Die Funken der Hoffnung - Töchter der Freiheit - Noa C. Walker - E-Book

Die Funken der Hoffnung - Töchter der Freiheit E-Book

Noa C. Walker

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Beschreibung

Amerika, 1859: Der Konflikt zwischen den Nord- und Südstaaten spitzt sich zu. Als Frau aus dem Süden ist Susanna Belle in Washington starken Anfeindungen ausgesetzt, die ihre junge Ehe vor eine Zerreißprobe stellen. Schließlich findet sie eine erfüllende, aber nicht immer ungefährliche Aufgabe: Sie gewährt Frauen und Kindern Schutz vor ihren gewalttätigen Ehemännern und Vätern. Doch als der Krieg ausbricht, ist sie endgültig von ihrer Familie, ihren Bekannten und ihrer besten Freundin getrennt.

Die Lage der im Süden lebenden Nordstaatler wird nach Abraham Lincolns Wahl immer gefährlicher, so auch für Annie. Doch sie beschließt zu bleiben. Aus Liebe zu ihren Schülern, ihren Freunden - und wegen David. Dabei ist sie sich nicht einmal sicher, ob er ihre Gefühle überhaupt erwidert. Zudem besteht die Gefahr, dass der drohende Krieg eine Verbindung zwischen ihnen unmöglich macht. Und dann wirbelt ein schreckliches Ereignis das Leben aller auf Birch Island durcheinander.

Der fesselnde zweite Teil der großen Südstaaten-Saga erzählt vom Kampf gegen die Konventionen, davon, das Richtige zu tun und von der großen Liebe, die allen Widrigkeiten trotzt.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Personenregister

Dezember 1859

Eins

Zwei

Dezember 1859 – April 1860

Drei

Vier

April 1860 – Mai 1860

Fünf

Sechs

Sieben

Dezember 1860 – Februar 1861

Acht

Neun

Februar – Mai 1861

Zehn

Elf

Mai – September 1861

Zwölf

Dreizehn

Dank

Über dieses Buch

Amerika, 1859: Der Konflikt zwischen den Nord- und Südstaaten spitzt sich zu. Als Frau aus dem Süden ist Susanna Belle in Washington starken Anfeindungen ausgesetzt, die ihre junge Ehe vor eine Zerreißprobe stellen. Schließlich findet sie eine erfüllende, aber nicht immer ungefährliche Aufgabe: Sie gewährt Frauen und Kindern Schutz vor ihren gewalttätigen Ehemännern und Vätern. Doch als der Krieg ausbricht, ist sie endgültig von ihrer Familie, ihren Bekannten und ihrer besten Freundin getrennt.

Die Lage der im Süden lebenden Nordstaatler wird nach Abraham Lincolns Wahl immer gefährlicher, so auch für Annie. Doch sie beschließt zu bleiben. Aus Liebe zu ihren Schülern, ihren Freunden – und wegen David. Dabei ist sie sich nicht einmal sicher, ob er ihre Gefühle überhaupt erwidert. Zudem besteht die Gefahr, dass der drohende Krieg eine Verbindung zwischen ihnen unmöglich macht. Und dann wirbelt ein schreckliches Ereignis das Leben aller auf Birch Island durcheinander.

Der fesselnde zweite Teil der großen Südstaaten-Saga erzählt vom Kampf gegen die Konventionen, davon, das Richtige zu tun und von der großen Liebe, die allen Widrigkeiten trotzt.

Über die Autorin

Hinter dem Namen Noa C. Walker verbirgt sich das Autorenehepaar Elisabeth und Christoph Büchle. Elisabeth ist das »Gesicht« des Autorenduos und brachte bereits als Kind unzählig viele kleine Geschichten zu Papier. Sie erlernte den Beruf einer Bürokauffrau im Groß- und Außenhandel und wurde anschließend noch examinierte Altenpflegerin. Im Jahr 2005 schickte sie ihr erstes Manuskript an einen Verlag, aus dem ihr Debütroman wurde. Christoph ist Pädagoge und begeisterter Sportler. Von Beginn an war er maßgeblich am Autorenalltag beteiligt. Elisabeth und Christoph sind seit 30 Jahren verheiratet, haben fünf Kinder und vier Enkelkinder. Ihr Markenzeichen sind gut recherchierte, romantische und äußerst spannende Romane, die bereits mehrfach ausgezeichnet wurden. Gleich mehrere ihrer Romane standen in den Top Ten der BILD-Bestsellerliste.

NOA C. WALKER

DieFunkender Hoffnung

Töchter der Freiheit

beHEARTBEAT

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Palana997/iStock/Getty Images Plus; f11photo/iStock/Getty Images Plus; paladin13/iStock/Getty Images Plus; katyakatya/iStock/Getty Images Plus; WoutervandenBroek/iStock/Getty Images Plus; MarkD800/iStock/Getty Images Plus; © Richard Jenkins Photography

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1526-3

be-heartbeat.de

lesejury.de

Personenregister

Albert und Nathan Jackson:

Susanna Belles jüngere Brüder

Alegra Weddington:

Tochter der Weddingtons

Alexander White:

Susanna Belles Arzt, Washington City

Alice Williams:

Matriarchin der Familie, die Großmutter

Andrew, Artus, Everett und Oliver Nells:

Cousins von Newton aus Missouri

Andy Becker:

Zeitungsinhaber, Washington City

Benjamin:

»Butler«, höchster Haussklave

Bessy:

Victorias »Mammy«

Beth Victor:

eine von Susanna Belles Schutzbefohlenen (und ihr Sohn Charles)

Edgar Blywether:

Ehemann von Madelyn

Robert »Bobby« Williams:

jüngster Spross von Richard, Annies Schüler

Roland Brady:

Sklavenhändler

Claire McGregor:

eine von Susanna Belles Schutzbefohlenen

Clarissa Mash:

Tochter der Mashs. Später: Ehefrau von Matthew Phelps

Crystal:

Annies »Mädchen«, Orleans Enkelin

Darius Campbell:

Sklave, der Dank Susanna Belle fliehen konnte

Devontae »Devon«:

Freund von Bobby

Frank Jackson:

Plantageneigentümer, Politiker

Garry:

Stallknecht, Kutscher

Harriet Blywether:

Schwiegermutter von Madelyn

Jennifer Tanner:

Annies Cousine, Marcus’ Schwester

Jordan Jackson:

Bruder von Susanna Belle, West-Point-Military-Academy-Kamerad von Kenneth und Marcus

Joshua Lane:

Pressezeichner, bei der Schlacht von Bull Run/Mannassas

Jules Rodin:

Lehrer der Jackson-Kinder

Julian Nells:

Kents Vater

Julie Marino:

Mariannas Freundin aus der Höhere-Töchter-Schule Charleston

Kenneth Williams:

ältester Sohn, Plantagenerbe

Lorena:

freigelassene Sklavin, Dienstmädchen bei Susanna Belle und Marcus, Washington City

Madelyn Blywether:

Freundin von Susanna Belle, Washington City

Marcus Tanner »Marc«:

Annies Cousin, Jennifers Bruder

Marianna Williams:

jüngere Tochter, ehemals Annies Schülerin

Mash:

Clarissas Vater. Zusammenstoß mit Annie bei den geflohenen Sklaven

Matthew Phelps:

Freund von Kenneth, Virginia-Military-Institute

Max Tanner:

Marcus’ und Jennifers Vater, Onkel von Annie

Darrel McPherson:

Gärtner

Mike Randows, Dr.:

Arzt bei Birch-Island-Platation

Mite:

Ruthies Sohn, Kenneth ist Mites Vater

Bill Newton Nells:

Plantagenerbe aus Missouri

Orlean »Granny«:

früher Davids »Mammy«, Crystals Großmutter

Paul Drane:

Pinkerton-Detektiv

Raven:

Stallbursche, Kutscher

Rebecca Sue Williams:

Kenneths Ehefrau

Richard Williams:

Witwer, Plantageneigentümer und Politiker

Ruthie:

Crystals Schwägerin, Mariannas »Mädchen«

Sadie Ann:

»Mädchen« von Alice

Sammy:

Feldsklave, später Vorarbeiter

Susanna Belle Tanner:

geborene Jackson aus South Carolina, Ehefrau von Marcus

Symphony Weddington:

Nachbarin, später Ehefrau von Thomas Barrie

Tamara Green:

Nachbarin und Freundin von Susanna Belle, Washington City

Jim Taylor:

Trees Mörder, ehemaliger Aufseher bei den Weddingtons

Timon Barrie:

jüngster Sohn der Barries

Thomas Barrie:

zweiter Sohn der Barries, West-Point-Military-Academy-Absolvent

Tree:

Orleans Enkel

Vanea McGregor:

Tochter von Claire

Victoria Williams:

ältere Tochter, Annies unwillige Schülerin

Dezember 1859

Eins

~New York City~

Jennifer Tanner war stets beunruhigt, wenn etwas Ungewöhnliches vor sich ging. Sie setzte sich auf die drittoberste Stufe der Treppe und spielte nervös mit ihrem blonden Haar.

Die Tanners waren erst heute aus der Hauptstadt zurückgekehrt, und nun wünschten zwei Männer mit unverkennbarem Südstaatenakzent ihren Vater zu sprechen. Da die Tür offen stand, war es ein Leichtes, das Gespräch mit anzuhören. Den Fremden war das Gerücht zugetragen worden, dass in Max Tanners Lehrerseminar flüchtige Sklaven versteckt wurden.

Jennifer drohte das Herz aus dem Leib zu springen, so heftig klopfte es. Max reagierte gelassen und erkundigte sich, ob denn ein Schwarzer gefunden worden sei. Zu Jennifers Erstaunen verneinten die Männer. Allerdings, so sagten sie weiter, gäbe es in einem Kellerraum Gegenstände, die darauf hinwiesen, dass sich dort jemand aufgehalten habe. Mit einem ängstlichen Flattern in der Magengegend schlich Jennifer in ihr Zimmer. Weshalb war Darius Campbell, der Sklave, der von ihrer Schwägerin Susanna Belle gerettet worden war, nicht in dem Kellerversteck aufzufinden gewesen?

