Die Herrin von Syld - Bernhard Wucherer - E-Book

Die Herrin von Syld E-Book

Bernhard Wucherer

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Beschreibung

1331/1332. Im Sultanspalast von Fès bringt Anna Maria, Tochter einer Merinidenfürstin und eines Reichsritters, ein Kind zur Welt. Der Vater des Mädchens ist ein Großwesir aus Marrakech, dessen Ehre von Anna Maria beschmutzt wurde - er sinnt auf Rache. Ihr bleibt nur die Flucht auf ihre Heimatinsel Syld, wo sie Rache für den Mord an Ihren Eltern nehmen will, bevor sie ins Allgäu weiterreist, um das Erbe ihres adeligen Vaters anzutreten - stets verfolgt vom Vater ihres Kindes.

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Bernhard Wucherer

Die Herrin von Syld

Historischer Roman

Impressum

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Glühweinmord im Hexerhof (2019); Frittenmafia (2018);

Das Teufelsweib (2018); Die Säulen des Zorns (2014);

Lieblingsplätze: Tradition trifft Trend in Oberstaufen (2013);

Der Peststurm (2013); Die Pestspur (2012)

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[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Charles_Landelle-Juive_de_Tanger.jpg und

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_beauty_in_Eastern_costume,_by_William_Clarke_Wontner.jpg und

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:JBAM_078b.JPG

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6230-6

Vorbemerkung

Den zweiten Teil meiner Abenteuerreihe

um »Das Teufelsweib« Anna Maria

widme ich allen Marokkanerinnen

und Marokkanern, die mich während

meiner Rechercherundreise durch ihr

unbeschreiblich schönes Land sehr

viel herzlicher aufgenommen hatten,

als wir dies hier in Europa leider immer

noch allzu oft mit deren Landsleuten tun,

die, meist völlig unverschuldet, aus ihrem

geliebten Heimatland fliehen mussten.

Bernhard Wucherer

Vorwort

Obwohl dieser Roman direkt an »Das Teufelsweib« anknüpft, ist er in sich geschlossen und bietet uneingeschränkten Lesegenuss, ohne den Vorgängerroman zu kennen. Dennoch soll der interessierten Leserschaft nicht vorenthalten werden, was bisher geschah:

Im Jahr des Herrn 1311 hatte sich das Leben der heilkundigen Theresa Schwaegelin grundlegend geändert. Zuerst war von der »Kräuterhexe« am Weststrand ihrer Heimatinsel Syld ein halbtoter Mann aufgefunden worden, den sie hingebungsvoll gesund gepflegt hatte. Es war der Reichsritter Ulrich von Schellenberg gewesen, der ursprünglich aus Staufen, einem Dorf im »südlichsten Süden« der deutschen Lande, unweit des Mare Brigantium (Bodensee), gestammt hatte. Allerdings war er – von ganz woanders her kommend – auf Syld (dem heutigen Sylt) angespült worden.

Der Allgäuer Adelige und die Sylderin hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt und fortan zusammengelebt. Noch im Winter dieses Jahres hatten sie vier grausam zugerichtete und fremdländisch aussehende Leichen in den Dünen entdeckt. Kurz darauf hatten sie einen ausgesetzten Säugling gefunden. Sie hatten das Wickelkind an sich genommen und aufgrund der Initialen eines Tüchleins, das in dessen Nähe gelegen war, Anna Maria genannt und an Kindes statt liebevoll aufzogen.

20 Jahre später: Anna Maria hatte sich nicht nur zu einer klugen und wunderschönen Frau, sondern auch zu einem ebenso heilkundigen »Kräuterweib« wie ihre Mutter entwickelt. Für ihre Zieheltern war es höchste Zeit geworden, mit Anna Maria über die Wahrheit ihrer Herkunft zu sprechen. Aber dazu war es nur noch teilweise gekommen. Denn eines Tages war einer der Insulaner gestorben. Die Schuld dafür hatten seine Verwandten den beiden »Kräuterhexen« – also Theresa und Anna Maria – gegeben. Die aufgebrachte Sylder Bevölkerung hatte sich von den Eltern des Toten aufwiegeln lassen. Aus Rache hatten sie Ulrich von Schellenberg getötet und Theresa so schwer verletzt, dass sie bald darauf in Anna Marias Armen verstorben war. Die Sterbende hatte ihrer Tochter nichts mehr über das merkwürdige Amulett und die seltsamen Ohrringe erzählen können, die sich neben anderen mysteriösen Dingen in einer kleinen Schatulle befunden hatten, die das Familienwappen derer von Schellenberg geziert hatte. Dennoch war Anna Maria wesentlich später dahintergekommen, dass der aus dem Allgäu stammende Reichsritter nicht nur ihr Ziehvater, sondern auch ihr leiblicher Vater gewesen war.

Nachdem auch noch die Kate niedergebrannt war, hatte Anna Maria nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer schwer verletzten Mutter fliehen müssen. Sie hatte die geheimnisvolle Truhe, den Waffenrock und das Schwert ihres Vaters an sich genommen. Bevor sie mit einem Fischerboot die Insel hatte verlassen wollen, hatte sie mit geballten Fäusten geschworen, eines Tages zurückzukommen und Rache an den Mördern ihrer Eltern zu nehmen. Danach würde sie von Syld aus durch die deutschen Lande bis nach Staufen – die Allgäuer Heimat ihres Vaters – reisen, um sich in der Burg Staufen als rechtmäßiger Spross eines Schellenberger Reichsritters zu legitimieren. Aber auch dazu hatte es nicht kommen sollen. Denn Anna Marias Boot war gekentert. Dem Tod näher als dem Leben, war die Frau vom Schiffsjungen eines Piratenschiffes aus dem Meer gefischt und von Kapitän Al Jasa zusammen mit anderen Sklavinnen nach Marokko verschleppt worden. Nach einem mörderischen Marsch durch die marokkanische Wüste hatte der Piratenkapitän seine schönste Sklavin mit Rafika, deren neuer marokkanischer Leidensgenossin und Freundin, an den Hof des Großwesirs Nizamüddin Ahmed Pascha nach Marrakech verkauft. Dort hatte sie sich noch enger als schon auf dem Piratenschiff mit dem Mädchen angefreundet. Am Hof hatte Rafika die jüngere Sklavin Aludra kennengelernt, die schon länger am Hof des Großwesirs gedient hatte. Und Anna Maria hatte sich auch noch mit Shayma, der alten Oberaufseherin der Sklavinnen am Hof, angefreundet.

Aufgrund ihrer Kenntnisse um die Heilkunde war es Anna Maria vom Großwesir gestattet worden, beim griechischen Palastmedicus Aëtios zu arbeiten, ihr beachtliches Wissen um die Kräuterkunde einzubringen und von ihm die scholastische Medizin, insbesondere aber die Kunst der Chirurgie, zu erlernen.

Längst hatten sich der noch im Trauerjahr befindliche Großwesir und Anna Maria ineinander verliebt. Just in der Nacht, als die Trauer um die verstorbene Paschi offiziell vorüber gewesen war und sie sich ihrer Liebe mit voller Leidenschaft hingegeben hatten, war Anna Maria von Aëtios zu einer der verbotenen Leichenöffnungen dazugeladen worden, wie sie der Medicus zu mitternächtlicher Stunde in den unterirdischen Katakomben des Palastes schon seit längerer Zeit durchführte. In der darauffolgenden Nacht war es dann so weit gewesen. Aber Yamha, die eifersüchtige erste Konkubine des Großwesirs, hatte Anna Maria beseitigen wollen. Sie war den beiden »Leichenschändern« auf die Schliche gekommen und wollte sie enttarnen. Weil Shayma, die Oberaufseherin über die weiblichen Sklaven des Hofes, den Medicus heimlich geliebt hatte, war sie ihm und Anna Maria in die Katakomben unter dem El-Badii-Palast gefolgt. Nachdem Shayma dort die zweite Konkubine des Paschas aus Notwehr heraus hatte erstechen müssen, war sie mit Aëtios und Anna Maria aus dem Palast geflohen – aber nicht, ohne Rafika und Aludra mitgenommen zu haben.

Vom enttäuschten und gedemütigten Großwesir und seinen Männern gnadenlos verfolgt, waren sie von Marrakech aus quer durch Marokko bis hoch in den Norden des Landes geflohen, wo sie sich dann in der Königsstadt Fès getrennt hatten. Zuvor aber waren etliche Abenteuer zu bestehen gewesen: Im Berberdorf Skhour-er-Rehamna war Anna Maria per Zufall auf ihre Zwillingsschwester Waliyah-Dunyana, eine Berberprinzessin, gestoßen. Waliyah hatte ebenso wenig von einer Zwillingsschwester gewusst wie Anna Maria. Außerdem hatten beide zu diesem Zeitpunkt noch nichts von ihrer leiblichen Mutter Charifa Dabis gewusst. Die vom Volk geliebte Gemahlin des grausamen Merinidensultans Abu Said Uthman II. Charifa war selbst eine geborene Almohadenprinzessin gewesen, weswegen sie auf Geheiß ihres Gemahls innerhalb der Palastmauern wie eine Geächtete behandelt worden war. An den Hof des Sultans zu gelangen, hatte Anna Maria mit Hilfe des Hakims (Medicus) Ibn Ra’id später auch geschafft. Dort war sie zwar mitten in eine Palastrevolte geraten, hatte dennoch alles über die ganze Wahrheit in Bezug auf ihre doppelte adelige Herkunft erfahren. Nachdem sich Mutter und Tochter nach 20 Jahren gefunden hatten, war es für Anna Maria wichtig gewesen, ihrer Mutter mitzuteilen, unter ihrem Herzen ein Kind des Großwesirs von Marrakech zu tragen.

