Die Insel der schwarzen Katzen - Piergiorgio Pulixi - E-Book

Die Insel der schwarzen Katzen E-Book

Piergiorgio Pulixi

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  • Herausgeber: Kampa Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ihren Namen »Die schwarzen Katzen« verdankt die kleine auf Krimis spezialisierte Buchhandlung in Cagliari im Süden Sardiniens den beiden Streunern Miss Marple und Poirot, die eines Tages hereinspaziert sind und sich hier offenbar zu Hause fühlen – der schlechten Laune von Buchhändler Marzio Montecristo zum Trotz. Ebenso gern treffen sich hier einmal in der Woche nach Ladenschluss die »Dienstagsdetektive«, eine Gruppe von selbst ernannten Krimiexpert*innen: ein melancholischer Rentner mit langem Mantel, Hut und Pfeife, eine von blutigen Thrillern besessene Greisin, ein viel zu lebhafter Franziskanermönch, der am liebsten historische Krimis liest, und ein Goth-Mädchen mit Mordphantasien. Dank ihrer kriminalistischen Expertise konnte die bunte Truppe vor einigen Jahren einen echten Fall aufklären, den die Polizei ad acta legen wollte. Nun versetzt eine Mordserie Sardinien in Angst und Schrecken, und Ispettore Flavio Caruso und Sovrintendente Angela Dimase wenden sich erneut an Marzio Montecristos Buchclub. Der »Sanduhrmörder« dringt in die Häuser von Familien ein und stellt sie, während eine Minute verrinnt, vor die grausame Wahl: Wen soll er töten – Frau oder Sohn, Mutter oder Vater? Wird es den belesenen Dienstagsdetektiven gelingen, den vermummten Unbekannten zu stoppen?

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Seitenzahl: 256

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Universelle sadistische Frage

1

Wäre durch dieses Wohnzimmer ein Tornado gefegt, der Schaden hätte nicht schlimmer ausfallen können – dachte Lucia Castangia, als sie das Schlachtfeld betrachtete, in das sich die Wohnung verwandelt hatte. Ihr Gesicht war so bleich wie das eines Soldaten, der wie durch ein Wunder einen feindlichen Überfall überlebt hat. Noch ganz gelähmt vom Schock starrte sie auf den Fußboden, der mit Chips und Popcorn übersät war wie mit Patronenhülsen, und fixierte die mit Torte verschmierten Tische und Stühle, die Spielsachen, auf denen so lange erbarmungslos herumgetrampelt worden war, bis nur noch ein Trümmerhaufen übrig blieb, die Spritzer von klebrigen Getränken, die sich wie Blutspuren über die Wände zogen, die erschlafften Überreste abgestochener Luftballons, die ungeduldig und voller Neugier hektisch aufgerissenen Geschenkverpackungen und die Myriaden Krümelkadaver von Törtchen, Keksen und Schnittchen, die sich überallhin, bis in den letzten Winkel, verteilt hatten. Sie machte eine Bestandsaufnahme der unschuldigen zivilen Opfer: zertrümmerte Vasen, Bilderrahmen in Scherben und gemarterte Pflanzen. Ein Massaker.

Erschöpft und fassungslos ließ sie sich aufs Sofa fallen.

»Ich will sterben«, flüsterte sie in die nun endlich leere Wohnung – nach viereinhalb Stunden Party mit einem Heer entfesselter Kinder. Obwohl die Gefechtstruppe das Lager bereits vor einer guten halben Stunde geräumt hatte, klingelten ihr immer noch die Ohren vom Nachhall der Schreie und des barbarischen Gelächters. Sie hatte alle Fenster geöffnet, um den Gestank von Adrenalin und Schweiß auszutreiben, den die kleinen Unholde vom ersten Moment an verströmt hatten, nachdem sie, bis an die Zähne mit Geschenken und Kriegslust bewaffnet, die Türschwelle überschritten hatten. Die Eltern hatten Fersengeld gegeben wie desertierende Offiziere und sie der Gewalt der feindlichen Truppen überlassen; nach fast fünf Stunden hatten sie sich wieder eingefunden, um die Invasoren abzuholen, und hatten sich dann erneut klammheimlich davongemacht, ohne für die Kriegsverbrechen Entschädigungen zu leisten.

»Feiglinge!«, hatte Lucia sie leise verflucht.

Ihr graute bereits bei dem Gedanken, nachzusehen, in welchem Zustand sich wohl Bad und Toilette befanden. Sie zog in Erwägung, zu harten Alkoholika zu greifen, um sich Mut anzutrinken: Whisky oder Rum, sofern die kleinen Pestbeulen nicht auch noch die Hausbar geplündert hatten.

Die Tür öffnete sich, und ihr Mann Nicola kam in den Raum gestolpert. Er hatte gerade den vierten Müllsack nach unten geschleppt, da in diesem verfluchten Mietshaus der Aufzug außer Betrieb war. Und das bei einer Wohnung im sechsten Stock! Sein Quadrizeps pochte von der Anstrengung. Sie wechselten einen Blick voll gegenseitigem Mitgefühl wie zwei Partisanen, die dem Tod ins Angesicht geblickt hatten. Nicola ließ sich neben seine Frau fallen. Beiden war bereits deutlich die posttraumatische Belastungsstörung anzumerken, die sich gerade bei ihnen breitmachte.