Ein kräftiges Klopfen am Türrahmen schreckte Jennifer auf. Ihr Vater durchbohrte sie förmlich mit seinem Blick und gab sich keine Mühe, leise zu sprechen. »Im Keller des Seminars wurde ein Versteck entdeckt. Hast du damit zu tun?«

»Ich?«, brachte sie atemlos über die Lippen.

Max sah sie prüfend an. »Nein, das hast du nicht. Du ereiferst dich zwar über die Sklaverei, aber ich glaube nicht, dass dir das Schicksal eines Geflohenen nahegeht«, erwiderte er und kehrte zu den wartenden Männern zurück. Diesen erklärte er, seine Tochter würde zu wenig politisches Interesse zeigen, um in eine derartige Geschichte verwickelt zu sein. Daraufhin verabschiedeten sich die Fremden, und Jennifer atmete auf. Wie es aussah, hatten andere Helfer der Untergrundbahn ihren Passagier rechtzeitig weiterschleusen können.

Dennoch zog sie ihren Mantel aus dem Schrankkoffer, der nicht ausgepackt in ihrem Zimmer stand. Sie schlich aus dem Haus, bestieg eine Mietkutsche und fuhr zu Merryls Schneidergeschäft.

Deborah Merryl erschrak sichtlich, als Jennifer ihr von den Vorkommnissen berichtete, zumal die korpulente Frau nichts von einem vorverlegten Fluchttermin wusste. Auch Klaus West, der Kopf ihrer kleinen New Yorker Zelle, konnte Darius nicht aus dem Versteck geholt haben, denn er war zu seiner kranken Mutter gereist. Zutiefst verwirrt kehrte Jennifer nach Hause zurück und betrat, zitternd vor Furcht, womöglich auf einen Beobachtungsposten zu treffen, den Keller des Lehrerseminars.

Im Licht der Kerze tanzten riesige Schatten an den Wänden. Ratten huschten davon und verkrochen sich in irgendwelchen Löchern. Jennifer hielt die Lampe krampfhaft fest. So viele Male war sie hier entlanggegangen, doch nie zuvor hatte sie dabei solche Angst verspürt. Ein scharrendes Geräusch drang an ihr Ohr. Sie zwang sich energisch zur Ruhe. Es konnte von einem Tier stammen oder Hunderte andere harmlose Ursachen haben.

Entschlossen, Darius’ Verschwinden auf den Grund zu gehen, eilte sie zu der aufgebrochenen Holztür. Der Gestank von Exkrementen drang ihr entgegen und ließ sie die Nase krausziehen. Dieses Beweisstück hatten die Häscher leider zurückgelassen.

Sie bedauerte Darius, der hier ungewöhnlich lange hatte ausharren müssen. Doch ihm waren diese Umstände sicher lieber gewesen, als in den Süden zurückgebracht zu werden. Nur: Wo war er jetzt? War er dieses Rattenlochs überdrüssig geworden? Aber wenn er auf eigene Faust versucht hätte, seine Flucht fortzusetzen, hätten seine Häscher nicht die Tür aufbrechen müssen. Immerhin war diese stets von innen verschlossen.

Zögernd leuchtete Jennifer in jeden Winkel. Nur der grässlich stinkende Eimer stand in der Ecke. Sie drehte sich in Richtung des Belüftungsschachtes, und mit einem Mal durchfuhr es sie siedend heiß. Für gewöhnlich ließ das Fenster dort oben gedämpftes Licht herein. War es dem geflohenen Sklaven etwa gelungen, Halt in dem senkrechten Schacht zu finden; sich wie ein Keil zwischen die Wände zu klemmen? Hatte dies das Geräusch von vorhin verursacht?

»Mr Campbell?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Ich bin es, Jennifer!« Alles blieb still. »Ich habe Susanna Belle Jackson getroffen. Sie hat meinen Bruder geheiratet. Sie möchte bald die Campbells besuchen, um Ihrer Mutter Susannah zu erzählen, dass Sie es bis hierher geschafft haben.«

Ein langgezogenes Stöhnen drang aus der Dunkelheit. Diesem folgte ein schabendes Geräusch, dann landete eine Männergestalt auf dem schmutzigen Steinboden. Jennifer taumelte einen Schritt zurück.

Darius richtete sich auf und grinste sogar. Es erschien ihr wie ein Wunder: Der Hüne stand unversehrt vor ihr.

»Ich danke Gott, dass er Sie so bald hierhergeschickt hat«, sagte er.

»Ich auch, denn eigentlich habe ich hier nichts zu suchen. Als Versteck ist der Raum nicht mehr zu gebrauchen.«

Da das Schulhaus vermutlich unter Beobachtung stand, war es dringend geboten, Darius von hier fortzubringen. Der kleine Garten ihrer Mutter kam ihr als vorübergehendes Versteck in den Sinn. Dort gab es eine Gartenlaube, allerdings würde es darin bitterkalt sein. Darius versicherte ihr, dass er eine Nacht in der Kälte aushalten würde, und so huschten sie gleich darauf aus dem Gebäude und erreichten sicher die im Winterschlaf liegende Laube.

~South Carolina~

Annie Braun betrat das kleine Unterrichtszimmer auf Birch-Island-Plantation. Die Tafel an der Wand war sauber geputzt, die drei Bänke standen akkurat in einer Linie und die Stühle ordentlich dahinter. Eine der beiden Flügeltüren war offen und ließ die gelben Vorhänge im Dezemberwind schwingen. Im Raum war es kühl, also eilte die junge Lehrerin zur Fensterfront und schloss die oben abgerundete Verandatür.

Sie war nur wenige Tage fort gewesen, und doch hatte sie den Schulraum, ihr Mansardenzimmer und die Menschen hier vermisst.

Der sechsjährige Bobby huschte als Erster herein. Seine braunen Locken sahen aus, als habe seine Mammy diese glatt bürsten wollen. Er schloss die Tür hinter sich, was Annie zu einem Stirnrunzeln verleitete. Seine ältere Schwester Victoria kam zwar des Öfteren zu spät, doch der Junge hatte für sie stets die Tür offen gelassen.

»Was ist mit Victoria?«

»Sie will nicht mehr zur Schule. Sie redet gerade mit Pa.«

Bekümmert sah Annie auf die beiden verwaisten Plätze. Da Marianna nun auf der höheren Töchterschule in Charleston weilte, wollte Victoria ihren Unterricht wohl beenden. Annie gab dem Kleinen eine Aufgabe und begab sich zum Frühstückszimmer, wobei sie kurz prüfte, ob ihr einfacher Haarknoten ihre schwarzen Locken noch bändigte.

Sie würde dem Wunsch der schwierigen Sechzehnjährigen nachgeben müssen, um sie sich nicht zur Feindin zu machen. Dies war nichts, wovor Annie sich fürchtete, dennoch wollte sie es vermeiden, zumal Victoria alt genug war und die Tragweite ihrer Entscheidungen verstand.

Beim Eintreten spürte sie die gereizte Stimmung, die wie eine Gewitterwolke über den Anwesenden zu hängen schien. Dennoch begrüßte Richard, der Patriarch der Williams’, Annie mit einem freundlichen Nicken. Dunkle Schatten unter seinen Augen und eine fahle Gesichtsfarbe offenbarten seine Erschöpfung. Er war Tage zuvor von einem politischen Treffen aus Charleston zurückgekehrt. Die Sorge um seine geliebte Heimat hinterließ an ihm unübersehbare Spuren.

Annie goss sich einen Kaffee ein und setzte sich. Über den Rand ihrer Tasse hinweg beobachtete sie Victoria, deren kantige Gesichtszüge nicht recht zu ihrem herausgeputzten Erscheinungsbild passen wollten.

Der Witwer räusperte sich, und seine linke Hand, den rechten Arm hatte er im Mexico-Krieg verloren, strich nervös über eine Falte der Tischdecke. Da Annie ihn vor einer neuerlichen Diskussion bewahren wollte, sagte sie: »Victoria, bist du der Meinung, genug von dem gelernt zu haben, was dir für dein zukünftiges Leben von Nutzen sein wird?«

Das Mädchen mit dem hellbraunen Haar reckte übertrieben geziert das Kinn. »Ich habe genug theoretischen Unsinn erlernt. Alles andere wird mir meine Mammy beibringen.«

Annie hielt nicht viel von der Mammy, die Victoria wie eine Prinzessin verhätschelte. Bessy blickte auf all jene Sklaven herab, die nicht mindestens denselben Stand innehatten, für arbeitende Weiße – wie Annie – hatte sie rein gar nichts übrig.

»Dann werde ich dir ein Abschlusszeugnis ausstellen. Möchtest du ab sofort Annie zu mir sagen, oder ist es dir lieber, wenn ich dich mit Miss Victoria anspreche?«

Die Sechzehnjährige war von dieser Frage sichtlich überrascht. »Miss Victoria!«, entschied sie schließlich und reckte die Nase noch etwas höher.

Annie trank den Kaffee aus und erhob sich. »Ich hoffe, für Sie ist das in Ordnung, Mr Williams?«

Der Angesprochene nickte dankbar. Nun konnte er sich wieder seinen Aufgaben auf der Plantage und dem politischen Geschehen widmen.

Betrübt ging Annie durch das herrschaftliche Atrium in den angrenzenden Gebäudeflügel, wo sich auch der Unterrichtsraum befand. Ihr, die sie immer davon geträumt hatte, im Mittleren Westen eine Horde Farmerkinder zu unterrichten, blieb nun nur noch ein einziger Schüler.

»Victoria kommt nicht mehr«, äußerte Bobby seine Vermutung, was Annie bestätigte. »Sind Sie deswegen traurig?«

»Ein wenig.«

»Obwohl sie oft so frech war?«

»Ich unterrichte einfach gern. Jetzt bleibst nur noch du.«

»Das ist doch gut. Dann können Sie mir mehr über das Plantagenleben beibringen. Ich beschwere mich nicht über Spaziergänge in der Sonne und matschige Füße.«

»Gut, abgemacht. Wir werden unseren praktischen Unterricht wieder ausweiten. Jetzt möchte ich mir aber deine Aufgaben ansehen.«

Bobby brachte seine Schiefertafel nach vorn, und gemeinsam gingen sie seine Lösungen durch.

