig.

[4] Leben wir im Guten, dann gewinnen wir aus den gleichen en einen seltsamen Segen. Sie stärken uns im Ertragen von Unrecht, machen uns gütig und verstehend und helfen zur Reife. So kann etwa ein Waisenkind, das wenig Liebe erfahren bat, ebenso zum Menschenfeind werden, wie zu einem besonderen Freund der Waisen, der anderen Kindern das zu geben sucht, was ihm versagt blieb. Und leben wir eng mit einem Freund zusammen, so wachsen uns von diesem Freund her Kräfte zu, die nicht die eigenen sind und doch zu eigenen werden.

So wie im Verhältnis zum anderen Menschen wachsen wir auch im Verhältnis zu Gott.121 Mann kann in den Glauben und in die Sünde hineinwachsen. Jesus hat in seinen Reich-Gottes-Gleichnissen (Matth. Kapitel 13) das Bild des Wachstums auch für unser Leben im Reich Gottes nach allen möglichen Seiten hin entfaltet.122 Da wachsen Erkenntnisse und Taten aus einem lebendigen Wort wie Frucht aus dem Samen, da wird wachsend das ganze Leben des Menschen vom Gotteswort oder einer Erfahrung Gottes durchdrungen, oder123 es wird auch das gesunde Wachstum göttlichen Lebens durch hemmende und zerstörende Kräfte erstickt. Die eigentliche Nahrung dieses innersten Lebens ist wiederum das, was in Wahrheit geschieht, also nicht die sogenannten »religiösen Erlebnisse« wie feierliche Gottesdienste, religiöse Musik u. dergl., die von Menschenwollen veranstaltet werden, sondern die Erfahrung der Wirklichkeit Gottes, in der sich der Glaube als tragkräftig erweist. Eine indirekte Erfahrung Gottes liegt auch dann vor, wenn wir erleben, daß andere Menschen Gott in Wahrheit vertrauen und gehorchen und dadurch in ihrem Leben fest begründet sind.124 Das Kind wird vor allem an125 den Eltern (nicht durch die Belehrung der Eltern) Gott selbst in seiner Wirklichkeit erfahren, oder auch an der Gleichgültigkeit der Eltern die Erfahrung der Unwirklichkeit Gottes machen. Wir überschätzen126 weithin das, was Eltern oder Lehrer dem Kinde lehrend über Gott sagen, während das doch für das seelische Wachstum zweitrangig ist während wir diese127 Erfahrungen, die das Kind128 selbst macht weithin unterschätzen oder ganz außer Betracht lassen.129

Die Gesetze des Wachstums können wir nicht ändern. Trotzdem können wir sehr wohl in das Leben des jungen Menschen autoritativ eingreifen und sein Wachstum entscheidend bestimmen, je nachdem, ob wir ihm gute Nahrung oder zerstörendes Gift bieten, [5] oder bestimmte Anlagen seines Wesens durch Ernährung und Übung fördern, andere durch »Aushungern« verkümmern lassen.130

So wie das Leben in jeder Hinsicht dem Wachstum unterworfen ist, ist es auch nach jeder Hinsicht auf Entscheidung gestellt. Die Entscheidung setzt eine Aufforderung zum Handeln voraus und die Möglichkeit einer Wahl aus Freiheit. Durch die Entscheidung übernehmen wir die Verantwortung. Durch sie wird das, was wir tun, »unsere« Tat. Dabei kann man unterscheiden zwischen den konkreten Einzelentscheidungen, die uns in jeder Minute abgefordert werden, und dem Grundentscheid, in dem das Leben als Ganzes seine Grundrichtung bestimmt. Religiöse Entscheidung ist immer Grundentscheid.

Beides, Entscheidung und Entwicklung,131 sind gewissermaßen nur zwei Seiten einer und derselben Lebensbewegung.132 Das Wachstum wird durch Entscheidungen bestimmt, es kann durch rechte Entscheidungen gefördert und durch falsche gestört werden. Umgekehrt unterliegen die Entscheidungen dem Wachstum. Die Entscheidung eines Kindes ist etwas anderes als die eines erwachsenen Menschen. Ja, Entscheidungen können selbst »heranreifen«. Das Wachstum bleibt sich in seinem Wesen immer gleich. Die Entscheidungen dagegen wandeln also ihr Wesen je nach dem Reifestand, in dem sich der Mensch befindet. Denn zur Entscheidung gehört die Beurteilung einer Sachlage und die Kraft, eine Einsicht auch gegen Widerstände zu verwirklichen. Je nach dem Maß dieser Einsicht und Kraft ist der Mensch für seine Entscheidung und in seiner Entscheidung nur teilweise oder ganz verantwortlich.

DASKINDSEIN

Diese Sachlage hat nun wesentliche Bedeutung für das Kind. Das Kind ist noch nicht in der Lage, sich verantwortlich selbst zu tragen; denn es kann meist weder die Sachlage in eigener Einsicht voll erkennen, noch hat es immer die Kraft, seiner Einsicht gemäß zu handeln. Das Kind muss deshalb in seinem Leben noch vom Erwachsenen »getragen« werden. Das gehört zum Wesen der kindlichen Existenz.133

Der Erwachsene entscheidet autoritativ über die körperliche, geistige und seelische Ernährung und damit über das Wachstum des Kindes und übernimmt zugleich für die Entscheidungen des Kindes einen Teil der Verantwortung. Am Anfang, wenn das Kind134 noch völlig »unmündig«135 ist, übernimmt er nahezu die ganze Verantwortung.136 Er handelt an des Kindes Statt als sein »Vormund«.

[6] Dann, wenn das Kind mitentscheiden kann, trägt es der Erwachsene in seiner Entscheidung. Er nimmt es gewissermaßen in seine eigene Entscheidung mit hinein, er zwingt es nicht, sondern er »schenkt« ihm die Entscheidung, statt sie ihm abzufordern. Wenn die Mutter dem Kleinkind etwa am Geburtstag sagt, es solle doch von den Süßigkeiten etwas abgeben, und das Kind tut das bereitwillig, dann fällt das Kind zwar bereits eine echte Entscheidung, es wird aber doch darin von der Mutter getragen. Das gilt auch, wenn die Mutter sagt: »Komm, wir wollen beten«, und das Kind bereit-willig [sic!] mitbetet. Beides ist echte Entscheidung, aber wachstumsmäßig gesehen kindliche, d.h. teilweise geschenkte, nicht voll verantwortlich vollzogene Entscheidung.137

Andere, nämlich voll verantwortliche138 Entscheidungen gibt es im139