»Und wenn wir alles so lassen, wie es ist, und uns morgen darum kümmern?«, wollte Nicola sie in Versuchung führen, der wie jeder Mann durchaus in der Lage war, vor der Notwendigkeit eines Großputzes die Augen zu verschließen.

»Vergiss es«, sagte sie lapidar und ließ den Blick über die Apokalypse schweifen, in der sie gegen ihren Willen gelandet waren. »Morgen wäre es nur noch schlimmer … Ich hätte dir niemals nachgeben dürfen. Wenn wir einen Raum gemietet hätten, wäre uns dieses Chaos erspart geblieben.«

Nicola spürte einen hysterischen Tick am rechten Auge. Wie immer hatte seine Frau recht.

»Atme tief durch und sammle deine Kräfte«, sagte Lucia und drückte seine Hand. »In fünf Minuten beginnen wir mit dem Aufräumen.«

Nicola zog Meuterei in Betracht: Ob er die Ausrede ins Feld führen sollte, dass ihnen die Zigaretten ausgegangen wären – schließlich ein überlebenswichtiges Gut in solch einer Notlage – und dass er dringend Nachschub besorgen müsste? Aber dann meldete sich sein Gewissen, und er verdrängte den Gedanken. »Wo ist denn Attila, unser Hunnenkönig?«, fragte er stattdessen.

»In seinem Zimmer, um die Kriegsbeute zu sichten.«

»Wenigstens haben wir ihn glücklich gemacht«, tröstete sich Nicola.

Die Wahrheit dieser Aussage durchbrach ihr Familientrauma und entlockte ihnen ein Lächeln.

»Und Hendrix? Wo ist er abgeblieben?«, fragte Nicola besorgt, da er den Boston Terrier nirgendwo sah.

»Der ist immer noch auf dem Balkon, der arme Kerl. Lass ihn mal rein.«

Ihr Mann ging den Hund befreien. Sie hatten ihn auf dem Balkon ausgesperrt, um zu vermeiden, dass die kleinen Kröten ihn schikanierten.

»Und wenn wir überall Alkohol drüberkippen und die Wohnung abfackeln?«, schlug Nicola vor, als er mit Hendrix im Arm zurückkehrte. Der Welpe ließ den Blick von einer Ecke des Wohnzimmers zur anderen huschen, völlig verwirrt von all den Duftspuren. »Glaubst du, die Versicherung würde den Schaden ersetzen?«

»Hör schon auf und find dich damit ab. Wenn wir mit vereinten Kräften und gut koordiniert vorgehen, müssten wir bis Mitternacht fertig sein.«

»Mitternacht?«, jaulte Nicola entsetzt auf, während er den kleinen Hund streichelte. »Sobald Lorenzo volljährig ist, zeige ich ihn an und fordere Schadenersatz für all das.«

»Startklar?«

Nicola schickte sich gerade an, noch um ein paar Minuten Schonfrist zu feilschen, als es an der Tür läutete.

»Der Klassiker: die übliche Rotznase, die etwas vergessen hat«, seufzte er und setzte den Hund auf dem Boden ab. »Wer macht auf?«

»Du«, sagte Lucia unerbittlich.

»Zu Befehl, Herrin!«, gehorchte der Gatte und ging den kleinen Flur hinunter, an dessen Ende die Wohnungstür war.

Nicola öffnete, ohne zu fragen, wer da sei: Er wollte den Störenfried schnell loswerden, um sich gleich an die Arbeit zu machen. Vor ihm stand dann aber nicht wie erwartet ein Kind oder eines der zahlreichen Elternteile, sondern ein groß gewachsener Mann mit dunkler Sturmhaube vor dem Gesicht, der blitzschnell eine Spraydose hochriss und ihm etwas ins Gesicht sprühte. Ehe er losschreien konnte, verlor Nicola nach dem Einatmen des Gases das Bewusstsein, der Unbekannte fing ihn auf und ließ ihn sanft zu Boden gleiten.

Hendrix lief herbei, seine Pfötchen rutschten über den Fliesenboden. Er bellte den Fremden zweimal an, der keineswegs erschrak, sondern eine behandschuhte Hand ausstreckte und sie ihm ruhig hinhielt, bis der Boston Terrier näher kam, weil er überzeugt war, dass der Mann keine Bedrohung darstellte.

»Sehr gut, mein Kleiner«, flüsterte der Maskierte und streichelte den Hund.

»Nicola? Alles okay?«, ließ sich Lucia aus dem Wohnzimmer vernehmen.

Der Eindringling schloss die Tür und zog den besinnungslosen Mann einige Meter in die Wohnung. Dann versteckte er sich und wartete darauf, dass die Frau in den Flur kam.

Wie in einem klassischen Horrorfilm verlor die Gattin nach nicht einmal einer Minute die Geduld und ging nachsehen, warum der werte Herr Gemahl nicht antwortete. Als sie ihn am Boden liegen sah, schrie sie bestürzt auf, lief zu ihm und schüttelte ihn. In ihrem angestrengten Bemühen, ihn wiederzubeleben, sah sie den Mann nicht, als er sich aus dem Schatten herausbeugte und sie betäubte. Auch sie wurde ohnmächtig.