Später, beim Lunch, traf Annie das erste Mal seit ihrer Rückkehr aus Washington auf David Williams. Der junge Mediziner, mit seinen braunen Locken und den dunklen Augen eine ältere Ausgabe von Bobby, wirkte kaum weniger erschöpft als sein Vater.

David hob den Kopf und fing ihren besorgten Blick ein. Daraufhin schob er den Teller in die Tischmitte, wo er von einer Haussklavin entfernt wurde. Die Arme in der ihm typischen Haltung vor der Brust verschränkt, lehnte er sich an die Stuhllehne zurück und musterte Annie ungeniert. »Warum sehen Sie mich so besorgt an?«, erkundigte er sich geradeheraus.

Annie hatte Mühe, sich nicht an der Suppe zu verschlucken, so ertappt fühlte sie sich. »Sie sehen müde aus, Dr. Williams.«

»Dann bin ich ja meinem Vater ähnlicher.«

Annie konnte nicht ergründen, ob er sich über etwas lustig machte, dessen Sinn sich ihr nicht erschloss, doch David fuhr ohnehin fort: »Ich bin mit Dr. Randows übereingekommen, ihm zur Hand zu gehen. Wir haben sein Einzugsgebiet aufgeteilt. Seither frage ich mich, wie er all die Verletzungen, Krankheiten und Geburten allein bewältigen konnte.«

Ein Räuspern aus dem nebenan gelegenen Salon, in dem sich Davids Schwägerin Rebecca Sue aufhielt, warnte ihn, sich mit Tabuthemen wie Geburten zurückzuhalten. Ein rebellisches Schmunzeln war seine Antwort darauf. »Jedenfalls habe ich eine Menge Patienten zu versorgen. Heute Nacht hatte ich keine Sekunde Schlaf.«

Wieder kam eine Reaktion aus dem Nebenzimmer, diesmal von Kenneth, Davids älterem Bruder. »Warum läufst du auch bei jedem Lumpenpack ins Haus? Nachdem du schon so närrisch warst, statt zur Militärakademie zu gehen oder Anwalt zu werden, einen Doktor aus dir zu machen, überlass wenigstens dem alten Randows das Gesindel. Begnüge dich mit Gleichgestellten.«

»Das Problem ist nur, dass vor allem die Ehemänner der gleichgestellten Damen mich nicht in die Schlafräume ihrer Frauen lassen.« David zwinkerte Annie verschwörerisch zu.

Ein entsetzter Ausruf vonseiten Rebecca Sues war die Antwort auf Davids Provokation. Nach einem schwierigen Beginn ihrer Schwangerschaft ging es ihr dieser Tage erfreulich gut.

Annie hatte den Kopf gesenkt und widmete sich intensiv ihrem Sandwich. Das Gespräch der Brüder, über zwei Räume hinweg geführt, bereitete ihr heimlich Vergnügen.

»Und wenn du annimmst, die Gleichgestellten erfreuen sich besserer Krankheiten, dann irrst du dich. Zu fettes Essen und zu viel Alkohol, zu wenig Bewegung und ausschweifende Nächte scheinen kein gesunder Lebensstil zu sein.«

»Dir macht es entschieden zu viel Spaß, ständig aus der Reihe zu tanzen, kleiner Bruder!«

David grinste und setzte erneut zum Sprechen an, doch da betrat seine Großmutter Alice Williams den Speisesaal. Prompt erhob er sich und schob der eleganten Frau den Stuhl zurecht.

Sie hielt ihren Enkel zurück, indem sie ihre schlanke Hand auf seinen gebräunten Arm legte. Ausnahmsweise ließ sie die zurückgekrempelten Hemdsärmel unkommentiert durchgehen. »Mir kam zu Ohren, dass du heute Nacht zwei gesunden Babys auf die Welt geholfen hast. Gratuliere! Du bist erfolgreich in deinem Beruf. Das ist es, was zählt!«

»Ich danke dir, Großmutter!« David setzte sich, nicht ohne zuvor einen bedeutungsvollen Blick durch die offene Tür ins Nebenzimmer zu werfen. Annie lächelte heimlich in sich hinein. Einmal mehr hatte sich Alice über die von ihr selbst so hochgehaltene Etikette hinweggesetzt.

»Wie ich höre, Miss Braun, haben Sie Victoria diesmal ihren Willen gelassen?«, fragte diese prompt.

David hob interessiert den Kopf, und Kenneth erschien in der Tür. Annie legte sich ihre Antwort mit Bedacht zurecht. Bei Alice war sie sich nie sicher, wie sie reagieren sollte, ohne die Dame zu reizen, sich selbst dabei aber treu zu bleiben. »Miss Victoria ist sich gewiss, dass sie sich genug schulisches Wissen angeeignet hat.«

Die Matriarchin musterte die Hauslehrerin mit ihren dunklen Augen, die allen Williams’ – bis auf Marianna – zu eigen waren. Sie ließ keine Gefühlsregung erkennen, und Annie kam nicht umhin, zu vermuten, dass die Frau eine gute Pokerspielerin wäre.

»Wenn ich Ihre vorsichtig formulierten Worte richtig deute, sind Sie anderer Meinung?«

»Geschichte wird geschrieben, neue Entwicklungen werden vorangebracht und immer fernere Länder bereist. Keiner von uns wird jemals ausgelernt haben.«

»In welchem Lebensjahr sind Sie noch gleich?«

»Im Zwanzigsten, Mrs Williams.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht der alten Dame, was einen kaum wahrnehmbaren Strahlenkranz um ihre Augen hervorbrachte.

»Neunzehn Jahre …« Sie dehnte die Worte und schien in Erinnerungen zu versinken. Annie wandte sich ihrem Teller zu, erleichtert darüber, nicht länger Mittelpunkt des Geschehens zu sein. Umso unvorbereiteter traf sie die nächste Frage. »Warum sind Sie nicht verheiratet?«

Annie schluckte mühsam den Bissen hinunter. »Wie bitte?«

»Ich fragte, warum Sie nicht geheiratet haben? Vermählen sich die Frauen im Norden – oder woher auch immer Sie stammen – später als die Mädchen hier?«

»Nicht unbedingt. Meine Schwester Sophia hat geheiratet, als sie sechzehn wurde.«

»Erlassen wir Miss Braun doch diese Frage. Immerhin hat nicht jede Frau die Möglichkeit, zu heiraten«, erklang Rebecca Sues Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Dummes Zeug!«, gab Alice harsch von sich. »Miss Braun ist keine Frau, die ohne Verehrer durchs Leben geht.«

»Das mag sein, doch es gibt vielfältige Gründe, die eine Heirat verhindern«, wandte Rebecca Sue ein.

»Auch davon traue ich Miss Braun keinen zu.«

Annie war sich nicht sicher, ob sie froh sein sollte, dass das Gespräch über ihren Kopf hinweg geführt wurde. Kenneths vergnügtes Auflachen veranlasste sie, den Mann mit dem schwarzen Haar und dem üppigen Bartwuchs drohend anzublitzen, was er nicht bemerkte.

Plötzlich eilte Bobby an Annies Seite und erklärte mit der ganzen Ernsthaftigkeit eines Sechsjährigen: »Ich werde Miss Annie heiraten. Sobald ich alt genug bin.«

Alice lächelte nachsichtig, wohingegen Kenneth näher trat und dem Nesthäkchen gönnerhaft auf die Schulter klopfte. »Herzlichen Glückwunsch!« Er verließ den Speiseraum, jedoch nicht, ohne ein weiteres Mal aufzulachen.

Bobby setzte sich auf den Platz neben Annie. Erleichtert über seine Anwesenheit lächelte sie ihren Schüler an und bedankte sich für seinen Antrag. Sein Zwinkern brachte sie erneut aus dem Konzept. War ihm bewusst, dass er sie durch seinen kindlichen Heiratsantrag aus einer unangenehmen Situation gerettet hatte?

Am darauffolgenden Morgen saß Annie im Unterrichtszimmer und wartete diesmal auf Bobby. Er verspätete sich häufig zu den Mahlzeiten, doch zum Unterricht war er bisher immer pünktlich erschienen. Kopfschüttelnd erhob sie sich. Direkt vor der Tür traf sie auf Richard. »Guten Morgen, Miss Braun.«

»Guten Morgen.« Annie entdeckte Bobby und dessen schwarzen Freund Devontae hinter dem Hausherrn. Beide grinsten so breit, dass ihre Mundwinkel beinahe die Ohren berührten.

Annie trat beiseite, um die drei einzulassen. Bobby huschte flink auf seinen Platz und bedeutete dem Sklavenjungen, sich an den Tisch neben ihn zu setzen. Für einen Augenblick rechnete Annie damit, dass Richard sich auf den verbliebenen dritten Stuhl setzte, doch er blieb beim Pult stehen. Dabei sah er wie ein zurechtgewiesener Schüler aus, der auf seine Bestrafung wartete. So unbeholfen hatte Annie ihn nur ein einziges Mal erlebt: Als er sich bei ihr für seinen Heiratsantrag entschuldigt hatte.

»Ein paar Nachbarn haben mich gebeten, Sie für einige Unterrichtsstunden bei ihren Kindern freizustellen. Ich wollte Ihnen jedoch die weiten Wege nicht zumuten.«

Annie nickte dankbar. Die Entfernungen zwischen den Plantagen waren teilweise beträchtlich, zudem wusste man nichts über den Verbleib von Jim Taylor, der auf Rache an Annie sann.

»Gleichzeitig hat Bobby seinen Unmut darüber geäußert, allein im Unterricht zu sitzen. Er kam mit dem Vorschlag, Devontae … mitzubringen.«

Erleichtert registrierte Annie, dass Bobby sich an ihre Warnung gehalten hatte. Er hatte nicht verraten, dass er seinen Freund heimlich unterrichtete.