In Fès hatten sich dann die Wege der fünf Flüchtenden getrennt: Aëtios und Shayma waren zusammen mit Aludra unbehelligt in Shaymas Heimatdorf Tetouan gezogen. Auf dem Weg dorthin hatte Aludra zufällig den wegen eines Staatsstreichs frisch designierten Sultansanwärter Abu-I-Hasan kennengelernt. Die beiden hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt, sich aber sofort wieder aus den Augen verloren. Als der 16-jährige Abu-I-Hasan dann auf dem Thron gesessen hatte, hatte er den gesamten Norden seines Landes nach Aludra absuchen lassen, weil er sie zur Gemahlin nehmen mochte. Seine Männer hatten das Mädchen dann auch in Tetouan aufgespürt. Die beiden hatten sich vermählt, gemeinsam mit sanfter Hand regiert und waren – im Gegensatz zu Sultan Abu Said Uthman II. – bei ihrem Volk so beliebt gewesen wie Charifa, die verstoßene Gemahlin des gestürzten Herrschers, die zuvor von ihrem Gemahl in einen gesonderten Trakt des Palastes verbannt worden war.

Und so geht es im vorliegenden Roman weiter: Anna Maria blieb etwa die Hälfte eines Jahres bis zur Niederkunft mit Rafika und deren Freund Ghali bei ihrer Mutter in deren Trakt des Sultanspalastes von Fès. Nach der Geburt wollte sie ein weiteres halbes Jahr, vielleicht sogar ein Jahr im Palast bleiben. Weil Aludra nun die erste Frau im Staat war, konnten Anna Maria und ihr künftiges Kind im Palast sicher sein und sich dort geborgen fühlen. Gleichwohl sie ihre Rachegedanken umsetzen und zuerst nach Syld und dann in die Heimat ihrer Vorväter mochte, ließ der Großwesir – der nichts davon wusste, dass Anna Maria ein Kind von ihm erwarten und er bald Vater werden würde – nichts unversucht, um Anna Maria, Aëtios, Shayma, Rafika und Aludra zu finden, weil er sie nach wie vor ihrer gerechten Strafe zuführen wollte. Aber Nizamüddin Ahmed Pascha befand sich in einem unlösbaren Dilemma: Denn trotz seiner ehrbedingten Rachegelüste liebte er Anna Maria immer noch abgöttisch.

Eines Tages war der Großwesir wieder einmal im Palast von Fès zu Gast gewesen. Dabei war er zufällig Anna Maria und ihrer gemeinsamen Tochter Hasbia Theresa über den Weg gelaufen. Weil ihm seine ehemalige Sklavin Aludra in seinem eigenen Palast in Marrakech nie vor die Augen gekommen war, hatte er allerdings nicht gewusst, dass ausgerechnet sie die Gemahlin seines neuen Herrn war.

Nachdem Anna Maria von Aludra erfahren hatte, dass der Großwesir ihren Aufenthaltsort kannte, hatte sie sich – trotz der schützenden Hände des Sultanspaares – im Palast nicht mehr sicher gefühlt. Und da sie sowieso zur heimatlichen Frieseninsel Syld zurück und danach bis nach Staufen ins Allgäu hatte reisen wollen, hatte sie mit ihrem Kind sowie mit Rafika und deren Freund Ghali den schützenden Palast von Fès verlassen. Ein überaus gefährliches Unterfangen, das unsere drei Hauptprotagonisten zu etlichen neuen Abenteuern führen sollte!

Im Sultanspalast von Fès

Von Juli 1331 bis zur Flucht im August desselben Jahres

Der Großwesir von Marrakech sucht seine entflohenen Sklaven

Kapitel 1

»Niemand bekommt hier ein Kind, ohne dass ich dies weiß!«

Die Stimmung im hintersten Trakt des Sultanspalastes von Fès war mehr als nur angespannt. Selbst die neue Herrin im etwa eine halbe Meile vom Geschehen entfernten »Spielesaal« der unüberschaubar großen Palastanlage war unruhig geworden. »Gebt mir sofort Bescheid, wenn sich dort hinten etwas rührt! … Hört ihr: Sofort!«, hatte Aludra, die gut aussehende, erst 15-jährige Gemahlin des frisch inthronisierten Sultans Abu-I-Hasan ihrer Dienerschaft aufgetragen. Dabei war die Haseki Sultan sogar – was seit ihrem Amtsantritt noch nie vorgekommen war – laut geworden. Aber dies war nur ihrer inneren Unruhe geschuldet gewesen. Denn die trotz ihres zarten Alters ansonsten stets besonnene Fürstin Marokkos war einfach zu angespannt, um sich nach außen hin gelassen geben zu können.

Um ihre Herrin auch wirklich sofort über die heiß ersehnte Neuigkeit informieren zu können, hatten sich auf Befehl des Gardehauptmannes Baariq vom Thronsaal ausgehend über die endlos erscheinenden Korridore entlang bis zum ganz hinten liegenden Teil des Palastes 25 Neueinsteiger in den Soldatendienst postieren müssen. So traten die noch unerfahrenen jungen Männer seit Stunden in etwa gleichem Abstand zueinander unruhig von einem Fuß auf den anderen und harrten der Dinge, die hoffentlich bald kommen würden. Selbst wenn sich der eine oder andere Soldatenanwärter erleichtern müsste, würde er sich nicht trauen, aus der Reihe zu tanzen. Denn auf Befehl ihres respekteinflößenden Ausbilders, der nicht nur die Fürstliche Leibgarde, sondern auch die Palastwache unter sich hatte, durften die Neulinge ihre Posten nicht verlassen. Sie mussten gewährleisten, die sehnlichst erwartete Neuigkeit von Charifas Gemächern aus umgehend bis zum Thronsaal vor durchreichen zu können, … wenn es diese denn endlich gab. Weil aber nichts kam, wurde die Geduld aller auf eine harte Probe gestellt.

Während Fürstin Aludra sich im vorderen Teil der riesigen Palastanlage mit dem mühsamen Erlernen von Backgammon abzulenken versuchte, vertrieb sich ganz hinten der etwa 18 bis 19 Jahre alte Mundschenk Ghali die nervenaufreibende Zeit, indem er unablässig den Flur auf und ab ging und dabei ständig mit einer Gebetskette spielte, obwohl er kein besonders gläubiger Muslim war. Weil er stattdessen als elternloser Dieb und Gassenjunge aufgewachsen war, wusste er nicht genau, wie alt er war.

»Verdammt!«, fluchte er. »Bei Allah, dem Vater aller Väter! Tut sich denn da überhaupt nichts?« Der ehemalige »Meisterdieb von Meknès« war ein ausnehmend netter Kerl und ein liebenswertes Schlitzohr. Ghali war vor etwa der Hälfte eines Jahres mit seiner Gefährtin Rafika und deren engster Freundin Anna Maria in den Palast gekommen, um zusammen mit ihnen in die Dienste Charifas zu treten. Die charismatische Frau, der sie seither treu dienten, war die einzige noch lebende Nachfahrin des altehrwürdigen Herrschergeschlechts der Almohaden. Sie hatte sogar kurzzeitig mit ihrem Gemahl, dem erst vor Kurzem gestürzten und ermordeten Sultan Abu Said Uthman II., das Land regiert. Und: Sie war – was sich nur durch reinen Zufall herausgestellt hatte – Anna Marias leibliche Mutter!

Während Ghali für das leibliche Wohl Charifas innerhalb ihrer Gemächer zuständig war, sorgte Rafika dafür, dass die Gewänder der ehemaligen Fürstin stets frisch gewaschen bereitlagen. Nach einer kurzen Probezeit hatte Rafika zudem das vollste Vertrauen ihrer Herrin erlangt und zum Missfallen von Zaid, der bisherigen Ersten Dienerin, sogar die Oberaufsicht über die Geschmeide der stolzen Frau übertragen bekommen.

Im Grunde genommen mussten Rafika und Ghali nicht in diesem über zwei Jahrzehnte hinweg allseits gemiedenen Teil des Palastes tätig sein. Aber sie waren es trotzdem, und zudem auch noch sehr gerne. Denn nach einer gemeinsamen Flucht aus Marrakech vor dem Großwesir Nizamüddin Ahmed Pascha und dessen Männern waren Ghali, Rafika und Anna Maria auf Anraten des Palastarztes Ibn Ra’id in diese Rollen geschlüpft und fühlten sich seither wohl darin – auch wenn es für Ghali anfangs nicht ganz leicht gewesen war, sein altes Dasein als bettelnder und stehlender Gassenjunge abzustreifen und Manieren zu lernen. Als sie Mitte des ersten Monats dieses Jahres hier angekommen waren, hatte noch der gefürchtete Sultan Abu Said Uthman II. mit strenger Hand regiert. Weil der unbeliebte Despot seine Gemahlin Charifa schon vor über 20 Jahren in diesen Teil des Palastes verbannt und alles missbilligt hatte, was ihr auch nur annähernd hatte guttun können, wäre er den beiden wohl ebenso wenig hold gewesen, wie er dies Anna Maria gegenüber gewesen wäre. Denn wenn ihm zu Ohren gekommen wäre, woher sie abstammte, hätte er sie – wie schon ihre Mutter – bis aufs Blut gehasst. Da der Unterdrücker seines sowieso schon malträtierten Volkes zwischenzeitlich aber vom Thron gestürzt und getötet worden war, hatten Charifa und die drei nichts mehr zu befürchten – zumindest innerhalb dieser schützenden und schweigenden Palastmauern.

Stunden später schwiegen die dicken Mauern des Meriniden-Palastes allerdings nicht mehr. Denn wie aus dem Nichts heraus hallte ein an diesem Ort ungewohntes Geschrei durch die endlos langen Korridore, das als Echo widergegeben wurde. Der Befreiungsschrei war so laut gewesen, dass er aus Charifas Gästegemach bis in den Flur hinausgedrungen war, wo der inzwischen unruhig gewordene Ghali auf den Perlen seiner Gebetskette herumkaute. Schon bei diesem ersten Schrei war er zusammengezuckt und regungslos stehen geblieben, um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben.

