Glühweinmord im Hexenhof - Bernhard Wucherer - E-Book

Glühweinmord im Hexenhof E-Book

Bernhard Wucherer

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Beschreibung

Auf dem »Hexenhof«, einem besonders beliebten Teil des Aachener Weihnachtsmarktes, wird in einer Glühweinbude ein vergifteter Student gefunden. Doch dies ist nur der Auftakt einer ganzen Serie von »Glühweinmorden« die rasch auch Belgien und Holland erschüttern. Weil der schrullige Commissaire Frederic criminelle Le Maire aus dem ostbelgischen Eupen und die taffe Aachener Rechtsmedizinerin Dr. Angelika Laefers zum ersten Mord gerufen wurden, ermitteln sie verdeckt weiter und stoßen dabei gleich auf mehrerlei Verdächtige, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben.

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Bernhard Wucherer

Glühweinmord im Hexenhof

Weihnachtskrimi

Zum Buch

Unglaublich gemein Der »Hexenhof« mit seiner berühmten »Kulthütte« ist ein ganz besonders beliebter Teil des Aachener Weihnachtsmarktes. Und da hier Alwin Fiebus und Ralph Cleef die alleinige Verantwortung tragen, haben sie auch viele Neider. Dies zeigt sich insbesondere, wenn dubiose auswärtige Anbieter an ihre Glühweinrezeptur kommen möchten. So ist es kein Wunder, dass es hier den ersten »Glühweinmord« der Geschichte gibt. Ausgerechnet Frederic Le Maire, der schrullige Commissaire de la criminelle aus dem ostbelgischen Eupen und seine Partnerin, die taffe und stets todschicke Rechtsmedizinerin Dr. Angelika Laefers aus Aachen sind rein zufällig als Erste am Tatort, wo ihnen ein sterbender Student etwas ins Ohr flüstert, das erst viel später einen Sinn ergeben wird. Ihre meist verdeckten Ermittlungen führen sie auch nach Belgien und Holland, wo es zu weiteren »Glühweinmorden« kommt.

Der aus Oberstaufen im Allgäu stammende Autor Bernhard Wucherer lebt seit vielen Jahren in Belgien, wo er Zeit und Ruhe findet, um all seine Reiseführer, historischen Romane und Krimis zu schreiben. Als ehemaliger Leiter einer Werbe-, Marketing- und Eventagentur verfasste der Grafikdesigner unzählige Werbetexte und -slogans, Aufsätze sowie Presseartikel. Nach seiner »Pesttrilogie« reiste er zur Recherche für »Das Teufelsweib« mit einfachsten Mitteln durch Marokko. Mit »Frittenmafia« folgte Bernhard Wucherers erfolgreiches Debüt als Krimiautor. Sein ehemaliges Amt als Gerichtsschöffe hilft ihm ebenso bei den akribischen Recherchen für seine Krimis wie seine langjährige Tätigkeit als Burgmanager und Museumskurator es für die historischen Romane tut.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Das Beste aus dem Allgäu (2019)

Frittenmafia (2018)

Das Teufelsweib (2018)

Die Säulen des Zorns (2014)

Lieblingsplätze: Tradition trifft Trend in Oberstaufen (2013)

Der Peststurm (2013)

Die Pestspur (2012)

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tobias Heimplätzer Werbefotografie

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6210-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Le Maires zweiter FallAuf ein (Vor)wort

Nach mehreren historischen Romanen habe ich mit »Glühweinmord im Hexenhof« meinen zweiten Kriminalroman für den Gmeiner-Verlag geschrieben. Und wir werden diese bei unserer hochgeschätzten Leserschaft auf Anhieb äußerst beliebte Serie wegen ihres grandiosen Starterfolges mit »Goldmadonna« fortsetzen. Mein belgischer Kriminalhauptkommissar Frederic Le Maire wird also mit seiner Partnerin, der Aachener Rechtsmedizinerin Dr. Angelika Laefers, auch künftig so unkonventionell weiter ermitteln wie bisher. Auch der Plot ist wieder in Belgien, aber auch in den anderen Ländern der Benelux und in verschiedenen Teilen Deutschlands, vornehmlich in Aachen, angesiedelt, … auch wenn meine liebe alte Allgäuer Heimat Oberstaufen eine gewisse Rolle spielt, die meinen beiden total unterschiedlichen Mordermittlern ausnehmend gut gefällt.

Aufgrund der unglaublich vielen Likes und positiven Rezensionen, manchmal aber auch durchwegs konstruktiv kritischen Bewertungen des Vorgängerbandes, meines Debütkrimis »Frittenmafia« beim Gmeiner-Verlag, möchte ich dem Leserwillen folgen und ein paar marginale Änderungen vornehmen. So erfülle ich gerne den Wunsch eines Teils meiner hochgeschätzten Leserschaft aus dem Bereich der »Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens« und verwende ab hier und in den weiteren Krimis dieser Serie weniger französische Bezeichnungen. Na, ist das ein Wort?

Dementsprechend werde ich künftig für belgische Städte und Orte wie zum Beispiel »Liège« die deutsche Bezeichnung »Lüttich« oder für »La Calamine« »Kelmis« verwenden. Allerdings belasse ich französische Bezeichnungen, wenn sie das belgische Flair besser widerspiegeln als deutsche Wörter. So wird aus einer belgischen »Friture« oder »Friterie« keine »Pommesbude« werden, denn die gibt es zwar in Deutschland, nicht aber in Belgien, wo Fritten einen ganz besonders hohen Stellenwert einnehmen. Und mein verschrobener Commissaire de criminelle – Entschuldigung: Kriminalhauptkommissar – Frederic Le Maire wird nach wie vor auf französisch fluchen: »Merde!«, was wesentlich charmanter klingt als auf Deutsch.

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude und Spannung mit »Le Maires zweitem Fall«.

Ihr Bernhard Wucherer

Kapitel 1

»Merde!«, fluchte Kriminalhauptkommissar Frederic Le Maire, als er mit der Rechtsmedizinerin Dr. Angelika Laefers direkt auf den »Hexenhof«, einem der schönsten Teile des Aachener Weihnachtsmarktes, zusteuerte und die gewaltige Menschenmenge vor sich sah.

»Schau mal, Frederic!« Um die Laune des Eupener Kommissariatsleiters gleich wieder zu verbessern, tippte Angelika ihren Begleiter an und zeigte mit der anderen Hand zu einer kleinen Frau in einem Verkaufsstand mit blonder wuscheliger Frisur. »Jetzt weiß ich, warum das hier ›Hexenhof‹ heißt!«

Aber angesichts der vielen Menschen konnte Frederic – obwohl er Angelikas Scherz verstanden hatte – nicht lachen.

Denjenigen Bereich des Weihnachtsmarktes, durch den sich die extravagante Aachenerin mit dem leicht korpulenten Belgier nun würde drücken müssen, bezeichnete man weithin zu Recht als »Hexenhof«. Denn hier ging es – wie an den meisten Adventstagen – auch an diesem zweiten Advent im wahrsten Sinne wie in der Hölle zu, was so viel hieß, dass hier der Teufel los war. Nicht nur, dass auffallend viele Japaner und Amerikaner die rustikalen Ausschankhütten belagerten, buhlten auch noch Bustouristen aus allen Ecken Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und sogar aus England, Italien und Frankreich mit Belgiern, Holländern und Luxemburgern darum, möglichst schnell an einen der begehrten Glühweine zu gelangen, der hier ganz besonders gut sein soll. Jedenfalls überlagerte dessen verführerischer Duft sogar den der Pommes- und Würstchenbuden.

Weil der »Belgier aus Leidenschaft« Bratwürste fast so wie Fritten liebte, war ihm zuallererst dieser Duft in die Nase gestiegen. Deswegen schob er seine Partnerin gleich wieder aus dem Inneren dieser zauberhaften Budenanlage zu einem nach außen hin gerichteten Essensstand, der augenscheinlich zu dieser perfekt durchdachten Verkaufsmaschinerie gehörte. Denn als solche hatte der pfiffige Mordermittler diesen Teil des weitläufigen Aachener Weihnachtsmarktes auf den ersten Blick identifiziert.

Und schon wieder fluchte der hungrige Mann, als er vor der von Menschenmassen belagerten Pommesbude stand und irgendwann sehen konnte, wie einer der hinter dem Tresen stehenden Männer aus einem Plastikkanister gewöhnliches Rapsöl in die Fritteuse schüttete. Zudem fiel ihm auf den ersten Blick auf, dass die Kartoffelstäbchen hier nur ein Mal – anstatt wie in Belgien zwei Mal – frittiert wurden. Und schon war ihm der Hunger nach deutschen Pommes frites endgültig vergangen.

»Rapsöl, kein Blanc de boeuf!« Frederic schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann esse ich in Gottes Namen eben nur eine Bratwurst … ohne Fritten! Bratwürste können die Deutschen ja fast so gut zubereiten wie wir Belgier«, zeigte sich der Frittenkenner dann doch noch der allgemeinen adventlichen Stimmung geschuldet gnädig. Allerdings erst, nachdem er während des Wartens seiner Partnerin gegenüber einmal mehr über die hochgelobte belgische Frittenkultur doziert hatte, die seiner Meinung nach durch kein anderes Land der Welt getoppt werden konnte. »… und schon gar nicht von den Deutschen!«

»Die hier!«, knurrte er, nachdem er endlich an die Reihe kam. Dabei deutete er durch die fettverspritzte Glasscheibe zum Bratrost, auf dem eine aus seiner Sicht besonders lecker aussehende Wurst lag, die er noch am ehesten für würdig hielt, von ihm verzehrt zu werden, »… aber mit viel Ketchup und Mayonnaise!«, wies er den gestresst wirkenden Verkäufer mit streng hochgezogener Stirn an. Der aber klopfte mit seiner Würstchenzange nur auf das Schutzglas, vor dem Plastikflaschen in drei Farben standen, bevor er zu Frederics Verdruss eine der anderen Würste in das vorbereitete Brötchen quetschte.