»Natürlich können Sie diesen Wunsch ablehnen, wobei Bobby – und ich muss zugeben, ich ebenfalls – davon überzeugt ist: Sie heißen Devontae als neuen Schüler gern willkommen.«

Annie nickte beipflichtend, darum bemüht, ihre Begeisterung nicht zu offen zu zeigen, und Richard fuhr fort: »Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie Crystal so geschult haben, dass sie im Kontor eine angenehme Unterstützung für mich ist. Sie unterrichten sie noch immer, nicht wahr?«

Crystal, die gleichaltrige Sklavin, die ihr eigentlich als eine Art Zofe dienen sollte, war begierig aufs Lernen. Also brachte Annie ihr deutlich mehr bei als nur das, was sie für die von Richard übertragenen Arbeiten benötigte. Musste dieser Unterricht nun ein Ende haben?

»Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass Sie Crystal ebenfalls in den regulären Unterricht aufnehmen. Es sei denn, Sie brauchen sie für Ihre privaten Zwecke oder sie ist für mich unabkömmlich.«

Annie war zu verdutzt über dieses großzügige Angebot, um eine Antwort parat zu haben. Richard verstand ihr Schweigen allerdings falsch. »Es ist Ihre Entscheidung. Ich dachte nur, Sie könnten dadurch etwas mehr freie Zeit für sich gewinnen.«

»Nein, das ist ein guter Gedanke. Vielen Dank, Mr Williams.«

»Die Zeichen stehen auf Sturm. Vielleicht sollten wir unsere Leute nicht gänzlich … hilflos lassen.« Richard sah zu Devontae, der glücklich strahlte. »Aber einen Wunsch habe ich noch: Ich gebe Ihnen offiziell den Auftrag, die Jungen mit allen Belangen der Plantage bekanntzumachen. Dazu gehört auch die politische Situation unseres Landes.«

Annie hegte den leisen Verdacht, dass Richard damit etwaigen Sklavenunruhen zuvorkommen wollte. Wenn der Sklavenjunge unter seinesgleichen von den lauter werdenden Bestrebungen erzählte, die Sklaverei abzuschaffen, würden diese womöglich stillhalten – in der Hoffnung auf ihre baldige, rechtlich legitime Freiheit.

Richard wünschte Annie einen guten Tag und verließ das kleine Zimmer.

»Sind Sie zufrieden?«, fragte Bobby unverzüglich.

»Das hast du dir sehr schlau ausgedacht und deinem Vater gegenüber gut begründet, junger Mann.«

Bobby strahlte seine Lehrerin an, doch Devontae verpasste seinem Stolz einen Dämpfer. »Master David hat uns geholfen.«

»Aber nur anfangs! Das Gespräch habe ich allein geführt.«

»Es ist nichts Unehrenhaftes dabei, wenn man sich vor einer schwierigen Unterhaltung Rat einholt. Das war sehr weise von euch beiden. Und jetzt möchte ich gern sehen, wie viel Devon schon gelernt hat.«

Annie unterzog die Jungen einem kleinen Test. Sie lösten Rechenaufgaben, beantworteten Fragen zur amerikanischen Geschichte und schrieben ein paar Sätze an die Wandtafel. Annie freute sich über einen weiteren aufgeweckten Schüler, wohl wissend, dass dessen und Crystals Unterricht Richard einige Schwierigkeiten einbringen könnte …

~Washington City~

Susanna Belle Tanner huschte zwischen dem bollernden Herd und dem kleinen Ecktisch hin und her. Ihr Gesicht war gerötet, doch ihre grünen Augen glänzten glücklich. Ihr frisch angetrauter Ehemann Marcus, Annies Cousin, verschlang Unmengen ihrer Pfannkuchen und beteuerte, niemals etwas Besseres gegessen zu haben.

Die beiden fühlten sich zwischen Vorratsbehältern, Kräuterkästen, Pfannen und Töpfen wohl. Der Hofstaat, wie Marcus Susanna Belles Familie mitsamt ihrer Sklavenschar nannte, war endlich nach South Carolina zurückgereist, und das junge Paar genoss die traute Zweisamkeit.

Allerdings hatte Susanna Belle rasch festgestellt, wie wenig Ahnung sie von häuslichen Pflichten hatte. Einem Haushalt vorzustehen und diesen zu leiten, das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. Den Herd selbst zu befeuern, zu kochen oder einzukaufen und dabei auch noch die Wohnung sauber zu halten war ihr fremd. Daher musste Marcus ihr zur Hand gehen, worüber er sich gutmütig lustig machte.

Die schwarzhaarige Südstaatenschönheit war erleichtert, dass ihre Eltern Lorena bei ihnen gelassen hatten. Die dünne Sklavin steckte voller Tatkraft und trieb die verwöhnte und durchaus gemächlich agierende Hausherrin auf liebenswürdige Art zu immer neuen Herausforderungen an. Lorena lehrte sie geduldig, und Susanna Belle war eine aufmerksame Schülerin.

Marcus, groß gewachsen und breit gebaut, hatte Lorena nach der Abreise der Jacksons zu sich bestellt und ihr erklärt, dass sie fortan keine Sklavin mehr sei. Das, was Lorena sicher niemals zu hoffen gewagt hatte, war eingetreten: Sie bekam Lohn für ihre Arbeit, genau eingeteilte freie Zeit und durfte sich frei bewegen.

Anfangs war ihr anzumerken, dass sie mit Letzterem nichts anzufangen wusste. Sie lief unruhig durchs Haus und den Garten und wagte nicht, das Grundstück zu verlassen. Mehrmals kam sie händeringend angelaufen, wenn sich Susanna Belle mit einer Arbeit abmühte. Schließlich besorgte diese Garn und einen Stickrahmen, und Lorena entdeckte ihre Freude an filigraner Handarbeit.

Am heutigen Tag jedoch hatte sie ihre Freilassungsurkunde eingesteckt und einen Spaziergang durch das Wohnviertel angetreten. Aus diesem Grund mussten die Frischvermählten ihr Frühstück allein zubereiten.

Marcus zog seine Taschenuhr hervor und sprang dann erschrocken auf. »Ich wollte doch frühzeitig zur Kanzlei, damit ich nicht mitten in eine Besprechung platze.«

Obwohl Susanna Belle gern noch sitzen geblieben wäre, zwang sie sich zu einem Nicken. Es war wichtig, dass Marcus sich endlich bei der Adresse meldete, die Paul Drane, der Pinkerton-Detektiv, ihm gegeben hatte. Sie folgte ihrem Ehemann ins Foyer, wo dieser in seinen Wintermantel schlüpfte. »Gut siehst du aus.«

»Und du erst: gelöste Haare, rote Wangen, verschmutzte Schürze und eine aufgekrempelte Bluse.« Er lachte über ihren betretenen Gesichtsausdruck und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Als er die Tür fast schon geschlossen hatte, streckte er nochmals den Kopf herein. »Ich liebe dich, Mrs Tanner!«

Beschwingt tanzte Susanna Belle zurück in die Küche, um dort Ordnung zu schaffen, hielt dann aber inne und betrachtete ihre Finger. Der Stolz jeder Südstaatenfrau – makellose, weiche Hände – schwand bereits dahin. Ihre schlanke Statur würde spätestens nach dem ersten Kind ruiniert sein. Nur ihr porzellangleicher Teint war wohl zu retten.

Sie zuckte mit den Schultern und goss Wasser aus einem Holzeimer in einen großen Topf. Sie hatte, obwohl dies lange aussichtslos erschienen war, endlich Marcus heiraten dürfen – alles andere war unwichtig.

Nach getaner Arbeit zog Susanna Belle eines ihrer neuen Kleider an und hüllte sich in ein großes Umschlagtuch. Sie wollte einen ersten Besuch in der nahe gelegenen Kirchengemeinde nicht länger aufschieben, schließlich galt es, dort Kontakte zu knüpfen. In einer Stadt wie dieser gab es sicher unzählige Komitees, denen Frauen beitreten konnten, um ihre freie Zeit sinnvoll zu füllen.

Leise summend verließ sie das Haus. Drei Querstraßen weiter erreichte sie eine weiß getünchte Kirche mit einem schlanken Kirchturm. Im Vorraum hielten sich mehrere Damen auf. Eine von ihnen entdeckte Susanna Belle und machte eine zweite Frau in einem olivgrünen Seidenkleid auf sie aufmerksam. Jene, Susanna Belle schätzte sie auf Mitte fünfzig, hatte einen beachtlichen Körperumfang. Mit wiegendem Schritt kam sie Susanna Belle entgegen.

»Ah, ein neues Gesicht, wunderbar! Willkommen, willkommen! Legen Sie ab, und kommen Sie näher!« Atemlos stoppte sie vor Susanna Belle und nahm ihr kurzerhand den Schal ab.

Die grauhaarige Frau stellte sich mit unüberhörbarem Nordstaatenakzent als Harriet Blywether vor. »Ich bin die Vorsitzende des Komitees zur Förderung christlicher Erziehung elternloser Kinder, und ich heiße Sie bei uns herzlich willkommen.«

Susanna Belle hatte sogleich das Gefühl, hier genau am richtigen Platz zu sein. Immerhin lagen ihr Kinder sehr am Herzen.

Die anderen Frauen stellten ihre Tätigkeit ein und kamen interessiert näher, wobei die jüngste kaum älter als sie selbst mit ihren achtzehn Jahren sein konnte.

Harriet ratterte die Namen aller Anwesenden herunter, doch Susanna Belle konnte sich nur den von Madelyn merken, da sie die Schwiegertochter der Vorsitzenden war.

»Wir bereiten gerade einen Basar vor, der in zwei Tagen stattfinden wird. Sie können Madelyn zur Hand gehen und die Tische dort an der Wand mit buntem Krepp überziehen«, schlug Harriet vor.

»Wie oft treffen Sie sich?«, begann Susanna Belle ein Gespräch mit der schüchtern wirkenden Madelyn und ließ sich von ihr ein Stück blauen Krepp reichen.

»Einmal in jeder Woche. Immer freitags.« Ein eigentümliches Bedauern lag in der erstaunlich tiefen Stimme ihrer Gesprächspartnerin.