Nun lauschte er an einem hohen und schmalen Flügelportal. Ein zufriedenes Lächeln zog über sein Gesicht. Sicherheitshalber legte er sein Ohr noch einmal an das messingbeschlagene Holz der Tür, das zu den weitläufigen Wohnräumen seiner Herrin Charifa führte. Dann schrie er erfreut auf: »Na endlich! … Allah sei Dank!« Obwohl er sicher war, genau das gehört zu haben, auf das alle sehnlichst gewartet hatten, drückte er abermals ein Ohr an die Außenseite des Portals, wohin ihn die Weiber verbannt hatten, nur weil er ein Mann war. Er wollte auf Nummer sicher gehen und keine Pferde scheu machen, bevor die frohe Kunde an die ehrenwerte Gemahlin des noch ehrenwerteren Sultans von Marokko von einem der Soldaten, die sich noch in der Grundausbildung befanden, zum anderen weitergegeben werden konnte.

»Kein Zweifel! Das klingt wie ein Mädchen!«, rief Ghali dem ersten Jungspund zu, damit der die Neuigkeit an den nächsten übermitteln konnte.

Nur wenige Augenaufschläge später schallte es durch den gut eine viertel Meile langen Verbindungskorridor, der diesen Teil des Palastes mit dem Haupthaus verband, von einem der jungen Männer zum anderen: »Es ist ein Mädchen!« – »Ein Mädchen!« – »Mädchen!« …

Es hallte zwar gut hörbar durch den Korridor, dann aber machte dieser einen Knick, der die Hälfte verschluckte.

»… Mädchen!« – »Was?« – »Zwei, äh, ein Mädchen!« – »Sind es zwei Mädchen?« – »Ja! Äh.« – »Zwillinge?« – Keine Antwort. – »Zwillinge!« – »Es sind Zwillinge!«

Und so hastete eine weitere viertel Meile später der letzte dieser »Staffelläufer« schnaufend in den Spielesaal des Palastes. Dort war Aludra gerade damit beschäftigt, die Würfel im dafür vorgesehenen Lederbecher so zu schütteln, um durch ihre Strategie dem Glück im Spiel etwas nachhelfen zu können.

Weil der unsichere Botschafter froher Kunde zum ersten Mal vor seiner Haseki Sultan stand und deswegen noch nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, war er total verkrampft.

Erst nachdem die junge Fürstin ihm mit einer Handbewegung geboten hatte, näherzutreten, verneigte er sich ergeben, bevor er sich wieder aufrichtete und mühsam hervorpresste: »Erhabene Haseki Sultan! Herrin über Marokko! Königliche Gemahlin des von Allah eingesetzten Sultans Abu-I-Hasan! …« Der aufgeregte Palastneuling schnaufte ein paarmal tief durch, bevor er endlich fortfuhr: »Anna Maria, die ehrenwerte Tochter der ebenfalls ehrenwerten ehemaligen Fürstin Charifa Dabis hat …«

»Jaja! Schon gut! Drück dich nicht so geschwollen aus! Sprich langsam und deutlich!«, drängte die Gemahlin des Sultans, die trotz ihrer Anspannung schmunzelnd in sich hinein dachte, dass der Neuling sein Sprüchlein gut auswendig gelernt hatte.

»Es … Es sind Zwillinge! … Zwei Mädchen!«, schoss es dann aus ihm heraus.

Aludras Becher knallte auf den Tisch.

»Alea iacta est!«, kommentierte ihr Backgammonlehrer anscheinend das bei seiner Herrin Gesehene, meinte damit aber das vom Diener soeben Gehörte.

Aludra indessen ließ den Würfelbecher stehen, ohne nachzusehen, inwieweit die zwei sechsseitigen Holzwürfel ihr noch recht unsicheres Spiel nach vorne bringen würden. Stattdessen klatschte sie vor Freude ihre Hände auf die Wangen. »Zwillinge?«

Während der Soldatenanwärter bestätigend nickte, nutzte Aludras Gegenüber die Gelegenheit, um nachzusehen, wie die Würfel gefallen waren.

*

»Ich gratuliere dir! Gesund, kräftig und alles dran! … Nur kein membrum virile!« Ibn Ra’id, der hochrangige Geburtshelfer, musste lachen. Gleich nach dem Abnabeln hatte er die neugeborene Tochter Anna Marias deren Freundin Rafika zum Waschen in die Hände gedrückt. Danach hatte es die glückliche Großmutter Charifa einen Moment lang halten und ihrer Tochter Anna Maria auf den Bauch legen dürfen.

Nun lag das erschöpfte Würmchen in den Armen der ausgelaugten, aber überglücklichen Mutter, die nicht wissen konnte, dass sie vermeintlich Zwillinge geboren hatte. Noch während der Palastmedicus und Rafika sich die Hände wuschen, klopfte es wie verrückt am Portal. »Nun geh schon und beruhige ihn«, gestattete Charifa ihrer unruhig gewordenen Leibdienerin.

»Danke, Herrin!« Kaum hatte sie dies ausgesprochen, eilte Rafika zum Portal, um ihren Freund Ghali hereinzulassen. Die beiden umarmten sich, so als wenn sie die Eltern des neugeborenen Mädchens wären. Dann umarmten sie Rafika, aber auch Ibn Ra’id und Charifa so innig, als wenn sie seit ewigen Zeiten die engsten Freunde wären – dabei kannten sie sich gerade einmal die Hälfte eines Jahres lang. Händehaltend gingen sie die letzten beiden Schritte zu Anna Marias Lager, um ihr zu gratulieren und den schwarzhaarigen Winzling willkommen zu heißen.

»Ist die süß!«, schwärmte Rafika, nachdem vom hinteren Teil des Palastes nach vorne und dann vom vorderen Teil zurück schnell geklärt worden war, dass es sich nur um ein Mädchen und nicht um Zwillinge handelte. Sie nahm das noch nackte Etwas für einen kurzen Moment auf den Arm, legte den kleinen Schreihals aber gleich wieder auf Anna Marias Bauch zurück und deckte ihn zu.

»Wie soll sie denn heißen?«, wollte Ghali wissen, nachdem auch er Anna Maria gedrückt und ihr gratuliert hatte.

»Ja …«, kam es von der frischgebackenen Großmutter, die schon seit Tagen nicht mehr von Anna Marias Lager gewichen war, in streng wirkendem Ton. »Dies würde mich auch interessieren.«

Obwohl die Geburt nicht leicht gewesen und Anna Maria dementsprechend noch schlapp war, wollte sie die Antwort nicht aufschieben. Zuvor aber flößte Charifa ihr einen nach Ibn Ra’ids Rezeptur und von ihr zubereiteten Kräutersud ein. »Geht’s?«

Anna Maria lächelte matt, aber glücklich, dann nickte sie und sagte leise: »Hasbia Theresa! … Zuerst wollte ich eine Niama-Theresa! Aber ich habe mich umentschieden: Mein Kind soll Hasbia Theresa heißen und zwei allein stehende, voneinander getrennte Vornamen tragen!«

Nun war es still im Raum. Nicht einmal die Kleine schrie. Sie grunzte nur und schien mit dem eigenartigen Doppelnamen, der ihr soeben auf den runzeligen Leib gedrückt worden war, einverstanden zu sein.

»Das bin ich meiner Ziehmutter schuldig«, begründete Anna Maria ihre Entscheidung in entschlossen festem Ton, noch bevor Charifa etwas sagen konnte. Dann wandte Anna Maria sich ihr zu und erläuterte den Grund für die etwas seltsam klingende Namenskonstellation: »Dich, meine leibliche Mutter, habe ich nach 20 Jahren hier in Fès gefunden. Wir können zusammen sein, wann immer wir wollen. Und ich kann dich so oft Charifa, also bei deinem Namen, nennen, wie es mir beliebt, stimmt’s?«

Obwohl die alte Fürstin noch nicht ganz wusste, worauf ihre Tochter hinauswollte, nickte sie stumm.

»Gut«, nickte nun auch Anna Maria und fuhr fort: »Theresa aber, die Frau, die mich auf meiner über alles geliebten Heimatinsel Syld 20 Jahre lang so liebevoll wie ihr eigenes Kind aufgezogen hat, werde ich nie mehr wiedersehen. Und mit ihrem Namen kann ich sie auch nie mehr ansprechen. Ich bin ihr zwar auch noch im Tod innig verbunden, fühle aber, dass der Abstand zu ihr immer größer wird. Denn seit ihrem Tod ist zu viel vorgefallen; letztendlich habe ich dich und …«, Anna Maria streckte eine Hand nach Charifa aus, »… mit Waliyah im Berberdorf Skhour-er-Rehamna meine mir bis dahin unbekannte Zwillingsschwester gefunden. Zu allem hin bin nun auch noch selbst Mutter eines liebreizenden Mädchens geworden.«

Als sie dies sagte, bahnten sich nicht nur bei ihr ein paar Tränen den Weg über die Wangen.