»Merde!«, fluchte Frederic schon wieder, als er dies sah und ihm auch noch der Senf, für den er sich kurzentschlossen dazuentschieden hatte, auf den sündhaft teuren Mantel spritzte.

»Ja ja, schon klar«, schmunzelte Angelika und ergänzte in akzentfreiem Französisch: »Das hätte dir in deinem geliebten ›Village de Noël de Liège‹ nicht passieren können! Weißt du was? Lass uns doch da rübergehen!«, empfahl sie und zeigte mit ihrer Bratwurst in der Hand auf die andere Straßenseite. »Von dort aus haben wir einen guten Überblick und können uns orientieren, bevor wir uns ins Getümmel stürzen. Hier rempelt uns wenigstens niemand an, während wir essen«, begründete die taffe und stets umsichtige Akademikerin ihren Vorschlag.

»Gut! Aber danach möchte ich ein kühles Bier!«, verkündete Frederic auf seine Art, dass er im Grunde genommen keine Lust dazu hatte, sich wie die Wurst vom Brötchen von den Menschenmassen einquetschen zu lassen.

*

Sie standen auf der obersten Stufe der Portaltreppe von Sankt Foillan, einer alten Kirche, die sich direkt schräg gegenüber des Aachener Doms und diesem Teil des weitläufigen Weihnachtsmarktes befand, der sich vom Münsterplatz, dem südlichen Teil des weltberühmten Krönungsgebäudes, über den Katschhof bis zum Marktplatz, dem oberen Teil des gotischen Rathauses hochzog.

Dass die beiden völlig unterschiedlichen Menschen nicht nur beruflich, sondern auch privat verbunden waren, konnte niemand glauben, der sie nicht näher kannte. Denn Dr. Angelika Laefers war eine extrem gut aussehende Frau mit einer atemberaubenden Figur, die sich stets adrett kleidete und nicht nur gerne den schönen Künsten frönte, sondern auch feines Essen in schicken Restaurants liebte.

Wegen seiner meist schlampigen Kleidung wirkte der zwar nicht schlecht aussehende, mit seinen 165 Zentimetern aber kleinere und etwas beleibte Mann neben ihr meist wie ein französischer Clochard, zumindest aber wie einer der verhuschten Künstler vom Montmartre, die sich noch selbst finden mussten, obwohl sie ihre beste Zeit längst hinter sich hatten. Im Gegensatz zu seiner Aachener Partnerin legte der Belgier ebenso wenig Wert auf ein gepflegtes Äußeres wie auf Sternerestaurants und die von Angelika geliebten Marken-Modegeschäfte, in denen sie all das fand, was ihn dann wie einen Lackaffen aussehen ließ. Und an diesem Adventssonntag fühlte er sich auch so. Denn Angelika hatte ihn extra für den Besuch des weithin beliebten »Hexenhof«-Weihnachtsmarktes unweit der Grenze seiner belgischen Heimat neu ausstaffiert. Während sie durch einen toll geschnittenen roten Mantel mit künstlichem Pelzbesatz und bis über die Knie gehende Stiefel auf den silbernen Hosenbeinen vor der Kälte geschützt wurde, trug er einen zwar nicht mehr ganz neuen, dennoch aber passablen Kaschmirmantel mit modernen Lederstiefeln zum Schnüren. Um den Hals hatte ihm Angelika einen todschicken Weihnachtsschal gewickelt. Auch wenn das Silbergrau nicht mit der Farbe des Mantels korrespondierte, sah er ausnahmsweise einmal wie ein gut betuchter Geschäftsmann aus, der wusste, wie man sich kleidete, wenn man unter die Leute ging. Wichtig war dabei, dass das Silber seines Schals zur Farbe ihrer Hose und zum Sternchenmuster ihrer Bommelmütze passte. Um für diesen adventlichen Ausflug perfekt auszusehen, hatte er sich zu allem hin auch noch rasieren müssen. Schließlich wollte sich die allseits bekannte und respektierte Rechtsmedizinerin in ihrer Heimatstadt nicht mit ihm blamieren. »Außerdem ruinierst du mit deinen harten Bartstoppeln den Schal!«, hatte sie zu ihm gesagt und ihm ein Küsschen auf die Nasenspitze gegeben, bevor sie ihn aus der seit Kurzem gemeinsamen Wohnung am leicht mondänen Ronheider Berg geschoben hatte.

*

Weil der himmlische Duft des Glühweins direkt vom »Hexenhof« zu Sankt Foillan hinüberzog, gelüstete es die ansonsten gerne Champagner trinkende Frau auf dieses blutrote Heißgetränk. Nachdem sie sich ihren Mund abgewischt und die Serviette zusammengeknüllt hatte, gab sie Frederic ein Wangenküsschen und nahm ihn an die Hand, um mit ihm der verlockenden Duftspur zu folgen.

»Warte, bleib mal stehen!«, sagte Angelika, kaum, dass sie ihre Füße auf den Holzboden des »Hexenhofes« gesetzt hatten, unter dem Kabelkanäle und Schläuche verlegt waren, die sämtliche Verkaufsstände mit Wasser, Strom und stets frischem Glühwein versorgten. »Schau dir mal den an! Der scheint nicht gerade in adventlicher Stimmung zu sein!« Während sie dies sagte, zeigte sie rechterhand zu einer Bude, hinter der ein missmutig dreinschauender Mann stand.

Aber Frederic interessierte sich weniger für den offensichtlich schlecht gelaunten Typen, sondern vielmehr für das, was er hinter dem Mann mit dem auffallend gezwirbelten Schnauzbart und den mit Gel glatt geklatschten Locken sah. Also ging er neugierig auf ihn zu und fragte ihn, was das für Edelstahlbehälter hinter ihm seien, an denen verschiedene Messuhren und diverse Drehschalter angebracht waren. Zudem versprühten dort etliche Lämpchen ein ampelartiges Licht, das weniger auf Weihnachten als auf Profit hinwies.

Weil der neugierig gewordene Ermittler nur mit einem abschätzigen Blick des kleinen und spindeldünnen Fatzkes gewürdigt wurde, anstatt eine Antwort zu erhalten, hakte er nach, bekam aber nur eine schroff klingende Gegenfrage zurück: »Was möchten Sie trinken?«

Ganz schön ruppig, dachte Frederic und wandte sich fast etwas hilflos Angelika zu.

»Haben Sie Glühwein?«, fragte sie unnötigerweise und bekam mit arrogant einseitig hochgezogenem Mundwinkel zur Antwort, dass er »quasi« hier sogar produziert werde.

Als wenn er Gedanken lesen könnte, hatte der belgische Ermittler sofort gemerkt, was dieser Angeber eigentlich hatte antworten wollen, zu dessen Glück aber gerade noch hinuntergeschluckt hatte.

Weil Frederic sich für die Technik hinter dem »Glühweinveredler« zu interessieren schien, taute der bis dahin unfreundlich wirkende Mann ein wenig auf und füllte zwei der aus Frederics Sicht kitschigen Stiefelbecher mit köstlich duftendem Glühwein. »Mit Amaretto oder mit Aachener Domlikör?«

Beide schüttelten ihre Köpfe. »Heißt das nicht ›Öcher Domlikör‹?«, mochte Angelika dennoch von dem arroganten Typen wissen, bekam aber wieder nur ein überhebliches Grinsen zur Antwort. Weil ihr aber die Becher gut gefielen, zog sie sogar in Erwägung, die Pfandtasse zu behalten. »Kann ich die auch in Grau haben?«

Der Mann zog eine Augenbraue nach oben und nickte, wandte sich aber gleich wieder Frederic zu und verkündete mit unverhohlenem Stolz in der Stimme, dass er all diese Verkaufsstände auf diesem Areal mit »seinem« Glühwein versorgen würde. Als wenn dies nicht reichen würde, zeigte er nach rechts und ergänzte: »auch ›Aachens Kulthütte‹ dort hinten.«

Der aufgeweckte Polizeibeamte drehte zwar seinen Kopf in diese Richtung, gab sich aber nicht gleich damit zufrieden. Er wollte es schon etwas genauer wissen. Also erfuhr er, dass der Glühwein ganz in der Nähe »an einem geheimen Ort« in Tausend-Liter-Behältern bereitstehen und dann hier mit geheimen Ingredienzien so veredelt würde, dass er aus seiner Sicht zu Recht als bester Glühwein Aachens bezeichnet werden konnte.

»Frischer geht’s wirklich nicht!«, sagte der nunmehr etwas leutselig gewordene Mann, verriet aber trotz Nachfragens nichts über seine Rezeptur, die offensichtlich über Gewürznelken, Zimt und braunen Zucker hinausging. Stattdessen schenkte er unaufgefordert zwei weitere Becher voll, von denen er Angelika provozierend einen grünen hinstellte.

*

»Jetzt hör endlich mit deiner ewigen Flucherei auf!«, schimpfte Angelika ihren »Lemmi«, wie sie Frederic immer nannte, wenn sie ihn necken wollte oder unzufrieden mit ihm war.

Nachdem sie beim selbsternannten Meister des »Hexenhof«-Glühweins auch noch erfahren hatten, dass sein Glühwein bei genau 77 Grad Celsius zubereitet wird, weil der darin enthaltene Alkohol ab 78 Grad verdampfen würde und dabei die Gewürze – insbesondere auch seine geheimen Zutaten – ihren Geschmack nachteilig verändern würden, begann er auch noch mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren: »Mein Glühwein hat mehr Alkohol als die gesetzlich vorgegebenen sieben Prozent!«

»Was für ein arrogantes Arschloch!«, flüsterte Frederic seiner Partnerin ins Ohr. Und weil ihn die Angeberei des kleinen Mannes mittlerweile nervte, lehnte er den dritten Becher dankend ab, der ihm wieder unaufgefordert hingestellt worden war. »Den hätten Sie vom Haus bekommen! Dann trink ich ihn eben selber!«, verkündete der Unsympath mit der roten Trinkernase und dem Matschgesicht. Dann drehte er sich wie ein beleidigtes Kind um.