»Stimmt etwas nicht, Mrs Blywether?«

Die junge Frau schüttelte nur den Kopf und arbeitete hastig weiter. Sie hatten fast alle Tische überzogen, als Harriet zu ihnen stieß und ihr Werk begutachtete. »Sie sind überaus geschickt.«

»Danke, ich helfe gerne. Was kann ich denn sonst noch tun?«

Als habe Susanna Belle eine ansteckende Krankheit, wich Harriet vor ihr zurück. Verwirrt blickte die junge Frau an sich herab und dann zu Madelyn, die sich mit traurigem Gesichtsausdruck abwandte. Deren Schwiegermutter schien sich mittlerweile erholt zu haben – wovon auch immer. Die braunen Augen wirkten nahezu schwarz vor Wut. Oder war es gar Hass?

»Diese gedehnte, schleifende Aussprache! Wo, um Gottes willen, kommen Sie her?«

Susanna Belle atmete erleichtert auf. Daran, dass sie die Vokale in die Länge zog, würde sich die Frau sicher bald gewöhnen. »Ich stamme aus South Carolina.«

»Ausgerechnet South Carolina! Die schlimmste Sorte dieser Sklavenhalter, Aufwiegler, Schmarotzer und Lumpen! Und Sie wagen es, einen Fuß in unser Gotteshaus zu setzen?« Harriets Gesicht lief rot an.

»Aber …?«

»Hinaus! Hinaus mit Ihnen, bevor ich die Peitsche hole und Sie spüren lasse, was Sie Ihren Sklaven antun!«

»Mrs Blywether, ich –«

»Ich will nichts hören! Hier gibt es keinen Platz für Leute wie Sie!«

Madelyn trat einen Schritt vor und wandte leise ein: »Mutter, Mrs Tanner konnte nicht wissen –«

»Du, halt den Mund! Du hast dich doch mit ihr unterhalten. Unverzüglich hättest du sie hinausjagen müssen. Wenn ich das Edgar erzähle.«

Resigniert wandte Madelyn sich wieder dem Krepp zu.

»Verlassen Sie endlich unsere Kirche!« Dieser laut ausgestoßene Befehl kam von einer anderen Anwesenden.

Susanna Belle raffte ihren Rock und begann zu rennen. Donnernd, aber kaum vergleichbar mit dem Gewitter, welches sie soeben vonseiten der Frauen erlebt hatte, schlug die Tür hinter ihr zu. Ihr war furchtbar kalt, zumal ihr Umschlagtuch in der Kirche geblieben war. Umzukehren wagte sie jedoch nicht. Nie zuvor hatte sie solchen Hass zu spüren bekommen!

Nach Atem ringend erreichte sie ihr Grundstück und schloss das schmiedeeiserne Tor hinter sich. Das erwartete Gefühl von Sicherheit blieb allerdings aus. Also stürmte sie durch den Garten zur Haustür.

Nur wenige Zentimeter neben ihrem Kopf schlug ein Stein gegen die Tür. Ein zweites Geschoss traf eine der weißen Schindeln. Diese zersprang in Tausende Splitter. Gehetzt wirbelte Susanna Belle um die eigene Achse. Dabei wickelte sich der Rock um ihre Beine. Auf der Grundstücksmauer standen zwei Männer und bewarfen sie mit Steinen.

Zwei

~South Carolina~

Die Birkenstämme hoben sich golden vor dem mit dunklen Wolken verhangenen Himmel ab. Die biegsamen Äste, ihrer Blätter beraubt, schwangen im Wind, knisterten und knackten. Die Kieselsteine der Allee lagen unscheinbar grau und schmutzig in ihrem Wegbett und knirschten unter jedem von Annies Schritten. Die junge Frau hatte sich in ihr warmes Tuch gehüllt und genoss die kräftigen Böen, die ihr Haarsträhnen ins Gesicht bliesen und an ihren Kleidern zerrten.

Crystal hatte sich gefreut, nun offiziell den Unterricht besuchen zu dürfen, ihre Großmutter Orlean stand dem kritisch gegenüber. Annie hatte sich lange mit der alten Sklavin unterhalten, ihr von Susanna Belles und Marcus’ Hochzeit erzählt und Passagen aus Mariannas Brief an die Familie vorgelesen. In diesen wurde auch Orleans Schwiegerenkelin Ruthie und ihr Urenkel Mite erwähnt.

Annie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie in der Einfahrt zum Rondell einen Buckboard entdeckte. Dessen Eigentümer hatte es offenbar nicht gewagt, an den Palmettopalmen vorbei zur Freitreppe vorzufahren. Sie trat an den Wagen heran, auf dem ein schäbig gekleideter Mann Mitte vierzig saß, der mit geballter Faust auf seinen Oberschenkel einschlug.

»Kann ich Ihnen helfen?«, rief sie gegen den tosenden Wind an.

»Danke, Madam. Der Schwarze an der Tür sagte, dass er den Doktor rausschicken will. Wissen Sie, meine Frau, na, wir bekommen ein Kind, und es geht nicht so richtig voran.« Verlegen schaute er über Annie hinweg.

»Ich sehe nach, wo der Arzt bleibt«, bot Annie an und eilte mit hochgerafftem Rock die Freitreppe zur weiß gekalkten Holzveranda hinauf. Vor der lindgrünen Haupttür lief sie beinahe in den Gesuchten hinein und strauchelte. Er hatte seine Arzttasche in der einen Hand, mit der anderen hielt er sie am Ellenbogen fest. »Wohin so stürmisch?«

»Sie sollten es etwas eiliger haben, Dr. Williams.«

»Es ist das erste Kind der beiden. Das dauert, und die Männer sind gern mal wie aufgescheuchte Hühner. Aber Sie dürfen mir gratulieren. Es ist mein drittes Kind innerhalb von zwei Tagen.«

»Ihr drittes Kind? Interessant, Dr. Williams. Herzlichen Glückwunsch.«

Der Mediziner grinste breit über ihren kleinen Scherz, ehe er die rund um das Gebäude verlaufende Veranda verließ.

Annie war gerade auf der schmalen Treppe zum Dachboden angelangt, als sie Rebecca Sue mit sich überschlagender Stimme nach Kenneth rufen hörte. Erschrocken hielt sie inne. Die Frau klang hysterisch. Also lief sie wieder hinunter und traf am Torbogen zum Wohnflügel der Williams’ auf die völlig aufgelöste Rebecca Sue. Eine dünne Blutspur zog sich über den Flurboden. Ohne Vorwarnung hob Annie Rebecca Sues Röcke und Unterröcke an und keuchte auf, da die Schwangere in einer Blutlache stand.

»Legen Sie sich sofort auf Ihr Bett!«, befahl Annie bemüht ruhig, während ihr Herz vor Panik wild hämmerte. Rebecca Sue folgte der Aufforderung seltsam mechanisch.

Annie eilte zur Galeriebrüstung, die in Höhe des zweiten Stockwerks das gesamte Atrium umspannte, und beugte sich weit über diese. Sie entdeckte den Butler Benjamin bei einer der schlanken Säulen.

»Missus Rebecca Sue verliert ihr Kind! Jemand soll mit einem Wagen zu Orlean hinausfahren und sie holen. Ein Reiter muss Dr. Williams oder Dr. Randows verständigen!«

Als Benjamin nickte, eilte Annie durch den stuckbesetzten Torbogen in den Familienflur und betrat zum ersten Mal die privaten Räume von Rebecca Sue und Kenneth. Für die golddurchwirkten Tapeten, gemusterten Teppiche, wuchtigen Nussholzmöbel, Kristalllüster, Damastvorhänge und allerlei wertvollen Tand hatte sie allerdings keinen Blick. Sie trat vom Salon in Rebecca Sues Schlafzimmer. Die Frau lag zusammengekrümmt auf einem riesigen Bett, umgeben von einem erschreckend großen Blutfleck.

Annie kniete sich auf die Matratze und schob Rebecca Sues Röcke hoch, ohne auf ihren Protest zu achten. Mit zitternden Fingern löste sie die Krinoline und warf sie so achtlos beiseite, dass die Federstahlbänder nur so klapperten. Annies Verdacht war wohl bittere Realität: Rebecca Sue würde ihr ungeborenes Kind verlieren.

~Washington City~

Zu Marcus’ maßlosem Erstaunen hatte er unter der angegebenen Adresse keine Anwaltskanzlei, sondern das Verlagshaus einer Washingtoner Zeitung gefunden. In der Annahme, der Inhaber benötige einen Anwalt für seine Rechtsstreitigkeiten, hatte er nach Andy Becker gefragt. Umso erstaunter war er, zu hören, dass man ihm einen Posten als Journalist anbot. Andy suchte jemanden mit politischem und juristischem Hintergrundwissen, der zudem die Gepflogenheiten des Südens und des Nordens kannte. Jener Reporter sollte hauptsächlich über die bevorstehenden Wahlen berichten.

Der Verleger hatte zwar ein üppiges Gehalt angeboten, dennoch hatte Marcus um einen Tag Bedenkzeit gebeten. Auf dem Heimweg beschäftigte ihn der Umstand, dass er eigentlich Jurist und kein Schreiberling war. Andererseits fand er die Aufgabe verlockend, zumal die ihm die Möglichkeit zu Reisen bot. Und genau dies war der Punkt, an dem er von seiner Frau Einspruch erwartete. Immerhin waren sie erst seit ein paar Tagen verheiratet. Um sicherzugehen, dass sie gut auf sich aufpasste, würde er ihr zudem von den grässlichen Wandschmierereien an ihrem Hochzeitstag erzählen müssen.