Hendrix starrte die reglosen Körper seiner beiden Herrchen an, ohne einen Mucks von sich zu geben.

»Du bist wirklich ein braves Hundchen«, murmelte der Angreifer und streichelte ihn erneut. Aus einer Tasche zog er eine Handvoll Hundekekse und gab sie ihm als Belohnung.

Während Hendrix sich auf den Boden kauerte und selig knabberte, schloss der Unbekannte die Tür von innen ab und schleifte die Eheleute ins Wohnzimmer.

2

Als Erster erwachte der Junge. Er brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, wo er sich befand: im Wohnzimmer auf dem Boden, mit Fesseln an Hand- und Fußgelenken. Eine Art Nebel verschleierte seine Sicht, und er hatte einen seltsamen chemischen Geschmack im Mund, der stärker war als der nach Fasern von dem Tuch, das ihn am Sprechen hinderte. Die Ohren schienen mit Watte verstopft, Geräusche drangen wie aus der Ferne zu ihm, als wäre er unter Wasser. Dann überfluteten ihn die Erinnerungen: wie sich die Tür seines Kinderzimmers öffnete, wie er lächelte und eines der frisch erhaltenen Geschenke hochhielt, um es aufgeregt seinen Eltern zu zeigen, wie ihm jedoch dieses Lächeln beim Anblick des Fremden verging und dieser ihm dann blitzschnell etwas mitten ins Gesicht sprühte und wie ihm dann schwarz vor den Augen wurde.

Lorenzo Vincis erschauderte, als sich der Nebelschleier gelichtet hatte und er den Unbekannten vor sich sitzen sah, das Gesicht hinter einer dunklen Sturmhaube verborgen. Neben ihm beobachtete ihn eine digitale Videokamera auf einem Stativ. Das gläserne Auge war auf ihn und seine Eltern gerichtet, die in seiner Nähe auf dem Boden lagen. Das rote Blinklicht signalisierte, dass das Gerät aufzeichnete. Der Mann hatte eine Pistole mit einem langen Lauf in der Hand, den er nun wie einen Zeigefinger an die Lippen führte, um ihn zum Schweigen zu ermahnen. Mit der anderen Hand streichelte er Hendrix zwischen den Ohren, der freudig fiepte und auf die Fliesen sabberte. Der Junge spürte einen Anflug von Eifersucht, als er sah, wie zutraulich sein Hund war. Er hob den Kopf vom Boden und sah zu seinen Eltern hinüber: Auch ihnen waren die Hände hinter dem Rücken gefesselt, und der Eindringling hatte sie geknebelt.

Der Junge versuchte, den Vater zu wecken, indem er ihn mit einem Fuß anstupste. Nicola zuckte zusammen und riss die Augen auf. Beim Anblick der Waffe mit dem Schalldämpfer versuchte er instinktiv, seinen kleinen Sohn mit dem eigenen Körper zu beschützen, indem er sich zwischen ihn und den Verbrecher schob. Der Lumpen, der ihn am Sprechen hinderte, erstickte auch sein Stöhnen. Erst in diesem Moment bemerkte er die hölzerne Sanduhr, die direkt vor ihm auf dem Boden stand.

Als auch Lucia das Bewusstsein wiedererlangt und sich um den kleinen Körper ihres Jungen geschmiegt hatte, sprach der Unbekannte, aber er wendete sich ausschließlich an den Mann.

»Ich weiß, dass das, was ich gleich von dir verlangen werde, sehr hart ist, Nicola. Aber es ist ganz wichtig, dass du ruhig bleibst. Gib mir die Antwort, die ich hören will, und alles ist in wenigen Minuten erledigt«, sagte er kalt, als ob er diese Sätze zuvor bereits Hunderte Male ausgesprochen hätte.

Nicola musterte ihn verwirrt. Er war von einem Raubüberfall ausgegangen: In den letzten Wochen hatte er von einigen Einbrüchen in Wohnungen ihres Viertels gehört. Doch nun dämmerte ihm, dass der Fremde es nicht auf ihre Habseligkeiten abgesehen hatte.

Worauf also dann?, fragte er sich angstvoll.

Die Videokamera nahm weiterhin jede seiner Regungen auf.

»In wenigen Sekunden werde ich die Sanduhr umdrehen. Von dem Moment an hast du genau eine Minute, um deine Entscheidung zu fällen. Es wird eine schwierige Wahl, das ist mir sehr bewusst. Aber es gibt keinen Aufschub. Sechzig Sekunden. Mehr Zeit hast du nicht. Nicht einen Moment mehr. Verstanden?«

Wovon zum Teufel spricht er?, fragte sich Nicola verwirrt.

Lucia warf ihm einen verzweifelten Blick zu.

»Ich habe dich gefragt, ob du das verstanden hast«, wiederholte der Eindringling und richtete die Waffe auf die Frau.

Nicola nickte heftig.

»Gut … Ich bin hier, um entweder deine Frau oder deinen Sohn zu töten.«

Alle Mitglieder der Familie Vincis wurden blass.