Charifa drückte sanft die Hand ihrer Tochter, lächelte verständnisvoll und sagte: »Schon gut! Aber warum der marokkanische Namensvorsatz ›Hasbia‹?«

Als Anna Maria ihre Mutter ansah, lächelte sie ebenfalls, bevor sie ihr die Antwort gab: »Weil dies der ausdrückliche Wunsch ihrer ›Schutztante‹, der Fürstin höchstpersönlich, ist, … falls es ein Mädchen werden würde! Unsere Freundin Aludra hat sich für diesen Namen entschieden, weil er so viel bedeutet wie ›Von edler Geburt‹. Damit möchte die Gemahlin unseres hochverehrten Sultans dokumentieren, dass sie einerseits keine Vorurteile gegen die Großmutter dieses Kindes hat, nur weil diese dem alten Geschlecht der Almohaden entstammt. Zudem erklärt die Fürstin damit, dass sie auch mir eine hohe Wertschätzung entgegenbringt. Immerhin waren meine Zwillingsschwester Waliyah und ich bis vor wenigen Augenblicken …«, Anna Maria küsste ihre Tochter zärtlich auf die Stirn, »… die letzten der alten Sultansdynastie der Almohaden! Weil Aludra aber mit einem Merinidensultan vermählt ist, ehrt sie dies und uns umso mehr, oder?«

Wieder nickte Charifa, deren Blick für einen Moment in die Ferne zu schweifen schien.

»In Hasbia Theresa fließt das Blut der Almohaden und das der Meriniden, großväterlicherseits aber auch das der Reichsritter von Schellenberg aus den deutschen Landen. Da also der Großvater dieses bezaubernden Geschöpfes ebenfalls ein Adeliger war, dürfte die ›edle Geburt‹ wohl außer Frage stehen. Zu allem hin ist Hasbia Theresas leiblicher Vater der Großwesir aus Marrakech, also ein hochrangiger Marokkaner!« Weil Anna Maria von der Geburt immer noch geschwächt war, musste sie kurz innehalten und verschnaufen. Nachdem ihr Ibn Ra’id wieder einen Schluck des entkrampfenden und beruhigenden Kräutersudes eingeflößt hatte, beendete sie ihre Begründung für die Namensgebung: »Außerdem ist es gut, wenn das Mädchen einen deutschen und einen arabischen Vornamen hat. Somit kann ich – je nachdem, wo ich mich mit dieser süßen Deutsch-Marokkanerin aufhalte – den Vornamen wählen, der mir am sichersten für sie erscheint! Und wenn Hasbia Theresa dereinst erwachsen sein wird, kann sie dies ebenfalls so den Gegebenheiten anpassen, wie sie es für richtig hält!«

Charifa lachte laut auf, bevor sie bestätigte: »Ja, mein Kind. Du hast recht. Ein Teil unserer kleinen Hasbia ist zweifelsfrei auch eine Adelige aus den deutschen Landen! Allein das Muttermal in Form eines Wassertropfens auf ihrer linken Schulter, das sie von ihrem Großvater und auch von dir geerbt hat, weist sie unverkennbar als solche aus!«

»Nenn sie wenigstens hier im hinteren Teil des Palastes bitte nicht nur Hasbia! Dein Enkelkind heißt Hasbia Theresa! …« Anna Maria war nachdenklich geworden und ihre Stimme klang traurig, als sie ergänzte: »… Hasbia Theresa von Schellenberg, weil der Kindsvater nichts mit ihr zu tun haben möchte!«

»Solange sich das Mädchen im vorderen Teil des Palastes oder außerhalb der Palastmauern in Marokko aufhält, nenne ich es nur Hasbia! … Das wolltest du doch so, oder?«, lästerte Charifa des Spaßes halber und schickte noch eine Begründung hinterher: »Außerdem sieht sie mit ihrem schwarzen Haarschopf und ihrer dunklen Haut nicht aus wie ein Mädchen vom oberen Kontinent.«

*

»Niemals hätte ich gedacht, dass du dereinst die Gemahlin des Sultans werden könntest«, freute Rafika sich einmal mehr für ihre beste Freundin Aludra, mit der sie schon durch dick und dünn gegangen war und dabei viele Abenteuer mit ihr erlebt hatte. Wie fast immer, war sie auch an diesem Tag als Kindsmagd eingeteilt worden. So hatte sie die Haseki Sultan besucht, damit die Fürstin mit dem Mädchen spielen konnte und somit ein wenig Zerstreuung zwischen ihren offiziellen Pflichten fand. Und eine Ablenkung vom oftmals eintönigen Palastleben konnte Aludra ebenfalls nicht schaden. Obwohl Anna Maria ihre Tochter und Charifa ihr Enkelkind keinen Augenblick missen mochten, brauchten sie doch an allen Tagen der Woche ein paar Stunden Zeit für sich selbst. Und bevor sie dann die inzwischen vier Monate alte Hasbia in die Hände einer der anderen Dienerinnen gaben, war es ihnen schon lieber, wenn die in jeder Hinsicht zuverlässige Rafika sich um die Kleine kümmerte und somit für etwas Freiraum sorgte. Denn Charifas ehemaliger Leibdienerin Zaid trauten sie allesamt nicht mehr. Seit Rafika deren Stellung eingenommen hatte, verhielt sich das Mädchen zunehmend merkwürdiger.

Aber auch sonst: Was konnte es Erhabeneres geben, als das Kind in der sicheren Obhut der Fürstin zu wissen? Aludra jedenfalls konnte es Tag für Tag kaum erwarten, den herzigen Balg knuddeln zu dürfen und sich dabei mit ihrer besten Freundin Rafika zu unterhalten. Denn so wie es im Moment aussah, konnte die junge Herrscherin selbst keine Kinder gebären. Da dies zumindest der Leibarzt der fürstlichen Familie nach etlichen unangenehmen Untersuchungen diagnostiziert und dies der Fürstin auch direkt ins Gesicht gesagt hatte, war deren Sehnsucht nach einem eigenen Kind sogar noch gewachsen. Wenn Frauen, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, sich gleichaltrigen Frauen mit Kleinkindern gegenüber oftmals missgünstig zeigten und manchmal sogar hasserfüllt waren, sollte dies auf die junge Fürstin nicht zutreffen – zumindest, was ihre Freundin Anna Maria und deren Säugling betraf. Außerdem kam ja stets Rafika mit der Kleinen zu ihr und nicht die Kindsmutter, die den vorderen Teil des Palastes mied, wann immer es ging. Dementsprechend hatte Aludra sowieso keine Hemmungen, mit Rafika offen über dieses Thema zu reden.

Aludras Arbeitszimmer glich schon längst eher einem Kinderzimmer als einem Raum, in dem eine Landesherrin ihre Korrespondenz erledigte, die Dienerschaft zur Arbeit einteilte oder ihre persönlichen Gäste empfing. Fast immer, wenn die beiden, ganz entgegen höfischer Sitten, auf dem Marmorboden inmitten des im Grunde genommen viel zu großen Raums saßen und die Kleine auf einem blütenweißen Schaffell lag, drehte sich alles um das Kind und um Aludras Sorge einer eigenen Mutterschaft, die für ihren Gemahl mehr und mehr zum Problem zu werden schien.

»Der Sultan verändert sich mir gegenüber – wahrscheinlich nur, weil ich keine Kinder bekommen kann«, klagte Aludra. »Ich weiß, dass er mich über alles liebt, und ich liebe ihn auch! … Aber Nacht für Nacht mehrmals mit aller Kraft?«

Während Aludra albern kicherte, musste Rafika schmunzeln. »Du redest sehr offen mit mir«, stellte sie fest und ergriff sogleich Partei für Abu-I-Hasan. »Sei ihm nicht böse! Es ist doch mehr als verständlich, dass er sich nichts sehnlicher als einen Nachfolger wünscht, oder?«

Aludra stieß einen Seufzer aus. »Vielleicht hast du ja recht. Ich werde gleich morgen den ›Ersten Hakim des Sultans‹ wieder zu mir bestellen, um …«

»Aber Ibn Ra’id, der ausschließlich für den hinteren Teil des Palastes zuständige Hakim, ist doch ein wesentlich besserer Medicus als der alte Narr mit seiner Hundertschaft von Schwätzern, die zwar allesamt nur für dich und den Sultan zuständig sind, aber nichts können«, unterbrach Rafika die Fürstin, was sich außer ihrem Gemahl hier im Palast nur sie, Anna Maria und Ghali erlauben durften.

Deswegen zuckte Aludra nur mit den Schultern, anstatt ihre Freundin in die Schranken zu weisen.

»Kannst du dies nicht ändern und dich ein einziges Mal von Ibn Ra’id untersuchen lassen?« Aufgrund des gemeinsam Erlebten, bevor sie in diesen Palast gekommen waren, brauchte Rafika keine Mördergrube aus ihrem Herzen zu machen. Sie konnte Aludra gegenüber unumwunden sagen, was sie dachte. Nachdem sie bemerkt hatte, dass die Fürstin nachdenklich geworden war, fragte sie: »Ist etwas? Habe ich was Falsches gesagt?«

Aludra schüttelte den Kopf, nahm Rafikas Hände und blickte ihr lange wortlos in die Augen.

»Weißt du was?«, schoss es plötzlich aus Rafika heraus.

Aus reiner Unwissenheit sagte Aludra nichts, schaute ihr Gegenüber aber so lange erwartungsvoll an, bis Rafika selbst die Antwort gab: »Mir wäre es am liebsten, unseren guten alten Medicus um Hilfe bitten zu können!«

Blitzartig zog Aludra ihre Hände zurück und nestelte irritiert an ihrer smaragdfarbenen Kalabia herum, die wegen eines geöffneten Fensters wie eine »Spanische Tänzerin«, die wohl betörend schönste aller Meeresschnecken, an ihrem Körper flatterte. Nachdem sie auch noch schweigend mit ihren dicken Silberarmbändern an den Handgelenken gespielt hatte, bestätigte sie das soeben Gehörte mehr, als danach zu fragen, wie dies gemeint sei: »Du sprichst aber nicht von Aëtios, unserem griechischen Freund aus alten Zeiten?«

»Doch! Genau den meine ich! … Wen sonst?«, antwortete Rafika und stieß in Gedanken an ihren gemeinsamen Freund einen Stoßseufzer aus.

»Aber …«

»Weshalb tust du das nicht? Lass Aëtios doch einfach zu dir kommen!«, ermunterte Rafika ihre Freundin forsch.