An der Tür begrüßte ihn Lorena ungewöhnlich aufgeregt. »Endlich kommen Sie, Mr Tanner. Ihre Frau ist völlig aufgelöst. Sie stand hier in der Kälte und konnte mir nicht sagen, was geschehen ist. Ich habe sie mit heißen Backsteinen ins Bett gesteckt. Gehen Sie nur schnell zu ihr.«

Zwei Stufen auf einmal nehmend lief er in den oberen Stock und stürmte ins Schlafzimmer. Seine Frau schrak hoch, sank aber wieder in die Kissen zurück. Marcus setzte sich auf die Bettkante und ergriff ihre kalten Hände. »Was ist passiert?«

Eine Flut unzusammenhängender Worte floss über ihre Lippen, bis Marcus sie fest in seine Arme schloss. Sie weinte herzzerreißend, während er ihr über das schwarze Haar strich.

»Jetzt noch mal. Der Reihe nach«, forderte er sie leise auf.

Susanna Belle kuschelte sich an ihn und erzählte von den Frauen in der Kirche und den Steinewerfern. Als sie geendet hatte, murmelte sie: »Ich habe solche Angst vor unseren Nachbarn. Sie mögen mich nicht, weil ich aus dem Süden komme.«

»Sie werden bald bemerken, dass wir keine Sklaven halten. Und du wirst eine andere Gemeinde finden.«

»Ich habe Angst«, wiederholte Susanna Belle.

»Wir stellen vorerst ein paar Regeln für dich auf, damit du dich wieder sicher fühlst. Du wirst sehen: Bald wird alles gut sein. Washington City ist ein Schmelztiegel von Nord und Süd, und die Stadt hält beides aus.«

Susanna Belle blieb an ihn gekuschelt sitzen, hob aber den Kopf. »Wie war es bei Mr Becker?«

Markus schenkte ihr ein Lächeln und schlug alle Zweifel in den Wind. Er benötigte ein gesichertes Einkommen, damit Susanna Belle sich dahingehend nicht auch noch sorgte. Zu Beginn des anstehenden Wahlkampfjahres würde er ohnehin in Washington bleiben. Als erster Auswärtstermin – im April des nächsten Jahres – stand der Nationalkonvent der Demokratischen Partei in Charleston an. Bis dahin würde Susanna Belle wieder guter Dinge sein. Also verschwieg Marcus einige Details zu seiner neuen Arbeitsstelle.

~South Carolina~

Händeringend stand Annie neben dem Bett und besah sich das Blut auf dem tadellos weißen Bettzeug. Was sollte sie nur tun? »Mrs Williams, wie weit sind Sie denn?«

Ein erstaunter Blick war die einzige Reaktion.

»Wann rechnen Sie mit der Geburt?«

»Es darf noch nicht kommen!« Rebecca Sues Antwort war nicht mehr als ein Flüstern.

»Aber wann soll es so weit sein?«

»Im April.«

Bedrückt runzelte Annie die Stirn. Demnach war Rebecca Sue erst im fünften oder sechsten Monat? Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Orlean oder ein Arzt schnell zu Hilfe kommen würde. Selten hatte sie sich so hilflos gefühlt wie in diesem Augenblick. »Ich bin sofort wieder da«, murmelte sie und ging zur Tür.

»Bitte, lassen Sie mich nicht allein.«

»Ich muss etwas holen, bin aber in einer Minute zurück.« Annie ließ sich von der Frau nicht aufhalten. Sie flog förmlich die Stufen hinunter und stob in die große Küche. Mehrere Sklaven fuhren erschrocken herum. Annie ging davon aus, dass der gesamte Haushalt bereits über das Geschehen informiert war, und hielt sich nicht mit Erklärungen auf. »Kann jemand von euch helfen?«

Als Antwort erhielt sie ein nahezu synchrones Kopfschütteln.

»Ich benötige Eis. Gibt es welches im Eiskeller?« Annie begann sich über die gemächlich agierenden Küchenhilfen zu ärgern und schrak zusammen, als Devontae auf sie zugeschossen kam. »Es gibt Eis. Ich bringe es hoch in den Flur.«

»Danke, Devon. Fülle einen kleinen Topf. Später wirst du noch mehr holen müssen. Bleibe also bitte oben beim Torbogen.« Annie wartete seine Zustimmung nicht ab, sondern lief wieder hinüber ins Atrium. Dort traf sie auf Benjamin.

»Ich habe Garry ausgesandt. Er hat eine gültige Erlaubnis, die Plantage zu verlassen.«

»Danke, Benjamin. Weißt du, wo die Familie ist?«

»Mista Williams und Master Kenneth sind weggeritten. Missus Williams und Missi Victoria haben sich in die Stadt bringen lassen. Master Bobby ist in der Bibliothek und erledigt Ihre Aufgaben. Soll ich ihm etwas sagen?«

»Nein, lieber noch nicht. Sobald ein Arzt eingetroffen ist und wir mehr wissen, werde ich mit ihm reden.«

Benjamin nickte und sah ihr zu, wie sie die Stufen hinaufeilte.

Annie fand Rebecca Sue schweißgebadet und zitternd vor.

»Helfen Sie mir«, bettelte diese mit klappernden Zähnen.

»Orlean ist unterwegs, und jemand schickt nach dem Arzt.«

»Orlean?« Rebecca Sue klang zweifelnd.

»Sie hat vielen Kindern auf die Welt geholfen«, erklärte Annie sachlich.

Rebecca Sue schwieg, sah die Lehrerin aber nicht mehr an.

Dann kam der Schmerz zurück. Die Frau krümmte sich wimmernd, während Annie ihre kaltschweißige Hand festhielt. Nach einiger Zeit entspannte sie sich wieder. Annie ignorierte Rebecca Sues Protest und zog ihr die wadenlange blutgetränkte Unterhose aus.

Es klopfte kräftig an die Tür, und gleich darauf nahm Annie von Devontae den Topf entgegen. Sie packte das Eis in einen Kissenbezug, wickelte ein weißes Handtuch darum und legte den Pack auf Rebecca Sues Unterleib. Sie hatte keine Ahnung, ob das helfen würde oder vielmehr dem Kind schadete, aber sie hoffte, damit die Blutung ein wenig einzudämmen.

Annies Mutter hatte kurz vor ihrem Tod in ähnlicher Weise zu bluten begonnen. Noch heute hatte sie die verzweifelte Stimme ihres Vaters im Ohr, der sich wünschte, Eis bei der Hand zu haben.

Wieder wurde die Schwangere von einer Wehe heimgesucht. Ihre Augen wurden glasig.

»Bald wird ein Arzt kommen. Halten Sie durch!«, flüsterte Annie.

Erneut überzog Schrecken das aufgedunsene Gesicht der Frau. »Aber nicht David. Ich könnte nie wieder … Ich will Dr. Randows.«

»Dr. Williams ist vermutlich schneller hier.«

»Ich will das nicht!«, kreischte Rebecca Sue und schlug nach Annie. Diese wich zurück, presste aber weiterhin den Eisbeutel auf Rebecca Sues Unterleib.

»Nehmen Sie das weg. Mir ist so kalt.«

»Ich versuche, die Blutung einzudämmen.«

»Gehen Sie weg! Nein, lassen Sie mich nicht allein!« Eine weitere Wehe überrollte die verängstigte Schwangere. Und dann stand plötzlich Orlean am Bett. Sie legte ihre fleischige Hand auf die Stirn der sich windenden Frau, während sie die andere auf den harten Bauch presste. Schließlich schob sie Annie mit dem Knie beiseite. Diese sah zu, wie Orlean Rebecca Sues Rock und die Unterröcke anhob und sie untersuchte. Ein abweisender Ausdruck legte sich auf das schweißnasse Gesicht der Weißen.

»Das Kind kommt bald. Wie weit sind Sie fortgeschritten?« Orlean erhielt keine Antwort.

»Sie sollte etwa im April niederkommen«, sprang Annie ein.

Wieder runzelte Orlean die Stirn und betastete den leicht gewölbten Bauch.

»Es ist zu klein und hätte schon früher abgehen sollen.«

Rebecca Sues gellender Schrei ließ die beiden Helferinnen zusammenzucken. »Es darf nicht sterben! Es ist mein Kind! Ich habe deswegen doch schon so viel ausgehalten!«

Orlean stemmte die blutverschmierten Hände in die Hüfte und fragte scheinbar emotionslos: »Was denken Sie, was gerade mit Ihnen passiert? Dieses unterentwickelte Kind ist bereits tot.«

Entsetzt über den rüden Tonfall blickte Annie mit großen Augen zu der Frau hoch. Rebecca Sue ließ sich zurückfallen, presste die Lippen zusammen und schwieg von nun an, befolgte aber jede von Orleans Anweisungen.

»Lassen Sie Devon mehr Eis holen, Missi. Ich will versuchen, auch von innen zu kühlen.«

Annie lief erneut in den Flur. Devontae saß mit dem Rücken an die Laibung des Türbogens gelehnt, sprang aber auf, als er sie nahen sah.

»Besorge bitte mehr Eis. Und danach schau nach, ob endlich einer der Ärzte kommt.«

»So schnell geht das nicht, Missi Annie.«

Annie strich dem Jungen über den kurz geschorenen Lockenkopf. »Du hast ja recht. Jetzt geh das Eis besorgen.«

Sie sah zu, wie der kleine Sklavenjunge über die Galerie und dann die Treppe hinuntereilte. Dumpfer Schmerz kroch in ihr Herz, und verloren geglaubte Erinnerungen erwachten zum Leben. Sie sah den weinenden Samuel am Tisch sitzen und hörte die inbrünstigen Gebete ihres Vaters. Sie selbst hielt die schlafende Sophia in den Armen. Jemand atmete tief aus, und dann herrschte plötzlich Stille. Ihr Vater trug etwas Winziges hinaus in die Nacht. Als Annie am darauffolgenden Morgen erwachte, musste sie die Beerdigung ihres kleinen Bruders und ihrer Mutter vorbereiten.

Orlean rief nach ihr, sodass Annie die beklemmenden Erinnerungen von sich schob und an das Bett der laut schreienden Rebecca Sue eilte. Hastig reichte sie der tadelnd dreinblickenden Orlean das Eis. »Es tut mir schrecklich leid, Granny. Die Vergangenheit …!«

»Denken Sie an die Gegenwart. Noch haben wir nicht verloren!«

Wieder schrie die Gebärende gellend. Sie richtete sich halb im Bett auf. Orlean gab ruhige Anweisungen, und innerhalb kürzester Zeit hielt Annie ein in ein Handtuch gewickeltes winziges Baby in der Hand. Sie betrachtete die geschlossenen Augen und die rote Haut mit den sichtbaren Blutgefäßen. Die feingliedrigen Finger und Zehen; die Perfektion eines kleinen Menschenkindes.