Aber dies kümmerte Frederic und Angelika herzlich wenig. Sie waren mit den Olbrichs, einem unversehens hinzugekommenen befreundeten Paar, zum sogenannten »Tower« und zum »Baum« – beides rustikal gestaltete Verkaufsstände – gegangen und hatten es sich dort gut gehen lassen, ohne von einer Schießbudenfigur dumm zugeschwafelt zu werden. Und weil Angelika auch am nächsten Stand alte Bekannte gesichtet hatte, waren sie danach auch noch zum zentral gelegenen »Turm« auf ein Tässchen dieses göttlichen Getränks gegangen. Dadurch hatte sich ihr Glühweinkonsum schneller erhöht, als sie gewollt hatten, – aber Hauptsache, sie hatten es gut bei diesem Weihnachtsmarktbesuch. Und ihre Autos standen schließlich beide weit weg vom Alkohol in der heimischen Garage am Ronheider Berg.

Insgesamt hatten sie sich eine gute Stunde lang kreuz und quer über den »Hexenhof« schieben lassen. Und es war trotz des Gedränges wirklich sehr nett gewesen.

Weil Angelika immer wieder mit anderen Leuten, die sie lange nicht mehr gesehen hatte und von denen Frederic nur die wenigsten kannte, geplaudert hatte, war es ihm irgendwann zu dumm geworden und weil er bisher kein frisch gezapftes Bier bekommen hatte, wollte er mit Angelika endlich in eine Bierkneipe, »… vielleicht ins ›Aachener Brauhaus‹ hinunter«, gehen.

»Nichts da: Wir bleiben hier auf dem Weihnachtsmarkt!«, hatte sie entschieden, ohne eine Widerrede zuzulassen. Weil der Belgier erst vor etwa einem Vierteljahr die neue Dienststelle in Eupen übernommen hatte und deswegen bei ihr im nahen Aachen eingezogen war, hatte sie hier sozusagen immer noch das Hausrecht.

Weil es aber ohnehin kalt geworden war, hatten sie sich am Spätnachmittag dann doch noch gemeinsam dazu entschieden, die am nächsten erreichbare Wärme aufzusuchen.

»Von mir aus! Aber wir gehen weder in eine Kneipe, noch nach Hause! Hier herrscht doch mindestens eine gleich schöne Atmosphäre wie in allen anderen Bereichen des Öcher Weihnachtsmarktes«, beharrte Angelika und zeigte zu »Aachens Kulthütte«, wie die »Hexenhof«-Weinlounge insbesondere von wissenden Einheimischen liebevoll genannt wurde. »Die gibt es nur einmal! Und zwar hier auf dem ›Hexenhof‹!« Ohne auf Frederics demonstrierendes Grummeln einzugehen, schlug sie vor, noch auf ein Stündchen dort hinein und dann nach Hause zu gehen. »Ich habe auf einer Anschlagtafel gelesen, dass es dort eine große Auswahl an leckeren Speisen geben soll!«

»Aber sicher keine belgischen Fritten«, knurrte Frederic in sich hinein.

»Was hast du gesagt, mein Schatz?«

»Ach, nichts!«, log er. Da ihm klar war, dass es in dieser Lounge – immerhin befand er sich auf deutschem Boden – keine Fritten geben würde, die seinen Ansprüchen gerecht werden konnten, interessierte ihn nur noch, ob er dort wenigstens ein frisch gezapftes Bier bekommen würde.

Also waren sie in die »Kulthütte« gegangen, die vom Interieur her einer bayerischen oder tirolerischen Almhütte ähnelte. In diesem urgemütlichen Ambiente wollten sie sich aufwärmen und etwas essen.

»Schon wieder so ein geschniegelter Lackaffe!«, bemerkte Frederic, nachdem ihnen von einem blonden hageren Burschen ein Tisch zugewiesen worden war, an den sie sich auch nur setzen durften, weil die reservierten Tische – und dies waren Tag für Tag alle – erst in eineinhalb Stunden für andere Gäste frei gemacht werden mussten.

»In zwei Stunden steppt hier der Bär!«, orakelte Angelika, die wusste, dass hier abends ohne Reservierung überhaupt nichts ging.

Obwohl Frederic diese, jedes Jahr extra für den Weihnachtsmarkt neu errichtete, Räumlichkeit von seinen vorhergegangenen Besuchen mit Angelika und einigen gemeinsamen Freunden her kannte und wusste, dass er hier bestens bedient werden würde, grummelte er immer noch missmutig vor sich hin. Erst nachdem ihm ein überaus freundlicher Ober in mehr oder weniger original alpenländischem Outfit das heiß ersehnte kalte Bier hingestellt hatte, hellte sich seine Miene auf. Auch wenn der Gerstensaft nicht vom Fass kam, war er von bester Qualität und so gut gekühlt, dass der Genießer zufrieden war. »Diese gemütliche Atmosphäre erinnert mich jetzt an das Allgäu, als ich im vergangenen Sommer mit meinem Freund ›Fritten-Ralf‹ nach Oberstaufen gefahren bin und wir zur Almütte …«

»Alphütte, mein Schatz! Im Allgäu heißt es nicht ›Almhütte‹, sondern ›Alphütte‹ mit ›p‹ und nicht mit ›m‹!«, unterbrach Angelika, weil sie diesen pulsierenden und fast schon mondänen Kurort am südlichsten Punkt Deutschlands von ihren Kurzurlauben mit ein paar Freundinnen her ebenfalls kannte und lieb gewonnen hatte.

»Ja, ich weiß!«, pflichtete Frederic seiner Geliebten ausnahmsweise einmal ohne vorhergehende Diskussion bei. »Jedenfalls waren wir dort in einem wunderschönen Bergdorf namens Steibis, wo sich Ralf seinerzeit in einer Alphütte vor dem ›Frittenmörder‹ versteckt gehalten hatte! Und bei dieser Gelegenheit sind wir dann in Oberstaufen im ›Parkhotel‹ gelandet, wo wir eine Woche lang logiert haben!« Frederic seufzte versonnen, bevor er ergänzte, dass es dort zwar schön gewesen war, er aber viel lieber bei seinem Freund Gustl im Hotel »Tyrol« logiert hätte, … wenn dort ein Zimmer frei gewesen wäre. »Sollte ich wieder einmal nach Oberstaufen kommen, werde ich Gustl besuchen. Er ist ein verrückter, aber durch und durch netter Kerl, ein Tiroler eben!«

Während Frederic seiner Partnerin vom Allgäu, vom Bodensee, von Oberschwaben und vom dort grenznahen österreichischen Vorarlberg und der Schweiz vorschwärmte, obwohl dies Angelika selbst alles kannte, hatte sie ihr erstes Glas Chardonnay de la Chevalière halb leer getrunken, was ihre Wangen noch mehr glühen ließ, als dies sowieso schon der Fall war.

»Jetzt verstehe ich, warum der Glühwein Glühwein heißt«, witzelte ihr inzwischen ebenfalls angesäuselter Partner und kam erneut aufs Allgäu zu sprechen: »Unseren nächsten Urlaub verbringen wir gemeinsam bei Gustl in Oberstaufen!«

Weil Angelika dieses Angebot gefiel, hob sie ihr Glas und rief ihm ein lautes »Prost, mein Schatz! Auf uns!« zu. Und weil sie nicht verstanden hatte, was Frederic mit seinem Wortspiel zum Thema »Glühwein« gemeint haben könnte, griff sie den Spruch ihres Freundes nach dem Anstoßen dann doch noch auf. »Und? Zu was für einer Erkenntnis bist du nun schon wieder gekommen, mein über alles geliebter belgischer Herr Polizeipräsident?«

»Na ja, deine Wangen glühen weinrot!«

Tatsächlich spürten inzwischen beide die Wirkung des Alkohols mehr, als ihnen lieb war. Aber dies machte nichts, weil sie schließlich Urlaub, also dienstfrei, hatten und privat hier waren. Und für den Nachhauseweg zum etwas vom Stadtkern entfernt liegenden Ronheider Berg würden sich die beiden Polizeibeamten am Holzgraben unten ein Taxi nehmen.

Vorerst aber saßen sie noch in einer der gemütlichen Nischen mit bisher fremden Menschen zusammen, mit denen sie im Laufe des Gesprächs so richtig Spaß bekommen hatten. Zwischendurch war einer der beiden aufmerksamen Wirte an den Tisch gekommen, um sich mit ihnen zu unterhalten. Angelika kannte Alwin Fiebus schon seit vielen Jahren. Sie bewunderte das Engagement des umtriebigen Gastronomen und seines Partners Ralph Cleef, die ihre steile gemeinsame Karriere vor knapp 25 Jahren damit begonnen hatten, als sie diese Hütte erworben hatten. Dadurch war der Grundstein dafür gelegt worden, was es heute ist: »Aachens Kulthütte« eben! Allerdings war damals nicht zu erahnen gewesen, welches Imperium Alwin und sein Freund Ralph, der Inhaber einer großen Gartenbaufirma in Heinsberg, daraus machen würden. Kein Wunder, dass die beiden viele Neider haben, dachte Angelika kurz, lenkte ihre Konzentration aber gleich wieder auf das, was Alwin gerade erzählte.

Und weil Frederic zwischendurch eine seiner Selbstgedrehten geraucht hatte, war er nicht nur mit Aachens Kulthütte, sondern auch mit sich und der Welt zufrieden. Zudem hatten beide hervorragend gespeist – und viel dazu getrunken, inklusive Aperitif und Digestif. Sie hatten fortwährend gescherzt, herzlich gelacht und sich ganz einfach in illustrer Gesellschaft der vorweihnachtlichen Atmosphäre hingegeben, die von diesem urigen Hütteninterieur ausging. Dabei waren sie so lange auf den weißen Schaffellen sitzen geblieben, bis sie der für sie zuständige Ober freundlich, aber bestimmt gebeten hatte, ihre Plätze freizugeben, »… weil ab 18 Uhr alles bis auf den letzten Platz ausreserviert ist!«

»An allen Tagen?«, fragte einer der anderen mit am Tisch sitzenden Gäste den Ober, der milde lächelnd nickte und empfahl, rechtzeitig, am besten schon ein Jahr voraus, zu reservieren.