»Entweder sie … oder er …«, wiederholte er und zielte nun mit dem Pistolenlauf auf Lorenzo. »Du hast eine Minute, um dich für einen von den beiden zu entscheiden. Andernfalls werde ich, wenn die Zeit abgelaufen ist, beide töten und dich am Leben lassen. Dann verschwinde ich, und du wirst mich nie mehr wiedersehen.«

Er erklärte alles so klar und einfach, als würde er die Anweisungen eines Kochrezepts weitergeben und nicht etwa einen Mord ankündigen.

»Es ist doch sinnlos, dass beide sterben, oder? Daher triff deine Wahl. Er oder sie?«

Das ist ein Scherz, sagte sich Nicola. Alles andere ergibt doch keinen Sinn.

Über die Absurdität dieser Worte musste er sogar unwillkürlich lächeln.

»Nein, da gibt es nichts zu lachen«, sagte der Eindringling empört. »Mir ist es verdammt ernst. Und jetzt denk nach, denn ich drehe nun die Sanduhr um.«

Lucia und Nicola versuchten vergebens, sich zu befreien. Hendrix, der sie, friedlich am Boden ausgestreckt seinen Keks knabbernd, bis zu diesem Moment seelenruhig beobachtet hatte, spitzte die Ohren und musterte sie verwirrt. Er hatte ihre Angst gewittert.

Der Unbekannte drehte die Sanduhr um: Es war ein schönes, antik wirkendes Exemplar, mit runden hölzernen Grundplatten, die von drei Streben gestützt wurden, dazwischen zwei miteinander verbundene Glaskolben, deren oberer feinsten purpurfarbenen Sand enthielt. Sofort begannen die Körnchen, sich im unteren Kolben zu häufeln. Der Fremde starrte sie ungerührt an, er wirkte über jede Emotion erhaben. Er hatte die Balkontür offen gelassen. Die frische Nachtbrise trug das Ihre dazu bei, dass die Familie, die diesem grausamen Spiel ausgeliefert war, eine Gänsehaut bekam. Eine schmale Mondsichel schaute gleichmütig vom dunklen Himmel aus zu.

»Ich rate dir, denk lieber über deine Entscheidung nach, anstatt mich anzustarren. Glaub mir, das hier ist kein Spiel.«

In einem verzweifelten animalischen Impuls stürzte sich Nicola auf den Eindringling, der ihn mit einer knappen, entschiedenen Bewegung wieder auf den Boden zurückstieß. Er legte die Mündung des Schalldämpfers an die Stirn des Kindes, um jeden weiteren Versuch der Rebellion gleich im Keim zu ersticken. Der Junge schloss verängstigt die Augen. Lucia stöhnte und zitterte noch heftiger.

»Dreißig Sekunden«, verkündete der Mann eiskalt. »Vergeude keine weitere wertvolle Zeit.«

Lucia versuchte, die Aufmerksamkeit ihres Ehemanns auf sich zu lenken, und beschwor ihn mit ihrem Blick, sie auszuwählen: Was auch immer gleich passieren würde, Lorenzo musste überleben. Das schrien ihre tränenerfüllten Augen.

»Vierzig Sekunden.«

Nicola sah zwischen Ehefrau und Sohn hin und her, dann verharrte sein Blick auf dem Eindringling. In seinen panikgeweiteten Augen stand ohrenbetäubend eine Frage: Warum?

Der andere gab keine Antwort. Er beschränkte sich darauf, ihn auf die unbarmherzig verstreichenden Sekunden hinzuweisen, getaktet von den Sandkörnchen, die sich auf dem Boden der Sanduhr auftürmten. »Fünfzig Sekunden.«

Nicola Vincis schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, sank das letzte Sandkorn in den Abgrund des Glaskolbens und kam auf dem purpurfarbenen Häufchen zu liegen.

»Die Zeit ist um … Also wer?«

Lucia schirmte den Körper des Sohns mit dem eigenen ab, bot sich als Ziel zu seiner Deckung, als wollte sie damit die Entscheidung kundtun, die zu treffen ihr Ehemann nicht den Mut hatte.

Aber der Unbekannte starrte hartnäckig ihren Mann an: Er musste entscheiden.

»Sag mir, wer sterben soll, sonst töte ich sie beide.«

Nicola schluchzte auf, über seine Knie gebeugt, den Kopf gesenkt unter der Last eines unerträglichen Gewichts.

Lucia stieß ihn mit dem Ellenbogen an, wie um ihn aus dieser ausweglosen Horrorsituation zu befreien. Sie schenkte ihm einen sanften Blick, in dem all die Worte lagen, die sie ihm hätte sagen wollen. Dieser Blick war ihr Abschiedsgruß.

Der Ehemann erwiderte den Blick, die Brust vom Schluchzen geschüttelt. Tränen rannen ihm übers Gesicht.

»Sie?«, fragte der Fremde.

Nicola nickte.

Der Vermummte drückte den Abzug. Der schallgedämpfte Schuss aus der Pistole schickte Lucia zu Boden. Das Projektil hatte sie mitten in die Stirn getroffen und Blut auf der Wand versprüht.

Hendrix zuckte zusammen, dann lief er zur Leiche und begann, sie zu lecken und am Ärmel zu zerren, als wollte er sein Frauchen aus diesem plötzlichen Schlaf aufwecken.