Orlean strich Rebecca Sue das blonde verschwitzte Haar aus der Stirn. »Sie haben jetzt ein wunderschönes Mädchen im Himmel.«

Erstaunlicherweise brachte Rebecca Sue ein zaghaftes Lächeln zuwege. Doch sie weigerte sich, auch nur einen Blick auf das Kind zu werfen, sodass Annie es zudeckte und nach unten trug. Nachdem sie das Totgeborene Crystals Fürsorge übergeben hatte, traf sie, bereits auf der ersten Stufe stehend, auf Benjamin. Dieser sagte: »Dr. Randows ist unabkömmlich. Und Garry konnte Master David nicht finden.«

»Er konnte ihn nicht finden?«

»Ich weiß nicht, wer der Mann in dem alten Karren war. Ich habe nicht nachgefragt. Aber Garry sucht weiter. Er ist diesmal in die andere Richtung geritten.«

Annie bemerkte das beschämte Gebaren des Alten. Er hatte es offensichtlich für unter seiner Würde gehalten, mit dem Mann, der nach einem Arzt verlangt hatte, mehr als das Nötigste zu sprechen.

»Bete bitte für die junge Missus!«

»Ja, das mache ich, Missi«, murmelte der Butler.

Annie kehrte in das feudal eingerichtete Schlafzimmer zurück, wo Rebecca Sue mit seltsam leerem Blick an die Decke starrte. Sie schien mit ihren Gedanken weit fort zu sein – allerdings an keinem schönen Ort, wie ihr zusammengekniffener Mund verriet.

Annie setzte sich behutsam auf den breiten Bettrahmen und ergriff die kalte Hand. Sie beobachtete Orlean, die ein rotverfärbtes Laken beiseite warf und nach einem frischen griff. Rebecca Sue flüsterte etwas, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Entsetzt beugte sich Annie vor. War die junge Frau so geschwächt, dass sie nicht mehr laut sprechen konnte?

»… alles falsch«, hörte sie diese flüstern. »Unbedingt einen Williams gewollt … Bekam sogar den Erben. Aber er war der falsche der Brüder. Er vergöttert mich … als hirnloses, willenloses Püppchen. Ich bin nicht dumm. Nicht schwach! Eine Frau hat das zu sein … Hohn! Endlich etwas für mich … Zum Lieben – das mich liebt! Falsch gemacht … Mein süßes Baby!« Rebecca Sue schloss die Augen, während Annie zu verarbeiten versuchte, was sie gehört hatte. All das war sicher nicht für sie bestimmt gewesen.

Einmal schickte Orlean Annie, um neue Tücher zu besorgen, ein anderes Mal erbat sie frisches Eis. Ansonsten saß die Lehrerin an der Seite der zunehmend schwächeren Frau und flehte den Himmel an, dass Orleans Bemühungen von Erfolg gekrönt wären. Mit der Stirn voller Schweißperlen schaute diese mittlerweile erschreckend grimmig drein.

Der Wintertag wurde noch trüber, also erhob sich Annie und zündete mehrere Glaskolbenlampen an, dabei stiegen Tränen der Verzweiflung in ihre Augen. Leise flüsterte sie Rebecca Sue das Vaterunser zu.

»Halleluja!«

Erschrocken fuhr Annie hoch. Orlean warf erneut blutige Laken beiseite, lächelte sie aber breit an. »Die Blutung hat aufgehört!«

Annie musterte Rebecca Sues fahles Gesicht. Vielleicht war einfach kein Blut mehr in ihr? Allerdings atmete die junge Frau noch.

»Sie ist so schrecklich geschwächt!«

»Ich denke, sie ist weit stärker, als sie sich gibt – oder als sie selbst zu sein glaubt. Warten wir ab.«

Annie, die bereits alle Hoffnung aufgegeben hatte, konnte sich an Orleans Lächeln kaum sattsehen.

»Wir sollten die Missus weiter kühlen und ihr zu trinken geben. Ich schicke Devon nach neuem Eis und gehe mich dann waschen und umziehen.«

Orlean kam zügig zurück. Sie hatte sich eines der graugrünen Haussklavenkleider geben lassen und sich ein frisches Tuch über ihr Haar geschlungen. »Die Frauen sind soeben eingetroffen. Sie sollten sie informieren.«

Annie schloss erschöpft die Augen. Wie sollte sie Alice beibringen, dass sie ihr Urenkelkind verloren hatte und Rebecca Sue an der Schwelle des Todes stand?

Orlean zog sie in ihre herrlich tröstlichen Arme. »Gehen Sie. Die Missus wird es verstehen.«

Annie raffte sich auf und traf am Torbogen auf Devontae. »Kannst du noch bleiben, Devon, falls Granny dich braucht?«

»Das mache ich, Missi.«

Annie lächelte ihn dankbar an und nahm ungewohnt langsam die Treppe. Aus dem großen Salon hörte sie Victorias Stimme. Die junge Frau erzählte schwärmerisch von ihrem Ausflug in die Stadt.

Nur zögernd trat Annie ein. Bobby entdeckte sie, und das Lächeln erstarb auf seinen Lippen. »Miss Annie! Sie haben überall Blut!«, stieß er hervor.

Erschrocken blickte sie an sich hinab. Daran hatte sie keinen Gedanken verschwendet.

Alice deutete mit ihrem Gehstock auf einen Stuhl und wies Annie damit an, sich zu setzen. Sie gehorchte, trotz des vor Ekel verzogenen Gesichts von Victoria. Um ihre Hände ruhig zu halten, verschlang Annie ihre Finger ineinander.

»Was ist geschehen?«, fragte die Matriarchin kühl.

»Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Rebecca Sue ihr Kind verloren hat.«

»Ist mein Enkel oder Dr. Randows bei ihr?«

»Dr. Randows war unabkömmlich, und Dr. Williams ist noch nicht gefunden worden. Er wurde kurz zuvor zu einer Entbindung gerufen.«

»Wie geht es Rebecca Sue?«

»Leider nicht gut. Sie hatte starke Blutungen. Ich dachte schon …«

Victoria seufzte laut auf, legte ihren Handrücken an die Stirn und drohte, vom Stuhl zu kippen. Während Annie erschrocken aufsprang, schlug Alice mit dem Stock auf die Tischplatte. »Lass das Getue, Victoria Cathrin Williams. Niemand hat jetzt Zeit, sich um dich zu kümmern.«

Die Sechzehnjährige erholte sich überaus schnell von ihrer drohenden Ohnmacht. Bei anderer Gelegenheit hätte Annie das sicher belustigend gefunden, nun achtete sie kaum darauf.

»Wer ist jetzt bei ihr?«, fragte Alice weiter.

»Orlean.«

»Eine Schwarze!«, begehrte Victoria auf.

»Sei still!«, fuhr ihre Großmutter sie an, ehe sie sich wieder an die Lehrerin wandte. »Das ist gut. Ich gehe gleich hinauf. Sie ziehen sich um, nehmen eine Kleinigkeit zu sich und ruhen sich aus.«

Einige Stunden später saß Annie auf der obersten Treppenstufe und lauschte auf das träge Summen einer Fliege, die um eine der wenigen flackernden Lampen kreiste. Benjamin verließ seine Kammer, als die Eingangstür aufging, und nahm David den Mantel ab.

Dieser trat daraufhin vom Vestibül in das säulengeschmückte Atrium. Sein erster Blick galt Annie. Er kam die Treppe herauf, stellte wortlos seine Arzttasche ab und ließ sich neben sie fallen. Mit auf den Oberschenkeln aufgestützten Ellenbogen bewegte er seine gefalteten Hände leicht auf und ab. Den Oberkörper hielt er vornübergebeugt, den Kopf gesenkt. Auf Annie wirkte er zutiefst bedrückt.

»Ich habe das Kind und die Mutter verloren!« Seine tiefe, sonst gern leicht spöttisch klingende Stimme transportierte Schmerz, Trauer und ein klein wenig Wut.

Annie wollte ihm tröstend die Hand auf den Rücken legen, setzte sich aber lieber schnell auf diese. Sie wusste, dass sie ihm von Rebecca Sue erzählen musste, doch ihr Hals war wie zugeschnürt.

»Sie sehen müde aus«, meinte David. »Außerdem ist es kein gutes Zeichen, wenn Sie Ihre Hände nicht ruhig halten können.«

Annie zuckte zusammen, als David seine Finger unter ihr Kinn legte und ihr Gesicht zu sich drehte. Ihre Augen schwammen vor Tränen. Hastig stieß sie hervor: »Mrs Williams hatte eine Fehlgeburt. Es geht ihr sehr schlecht.«

David ließ sie los. Mit einem Satz war er auf dem Treppenabsatz, hastete über die Galerie und bog in den Flur ein. Wenig später vernahm Annie einen dumpfen Schlag, als falle jemand gegen die Flurwand. Kenneths wütende Worte hallten von den Wänden wider. »Du! Du bringst bei dreckigem Gesindel die Kinder zur Welt, während meines hier stirbt und meine Frau gleich mit!«

»Ich konnte nicht wissen, dass Rebecca Sue –«

»Hier hättest du sein sollen. Hier bei meiner Frau und meinem Kind!«

»Hör mal, ich –«

Der Lärm eines Handgemenges war zu hören. Annie schnappte nach Luft, als Kenneth brüllte: »Ein Niggerweib und eine Yankeelehrerin pfuschen an meiner Frau herum, während mein Bruder, der Mediziner, dreckigen Bälgern auf die Welt hilft.«

»Willst du jetzt wirklich mit mir streiten?«, presste David hervor.

»Wer weiß, was die mit Rebecca Sue gemacht haben!«

»Miss Braun, sind Sie noch hier?«

Annie riss erschrocken die Augen auf. Wäre sie doch nur schnell nach oben geflohen! Zögernd erhob sie sich und trat in den Türbogen zwischen Galerie und Flur.