Wegen dieser aus Frederics Sicht naiven Frage des Gastes musste er grinsen. Um dem wegen seiner extrem spitzen Aussprache offensichtlich von Friesland kommenden Mann zu zeigen, dass er die Gepflogenheiten innerhalb dieser Räumlichkeit kannte, stand Frederic zu Angelikas Verwunderung ohne zu murren und sofort auf, ja er sprang förmlich von seinem Sitz hoch. Angelika hingegen fiel es sichtlich schwer, sich von der gemütlichen Bank zu trennen und den Tisch zu verlassen. Aber es nützte nichts: Sie mussten gehen, ob sie wollten oder nicht.

Weil sie die Abmachung getroffen hatten, dass Frederic bezahlen würde, wenn sie in seiner neuen Wirkungsstätte Eupen oder in seiner ehemaligen Wirkungsstätte Lüttich ausgingen, und Angelika dran war, wenn sie sich in Aachen oder in anderen Teilen Nordrhein-Westfalens aufhielten, musste sie die Geldbörse zücken, obwohl sie nicht mehr getrennt voneinander wohnten. Sie hatte das exklusive Teil von Gucci gerade wieder in ihre vom selben Designerlabel stammende Clutch zurückgesteckt, als sich durch den roten Windfang ein heftig schnaufender junger Mann in Lederhose kämpfte und aufgeregt nach den Chefs Ausschau hielt.

»Wo werden sie wohl sein? Natürlich bei ihren Gästen! Warte hier, ich hole einen von ihnen«, wurde er von dem eingebildet wirkenden Schnösel von vorhin angeraunzt«, dem offensichtlich die Tischzuweisungen oblagen, weswegen er am Eingang auf die Gäste wartete, die Plätze reserviert hatten, und andere brüsk zurückwies, die nicht reserviert hatten.

»Chef! Chef!«, rief er, nachdem er Ralph Cleef gesichtet hatte.

»Was ist los?«

Der junge Mann winkte seinen Chef zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, dass in Gilberts Stand jemand liegen würde.

*

Nachdem auch die Rechtsmedizinerin der Aachener Kriminalpolizei und der belgische Mordermittler dies gehört hatten, waren sie hinter dem Wirt und einigen seiner ebenfalls erschrockenen Mitarbeiter die Treppe hinunter nach draußen geeilt, um nachzusehen, was dort los war.

»Gehen Sie alle auf Abstand! Dies hier ist ein Tatort! Keiner fasst etwas an!«, rief Dr. Laefers alkoholbedingt etwas zu übereifrig, kaum, dass sie einen auf dem Boden liegenden Mann gesehen hatte. Dabei breitete sie ihre Arme aus, um den Zugang zum – wie sie es rein vorsorglich schon mal deklariert hatte – »Tatort« zu sichern.

Gleichzeitig zog Le Maire mit einer Hand den Wirt aus der engen Verkaufsbude, auf dessen Tresen ein gefüllter Glühweinbecher stand, neben dem ein umgestürztes Trinkgefäß lag, aus dem der Inhalt ausgelaufen war. Der Wirt hatte sich bereits über einen röchelnden jungen Mann gebeugt, um ihn mit Wangentätscheln zum Antworten zu bewegen. »Hubertus! Nun komm schon, was ist mit dir? Sag etwas!«

Aber Hubertus gab keine Antwort.

Inzwischen war auch der andere »Hexenhof«-Chef informiert worden und am bewussten Glühweinstand angekommen, wo er aufgeregt wissen mochte, was passiert war.

Davon unbeeindruckt gebot der erfahrene Polizist der Medizinerin, sich um den inzwischen vermeintlich Toten zu kümmern, was sie auch ohne seine Aufforderung getan hätte. Aber kaum, dass sie sich zu ihm hinunterbeugte, riss er schlagartig die Augen auf und zog sie mit beiden Händen zu sich. Angelika bemerkte, dass sich seine Gesichtszüge verkrampft hatten und die Lähmung nun auch noch auf andere Muskelgruppen überzugehen schien. Dann begann der Jüngling zu röcheln und heftig nach Luft zu schnappen.

»Ja?«, fragte die Frau und hielt ein Ohr nahe an seinen Mund. Sie glaubte, dass ihr der Sterbende etwas mitteilen wollte. Aber außer ein »Monsieur Ru… Botu…« brachte er nichts mehr heraus, bevor er überhaupt keine Luft mehr bekam und elend erstickte. Weil die Ärztin nichts bei sich hatte, mit dem sie ihm auf die Schnelle hätte helfen können, musste sie hilflos mitansehen, wie er in ihren Armen verstarb. Weil sie zu diesem Zeitpunkt bereits gewusst hatte, was der Auslöser für seinen Tod gewesen war, hätte auch ein Luftröhrenschnitt nichts mehr geholfen.

Von dieser menschlichen Tragödie – der soeben Verstorbene war erst 23 Jahre alt gewesen – bekam Le Maire schon nichts mehr mit, weil er immer noch damit beschäftigt war, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. »Kriminalpolizei! Treten Sie zurück! Alle!«, rief er der Menschenmenge zu, bevor er leise fluchend seine Dienstmarke suchte, um sie gleich darauf mehr oder weniger erkennbar in die Höhe zu halten. »Hat schon jemand den Notarzt und die Polizei informiert?«, wollte er von den herumstehenden Gaffern wissen, während er auch noch versuchte, die beiden total aufgelösten »Hexenhof«-Wirte auf Abstand zu halten und gleichzeitig die neugierige Menschenmenge zurückzudrängen. Weil dies aufgrund seiner alkoholbedingt ungelenken Gestikulation und das Verhalten der anderen Weihnachtsmarktbesucher, das er analytisch auf den gleichen Grund zurückführte, nicht gleich so klappen mochte wie er wollte, zückte er nun seinen Dienstausweis und schrie lauter als zuvor: »Kriminalpolizei! Bitte treten Sie etwas zurück!« Und – er konnte es kaum glauben – dies half auch, ohne dass die Leute etwas darauf erkennen, geschweige denn lesen konnten. Dass er den Gästen dieses Teils des Aachener Weihnachtsmarktes ein belgisches, also ein hier nicht unbedingt gültiges Dokument, entgegenstreckte, tat seiner Autorität keinen Abbruch, die Menschen wichen fast schon ehrfürchtig zurück.

»Das ist kein ›Hexenhof‹ mehr, sondern ein Hexenkessel!«, bemerkte der Kriminalpolizist – ganz in seinem beruflichen Element – seiner Partnerin gegenüber, während die Rechtsmedizinerin mehr oder weniger offiziell den Tod des Mannes feststellte, der ausgerechnet auf dem Boden jenes Glühweinstandes lag, in dem das blutrote Heißgetränk veredelt wurde.

»Wo ist dieser schräge Vogel, mit dem wir uns hier vor einer Stunde unterhalten haben?«, mochte Frederic von Angelika wissen, die aber nur antwortete: »Woher soll ich das wissen!«

Im Grunde genommen durften sich beide nicht mit dem Toten befassen; nicht nur, weil sie alkoholisiert waren, sondern, weil sie sich zudem in Urlaub befanden und der belgische Beamte hier sowieso keine Befugnisse hatte.

Weil es erfahrungsgemäß über die Feiertage hinweg sowohl für die Kripo, als auch für die Rechtsmedizin genug zu tun geben würde, wollten sie sich vorab noch ein paar gemeinsame Urlaubstage gegönnt haben. Aber dies dürfte sich zumindest für Angelika nun ja erledigt haben, – denn die Ärztin war trotz des doch beträchtlichen Alkoholkonsums offensichtlich noch so fit gewesen, dass sie die Todesursache jetzt schon hatte feststellen können, obwohl sie noch keine ordentliche Leichenbeschau vorgenommen hatte.

»Was ist? Hat endlich jemand die Polizei verständigt? Und wo bleibt der Notarzt?«, schrie indes Le Maire die Schaulustigen erneut an, weil er wusste, dass er schon wieder vergessen hatte, sein eigenes Handy zu laden. »Merde!«

*

Schon kurz darauf waren mit Peter Dohmen und Matthias Lehnen zwei Öcher Mordermittler mit ähnlich klingenden Nachnamen im »Hexenhof« angekommen, die vor allen Dingen auszeichnete, das sie – im Gegensatz zu ihrem belgischen Kollegen – zuständig und nüchtern waren. Dennoch war es ihnen nur mit Hilfe einiger uniformierter Kollegen gelungen, mühsam eine Schneise durch die immer noch neugierige Menschenmenge bis zum bewussten Glühweinstand hin zu schlagen und das Areal vor der Bude so mit einem Flatterband zu sichern, dass der jeden Moment eintreffende Notarzt und seine Sanitäter freie Bahn haben werden. »Wo bleiben die denn?«, schimpfte nun auch Dohmen, der Leiter der Aachener Mordkommission, ohne auch nur einen Fetzen davon gesehen zu haben, um was es hier überhaupt ging. Dafür entdeckte er im Gewirr der Menschen seinen Kollegen aus dem etwa 20 Kilometer entfernten Eupen. Leicht verwirrt, an einem deutschen Leichenfundort einen belgischen Kriminalbeamten zu sehen, der zudem auch noch vor ihm da gewesen war, entfuhr ihm nur ein abweisend klingendes »Frederic! Was machst du denn hier?«

»Ich wünsche dir auch einen schönen Tag, Herr Kollege!«, antwortete der in fast jeder Situation coole Belgier, der kurz die Luft anhielt, um nicht alkoholisiert aufzufallen, während er seinem Kollegen die Hand zum Gruß hinstreckte.