Während Vater und Sohn sich in ihrer Verzweiflung schluchzend auf Lucias leblosen Körper warfen, richtete sich der Unbekannte auf und beobachtete sie starr und stumm einige Sekunden, als wollte er sich dieses Bild für die Ewigkeit einprägen. Dann sagte er etwas zum Familienvater. Nicola stand unter Schock und nahm die Worte zunächst nicht einmal wahr. Als er sich aus seiner Schockstarre löste und sich umdrehte, war der Mörder nicht mehr da.

Keine Spur von Stativ und Videokamera.

Neben der Sanduhr dagegen lag eine Schere.

Er drehte sich wieder um und sah in die riesigen Augen seines Sohnes.

Es war, als würde er darin ertrinken.

3

Vier Tage danach

Marzio Montecristo machte sich nichts vor: Dieser Morgen hatte zu gut begonnen, als dass er noch genauso vielversprechend weitergehen konnte. Obwohl heute der Altglascontainer geleert wurde, hatten ihn die Müllleute nicht wie üblich um drei Uhr nachts aus dem Schlaf gerissen, indem sie einen Riesenlärm veranstalteten, als würde es ihnen Vergnügen bereiten, das gesamte Viertel aufzuwecken. Efisietto, der Pinscher von Signora Puddu, die in der Wohnung über ihm lebte, hatte nicht um zehn vor sechs angefangen zu bellen, als würde man ihm die Kehle durchschneiden, womit er normalerweise ohne Unterlass bis acht Uhr weitergemacht hätte. Nachdem er seine Espressokanne auf den Herd gestellt hatte, war Montecristo nicht mit den Ellenbogen auf den Tisch gestützt wieder eingenickt und hatte die Kanne ihrem Schicksal überlassen, wie es ihm oft passierte: Dann blubberte der Kaffee, stieg hoch, spritzte auf den Herd, und in der Küche roch es verbrannt, ein Geruch, der erst nach Wochen wieder verschwand. Er hatte den Kaffee auf dem Balkon genossen, gestreichelt von den ersten unsicheren Sonnenstrahlen, im Hintergrund ein melodischer Gesang von Vögeln, der das Wachwerden noch versüßte und einen krassen Gegensatz darstellte zum gewohnten Geschrei der Mütter, die mit ihren trödelnden Kindern schimpften, oder Ehefrauen, die wütend mit ihren Männern zeterten, weil die allein wieder mal kein Paar zusammenpassende Socken fanden.

Ohne große Erwartungen war Montecristo dann unter die Dusche gegangen und hatte mit einem Schwall eiskalten Wassers gerechnet, obwohl er die Brause schon über eine Minute hatte laufen lassen. Aber an diesem Morgen schien der Durchlauferhitzer ihm wohlgesonnen: Die Temperatur war perfekt, so wunderbar, dass Montecristo sich gute zehn Minuten den angenehmen Streicheleinheiten des Wassers überließ.

Überzeugt, dass hinter der nächsten Ecke schon ein Tiefschlag auf ihn lauerte, verließ Marzio Montecristo das Haus und ging zu seiner Moto Guzzi, einer Eldorado aus dem Jahr 1973. Er hielt bereits ein Päckchen Papiertaschentücher in der Hand, um das Wasser vom Sattel abzuwischen, das bestimmt von der Wäsche auf ihn heruntergetropft war, die die Mieterin aus dem dritten Stock jeden Morgen ausgerechnet über seiner Moto Guzzi aufhängte. Als Montecristo mit einer Hand leicht über das Leder des Sattels strich, konnte er es kaum glauben: Der war trocken! Er sah hinauf zu dem bewussten Balkon und stellte fest, dass die nassen Kleidungsstücke diesmal am linken Ende der Wäscheleine hingen.

»Na gut, aber jetzt ist mindestens meine Batterie leer«, brummte er, zunehmend irritiert von dieser übergroßen Güte des Schicksals.

Seine Moto Guzzi startete beim ersten Versuch, was wohl seit 1973, als sein Vater sie gekauft hatte, noch nie vorgekommen war. Montecristo fuhr in Richtung Stadtzentrum, ohne auf den üblichen dichten Verkehr zu stoßen. Kein Autofahrer hatte es auf sein Leben abgesehen, und er musste vor keiner roten Ampel halten. Im Stampace-Viertel angekommen fand er direkt vor der Buchhandlung Les Chats Noirs einen freien Parkplatz. Einer Buchhandlung, die trotz seiner erheblichen Schulden bei einigen Banken und Verlagen noch nicht unter den Hammer gekommen war. Dort erwarteten ihn auch nicht die üblichen vierzig Packen mit Neuerscheinungen, für deren Abarbeitung er sonst zwei oder drei Tage gebraucht hätte. Seine gequälten Lendenmuskeln weinten beinahe vor Erleichterung.