»Kommen Sie nur«, bat David. Er stand mit dem Rücken an der Wand, von seinem Bruder mit beiden Händen gegen diese gedrückt. Nun ließ Kenneth ihn los, und der junge Arzt zog sich sein durch das Handgemenge verrutschtes Hemd zurecht. Hilflos blickte Annie von einem zum anderen.

David stellte sich zwischen sie und seinen aufgebrachten Bruder. »Erzählen Sie uns bitte, wie Sie Rebecca Sue geholfen haben.«

Annie hob die Augenbrauen, war ihr das Thema in Anwesenheit der Männer doch unangenehm, allerdings nickte David ihr ungeduldig zu. Also berichtete sie knapp, was Orlean und sie versucht hatten.

Trotz der schlechten Lichtverhältnisse konnte sie Davids Stirnfalte unter den dunklen Locken sehen, als er sich an Kenneth wandte. »Mehr hätten Granny und Miss Braun nicht tun können.«

»Aber du!«, kam es laut zurück.

»Ich war nicht da.« Scheinbar unbeeindruckt sagte David zu Annie: »Gehen Sie bitte hinein. Ich sehe inzwischen nach den Tüchern, damit ich den Blutverlust abschätzen kann.« David hatte sich bereits einige Schritte entfernt, als er es sich anders überlegte. Er kam zurück, öffnete die Tür und bedeutete Annie, unverzüglich einzutreten. Dankbar dafür, nicht mit dem aufgebrachten Kenneth allein im Flur bleiben zu müssen, huschte sie an diesem vorbei.

David war schnell wieder da. Er setzte sich neben Bobby ans Bett und erläuterte den Nutzen und die Gefahren einer unmittelbaren Bluttransfusion. Victoria und Alice mussten sich während seines knappen Vortrags setzen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, und schließlich war es Richard, der vortrat. »Gut. Ich stelle mich dem. Versuchen wir es.«

»Vielen Dank, Vater. Dich zur Verfügung zu stellen ist nobel, doch du bist zu angeschlagen. Großmutter und Bobby sind ebenfalls nicht geeignet.«

Alice sah erleichtert aus, während Bobby sich langsam wieder setzte. Er hatte sich tapfer erhoben, vermutlich, weil er seinem großen Bruder voll und ganz vertraute. Das nachfolgende Schweigen hing schwer im Raum.

Annie, die von ihrem Platz an der Tür den leblos daliegenden Arm Rebecca Sues im Blick hatte, kämpfte mit sich selbst. Ob sie sich dem Versuch stellen sollte? Sie war stets wissbegierig, wenn es um etwas Neues ging, aber bei dem Gedanken, sich David förmlich ausliefern zu müssen, war ihr flau zumute. Andererseits vertraute sie seinen Fähigkeiten als Mediziner. Endlich überwand sie ihre Bedenken und sagte: »Ich denke, ich könnte das machen.«

Von David erhielt sie ein sanftes Lächeln. »Vielen Dank, Miss Braun. Ich muss noch etwas hinzufügen: Es ist nicht bekannt, woran es liegt, aber nur etwa jede zweite Transfusion verläuft erfolgreich. Manchmal verklumpt das Blut. Es gibt Mediziner, die Verwandte priorisieren.«

Alle Blicke wandten sich Victoria und Kenneth zu. Ihr verwandtschaftliches Verhältnis zu Rebecca Sue war nicht zu eng, dennoch könnte es wohl von Vorteil sein.

Letzterer sprang von seinem Stuhl auf. »Natürlich stelle ich mich zur Verfügung. Schließlich geht es um das Leben meiner Frau!«

David verließ mit einem müden Lächeln die Zimmer der Eheleute. Wenngleich das Kind gestorben war, so hatte er doch seine Schwägerin retten können. Er empfand ein eigentümliches Gemenge aus Genugtuung und Trauer, zumal er an jene andere Frau und ihr Neugeborenes denken musste, denen er nicht hatte helfen können. An diesem Tag hatte er seine Grenzen kennengelernt.

Tief durchatmend legte er die Hand auf die Klinke seiner Zimmertür, zögerte jedoch. Rebecca Sues Baby lag unten in der Bibliothek und würde morgen bestattet werden. Er sollte sich die Frühgeburt genauer ansehen – und sich von seiner kleinen Nichte verabschieden.

Wenig später betrat er die Bibliothek und wurde vom flackernden Schein eines fast niedergebrannten Kaminfeuers und zweier Kerzen begrüßt. Der Duft von Pfeifenrauch hing in der Luft, ein deutliches Indiz dafür, dass sein Vater vor Kurzem hier gewesen sein musste. Doch weshalb hatte er anschließend das Feuer nicht löschen lassen?

David ging auf den winzigen, von einem Sklaven gefertigten Holzsarg auf einem Beistelltisch zu. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu Melody und ihrem tragischen Tod. Im selben Moment stolperte er. Er fing sich gerade noch rechtzeitig ab, bevor er der Länge nach hingeschlagen wäre.

Verwundert betrachtete er die Damenschuhe, über die er gestolpert war. Nun erst sah er die zusammengekauerte Gestalt im Sessel. Die Knie angezogen, den Rücken halb an die Rückenlehne, halb gegen die zweite Armlehne gelehnt, den Kopf in die Armbeuge gebettet, klemmte Annie förmlich in dem Sitzmöbel und schlief fest. Ihr Nackenknoten hatte sich aufgelöst, sodass ein Teil ihrer schwarzen Locken wie ein Wasserfall über die Lehne floss. Jemand – vermutlich sein Vater – hatte sie mit einer Patchworkdecke zugedeckt.

David sog das sich ihm bietende Bild förmlich in sich auf. Ein nahezu schmerzliches Sehnen erfüllte ihn, tropfte schwer und süß wie Honig in sein Herz. Kopfschüttelnd musste er zugeben, dass er genau in dem Augenblick auf Annie getroffen war, als seine Gedanken zu seiner früheren Verlobten gewandert waren.

Er stellte die Schuhe ordentlich neben ihren in seinen Augen ungemütlichen Schlafplatz, ehe er sich in den Sessel gegenüber setzte. Da er so ihr Gesicht nicht sehen konnte, beugte er sich vor und nahm einige ihrer Haarsträhnen in die Hand. Annie hatte kräftiges, aber angenehm weiches Haar, das er nun behutsam nach hinten strich. Jetzt konnte er zumindest eine Gesichtshälfte betrachten.

Die Beine weit von sich gestreckt, lauschte er auf das leise Knacken des Feuers im Kamin. Ihm war durchaus bewusst, wie unschicklich sein Tun war, doch er kehrte einmal mehr den Rebellen hervor. Er liebkoste die ebenmäßigen Gesichtszüge der geliebten Frau mit seinen Blicken. Obwohl es in dem Raum recht kalt war, fror er nicht. In ihm keimte das unbestimmte Gefühl auf, dass er in Annies Gegenwart wohl niemals frieren würde.

Ein leises Seufzen erklang. Annie bewegte sich, und dabei rutschten die Locken zurück. David erhob sich nur widerwillig. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von der lebendigen Frau auf das tote Mädchen zu lenken. Sachte hob er das Kind aus dem gepolsterten Sarg und entfernte die weiße Spitzendecke, in die es gewickelt war. Es erschien ihm im Verhältnis zur ungefähren Schwangerschaftswoche zu winzig und unausgebildet. Das Mädchen musste schon vor einiger Zeit im Leib der Mutter gestorben sein, und dieser hatte es nun abgestoßen.

David trauerte um das kleine Wesen. Er hatte sich auf ein Baby im Haus gefreut. Sein Blick wanderte von dem Kind in seiner Hand zu Annie. Sie saß mit über die Schultern wallendem Haar im Sessel, die Beine angezogen und mit den Armen umschlungen, und sah ihn erstaunlich munter an. »Hätten Granny und ich etwas anderes tun können?«

»Nein«, entgegnete er knapp und überfordert von ihrem Anblick. Ihn überrollten Gefühle, als sei er unter eine Equipage geraten. Er wickelte das Baby sorgfältig ein und legte es in das einzige Bett zurück, das es jemals haben würde. Leicht verunsichert, da er mit einer unverheirateten Frau nicht allein sein sollte, setzte er sich ihr gegenüber. »Sie konnten das Kind nicht retten. Es war schon eine ganze Weile tot.«

Ohne den Blick von ihm zu nehmen, lehnte Annie sich zurück.

Er räusperte sich. »Gott hat es gefallen, dieses Kind bei sich zu haben.«

»Eine kleine, reine Seele«, flüsterte sie und streckte die Beine aus, dabei rutschte die Decke zu Boden. Erstaunt hob sie diese auf. »Waren Sie das?«

»Nein, mein Vater.«

»Er war auch hier?«

»Ich habe vorhin seinen Tabak gerochen, also ja.«

Annie vergrub das Gesicht in der Decke, was den Anschein erweckte, als sei es ihr wesentlich peinlicher, von Richard beim Schlafen erwischt worden zu sein als von ihm. Erneut rollte eine Woge der Sehnsucht über David hinweg.

Annie war mittlerweile aufgestanden. Das Verlangen, sie in seine Arme zu ziehen, wurde übermächtig. Doch Annie taumelte unter seinem Blick zwei Schritte zurück, tastete nach ihren Schuhen und schlüpfte schnell hinein. Geraume Zeit betrachtete sie scheinbar interessiert ihre Schuhe, ehe sie sich wieder setzte.

»Dr. Williams?« Dies war eines der wenigen Male, die sie seinen akademischen Titel nicht spitzzüngig aussprach.

»Möchten Sie nicht einfach David zu mir sagen?«

Annie ging über seine Bitte hinweg, als habe sie diese nicht gehört. Ob sie unbedingt die Distanz beibehalten wollte – um ihre Zuneigung ihm gegenüber besser verheimlichen zu können? Oder war ihr bewusst, wie viel er für sie empfand, während sie diese Gefühle nicht erwiderte?