»Entschuldige! Die vielen Menschen hier machen einen ganz verrückt! Sag mal, was ist hier eigentlich los und was tust du …?«

»Wieso?«, konterte Le Maire verschmitzt, noch bevor Dohmen seinen Satz beenden konnte. »Weißt du das etwa noch nicht?«

»Na ja!«, antwortete dessen sichtlich nervöser Amtskollege. »Auf einen Schlag gingen wohl an die zehn Anrufe in meinem Kommissariat rein, in denen unisono behauptet wurde, dass hier auf dem ›Hexenhof‹ ein Mord geschehen sei.« Der deutsche Mordermittler drehte sich um die eigene Achse, sah aber immer noch nichts, was ihn beruflich interessieren könnte. Da tauchte hinter dem Tresen der »Glühwein-Veredelungsbude« der Bommel einer mit Glitzerfäden durchwirkten und mit Sternen besetzten Strickkappe auf. »Hierher, Peter!«

»Angelika! Du auch hier? Ich dachte, du hast frei!« Jetzt verstand der verhältnismäßig junge Chefermittler der Aachener Kripo überhaupt nichts mehr. »Na endlich!«, rief er, als er den Notarzt und zwei Sanitäter mit Rucksäcken und einer Trage auf sich zueilen sah.

»Um was geht es?«, wollte kurz darauf der diensthabende Notfallmediziner als Erstes wissen und bekam von seiner Kollegin Dr. Laefers, die sich nun ganz erhoben hatte, die Antwort, indem sie zuerst nach unten zeigte, »Exitus« sagte, dann resigniert die Lippen zusammenpresste und die Augenbrauen nach oben zog.

Jetzt erst checkten auch die beiden deutschen Ermittler, dass sich die telefonisch angekündigte Leiche hinter dem Verkaufstresen befinden musste. Also traten sie näher, um darüber hinwegschauen zu können. »Warte, Angelika! Ich komme zu dir!«, sagte der Leiter der Aachener Mordkommission und drückte sich auch schon an Le Maire – der wieder die Luft anhielt – vorbei ins Innere der Bude. Nachdem Peter Dohmen sich zur Rechtsmedizinerin und zum Toten hinuntergebeugt hatte, rümpfte er die Nase. »Na, der hat ja ganz schön was intus!«, stellte er fast schon angewidert fest, anstatt etwas Pietät wegen des jugendlichen Alters der Leiche zu bemerken.

Weil Angelika wusste, dass es nicht der Tote war, der stark nach Alkohol roch, drehte sie ihren Kopf weg und trat etwas beiseite. Von den anderen unbemerkt blies sie ihre Wangen auf und ließ mehrmals stoßartig Luft aus ihren Lungen entweichen. Dann kramte sie nach einem Pfefferminzbonbon, das sie allein schon wegen ihres Berufes immer beutelweise in irgendeiner Tasche hatte. Sie wollte nicht, dass ihr Kollege merkte, dass sie es war, von der dieser Geruch ausging. Bevor sie Stellung zur Erstuntersuchung der Leiche bezog, drückte sie sich ganz aus der Verkaufsbude heraus, um einen Sicherheitsabstand zu Peter Dohmen zu bekommen. Aber noch bevor sie dem Ermittlungsleiter etwas sagen konnte, wandte der sich an seinen Assistenten, um ihm aufzutragen, schleunigst die SpuSi hierher zu beordern. Weil Sonntag war und die Alarmfolge wohl deswegen nicht ordentlich geklappt hatte, wollte er es den Spurensicherern im Moment nachsehen, nicht als Erste am Tatort gewesen zu sein. Dennoch würde dies ein Nachspiel haben, je nach Wichtigkeit dieses Falles, von dem er noch nicht wusste, ob es überhaupt ein Fall war. Aber dies würde ihm die Frau Doktor ja gleich sagen.

*

Auf ein Zeichen seiner Partnerin hin hatte Frederic sich unbemerkt davongeschlichen. Nun wartete er schon über eine halbe Stunde im »Elisenbrunnen-Café« auf Angelika. Um sich zu sammeln und etwas herunterzukommen, hatte er sich vor Betreten des beliebten Cafés eine Zigarette gedreht und hektisch so lange daran gezogen, bis es ihn in die Wärme gedrängt hatte, weil dort sicherlich ein kühles Bier auf ihn warten würde. Nicht, dass er und Angelika notorische Trinker wären, – immerhin hatten sie frei und zudem war es Sonntag. Und da konnte es schon mal vorkommen, dass die beiden den Herrgott einen guten Mann sein und es sich gut gehen ließen. Dass es an diesem zweiten Advent allerdings etwas zu viel der vorweihnachtlichen Stimmung geworden war, mochte er ja selbstkritisch einräumen, – aber es war einfach zu schön auf dem »Hexenhof« und dann auch noch so gemütlich in der »Kulthütte« gewesen, dass sie einfach nicht hatten gehen wollen. Dennoch oder gerade deswegen hatte er von seinem deutschen Kollegen keine hämische Bemerkungen hören wollen. Da war es nur gut gewesen, dass Angelika so schnell reagiert hat, dachte er sich versonnen, während er den ersten Schluck des zweiten herrlich kühlen Bieres genoss, obwohl es kein belgisches Gebräu war.

*

»Gift! Zweifellos ein Giftmord!« Weil der Alkohol jetzt erst richtig zu wirken begann, wollte sich Dr. Angelika Laefers zur selben Zeit vor dem Ermittlungsleiter ebenfalls nicht die Blöße geben, als Trinkerin dazustehen. Deswegen hatte sie sich eine Mimik zurechtgelegt, die deutlich machen sollte, dass sie es eilig hatte. »Tut mir leid, aber ich muss leider fort!«

»Hast du alles …«

»Ja!«, unterbrach die Ärztin Peter Dohmen in gewohnt selbstbewusst klingendem Ton. »Ich habe alles festgestellt, was es ad hoc am Sterbeort eines Menschen und an einer Leiche festzustellen gibt: Exitus durch Toxin! Der Rest ist Sache der SpuSi!«

»Gift?« Peter Dohmen und dessen Stellvertreter schauten sich an, als wenn sie nicht glauben konnten, was sie soeben gehört hatten.

»Ja! Und auf den ersten Blick konnte ich keine andere Gewalteinwirkung erkennen! Mehr dazu …«

»… wenn du ihn auf deinem Tisch hast!«, ergänzte Dohmen aus Erfahrung heraus. Vor ihm und Lehnen lag ein junger Mann, den die Aachener Rechtsmedizinerin soeben als ermordet deklariert hatte. Dabei hatte sie dies in einem solch festen Ton gesagt, als wenn für sie keinerlei Zweifel bestünden, dass er vergiftet worden war.

»Habt ihr einen Plastikbeutel für mich?«, fragte sie und tütete gleich darauf den Glühweinbecher ein, der auf dem Tresen gelegen hatte.

»Ist das der Becher, in dem …«

»Vermutlich!«, antwortete Angelika knapp und empfahl, auch das noch volle Trinkgefäß und die Tischdecke mitzunehmen. Dann stand sie auf, um gehen zu können. »Wenn die SpuSi fertig ist, könnt ihr ihn in die Gerichtsmedizin bringen und von meinem diensthabenden Kollegen in ein Kühlfach schieben lassen! Ich kümmere mich dann morgen um ihn! Tschü-üss!«

»Was für ein Weib!«, murmelte Dohmen zur weiteren Verwirrung seines engsten Mitarbeiters. »Na gut, dann …«

*

»Entschuldige, Schatz, aber du weiß ja selbst …« Angelika wirkte abgehetzt.

Anstatt seine Partnerin nett zu begrüßen und sie zu fragen, was sie trinken mochte, kam Frederic lediglich ein »Und?« über die Lippen. Während er ungeduldig auf eine Antwort wartete, drehte er sich eine Zigarette.

»Lass mich erst zur Toilette, um mir etwas Wasser ins Gesicht klatschen zu können«, gab seine soeben eingetroffene Partnerin zur Antwort, anstatt auf das ungemütlich drängende »Und« einzugehen. »Bestellst du mir bitte schon mal einen Kaffee und ein Mineralwasser?« Dann war sie auch schon wieder verschwunden.

Als sie kurz darauf ihrem beruflichen und privaten Partner gegenüber saß, ließ sie sich darüber aus, was wäre, wenn Peter Dohmen gemerkt hätte, dass sie am Sterbeort eines Mordopfers alkoholisiert gewesen war. »Wie peinlich wäre das denn gewesen! Aber er hat – glaube ich – nichts bemerkt.«

»Und?«, kam es wieder von Frederic, der ihr zwar aufmerksam zugehört, sich aber auf diese Marginalie nicht eingelassen hatte. Inzwischen hatte er seine dritte Zigarette gedreht, wovon er zwei im Tabakbeutel deponiert hatte und sich nun eine hinters Ohr steckte.

Nachdem Angelika das aus Frederics Sicht viel zu teure Sprudelwasser fast auf einen Zug in sich hineingeschüttet hatte, begann sie erst, ihren Kaffee trinkfertig zu machen, bevor sie über ihren neuen Fall zu berichten begann: »Also gleich nachdem du weg warst, ist die SpuSi eingetroffen. Nach dem ersten Infoaustausch haben Peter und Matthias damit begonnen, in einer Art Separee in der Kulthütte die beiden Wirte, deren Mitarbeiter und diejenigen der neugierigen Gaffer zu vernehmen, die ihnen allzu vorlaut vorgekommen waren. Ich denke, dass meine beiden Kollegen morgen damit im Kommissariat weitermachen werden und die Protokolle spätestens am Dienstag fertig sind.«

»Und?« Frederics Ton hatte sich ein wenig verschärft.

»Schon gut: Ich komme ja gleich auf den Punkt!«, blaffte Angelika in ähnlichem Ton zurück.