Montecristo nahm seinen Motorradhelm ab und schüttelte ungläubig den Kopf. Es war neun Uhr morgens, und er hatte noch nicht ein einziges Mal geflucht. So etwas war seit Jahren nicht mehr vorgekommen. Er zog die Rolltür vor seiner Buchhandlung hoch und stellte fest, dass er entgegen seinen Erwartungen nicht einmal vergessen hatte, das Licht auszumachen. Die beiden Katzen schliefen noch und begrüßten ihn deshalb nicht mit den gewohnten mörderischen Blicken. Er fuhr den Computer hoch und sah sich prüfend um. Alles war in bester Ordnung, es gab keine Kartons mit Büchern, die man auspacken und ins Warenwirtschaftssystem aufnehmen musste. Er entdeckte sogar noch ein letztes Kaffeepad in der Packung und machte sich einen Kaffee in der Maschine, den er trank, während er in Obscura blätterte, einer schönen illustrierten Gesamtausgabe der Erzählungen von Edgar Allen Poe, einem seiner Lieblingsautoren, und dabei im Radio »Burning Down the Prairie« lief, der perfekte Song, um gut in den Tag zu starten.

Als er hörte, wie sich die Tür der Buchhandlung öffnete, war er sicher, dass sich dieser Moment der Gnade nun in Trostlosigkeit auflösen würde.

Und in der Tat kam eine Frau auf ihn zu, aufrecht und mit entschlossener Miene wie ein Soldat, und wedelte mit einem Bündel Dokumente.

»Machen Sie hier Kopien?«, fragte sie, ohne einen Gruß an ihn zu richten.

»Ich wünsche Ihnen auch einen guten Tag, Signora. Nein, wir machen keine Kopien«, erwiderte Montecristo und wies auf ein Schild mit der entsprechenden Aufschrift.

»Und warum nicht?«, schnauzte ihn die Frau an, verärgert über seine Antwort.

Montecristo atmete einmal tief durch. »Weil dies hier eine Buchhandlung ist, Signora, und kein Copyshop. Das ist ein feiner Unterschied.«

»Aha … Dann machen Sie keine Kopien hier?«

»Nein, Signora. Wir verkaufen hier Bücher, wie Sie sehen können.« Montecristo unterdrückte seinen Grimm und zeigte auf die Bücherregale an den Wänden.

»Sie machen keine Kopien!«, brüllte die Frau und knallte die Papiere auf den Tresen. »Und dann beschwert ihr euch, dass die Buchhandlungen schließen müssen, und bettelt um staatliche Hilfen. Schämt euch! Euch sollte man in die Minen zum Arbeiten schicken. In die Minen!«

Montecristo ballte die Hände zu Fäusten und biss sich auf die Zunge bei dem Gedanken daran, welch höchste Harmonie seinen Morgen bis zu diesem Moment begleitet hatte. Er beschloss, die Frau lächelnd zu ignorieren, weil Nichtbeachtung so etwas wie ein Leck mich im Abendanzug ist.

Als die »Kundin« schimpfend den Laden verließ, seufzte er erleichtert auf und gratulierte sich zu seiner Selbstbeherrschung. Dann blätterte er weiter in der wunderschönen Ausgabe von Poes Erzählungen und ließ sich von den Country- und Bluesklängen Ian Noes einlullen.

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür zur Buchhandlung erneut, und wieder trat eine Frau ein. Diese ließ sich zumindest zu einem »Guten Tag« herab.

»Guten Tag, Signora«, grüßte Montecristo zurück. Er beobachtete, wie die Dame mit misstrauischem Blick zwischen den Regalen herumging. Sie war mit Schmuck behängt, kam frisch vom Friseur und trug Designerkleidung. Montecristo brauchte nur ein paar Sekunden, um sie als schwierige Kundin einzustufen: Sein Instinkt sagte ihm, dass sie nichts kaufen würde, dass er nur Zeit mit ihr verlieren würde oder – wenn es schlimmer kam – die Geduld. Und tatsächlich, nachdem sie sich damit begnügt hatte, die Bücher durcheinanderzubringen, fragte sie ihn angriffslustig: »Hören Sie, haben Sie keine reduzierten Bücher?«

Es gab nur eine Sorte Kunden, die Montecristo noch mehr verachtete als die, die Kopien haben wollten: die Sorte, die nach Rabatten fragte.

»Sicher, Signora. Heute gibt es zwei Bände von Leck mich zum Preis von einem«, erwiderte er. »Ein Supersonderangebot. Wollen Sie zuschlagen?«

»Was erlauben Sie sich! Sie wissen selbst, dass Bücher im Supermarkt …«

»Dann gehen Sie doch in den Supermarkt und mir nicht mehr weiter auf den Sack!«, knurrte der Buchhändler und zeigte sein wahres Gesicht, das eines bärbeißigen und aufbrausenden Menschen.

Die Frau ging hocherhobenen Hauptes davon, während sie eine Salve von Flüchen auf ihn abfeuerte, und Montecristo schloss das Buch mit Poes Erzählungen, denn ihm war klar, dass dieser Tag nun hoffnungslos ruiniert war. Aller schlechten Dinge sind drei, dachte er, als er hörte, wie sich die Ladentür wieder öffnete. Er blickte grimmig drein, um mögliche lästige Besucher abzuschrecken. Doch sein abweisendes Gesicht reichte nicht aus, um die Neuankömmlinge zu entmutigen; es handelte sich um zwei Polizeibeamte im Dienst.