Während der kleine Wuschelkopf, auf dem Bauch liegend, immer wieder ohne Hilfe versuchte, das Köpfchen zu heben, schüttelte Aludra traurig ihren Kopf. »Wie soll das gehen? Du weißt doch, dass er es vorgezogen hat, mit Shayma doch noch in seine alte Heimat Athen zurückzugehen, anstatt in Tetouan zu bleiben. Also ist er nicht mehr in Marokko und somit auch nicht mehr greifbar.«

Rafika senkte den Kopf. »Ja! Aber die beiden sind nur aus dem Grund weitergezogen, weil sie Angst davor hatten, doch noch von unser aller ehemaligem Herrn, dem Großwesir von Marrakech, erwischt zu werden! Bräuchten sie keine Angst mehr vor Nizamüddin Ahmed Pascha zu haben, wären sie heute noch im Lande.«

»Was ist?«, wollte Aludra wissen, weil Rafikas Blick nun nicht mehr von ihr wich.

»Du bist die Gemahlin des Sultans von Marokko, … von ganz Marokko!«

»Was … was meinst du?«

»Was wohl?« Rafika legte eine Hand auf Aludras Schulter und sagte: »Sprich mit deinem Gemahl offen darüber und bitte ihn, von Hauptmann Baariq einen Suchtrupp zusammenstellen zu lassen und …«

»Du meinst …«, unterbrach nun Aludra ihre Freundin.

»Ja!«, schrie Rafika vor Freude so laut auf, dass sogar die vor dem Arbeitszimmer der Fürstin postierten Wachsoldaten hereinstürmten, um ihrer Herrin beizustehen.

»Alles in Ordnung«, beruhigte Aludra die Männer und schickte sie wieder hinaus, bevor sie Hasbia hochnahm, die sich so erschrocken hatte, dass sie zu weinen begann.

»Unser Gardehauptmann könnte doch …« Bevor sie weitersprach, tat Rafika so, als wenn sie überlegen müsste, »… eine Übung für die jungen Soldaten daraus machen, einen militärischen Orientierungsmarsch durch die Wüste zur Kräftigung ihrer Körper und zur Stärkung des Geistes sozusagen!«

Über die unorthodoxen Gedanken ihrer Freundin schüttelte Aludra zwar ungläubig den Kopf, freute sich aber darüber.

Nachdem es der Fürstin gelungen war, das weinende Mädchen zu beruhigen, spielten die beiden mit ihm. Um sich vom heiklen Thema »Kinderkriegen« abzulenken, alberten sie zwischendurch so herum, als wären sie selbst kleine Mädchen. Da meldete einer der inzwischen aus der Grundausbildung entlassenen Wachsoldaten, die nun ihren Dienst im Palast angetreten hatten, Hamas an, den frisch ernannten Zeremonienmeister des Sultans.

Noch bevor die beiden sich vom Boden erheben und gesittet inmitten des riesigen Raums stehen konnten, trat der Vertraute Abu-I-Hasans in den Raum, verneigte sich ergeben und teilte seiner Herrin mit, dass der Sultan sie umgehend im Thronsaal erwarten würde, weil Besuch da sei.

»Davon hat er mir aber nichts gesagt! Um wen handelt es sich denn?«

Der Zeremonienmeister verneigte sich wieder und antwortete: »Der hohe Besuch kam unangemeldet! Es handelt sich dabei um den Großwesir Nizamüddin Ahmed Pascha, den ehrenwerten Verwalter des El Badii-Palastes in Marrakech, und seinen Gardehauptmann Asil!«

Als sie dies hörten, zuckten die beiden jungen Frauen erschrocken zusammen.

»Teile meinem Gemahl mit, dass ich gleich kommen werde!«, entfuhr es Aludra mit einer unmissverständlichen Handbewegung.

Der für dieses hohe Amt eigentlich viel zu junge Zeremonienmeister verstand sofort und zog sich diskret zurück.

Bevor Aludra etwas sagen konnte, wickelte Rafika die Kleine in eine Decke, nahm sie an sich und verschwand, ohne sich von der Fürstin verabschiedet zu haben. Sie musste schleunigst zu Anna Maria, um sie über die Anwesenheit des Großwesirs im Palast zu informieren. Auweia! Wie soll ich ihr das nur sagen, überlegte sie, während sie den Korridor entlangeilte. Ausgerechnet jetzt!

*

»In Allahs Namen grüßen wir Euch, unseren getreuen Großwesir! Was verschafft uns die Ehre Eures Besuchs, geschätzter Verwalter meines Palastes in Marrakech? Warum seid Ihr eigentlich immer noch in Fès? Ich dachte, Ihr wolltet längst in Marrakech zurück sein? … Und Euch, Hauptmann Asil, grüßen wir ebenfalls!« Nachdem der Hausherr seinen Part der Begrüßung hinter sich gebracht hatte, deutete das Sultanspaar den unerwarteten Gästen eine Verneigung an.

Nizamüddin Ahmed Pascha und Asil legten ihre rechte Hand auf die Brust und neigten tief ihre Köpfe, während sie gleichzeitig einen halben Schritt zurücktraten. In dieser ehrerbietigen Haltung mussten sie so lange verharren, bis ihnen vom Sultan gestattet wurde, erneut näher treten zu dürfen. »Hebt Eure Köpfe! … Und nun sprecht!«

Nachdem die beiden Gäste zuerst Abu-I-Hasan, dann dessen Gemahlin mit schwülstigen Worten begrüßt hatten, berichtete der Großwesir, dass er zwischenzeitlich nach Marrakech zurückgekehrt war, um auf die Schnelle einige wichtige unerledigte Dinge zu regeln und nach dem Rechten zu sehen. »Ich war nur wenige Tage im El Badii-Palast!«, sagte er fast entschuldigend und fuhr fort: »Da mir El Houari, meine neue rechte Hand, nicht nur treu ergeben dient, sondern auch genauso zuverlässig zu sein scheint wie sein Vorgänger El Madini, der nicht nur mein engster Vertrauter, sondern auch mein bester Freund gewesen war …« Als er dies sagte, musste der Großwesir für einen Moment innehalten, bevor er in der Lage war, weiterzusprechen: »… konnte ich es mir erlauben, meine abgebrochene Mission gleich wieder aufzunehmen und unverzüglich nach Fès zurückzukehren, um endlich Rache zu nehmen!«

Der Sultan kniff die Augen zusammen und überlegte, bevor er das Wort erhob: »Damit meint Ihr sicher die Suche nach Eurem ehemaligen Palastarzt Aëtios und den mit ihm entflohenen vier Sklavinnen?«, mutmaßte er, während Aludra bereits unruhig auf ihrem Thronstuhl herumrutschte.

Der Großwesir verneigte sich wieder. »Ja, mein Herr und Gebieter! … Mein ehemaliger Leibmedicus ist nicht nur für El Madinis, sondern auch noch für den Tod mehrerer Männer meiner Palastwache verantwortlich. Und wie ich inzwischen von meiner zweiten Konkubine Zinah erfahren habe, wurde Yamha, meine erste Konkubine, von der Sklavin Shayma meuchlings erstochen! Dieses ruchlose Weib befindet sich zusammen mit den anderen auf der Flucht vor mir.«

Weil Abu-I-Hasan bei den letzten Aufwartungen seines Großwesirs noch nicht gewusst hatte, dass sich zwei der Gesuchten im hinteren Teil seines Palastes aufhielten, hatte er Nizamüddin Ahmed Pascha bei dessen letztem Besuch seine vollste Unterstützung bei der weiteren Suche zugesagt. Da er aber später – offensichtlich erst nach der Abreise des Großwesirs in den Süden Marokkos – von Aludra erfahren hatte, um wen es sich bei den Gesuchten handelte und weshalb sie geflohen waren, wusste der zwar in allen Dingen offene, mit taktischen Ränkespielen aber unerfahrene junge Regent im Moment nicht, wie er sich verhalten sollte.

Und dass es sich bei den Gesuchten in erster Linie um Anna Maria, aber auch um Rafika und um keine Geringere als seine Gemahlin höchstpersönlich handelte, machte die Sache auch nicht leichter für ihn. Da half es ihm im Moment auch herzlich wenig, dass Nizamüddin Ahmed Pascha seine ehemalige Palastsklavin Aludra nicht erkannte. Und dass sogar Gardehauptmann Asil seine einstige »Arbeitskollegin« aus dem El-Badii-Palast in Marrakech ebenfalls nicht wiederkannte, verstand Abu-I-Hasan trotz des Gesichtsschleiers, den seine Gemahlin sich rasch vor der Audienz von ihrer Leibdienerin hatte anlegen lassen, überhaupt nicht. Sicher, beide hatten zu der Zeit, als Aludra Sklavin im El-Badii-Palast gewesen war, nicht allzu viel miteinander zu tun gehabt, argumentierte der Sultan für sich selbst und machte sich Gedanken darüber, was er nun tun solle.

Um Zeit zu gewinnen, bat der ansonsten über alles erhabene Landesfürst seine Gäste in den Speisesaal, der sich in einem anderen Trakt befand. Dieser Raum war wegen seiner Altersschäden über viele Jahre hinweg ungenutzt gewesen, vom neuen Sultan aber gleich nach dessen Amtsantritt aufwendig renoviert worden. Auf dem Weg dorthin grübelte er, wie er den Großwesir dazu bewegen könnte, seine Rache und die damit verbundene Suche nach Aludra, Rafika, Anna Maria und den anderen ein für alle Mal aufzugeben, ohne dass er selbst sein Gesicht verlieren würde. Da er dem Stadthalter von Marrakech sein Wort gegeben und ursprünglich seine Unterstützung zugesagt hatte, würde dies nicht leicht werden.