Na also, geht doch, dachte sich Frederic, dessen Schmunzeln Angelika nicht bemerkte, weswegen sie nun loslegte: »Ich kann eindeutig eine Toxinvergiftung voraussetzen, weil der junge Mann noch gelebt hat, als ich mich um ihn gekümmert habe. Denn kurz bevor er gestorben ist, habe ich absteigende Lähmungen seiner Gesichtsmuskulatur bemerkt, die dann auch auf andere Muskelgruppen übergegriffen haben. Dies hat zu einer Lähmung der Atemmuskulatur und letztlich zum Ersticken geführt! Zudem haben seine übergroßen Pupillen auf eine Lähmung des dritten Hirnnervs hingewiesen und …«

»Kann dies nicht auch andere Ursachen haben? – Medikamente oder Drogen zum Beispiel in Verbindung mit Alkohol!«, unterbrach Frederic nicht gerade höflich.

»Ja, schon! Aber …«

»War’s das?«, unterbrach Frederic schon wieder, weil er in seinem jetzigen Zustand keinen medizinischen Fachvortrag hören mochte.

Angelika schüttelte gleichsam verärgert wie nachdenklich den Kopf und bestellte sich bei der vorbeilaufenden Bedienung ein weiteres Mineralwasser. »Nein! Er wollte mir noch etwas sagen!«

Nun wurde Frederic neugierig und wollte wissen, was der junge Mann kurz vor seinem Tod von sich gegeben hatte.

Angelika überlegte kurz, ob sie ihn wegen seines uncharmanten Verhaltens ärgern und ihre Antwort hinauszögern sollte, entschied sich dann aber doch, kein Spielchen mit ihm zu spielen. Also sagte sie knapp: »›Botu!‹ und ›Monsieur Ru‹!«

»Was?«

»Du hast richtig gehört! Er hat mir nur diese beiden Wortfetzen ins Ohr gehaucht, dann war Schluss.

»Botu Botu!«, presste Frederic heraus, während er seine Gehirnsynapsen auf Touren brachte. »Und was mag er mit ›Monsieur Ru‹ gemeint haben? Möglicherweise ausländisch.«

»Wirklich sehr gut erkannt, Monsieur le Commissaire!«, spöttelte Angelika.

Frederic ging nicht darauf ein. Aber er konnte nachdenken, wie er wollte: Das Rätsel war im Moment nicht zu lösen. Dies vereitelte allein schon der Alkohol, der es sich zwischenzeitlich ganz schön bequem in seinem Hirn gemacht hatte. Um sich besser konzentrieren zu können, ging er auf eine Fluppe nach draußen.

Kapitel 2

»Du Arschloch! Was hast du dir nur dabei gedacht? Selbst schuld!«, schallte es tags darauf keine zehn Kilometer von der wallonischen Provinzhauptstadt Lüttich entfernt durch eine aufgelassene Wellblechhalle der ehemaligen Schiffswerft bei Herstal an der Maas. Auf dem Boden kniete ein vor Angst zitternder Kleinganove mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen vor einem großen Kerl, der in aller Seelenruhe die Ärmel hochkrempelte. Dabei legte er seine tätowierten Unterarme frei, die vom Tageslicht getroffen wurden, das sich durch ein paar der Löcher im Dach quetschte.

Weil der auf dem Boden kniende 38-jährige Mann von einer lähmenden Todesangst gepackt worden war, starrte er mit weit aufgerissenen Augen auf die Tätowierungen, die auf beiden Armen des Hünen aus bunten Blumen bestanden, die mehrere Totenköpfe umrankten. »Gib es endlich zu!«, schrie der bullige Typ und versetzte seinem Opfer schon wieder eine schmerzhafte Backpfeife.

»Ich war’s nicht!«, beteuerte der auf dem Boden Kniende zum wiederholten Mal und bekam dieselbe Rückfrage wie schon zuvor: »Wer dann?«

»Ich weiß es wirklich nicht!«

Schon wieder klatschte es. Der vor sich hin winselnde Mann wusste längst, was auf ihn zukommen würde.

Dieses Frage-Antwort-Spiel zog sich so lange hin, bis eine tiefe, aus einem dunklen Teil der großen Halle kommende Stimme drang: »Es reicht! Jetzt mach schon, Guido!«

Nun zeigte sich, dass das wehrlose Opfer mit der Einschätzung seiner Situation richtiggelegen hatte, denn ihm wurde eine Pistole direkt auf eines seiner Augen gedrückt. »Tut mit leid, Jupp! Aber du weißt ja, dass der Chef keine Fehler duldet! Adieu, mon ami!« Und schon krachte es.

*

Zur selben Zeit hatten sich die Protagonisten vom Vortag im Sezierraum der Aachener Gerichtsmedizin zusammengefunden, – inklusive des Toten und des belgischen Ermittlers waren alle anwesend. Neu in der Runde war lediglich Doktor Laefers’ Assistenzarzt Jussuf Abdalleyah, ein klein gewachsener Jemenite, dessen viel zu große Brille ihn wie einen Frosch aussehen ließ.

Vorangegangen waren die restlichen Vernehmungen in der Kulthütte des »Hexenhofs« durch Hauptkommissar Dohmen und Kommissar Lehnen sowie ein darauf folgendes Gespräch der beiden deutschen Ermittler mit Aachens Oberstaatsanwalt Dr. Knopp in dessen Büro. Weil Dr. Laefers und ihr Assistent mit dem Toten ein berufliches Rendezvous gehabt hatten, war es für die Rechtsmedizinerin unmöglich gewesen, an diesen Gesprächen teilzunehmen. Dafür hatte der belgische Commissaire de criminelle Frederic Le Maire die Ehre gehabt, als Gast dabei sein zu dürfen, obwohl er einer der Zeugen und kein beteiligter Ermittler war. Und weil am Vortag bei der Glühweinbude niemand mitbekommen hatte, dass er dem Alkohol in zu hohem Maße zugetan gewesen war, wurde er genauso ernst genommen wie die Rechtsmedizinerin, die in ihrer weißen Arztkleidung trotz der hellblauen, mit Blut besudelten Plastikschürze hinreißend aussah, als sie das Wort ergriff: »Also, meine Herren! Wie wir inzwischen alle wissen, handelt es sich bei dem Toten um Hubertus von Syrgenstein, einen 23-jährigen Studenten der Ökotoxikologie im zweiten Semester an der RWTH Aachen.« Bevor die Ärztin zur Sache kam, nahm sie einen Schluck Wasser. »Was ich gestern schon feststellen konnte, hat sich bei der heutigen Autopsie eindeutig bestätigt: Er wurde vergiftet! In seinem Magen befanden sich neben halb verdauten Pommes fr…« Weil Angelika gerade noch gemerkt hatte, dass ihr zumindest aus belgischer Sicht fast etwas sachlich Unkorrektes herausgerutscht wäre, schaute sie Frederic entschuldigend an, bevor sie sich korrigierte: »Ich meine Fritten! In seinem Magen befanden sich Fritten, eine etwa ebenfalls eine Stunde zuvor verspeiste, weiße Currywurst, ein besonders gut zerkautes Brötchen, Mayo und Ketchup!«

»Aha, die Wurst war also vergiftet?«, griff Lehnen den Ausführungen der Ärztin vor und handelte sich dafür einen Rempler seines Chefs ein.

»Nein!«, dementierte Dr. Laefers streng. »Das Gift wurde ihm zusammen mit Glühwein zugeführt.« Sie ging kurz zu einem – wie alles in diesem Raum, verchromtem – Beistelltisch und hob fast ein wenig triumphierend darüber, dass sie trotz ihrer gestrigen Verfassung daran gedacht hatte, ihn mitzunehmen, den eingetüteten Becher in Stiefelform hoch, der in der Verkaufsbude auf dem Boden gelegen hatte. »Darin befand sich Glühwein mit Gift! Obwohl es eine solch kleine Menge Toxin war, dass sie kaum nachgewiesen werden konnte, hätte sie laut KTU-Labor einen Elefanten umgehauen! Deshalb wundert es mich, dass er erst eine Viertelstunde nach dessen Konsum verstorben ist! Wahrscheinlich hat er nur einen kleinen Schluck zu sich genommen. Zumindest würde der Mageninhalt darauf hinweisen«

»Und um welche Art Gift handelt es sich?«, wollte Peter Dohmen wissen.

Angelika lächelte wissend. »Das kann ich dir ganz genau sagen, weil es unser Labor zwischenzeitlich herausgefunden hat: Es handelt sich um BTX! – Botulinum Neurotoxin. Das Gift mit den tödlichsten aller bekannten Substanzen! Denn schon ein einziges Gramm kristallisiertes Toxin reicht aus, um mehr als eine Million Menschen zu töten. Paradoxerweise wird dieses Gift ausgerechnet in der Schönheitsbranche verwendet.«

Die Gerichtsmedizinerin schaute in durchwegs interessierte, aber auch ungläubige Gesichter.

Lediglich Frederic konnte sie ansehen, dass er sofort verstanden hatte, um was es ging: Botu… hat er kurz vor seinem Tod gesagt, dachte er sich. Botu…linum! Also kannte der Ermordete nicht nur dieses Gift, sondern hatte auch eine Beziehung dazu.« Bevor Angelika weiterreden konnte, legte er unauffällig einen Zeigefinger auf seine Lippen, was ihr deuten sollte, dies im Augenblick noch nicht zu sagen, – zu sehr genoss er es, von etwas Kenntnis zu haben, was seine deutschen Kollegen Peter Dohmen und Matthias Lehnen noch nicht wussten.

»Darf ich … Danke!«, nahm sich Dr. Laefers wieder das Wort und fuhr fort: »Wir Frauen kennen Botulinum unter der Bezeichnung ›Botox‹, meines Wissens nach das erste und einzige biologische Gift, das zur kosmetischen und medizinischen Behandlung am Menschen zugelassen ist.«

Der Aachener Chefermittler hob eine Hand um das Wort zu bekommen. »Todeszeitpunkt?«

»Auch das kann ich dir ziemlich genau sagen, mein lieber Peter: 17 Uhr plus/minus.«

»Keine weiteren Hinweise für irgend eine andere Fremdeinwirkung?«, mochte nun Le Maire wissen, obwohl er sich eigentlich nicht einmischen wollte.