4

Ispettore Flavio Caruso und Sovrintendente Angela Dimase von der Kriminalpolizei Cagliari betraten sichtlich amüsiert die Buchhandlung.

»Oh Mann, wir haben draußen nur fünf Minuten Zigarettenpause gemacht, und in der Zeit konnten wir zusehen, wie zwei Tussis schäumend vor Wut und laut fluchend aus deinem Laden rauskamen. Du hast es echt drauf mit der Kundenbindung, was, Montecri’? Was haben die dir denn getan?«, fragte Caruso lachend.

»Das waren keine Kundinnen. Nur Nervensägen«, antwortete der Buchhändler seinem Gegenüber, dem man deutlich anhörte, dass er aus Rom und nicht aus Sardinien kam.

»Der Tag geht ja gut los. Und es ist gerade mal neun.«

Montecristo musterte Caruso: Er war ein attraktiver Mann um die fünfzig, der ein Double von Marcello Mastroianni hätte sein können. Er trug einen schwarzen Anzug mit gleichfarbiger Krawatte und dazu ein blütenweißes Oberhemd. In der Hand hielt er eine Sonnenbrille von Versace. Montecristo wusste, dass Caruso nach außen etwas nonchalant wirkte, aber sich hinter dieser Art ein guter Mann und tougher Polizist verbarg. Angela Dimase hatte ihm erzählt, dass Caruso vor ein paar Jahren in einen tragischen Fall verwickelt gewesen war und gerade noch einmal die Kurve gekriegt hatte, bevor er im Meer der Schuldgefühle versank.

»Das Absurde am heutigen Tag ist, dass er so gut begonnen hat. Zu gut. Und wie es scheint, war das nur eine gnädige Täuschung, angesichts nun eurer Anwesenheit.«

»Hör mal, wie geschliffen er redet …«, sagte Caruso zu seiner Kollegin. »Man merkt doch gleich, dass das ein Mann von Kultur ist.«

»Kultur?«, fragte Angela Dimase entrüstet und sah sich um. »Seit wann sind Krimis Kultur?«

»Was möchtest du damit andeuten?«, fragte Montecristo pikiert.

»Ach nichts, gar nichts«, wiegelte sie ab, während sie weiter misstrauisch die Regale beäugte, auf denen Hunderte Thriller und Kriminalromane versammelt waren. Les Chats Noirs war eine kleine Buchhandlung, die sich auf Kriminalliteratur spezialisiert hatte; in der ganzen Stadt gab es kein vergleichbares Angebot in diesem Genre.

»Hm, ich folgere, dass ihr nicht gekommen seid, um etwas zu kaufen.«

»Da hast du recht«, erwiderte Caruso. »Wir müssen so viele Akten, Protokolle und andere Dokumente lesen … und dann auch noch Bücher? Ausgerechnet Bücher über Morde und Ermittlungen? Nein, bitte nicht.«

»Das tut mir leid für euch. Ihr wisst nicht, was euch entgeht. Also, warum seid ihr hier?«

»Du musst uns einen Gefallen tun«, begann Angela Dimase.

Montecristo sah sie an. Ihr üppig gelocktes, lila gefärbtes Haar war zu einem Bob geschnitten: Die fluoreszierenden Strähnen hatten Glanzeffekte in Lila und Lavendel, die im Dunkeln leuchteten wie Neonfarben. Ihre hochgewachsene, schlanke und muskulöse Figur kam in dem kurzen bordeauxfarbenen Ledermantel und einer schwarzen hautengen Jeans besonders gut zur Geltung, die hochhackigen feuerroten Pumps ließen ihre Beine noch schlanker und länger wirken.

»Was für einen Gefallen?«, fragte Montecristo, bemüht, sich nicht von ihrem athletischen Körper ablenken zu lassen, sondern ihr in die Augen zu schauen. Sie waren beide um die vierzig, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund sah Angela Dimase mindestens zehn Jahre jünger aus.

»Einen von der Sorte, die du nicht ablehnen kannst«, antwortete sie.

»Vergiss es. Ich habe meine Schuldigkeit getan und werde mich nicht noch einmal zur Verfügung stellen.«

Caruso und Dimase tauschten einen verschwörerischen Blick.

»Diesmal liegt der Fall anders«, erklärte Caruso. »Es dauerte auch nicht lange. Versprochen.«

»Auf gar keinen Fall. Ich habe ein Unternehmen zu führen.«

»Na, die Geschäfte laufen ja prächtig, wie ich sehe«, spottete Angela Dimase, vollführte eine demonstrative Drehung in der leeren Buchhandlung und tänzelte auf ihn zu. Sie wusste sehr genau, wie verführerisch sie auf ihn wirkte und ließ keine Gelegenheit aus, ihn zum Erröten zu bringen. Und das gelang ihr regelmäßig.

»Ich glaube kaum, dass dir enorme Einnahmen entgehen, wenn wir dich für ein Stündchen von hier entführen, oder?«, fuhr sie fort. »Und um halb zehn kommt sowieso Patricia, um dich zu unterstützen …«

»Ja, aber …«

»Nur eine Stunde, versprochen«, bezirzte sie ihn, indem sie ihm eine Hand auf die Brust legte und ihn mit ihrem Blick in ihren Bann zog.