*

Der nun wieder in altem Glanz erstrahlende Speisesaal bestand aus einem runden Kuppelbau, in dessen Mitte ein gewaltig wirkender Rundtisch stand, der Platz für 148 Personen bot. Bei großen Anlässen wie Staatsempfängen, Ehrungen oder dergleichen wurden die durchweg hochrangigen Gäste nicht nur von außen, also von hinten, sondern auch von der Tischmitte aus bedient. Denn die Tischplatte war zwar etwa drei Ellen tief und durchmaß genau zwölf Fuß im äußeren Rund, konnte zur Mitte hin aber nicht als Esstisch genutzt werden, weil die mit Abertausenden von Mosaiksteinchen belegte Tischplatte nach den bewussten drei Ellen endete. Stattdessen befand sich dort ein etwa acht Fuß im Rund großes Loch, durch das die direkt darunterliegende Küche und die kühlen Lebensmittel-Lagerräume erreichbar waren. Deswegen konnten die Lakaien die ausschließlich außen herum sitzenden Gäste des Sultans auch von innen, also direkt von vorne bedienen. Ganz in der Mitte dieser gigantischen Anlage stand auf einem tonnenschweren schwarzen Granitsockel eine gut zehn Ellen hohe Alabastervase, in der Papyrusstangen aus Ägypten steckten, an denen wohl über 100 überdimensionale Seidenpapier-Schmetterlinge aller Farben angebracht waren.

Zu beiden Seiten dieses gigantischen Gefäßes führte je eine Treppe ins Untergeschoss, auf der die Dienerschaft in Richtung des Sultans und seiner Gemahlin auf- und abtragen konnte, ohne die Herrschaften zu stören oder sich gegenseitig zu behindern.

Obwohl Ibn Hadsch al Ibn Radif, der berühmteste Baumeister der Almoravidischen Architektur, damit vor mehr als 200 Jahren etwas entworfen hatte, was die gesamte arabische Welt bis heute nirgendwo sonst gesehen hatte, war die erfinderische Meisterleistung in diesem Saal der gewaltige Kristallleuchter, der hoch über der Alabastervase hing. Und dies, obwohl dort tagsüber keine einzige Kerze den weit darunter liegenden, verhältnismäßig dunklen Speisesaal mit Licht versorgte. Denn dies war die Aufgabe der sogenannten »Himmelskrone«, einer gleichsam wuchtigen wie filigranen Glaskuppel, deren unterer Teil von einem schmalen Umlauf umgeben war, vor dem eine dekorative Marmorbalustrade die Diener vor dem Abstürzen schützte, wenn sie die vielen dort angebrachten Spiegel tagsüber zu jeder Hälfte einer Stunde nach dem Stand der Sonne ausrichteten, um zu garantieren, dass das Tageslicht von den Spiegeln bestmöglich widergegeben und somit äußerst wirkungsvoll auf die Kristalle des Leuchters gelenkt wurde. Mit Einsetzen der Dunkelheit übernahmen dann etwas weniger als 400 zwischen den Spiegeln stehende und über 100 im Saal verteilte Talgkerzen die Arbeit der Sonne.

Dass in diesem Palast die jeweils besten Baumeister und Künstler ihrer Zeit gearbeitet hatten und dies auch heute noch taten, konnten Nizamüddin Ahmed Pascha und Asil auf den ersten Blick erkennen. Allerdings sollten sie nicht in den Genuss kommen, die ganze leuchtende Pracht sehen zu können. Denn wegen nur zweier Gäste, die zwar verhältnismäßig hochrangig, aber dennoch seine Untergebenen und zudem nicht von außenpolitischem Wert waren, ließ der Sultan nicht gleich einen großen Teil seiner Dienerschaft aufmarschieren.

*

Nun saßen der Großwesir und sein Gardehauptmann mit dem Sultan und seiner Gemahlin in einer der vier nach den göttlichen Himmelsrichtungen ausgerichteten Seitenkuppeln des voluminösen Speisesaals, die bei Banketten zusätzlichen Platz für jeweils 40 Gäste boten. Meist waren dies Offiziere, hohe Beamte oder andere verdiente Trossmitglieder der hohen Herrschaften, die an der großen Mosaik-Tafel saßen, während deren Leute in einem der nicht ganz so pompös ausgestatteten Runderkern an der Außenseite des eigentlichen Speisesaals Platz nehmen mussten.

Trotz der Freundlichkeit des Sultans war die Situation so angespannt, wie er und die Fürstin wirkten. Zudem schien Abu-I-Hasan auf etwas zu warten. Und der Großwesir konnte kaum verbergen, dass er es nicht erwarten konnte, mit dem Sultan über seine »Mission« sprechen zu dürfen.

»Ah, da sind ja meine beiden besten Männer!«, freute sich der Sultan, der zu diesem Gespräch auch Baariq, den frisch bestallten Hauptmann seiner Palastgarde, und Hamas, seinen neuen Zeremonienmeister, eingeladen hatte. Der schneidige Offizier, insbesondere aber Hamas, sein gleichaltriger Freund aus Kindheitstagen, genossen das volle Vertrauen des Sultans. Deswegen verzichtete Abu-I-Hasan bei diesem Gespräch auf all seine anderen siebengescheiten Berater.

Nach einer Vorstellungsrunde klatschte der für seine jungen Jahre erstaunlich charismatisch wirkende Herrscher Marokkos in die Hände, um die mehrvölkerumfassend besetzte Truppe seiner 15-köpfigen Hofmusikanten aufspielen zu lassen. Obwohl sie nur im kleinen Kreis tafelten, ließ er Sherine, die beste in Marokko lebende Bauchtänzerin aus Ägypten, dem Entstehungsland dieses verführerischen Einzeltanzes, auftreten. Dazu kamen Schlangenbeschwörer vom »Platz der Gehängten« aus Marrakech, Derwische des Mevlevi-Ordens aus der Türkei und ein paar weiße Narren vom nördlich von Marokko liegenden Kontinent, die hier ihre Künste zeigen durften. Damit wollte er etwas Zeit gewinnen. Denn er wusste, dass sein Großwesir ihn erneut um Hilfe für dessen Rache bitten würde, sowie sich die Gelegenheit zu einem Gespräch ergab.

Irgendwann konnte sich der Sultan nicht mehr vor diesem Gespräch drücken. Nachdem der Verzehr der mit Ras el Hanout gewürzten Berberkost Tajine, des landesüblichen Kuskus in mehreren Variationen, haufenweise Briouats und ebenso vielen gefüllten Teigtaschen aus Yufkateig mit Minzchai hinuntergespült worden waren, wurden von Dienerinnen gebratener Hammel und gegrillter Fisch mit Gemüse aufgetragen. Nachdem sie bei der Pastilla, einer herzhaft-süßen Blätterteigpastete, angelangt waren, gab es zum Abschluss einen starken Mokka. Dann klatschte der Sultan abermals in die Hände und ließ sich fünf Shishas bringen.

Da dies normalerweise das unmissverständliche Zeichen für Frauen – auch für die Gemahlin eines Sultans – war, sich diskret zu entfernen, um die Männer allein zu lassen, wollte Aludra protokollkonform aufstehen und sich zurückziehen. Aber ihr Gemahl hielt sie sanft am Arm fest und sagte in weichem Tonfall: »Bitte beehre uns weiter mit dem Glanz deiner Anwesenheit, meine geliebte Fürstin!« Da es bei dem unvermeidlichen Gespräch schließlich auch um sie ging, wollte er, dass sie alles mitbekam. Weil er merkte, dass sich insbesondere Nizamüddin Ahmed Pascha und Asil darüber wunderten, lächelte er die Männer entwaffnend an und fragte sie: »Ihr habt doch nichts dagegen, oder? … Wir sind schließlich unter uns!«

Die beiden verneigten sich wortlos. Sie trauten sich nicht, etwas dagegen zu sagen.

Nachdem die fünf Männer eine ganze Weile lang still an den hölzernen Schlauchmundstücken ihrer Wasserpfeifen gezogen hatten, kam der Sultan nicht mehr umhin, das Gespräch zu eröffnen: »Nun, mein lieber Großwesir. Wie kann ich Euch helfen?«

*

»Ich glaube nicht, dass dieser Dickkopf die Suche nach Euch aufgibt«, stellte der Sultan nach der Audienz seiner Gemahlin gegenüber fest. Dabei machte er einen sorgenvollen Eindruck auf sie.

»Warum hast du ihm die weitere Suche nicht strikt verboten?«, schimpfte Aludra, als sie in ihrem Schlafgemach waren. »Du allein hättest die Macht dazu gehabt!«

Abu-I-Hasan nahm sanft ihre Hand und sagte in verständnisheischendem Ton: »Sei mir bitte nicht böse, meine Geliebte! Da du ursprünglich nicht dem tragenden Teil des Sultanats angehörtest und erst seit kurzer Zeit die hakemi sultan von Marokko bist, kannst du nicht wissen, wie gerade deine Freundin Anna Maria, dieser aus Griechenland stammende Medicus und die alte Sklavin meinen Großwesir enttäuscht haben. Aber dies ist es nicht allein, weshalb er berechtigterweise auf Rache sinnt: Er wurde öffentlich gedemütigt, was ein Mann seines Standes wie eine Kastration empfindet. Und dafür, dass er sein Gesicht verloren hat, möchte er Vergeltung, … nur dafür!«

»Aber …«

Abu-I-Hasan legte einen Zeigefinger auf Aludras Lippen und küsste sie gleich darauf. »Kein ›Aber‹! … Ich habe alles dafür getan, um euch zu schützen. Er hat nicht erfahren, dass Anna Maria und Rafika hier im Palast sind, von Rafikas Gefährten Ghali weiß er überhaupt nichts! … Und dich hat er immer noch nicht erkannt! Wenn er wüsste, dass meine Gemahlin seine ehemalige Sklavin war, könnte die Sache aus dem Ruder laufen und ich mein Gesicht verlieren.«