Angelika schüttelte den Kopf. »In der Kürze der Zeit: Nein! Allerdings schaue ich mir ihn noch einmal genau an. Ich wollte euch nur schon vorab informieren.«

»Eine Frage beschäftigt mich noch. Darf ich?«

Über die Höflichkeit seines ansonsten doch wohl eher rüpelhaften belgischen Kollegen erstaunt, nickte Peter Dohmen gönnerhaft.

»Danke! Äh … etwa zwei Stunden vor dem Tod des Studenten war ich an diesem Glühweinstand und habe dort einen Glühwein getrunken. Und der war – wie ihr an mir seht –, nicht vergiftet!«

Als Frederic dies sagte, wurde Angelika erst so richtig bewusst, dass es möglicherweise auch ihn und sie hätte treffen können, ja vielleicht sogar sollen.

»Aber dies wollte ich nicht sagen«, fuhr Le Maire fort, obwohl er sich schon etwas dabei gedacht hatte. »Vielmehr wollte ich sagen, dass der Glühweinstand da noch durch einen anderen Mann besetzt war. Ich habe mich dort mit einem komischen Typen unterhalten, der wohl an diesem technisch hervorragend ausgestatteten Verkaufsstand für die ›Veredelung‹ des Glühweins und für die Glühweinversorgung auf dem gesamten Gelände des ›Hexenhofes‹ zuständig war! Ein unangenehmer und schräg auf mich wirkender Vogel, aber einer, der auf mich den Eindruck gemacht hat, dass er stolz auf seinen Job ist, wahrscheinlich weil er nichts Gescheites gelernt hat! Jedenfalls hat er mir gegenüber so getan, als wenn es sein Stand wäre, an dem nur er klarkommt und sonst niemand. Weshalb also – und das frage ich mich ernsthaft – stand plötzlich Hubertus von Syrgenstein hinter dem Verkaufstresen? Wo ist der andere abgeblieben? Gehörte ihm das zweite Trinkgefäß oder einem unbekannten dritten Mann? So wie es aussieht, kannte der Ermordete seinen Mörder und hat mit ihm zusammen seinen letzten Schluck Glühwein getrunken.«

Le Maire hatte mit seiner Andeutung erreicht, was er hatte erreichen wollen, denn sein deutscher Kollege warf nun die Frage in den Raum, ob der Giftanschlag möglicherweise dem anderen Typen gegolten haben könnte, den Le Maire offensichtlich nicht mochte. Obwohl er auch in Betracht zog, dass der Anschlag ihm oder Angelika gegolten haben könnte, sprach Frederic dies nicht laut aus.

»Du meinst, es könnte eine Verwechslung gewesen sein?«

Sehr gut, mein lieber Peter, dachte Le Maire und gab ihm und dessen Assistenten eine Denkaufgabe: »Der Tote war doch ein Student der Ökotoxikologie, oder?«

»Das heißt, dass er dieses Gift selbst hätte herstellen können«, schoss es nun aus Dohmens Stellvertreter heraus, der vorsichtig geworden war, weil er nichts Falsches sagen mochte, das seine Beförderung ausbremsen konnte.

Nachdem Angelika ihm dies bestätigt hatte, empfahl der Belgier seinen deutschen Kollegen, das Umfeld des Ermordeten abzuklopfen und sich gleichzeitig um diesen merkwürdigen »Glühweinveredler« zu kümmern, den noch keiner der anderen kannte. »Die Betreiber des ›Hexenhofes‹ werden euch sagen können, wie ihr Mitarbeiter heißt, wo er wohnt und so weiter. Solltet ihr kein Foto von ihm auftreiben können, stehe ich gerne für das Erstellen eines Phantombildes zur Verfügung.«

Allerdings wusste er nicht, ob beides interessante Spuren waren. Er konnte nur vermuten, dass das Studium des Toten in Zusammenhang mit Botulinumtoxin kein Zufall sein und mit dessen eigenem Tod in Verbindung gebracht werden konnte. Aber auch sonst würden sich noch Tausend Fragen ergeben.

Dass er Angelika in Bezug auf ihren gemeinsamen Besuch des »Hexenhofes« außen vor gelassen hatte, quittierte sie mit einem dankbaren Lächeln und mit für den Bruchteil einer Sekunde gespitzten Lippen.

*

Obwohl Angelika die Sache mit dem toten Studenten keine Ruhe ließ und es eigentlich ihre Aufgabe wäre, bei der weiteren Auflösung des mysteriösen Falls mitzuwirken, hatte sie von Dr. Knopp die Order bekommen, nach gänzlich beendeter Leichenbeschau ihren unterbrochenen Urlaub wieder aufzunehmen. Damit wollte der Oberstaatsanwalt noch zum Jahresende hin Überstunden abbauen. »Wenn es was Neues gibt, melden wir uns selbstverständlich sofort bei Ihnen.«

»Deine Beurlaubung galt nicht dir, sondern mir. Da steckt bestimmt Peter dahinter, der mich aus den Füßen haben möchte. Er hat Angst davor, dass ich mich schon wieder einmal allzu sehr einmischen und ihm die Schau stehlen könnte«, wetterte Frederic, der vermutete, dass sein deutscher Kollege auf diese Art und Weise dafür sorgen wollte, mit Angelika auch ihn aus dem Weg zu haben. Denn wenn Angelika nicht an dem Fall arbeiten durfte, wäre quasi automatisch auch er kaltgestellt. Da dies zu funktionieren schien, entschlossen sie sich dazu, die Sache so zu akzeptieren wie sie war. Also wollten sie die Zeit nutzen, um für ein paar Tage nach Lüttich in Frederics alte Wohnung zu fahren. Denn zwischen den beiden war sowieso schon ausgemacht worden, gelegentlich den dortigen Marché de Noël zu besuchen. Und jetzt schien die Gelegenheit dazu gekommen zu sein. Weil sie momentan aber von Weihnachtsmärkten genug hatten, war Frederic auf die Idee gekommen, stattdessen in seine dortige Stammkneipe »Å Pilori« zu gehen, um dort ein paar alte Kameraden des von ihm gegründeten Vereins »Die Königstreuen« zu treffen. Damit seine Freunde auch ihre Frauen mitbringen würden, musste er allerdings erst noch ein paar Telefonate führen. Als er dies tun wollte, fluchte er laut, denn er hatte den Akku seines Handys immer noch nicht aufgeladen.

*

Das »Å Pilori« lag direkt am Place du Marché, also direkt gegenüber der Straße und der Ecke Rue de Rex/Rue de la Violette, wo sich Frederics dortige Lieblingsfriterie »Du Perron« befand, die seinem alten Freund Fritten-Ralf gehörte. Und von dort aus waren es nur etwa 200 Meter eine Gasse hinunter zu seiner Lütticher Wohnung, die er zumindest noch so lange behalten wollte, bis sich auch im Alltagsleben herausgestellt hatte, dass er und Angelika unter »lebensechten Bedingungen« zusammenpassten. Und solange Frederic nicht hundertprozentig sicher war, dass er im ostbelgischen Eupen bleiben mochte, wollte er seine hiesige Wohnung in der Rue de la Violette 120 nicht aufgeben.

Außerdem war er irgendwie immer noch nicht ganz in seinem neuen Job angekommen, weswegen es ihn von Zeit zu Zeit in seine alte Dienststelle, zur Mordkommission Lüttich, zog, wo er stets ein willkommener Gast war, obwohl im Grunde keiner seiner ehemaligen Kollegen und Vorgesetzten verstanden hatte, weshalb er es wegen seiner beruflichen Neuorientierung auf sich genommen hatte, ins wesentlich kleinere Eupen zu ziehen, finanziell stehen zu bleiben und zudem eine weitere Beförderung in weite Ferne rücken zu lassen. Gut: In Eupen gab es zwar außer einer »Lokalen Polizei« auch die »Föderale Kriminalpolizei«, also eine regionale und eine landesweit tätige Dienststelle der belgischen Polizei, aber – und dies war der Casus knacksus an der Sache – es gab in Eupen keine eigenständige Mordkommission! Unter seiner Regie mussten sich seine ihm dort untergestellte Kollegin und die beiden Kollegen also mit allem befassen, was anfiel, – irgendwann vielleicht sogar auch wieder einmal mit einem Mord. Aber der letzte – sogenannte »Frittenmord« – in Eupen war auch schon wieder ein Jahr her. Seither hatte es Le Maire in seinem neuen Weser-Göhler Wirkungskreis meist mit kleinen, höchstselten aber mit wirklich schweren Jungs zu tun gehabt.