»Ja! Gut und schön! Anna Maria, Rafika … und auch ich mögen hier im Palast vielleicht vor seinen Nachstellungen sicher sein! Aber was ist, wenn meine beiden Freundinnen den Palast verlassen? Und was ist mit Shayma und Aëtios?«

Nachdem der Sultan nichts sagte, weil er die beiden Letztgenannten lediglich von den Erzählungen seiner Gemahlin her kannte, war für Aludra klar, dass sie sich ihm trotz des großen Kinderwunsches und der Sehnsucht nach seinen Zärtlichkeiten in dieser Nacht verweigern würde. Stattdessen nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn auf das an, was Rafika ihr vor etwa vier Stunden empfohlen hatte: »Wo wir gerade über den Medicus aus Athen sprachen: Ich hätte da eine Frage an dich …«

Kapitel 2

Wenige Wochen später hatte das Fürstenpaar die massiven Drohungen des Großwesirs, die Suche nach seinen entflohenen Sklavinnen und nach Aëtios fortzusetzen, fast vergessen. Zumindest Abu-I-Hasan dachte kaum noch daran. Während Nizamüddin Ahmed Pascha nach seiner bisher einzigen Audienz beim Sultan im großen Speisesaal des Meriniden-Palastes hinreichend begründet hatte, weshalb er Anna Maria, Aëtios und die anderen unbedingt würde finden müssen, hatte er – zumindest indirekt – auch eingeräumt, die Frau aus den deutschen Landen immer noch zu lieben. Dies war der Ausschlag für den Sultan gewesen, dem Verwalter seines Palastes in Marrakech weiter gut zuzureden und ihn von seinem nach marokkanischem und nach islamischem Gesetz absolut legitimen Vorhaben abzubringen. Aber es hatte nichts genützt; sein Stolz und der damit verbundene Hass auf die fünf Flüchtenden standen offenkundig immer noch über seiner Liebe zu Anna Maria.

Während der unverhältnismäßig lang dauernden Audienz hatte Aludra sich gleich mehrmals auf die Lippen gebissen, um dem Großwesir nicht zu sagen, dass Anna Maria ein Kind von ihm geboren hatte. Es wäre ihr sogar fast herausgerutscht, dass Anna Maria und Rafika hier im Palast weilten. Wäre dies passiert, hätte das Unglück auf ihr Verschulden hin seinen Lauf genommen und ihre eigene Tarnung wäre ebenfalls aufgeflogen. Da aber Weiber bei einer Männerrunde nichts verloren und schon gar nichts zu sagen hatten, war sie letztlich still geblieben. Obwohl oder gerade weil sie die Haseki Sultan war, hatte sie sich schweren Herzens an das allgemein übliche Protokoll gehalten und geschwiegen. Nach der Audienz war ihr dann nichts anderes übrig geblieben, als ihrem Gemahl innerhalb ihrer persönlichen Gemächer die Leviten zu lesen … und sich ihm in dieser Nacht trotz des ungebeugten Kinderwunsches und der Sehnsucht nach Zärtlichkeit zum ersten Mal gänzlich zu verweigern.

Um den harmonischen Frieden, der die Menschen des vorderen mit dem hinteren Teil des Palastes verband, nicht zu gefährden, hatte Aludra auch ihren beiden Freundinnen und Ghali gegenüber den Mund gehalten. Alles war friedlich und nichts schien in der Jahreszeit bedingt warmen Luft zu liegen. Die meisten von ihnen waren glücklich und kümmerten sich liebevoll um die inzwischen viereinhalb Monate alt gewordene Hasbia. Nicht die Mutter und die Großmutter, sondern die Gemahlin des Sultans hatte die größte Freude daran, dass der kleine Wurm damit begonnen hatte, sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen, was allerdings noch nicht so recht klappen mochte. Aber mit ihrer unermüdlichen Hilfe machte Hasbia Tag für Tag Fortschritte. »Man merkt ihr an, dass ihr Großvater ein stolzer Ritter war«, stellte die Fürstin lachend fest und drückte das zerbrechliche Wesen an ihr Herz, während Rafika gesüßten Minzchai nachschenkte.

»Hast du es dir endlich überlegt?«, unterbrach Aludra die Harmonie in einem spitzen Ton, der so gar nicht zum gemütlichen Nachmittagsplausch passen mochte.

Aber Rafika schüttelte entspannt den Kopf. »Nein, meine liebe Aludra! Das kann ich Anna Maria einfach nicht antun.«

Die Augen der jungen Fürstin verengten sich bedrohlich. »Warum denn nicht? … Du weißt, dass ich dir dies befehlen könnte!«

»Versuch’s doch!«, konterte Rafika frech. Sie wusste, dass ihr die Fürstin niemals einen Befehl erteilen oder etwas von ihr verlangen würde, was sie nicht mochte.

Aludra hob Hasbia hoch über sich und säuselte in kindlicher Sprache: »Deine böse, böse Kindsmagd ist ein gaaanz stures Weib. Sie möchte unbedingt weiterhin dieser närrischen alten Charifa und nicht deiner lieben Haseki Sultan dienen!« Weil Aludra den kleinen Wuschelkopf dabei leicht schüttelte, begann das aufgeweckte Kind zuerst zu glucksen, dann laut zu lachen. Und als der Fürstin Sekret aus dem Mund des Säuglings ins Gesicht lief, musste auch sie lachen.

Rafika schmunzelte. Sie umarmte Aludra, drückte ihr ein Küsschen auf die Wange und sagte: »Du weißt, dass ich stets gerne in deiner Nähe bin und gewiss auch sehr gerne ganz nah bei dir wäre, um für dich arbeiten zu können. Aber Anna Maria ist nun einmal meine ältere Freundin. Immerhin hat sie mir das Leben gerettet! Ohne sie wäre ich heute nicht hier. Also muss und möchte ich in ihrer Nähe bleiben. Aber wir sehen uns doch fast alle Tage hier bei dir, oder etwa nicht?«

Dass Aludra spaßeshalber eine Schnute zog, zeigte die innige Verbundenheit zueinander und das gegenseitige Verständnis der beiden füreinander. So vergingen die Tage und Wochen in trauter Harmonie.

Aber es war nur die Ruhe vor dem Sturm, weil doch etwas in der Luft lag, von dem nur wenige wussten. Denn Nizamüddin Ahmed Pascha war der eindringlichen Empfehlung des Sultans nicht gefolgt und dementsprechend auch nicht nach Marrakech zurückgeritten, um seine »Mission« abzubrechen und somit die Rachepläne beiseitezulegen. So logierte er zusammen mit seinem Gardehauptmann immer noch im »Riad Dar Bensouda«, einer der nobelsten und teuersten Herbergen in Fès, von wo aus sie ihre weitere Suche ganz im Norden Marokkos vorbereiteten. Denn der Großwesir war sich absolut sicher, dass die Gesuchten weiter in den Norden Marokkos geflohen waren. Er wollte und konnte nicht aufgeben.

Während sich ihre sechs Gardesoldaten mit einer wesentlich bescheideneren Unterkunft zufriedengeben mussten und sich Abend für Abend in den billigsten und dementsprechend auch schmuddeligsten Pinten der Medina von Fès herumtrieben, genossen Nizamüddin Ahmed Pascha und Asil das süße Leben in der noblen Taverne »Zur schönen Seherazade« in vollen Zügen. Weil die beiden Abend für Abend darin verkehrten, waren sie längst gut Freund mit Xerxes, dem aus Persien stammenden Wirt der höheren Gesellschaft von Fès geworden. So war es kein Wunder, dass die Gespräche mit ihm zunehmend vertraulicher geworden waren. Wenn der Wirt seine Taverne geschlossen hatte, saß er oftmals mit seinen besten Gästen zusammen, so auch mit Nizamüddin Ahmed Pascha und dessen treuem Leibwächter. Und weil während ihrer Gespräche alle drei gerne dem Alkohol frönten, wurden deren Zungen von Weinbecher zu Weinbecher zunehmend lockerer. So kam genau das, was schon länger in der Luft lag und irgendwann unweigerlich hatte kommen müssen:

»Was?«, brüllte der Großwesir eines Nachts so laut, dass sich die anderen verbliebenen Gäste erschrocken zu ihm drehten.

»Reiß dich zusammen und schrei hier nicht herum!«, wurde er von Xerxes gezügelt.

»Was hast du soeben gesagt?«, kam es in zwar gemäßigtem Ton, aber scharf vom hochrangigen Gast aus dem Süden des Landes zurück.

Da der kräftige Rotwein und etliche Feigenschnäpse die Sinne des bulligen Wirtes bereits vernebelt hatten, war ihm etwas herausgerutscht, was er bisher für sich behalten hatte. Und weil die verhängnisvollen Worte seinen Mund bereits verlassen hatten, war nun eh schon alles egal. Also konnte er jetzt von seiner malträtierten Leber weg ausplaudern, dass die vom Großwesir Gesuchten allesamt bei ihm gewohnt hatten. »Damals kannte ich dich ja noch nicht«, entschuldigte sich Xerxes. Mit weiteren beschwichtigenden Worten versuchte er, sich doch noch aus der misslichen Lage, in die er sich selbst gebracht hatte, herauszuwinden.

Aber es half nichts; trotz des immensen Alkohols, den er bisher in sich hineingeschüttet hatte, wollte sein derzeit bester Gast alles darüber hören, was es in Bezug auf die Flüchtigen zu wissen gab. Denn schlagartig war er nüchtern geworden. Weil der Großwesir dem Mann Kraft seines Amtes und Einflusses mit dem Entzug des Ausschankrechtes drohen konnte und dies auch ungeniert tat, blieb dem eingeschüchterten Wirt nichts anderes übrig, als auf seine Kosten eine weitere Galone Wein an den Tisch bringen zu lassen, der seine Zunge noch mehr lösen würde.