Trotz alledem hatte der eigenbrötlerische und kauzige »Superbulle« gewusst, weshalb er sich darauf eingelassen hatte: Er wollte einfach nur mit Angelika zusammen sein, der eine Penthousewohnung in einer der schicksten Aachener Gegenden gehörte, die für eine Person im Grunde genommen viel zu groß war. Und die Lage war in jeder Hinsicht ideal: Ins Zentrum der pulsierenden Studentenstadt hinein mussten sie mit dem Auto nur 15 Minuten in Kauf nehmen. Und bis zu seiner Eupener Dienststelle waren es auch nur schlappe 18 Kilometer, für die er sogar mit der »Göttin«, wie sein genau 40 Jahre alter mintfarbener Citroën DS von ihm und anderen Kennern dieses Liebhaberstücks liebevoll genannt wurde, trotz der vielen Geschwindigkeitsbeschränkungen keine halbe Stunde benötigte. Dazu kam noch, dass ein über 30 Jahre altes Fahrzeug in Deutschland von Staatsseite aus offiziell als »Oldtimer« galt und dafür keine KFZ-Steuer bezahlt werden musste. Und in Belgien war alles, was mit Autos zu tun hatte, sowieso viel teurer als in Deutschland. Dementsprechend hatte er Angelika gegenüber kein Argument mehr gehabt, um sich vor einem Umzug von Lüttich nach Aachen drücken zu können. Also hatte er sich – wohlgemerkt in bierseliger Laune, wie er stets betonte – von seiner Geliebten zu dieser grundlegenden Lebensumstellung überreden lassen. Dies hatte er aber auch nur getan, weil es von Angelikas Wohnung bis zum belgischen Grenzort Kelmis nur sechs Kilometer bei acht Minuten Fahrtzeit waren. Also musste er sich längstens eine Viertelstunde gedulden, wenn ihn der Durst nach einem leckeren Jupiler quälte. Und dies gab es in Kelmis bei Georgette im Café »Les Artistes« oder bei Sabine im »Sportzentrum«, zwei seiner dortigen Lieblingslokale, wo er das perfekt gezapfte und bestens temperierte Bier zusammen mit netten Leuten trinken konnte. Und bis zu seinem Freund Leo, dem seit Kurzem die weit über die Grenzen von Kelmis hinaus bekannte »Friterie Central« gehörte, war es auch nicht weiter. Nur zur schräg gegenüber liegenden Kneipe »D’r Lange Ruwe« ging er nicht gerne. Wenn die Lust auf Fritten so stark drückte, dass es kaum noch zu ertragen war, fuhr er allerdings in den »Touring-Grill«, ein gut besuchtes Lokal gleich hinter der Grenze, das noch vor allen anderen belgischen Frittenbuden und Getränkeläden Position bezogen hatte. Aus belgischer – besser gesagt: aus Frederics – überkritischer Sicht waren die Fritten dort zwar nicht alleroberste Spitzenklasse, aber immer noch wesentlich besser als sämtliche Pommes frites, die er je in Deutschland hatte essen »müssen«. Hauptsache, er hatte das Gefühl, jederzeit belgische Fritten genießen zu können.

*

Es war noch keine halbe Stunde her, dass sie Lüttich erreicht und in Frederics Wohnung angekommen waren. Und schon drang ein lautes »Merde!« aus einem geschlossenen Fenster im ersten Stock des grau getünchten Hauses in der Rue de la Violette 120 bis zur Straße hinunter.

»Wenn wir schon mal in Lüttich ausgehen, dann möchte ich, dass du gut aussiehst, Lemmi! Außerdem ist es draußen eiskalt!«, hatte Angelika ihrem eigenwilligen Partner kurz zuvor zugesäuselt und ihm eine total hippe Steppjacke mit Kunstfellkragen vor die Brust gehalten. »Passt!«

Nachdem Frederic sich das sündhaft teure Designerstück mit dem glitzernden Roberto Geissini-Motiv auf dem Rücken notgedrungen übergestreift hatte, war er sich vorgekommen wie ein läufiger Polarfuchs. »Das bin doch nicht ich!«, hatte er noch einmal aufbegehrt, dies aber gleich wieder gelassen, nachdem er Angelikas stechenden Blick gesehen hatte.

*

Eine Stunde später saßen sie im »Å Pilori« in gemütlicher Runde mit einigen von Frederics Vereinskameraden und deren Frauen oder Freundinnen zusammen. Weil er die Gelegenheit nutzen wollte, um seinen ehemaligen Stellvertreter zu treffen, war auch Pat Miller – inzwischen Kriminalhauptkommissar und an seiner Stelle Chef der Mordkommission Lüttich – mit seiner Frau Cloé dazugestoßen. Angelika hatte Cloé über dieses Treffen informiert. Hätte Frederic etwas von Angelikas gelungener Überraschung gewusst, wäre ihm in den Sinn gekommen, auch seine anderen ehemaligen Kollegen Bribanté, Lassarde und Soquett dazuzubitten. So aber war ihm nur ein leicht enttäuschtes »Schade!« geblieben.

Als Le Maires Nachfolger bei der Mordkommission Lüttich von seinen Mordfällen berichtete, wurde es dem »Exil-Aachener« wegen seines bisher eher bescheidenen »Geschäftsgangs« in Eupen so richtig wehmütig ums Herz. Dennoch hörte er dem jungen Kollegen gerne zu und gab ihm sogar ein paar wertvolle Tipps. Während die Belgierinnen von Angelika wissen mochten, was »Frau« in Aachen so trägt und wo sie am besten einkaufen konnte, besprachen die Männer vorab schon mal den nächsten Vereinsausflug, der dieses Mal bis nach Antwerpen hoch gehen sollte, nachdem sie der letzte Ausflug »nur« bis nach Brüssel geführt hatte. Weil Frederic aus beruflichen Gründen nicht daran hatte teilnehmen können, war schon wieder Wehmut über ihn gekommen, die er aber sofort abstreifte, indem er sie im Bier ertränkte.

Weil sie an diesem Abend viel schwatzten, scherzten und lachten, verging er wie im Flug. Während Frederic es sich bei etlichen Gläsern Leffe – einer der belgischen Bierspezialitäten schlechthin – hatte gutgehen lassen, war Pat den ganzen Abend über bei Mineralwasser geblieben, weil er Bereitschaft hatte. Und man wusste ja nie! Lediglich den Verdauungspastis nach dem köstlichen Essen hatte auch er nicht ausgeschlagen.

Nachdem so nach und nach die meisten anderen gegangen waren, schlug die gut gestimmte Cloé vor, noch auf einen Absacker in den Musiker- und Künstlertreff, das Café chantant »Aux Olivettes« in der Rue Pied-du-Pontes-Arches zu gehen. »Ist ja nicht weit von hier!«

Gerade erst hatten sie ihre Getränke bekommen, da klingelte auch schon Pat Millers Handy. Als wenn Frederic Le Maire ahnen würde, um was es ging, orakelte der Eupener »Allgemeinermittler« zynisch: »Sicher ein Mord!«

*

Und schon wieder sah sich der einstige »Superbulle« von Lüttich als Statist, der auch nur deswegen zum Fundort einer Wasserleiche an die Maas hinunter hatte mitgehen dürfen, weil der Ermittlungsleiter sein ehemaliger Stellvertreter gewesen war und sie auch heute noch ein gutes Verhältnis verband, – zudem war es vom »Aux Olivettes« nicht weit gewesen, weswegen sie zu Fuß hatten gehen können.

»Ich verbitte mir aber jegliche Einmischung«, hatte Miller mit erhobenem Zeigefinger gesagt, weil er seinen Exchef nur allzu gut kannte.

Weil Le Maire sowieso keine Lust dazu hatte, seinem ehemaligen Adjutanten von der zweiten Reihe aus zu helfen, hatte er sich vorgenommen, die Sache zwar zu betrachten, aber nicht einzugreifen. Missgestimmt kramte er noch beim Gehen seinen Tabakbeutel heraus, um sich gleich eine Zigarette drehen zu können, wenn sie am Fundort der Leiche angekommen waren und er sich in der Rolle eines gewöhnlichen Gaffers wiederfinden würde.

Als sie an der bewussten Stelle am Ufer der Maas ankamen, eilte ihnen auch schon ein uniformierter Polizist entgegen, um hastig sein bisheriges bescheidenes Wissen an den Leiter der hiesigen Mordkommission weiterzugeben.

»Ist das alles?«, mochte Miller von seinem Mitarbeiter wissen und somit zum ersten Mal bei einem Leichenfund nicht Le Maire, den ein ungewohntes Gefühl des »Nichtgebrauchtwerdens« ergriffen hatte.

»Ja, er hat keine Ausweispapiere bei sich. Übrigens: Dr. Dutileux und die Spurensicherung sind informiert«, antwortete der Streifenpolizist eilfertig.

»Gut! Und was ist mit Bribanté, Lassarde oder Soquett? Immerhin haben wir hier eine Leiche«, forderte der junge Chefermittler streng eine Antwort über den Verbleib wenigstens eines seiner drei Mitarbeiter ein.

»Soquett ist unterwegs hierher! Bribanté und Lassarde konnte ich noch nicht erreichen«, kam es nun etwas kleinlaut zurück.

»Schon gut, Kollege!« Miller hatte seinen schroffen Ton zurückgenommen, weil er sich darüber freute, dass angesichts seines ehemaligen Chefs alles gut zu laufen schien und die anderen Streifenpolizisten bereits damit begonnen hatten, das Areal um den Leichenfundort herum großräumig mit Flatterbändern abzusichern.

Weil sie selbst wegen der räumlichen Nähe schneller vor Ort gewesen waren als der örtliche Rechtsmediziner, hatte Pat Miller der deutschen Ärztin gestattet, sich den Mann schon mal anzusehen, den zwei Nachtangler vor knapp einer halben Stunde aus dem Fluss gefischt hatten. Es dauerte nicht lange und Dr. Laefers bestätigte nicht nur dessen Tod, sondern lieferte auch den Grund dafür: »Er wurde exekutiert!«

»Was?«, entfuhr es Miller wegen Le Maires Anwesenheit fast eine Spur zu erschrocken.

»Ein aufgesetzter Schuss, direkt ins rechte Auge. Sicher ein Durchschuss!«

»Wie kamen Sie denn so schnell darauf?«, wunderte sich Miller über die Annahme, dass es ein Durchschuss war.

Die erfahrene Medizinerin leuchtete mit der Stablampe, die ihr einer der Polizisten gegeben hatte, auf das Einschussloch, das sich akkurat mitten im rechten Auge des Toten befand. »Sehen Sie die ›Stanzmarke‹? Der Mörder hat ihm die Schusswaffe fest aufs Auge gedrückt.«

Dann sagte sie: »Darf ich?« und drehte den Kopf des Toten so zur Seite, dass beide dessen Rückseite sehen konnten.

Dr. Laefers musste nun nichts mehr zum Thema »Durchschuss« sagen. Stattdessen ergänzte sie: »Ich denke, es war ein Neun-Millimeter-Vollmantelgeschoss«

»Und wann?«

»Moment!« Dr. Laefers ließ sich von einer Polizistin ein neues paar Latexhandschuhe geben, dann hantierte sie so lange am Leichnam herum, bis sie die Antwort hatte: »Vor etwa sechs Stunden …«