»Berichte mir alles, was du weißt, von Anfang an! … Hörst du? … Alles!«, beharrte der Großwesir, nachdem er, in freudiger Erwartung übermütig geworden, mit Xerxes und Asil angestoßen und den Becher in einem Zug geleert hatte.

Nachdem Xerxes anfänglich doch herumgedruckst und um das eigentliche Thema einen großen Bogen gemacht hatte, war er auf Nizamüddin Ahmed Paschas strenges Drängen hin irgendwann auf den Punkt gekommen. Zuvor aber hatte er einen weiteren Becher des köstlichen Weines von der Hochebene Fès-El Hajeb, einem südlich von Meknès gelegenen Anbaugebiet, die Kehle hinunterlaufen lassen. »Also gut!« Der dickbäuchige Wirt wischte sich den Mund ab und zwirbelte seinen langen Schnauzbart, bevor er zu erzählen begann: »Eines Tages kam mein Freund – der im Sultans-Palast tätige Hakim Ibn Ra’id – mit seinem aus Griechenland stammenden Berufskollegen Aëtios, dessen Weib Shayma und vier …«

»Was sagst du da?«, unterbrach der Großwesir. »Mein alter Leibmedicus Aëtios ist eine Liebesbeziehung mit meiner ehemaligen Oberaufseherin über die weiblichen Sklaven eingegangen? … Das glaube ich jetzt nicht!«

Xerxes nickte zwar, zuckte dabei aber mit den Schultern und bekundete, nichts anderes zu wissen, als dass die beiden ein Paar seien.

Fassungslos den Kopf schüttelnd, gebot der Großwesir dem Wirt, weiterzuberichten.

»Ja! Äh … Die beiden hatten nicht nur Anna Maria und Rafika mit einem gewissen Ghali dabei, sondern …«

»Langsam, mein Freund!«, unterbrach Nizamüddin Ahmed Pascha wegen seiner ungezügelten Neugierde doch schon wieder. »Wer in Allahs Namen ist Ghali? Von dem habe ich noch nie etwas gehört! Den suche ich nicht, oder?« Als er dies sagte, schaute er seinen Gardehauptmann an und stellte auch ihm eine Frage: »War dies auch einer unserer Sklaven?«

Asil zog fragend die Augenbrauen nach oben und gleichzeitig die Mundwinkel nach unten, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich weiß es nicht! Ich glaube nicht! Jedenfalls habe ich im El-Badii-Palast noch nie etwas von einem Sklaven dieses Namens gehört. Um ihn wiederzuerkennen, müsste ich ihn sehen. Vielleicht …«

»Schon gut!«, bremste der Großwesir ungeduldig und gab Xerxes mit einer Handbewegung und der dazu passenden Mimik zu verstehen, dass er weitererzählen solle, was er denn auch tat. »Ghali ist Rafikas Freund! Soweit ich weiß, stammt er nicht aus Marrakech, sondern aus Meknès, wo er ein stadtbekannter ›Meisterdieb‹ und ein Streuner gewesen sein soll. Aber dieses Blatt hat sich ja ebenso gewendet wie …« Xerxes stockte und wollte einen Schluck Wein zu sich nehmen, weswegen der Großwesir schon wieder dazwischenfuhr: »Im Namen unseres Propheten! Verdammt noch mal! Lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen! … Trinken kannst du später!«

Zu Nizamüddin Ahmed Paschas und Asils Verwunderung stand Xerxes auf, legte seine rechte Hand auf die Brust und verneigte sich ehrfurchtsvoll in Richtung des Sultanspalastes, was seine beiden verdutzt dreinschauenden Mittrinker trotz des erheblichen Alkohols in ihren Köpfen sofort merken ließ, dass er dies nicht zu ihrer Ehre tat. Vielmehr geschah dies aus Respekt derjenigen Person gegenüber, die er nun verraten würde: »Wie bereits gesagt, hat der griechische Medicus während seiner Flucht vor dir und deinen Männern nicht nur die bereits erwähnten Personen bei sich gehabt, sondern auch …«

»Jetzt reicht es mir aber endgültig! Ich lass dir deine beschissene Schankgenehmigung entziehen, wenn du mir nicht sofort sagst, wen die fünf dabeihatten!«

Xerxes schnaufte tief durch. Dann drehte er sich in Richtung des Sultanspalastes, verneigte sich dorthin und sagte leise. »Verzeih mir, hochverehrte und von Allah geschickte Haseki Sultan!«

Bevor der Großwesir, der nun gar nicht mehr wusste, was los war, endgültig den längst fälligen Tobsuchtsanfall bekam, wandte Xerxes sich wieder ihm zu und sagte mit nun fester Stimme: »Aëtios hatte auch die heutige Gemahlin unseres geliebten Sultans bei sich!«

Nun war es so weit, dass der Großwesir ganz aus allen Wolken fiel. »Ich … ich verstehe nicht, was du für einen Pferdemist von dir gibst.«

Während der Mann ungläubig und deswegen fast etwas amüsiert auflachte, lächelte Xerxes ein wenig, bevor er den Rest seiner Antwort gab: »Ganz einfach, mein Freund: Aus Aludra, der jüngsten deiner Sklavinnen im El-Badii-Palast in Marrakech, ist inzwischen die von Allah gewollte und vom Volk geliebte Gemahlin unseres hochverehrten Sultans Abu-I-Hasan geworden!«

Nachdem er dies gehört hatte, fiel dem Großwesir zunächst gar nichts mehr ein. Er lallte nur noch, dass Xerxes diese ekelhafte Schleimerei lassen solle.

Weil die anderen Gäste mitbekommen hatten, dass die Namen ihres Herrscherpaares gefallen waren, harrten sie ehrfurchtsvoll der Worte, die kommen würden. Es war nun so still in der Taverne, dass man eine Flaumenfeder hätte fallen hören können. Und weil Nizamüddin Ahmed Pascha meinte, sich verhört zu haben, sagte auch er nichts mehr. Er legte den Kopf auf einen Unterarm und hob mit der anderen Hand den Becher hoch, um Xerxes zu deuten, dass er nachschenken solle. In dieser eines Großwesirs unwürdigen Haltung verharrte er so lange, bis Asil »Zum Wohle! Auf die Haseki Sultan!« rief, worauf auch Xerxes und die anderen Gäste auf die Gemahlin des Sultans anstießen.

Nachdem sie die unglaubliche Sache drei weitere Becher Wein lang bis ins Detail erörtert hatten und währenddessen die verbliebenen anderen Gäste gegangen waren, resümierte Nizamüddin Ahmed Pascha das für ihn Wichtige: »Wenn ich alles richtig verstanden habe, heißt das, dass nur Shayma und Aëtios in Richtung Norden weitergeflohen sind. Stimmt das?«

Xerxes nickte.

»Und Anna Maria hält sich nur eine halbe Meile von mir entfernt bei ihrer leiblichen Mutter Charifa, der mir von früher her persönlich bekannten Gemahlin des verstorbenen und auch nach seinem Tod verehrungswürdigen Sultans Abu Said Uthman II., im Palast auf! … Stimmt das auch alles?«

»Lass die ekelhafte Schleimerei!«, revanchierte sich nun Xerxes, der zwischenzeitlich kaum in der Lage war, etwas zu sagen. Aber er nickte wieder. Wegen seiner Geschwätzigkeit hatte er aus Wut auf sich selbst einen Becher nach dem anderen gestemmt.

»Wisst ihr was?«, bellte der Großwesir über den Tisch und hieb dabei so fest mit der Faust darauf, dass die Weinbecher umkippten und sich das köstliche Nass auf der Tischplatte verteilte. »Dass auch meine ehemaligen Sklavinnen Rafika und Aludra im Palast sind, ist mir scheißegal, aber …« Sein Blick verfinsterte sich. Mühsam erhob er sich und stützte sich mit beiden Händen an der Tischkante ab. Sein Brustkorb hob und senkte sich schwer, als er wie ein wütender Stier mit gesenktem Kopf dastand und versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Da dies nicht klappen mochte, sagte er leise, mehr zu sich selbst als zu den anderen: »Jetzt habe ich dich! Nun bist du fällig, Anna Maria von Schellenberg, Leichenfledderin und einziges Weib, das mich je genarrt hat!«

Da sich zwischenzeitlich auch Xerxes wieder halbwegs nüchtern getrunken hatte, war er froh, wenigstens nichts darüber gesagt zu haben, was er von seinem Freund Ibn Ra’id erfahren hatte; dass Anna Maria vor etwa fünf Monaten eine gesunde Tochter zur Welt bringen konnte.

Hätte Nizamüddin Ahmed Pascha dies auch erfahren, wäre er entweder total verzweifelt oder würde wütend herumschreien. Mit Sicherheit würde er sich ganz dem Vergessen im Suff hingeben. So aber besann er sich und überlegte schon, wie er Anna Maria zurückbekommen konnte, um sich an ihr zu rächen. In seinem Zorn wollte er sie allerdings nicht zurückerobern, er wollte ihrer lediglich habhaft werden, um sie zu besitzen und bestrafen zu können. Sollte er sie mit irgendeiner List aus dem Palast herauslocken und dann entführen? Oder sollte er sein Eigentum offen beim Sultan zurückfordern? Dann aber würde er nicht nur den Sultan, sondern auch die hebeki sultan diffamieren, die de facto immer noch sein Eigentum war. Trotz seiner erneut aufblühenden Rachegelüste und seines Brummschädels beschloss der kluge Mann, nichts zu überstürzen und die Sache besonnen anzugehen.

Na endlich, dachte Xerxes, als der Großwesir aufstand und Asil aufforderte, mit ihm zusammen in ihr Riad zurückzukehren, um dort die Räusche ausschlafen zu können.

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