Wie immer ergab sich seine Vernunft in ihrer Gegenwart willenlos seinen Gefühlen. Das war schon so, seit sie einander mit dreizehn am Strand kennengelernt hatten.

»Ich bin mit dem Motorrad hier«, stammelte er.

»Wissen wir. Dieses Schrottteil ist nur schwer zu übersehen«, bemerkte Caruso.

Montecristo warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Heute regnet es nur Komplimente, was?«

»Komm schon, Dimase, Abmarsch … und du, beweg dich, Montecri’. Wir erwarten dich im Präsidium.«

»Der Bart steht dir wirklich gut, weißt du?« Angela Dimase strich ihrem Jugendfreund über die stoppelige Wange. »Das bisschen Grau darin stört überhaupt nicht. Das lässt dich irgendwie wie einen Mann von Welt wirken.«

»Hör auf, mir zu schmeicheln. Kannst du mir wenigstens sagen, was ihr von mir wollt?«

»Das ist leider nichts Angenehmes«, sagte Dimase leise und war schlagartig wieder ernst.

»Na klar …«, erwiderte Montecristo. »Ich wusste doch, dass es ein Scheißtag werden würde.«

»Sei aber vorsichtig auf deiner Klapperkiste, hörst du?«

»Von wegen Klapperkiste.«

Die Polizistin lachte und folgte ihrem Kollegen.

Während er ihr nachsah, wie sie mit wiegenden Hüften verschwand, bemerkte Marzio Montecristo, dass seine beiden schwarzen Katzen aufgewacht waren und sich auf dem Tresen ausgestreckt hatten. Ihre Blicke galten ebenfalls Angela. Aber im Gegensatz zu ihm lag in ihren bernsteinfarbenen Augen tiefes Misstrauen.

»Sie hasst Kriminalromane, das ist eine Todsünde. Aber ich bin schon verrückt nach ihr, seit ich ein Teenager war«, erklärte er Miss Marple und Poirot, den beiden Katzen, die sich einfach selbst in der Buchhandlung niedergelassen und sie in Besitz genommen hatten.

Poirot reagierte auf Montecristos Bemerkung mit einem plötzlichen feindseligen Fauchen.

»Ich weiß, ich weiß, aber manche Schwärmereien legen sich nie«, antwortete Montecristo. Miss Marple schien verschwörerisch zu blinzeln, voller Verständnis.

»Jetzt redest du auch schon mit den Katzen?«, hörte er eine Frauenstimme hinter sich sagen. Es war Patricia, eine junge Frau mit eritreischen Wurzeln, die ihm in der Buchhandlung aushalf.

»Sonst hört mir ja niemand zu. Anwesende eingeschlossen.«

Die junge Frau lächelte. »Ich bin Angela und Caruso begegnet. Waren sie deinetwegen hier?«

»Genau. Ich muss mit ihnen weg. Aber es dauert nur eine Stunde.«

»Ach, hat dich endlich mal ein Kunde angezeigt?«

»Sehr witzig.«

»Soll ich einen guten Anwalt für dich anrufen?«, fuhr Patricia fort und streichelte dabei die beiden Katzen, die der Buchhandlung Namen und Glanz verliehen.

»Hör sofort auf, oder ich schmeiß dich raus.«

»Tut mir leid, das glaub ich dir nicht. Du bist der typische Brummbär, Chef. Du bellst, aber du beißt nicht.«

»Leck mich doch, Patricia … Du bist auch so eine Frau, die mich nur ausnutzt.« Montecristo griff sich Helm und Jacke. »Ich geh mal und höre, was diese beiden Nervensägen von mir wollen. Wenn du mich brauchst, ruf an, dann komm ich sofort zurück.«

»Okay, Boss.«

»Und nenn mich nicht ›Boss‹, verdammt noch mal. Wenn das jemand hört, bei deiner Hautfarbe, dann gelte ich auch noch als Rassist.«

»Okay, Herr«, verspottete Patricia ihn. »Besser so?«

»Patricia?«

»Ja, ich weiß, ich soll dich am Arsch lecken.«

»Gutes Mädchen«, sagte Montecristo grinsend, während er die Tür hinter sich schloss.

5

Caruso reichte Montecristo einen Pappbecher mit dampfendem Kaffee, was dieser aber nicht einmal bemerkte, weil er ganz gebannt in Richtung der offenen Bürotür des Ispettore starrte, durch die er die Rückenansicht von Angela Dimase genoss, während sie ein neues Pad in die Kaffeemaschine legte.

»Montecri’? Was soll das werden, eine Röntgenaufnahme? Pass bloß auf, sonst wirst du noch blind!«

»Was?«, murmelte Montecristo, der immer noch vollkommen abgelenkt war.

»Dir ist wirklich nicht zu helfen … Weißt du, was man dort sagt, wo ich herkomme? Sie muss dich auch im Pyjama anmachen. Mit hohen Absätzen sind sie doch alle scharf.«

»Mich würde sie selbst dann noch anmachen, wenn sie von oben bis unten mit Müll bedeckt wäre und mit einer Aas fressenden Möwe auf der Schulter.«

»Himmel, was für ein hässliches Bild. Sag’s ihr doch endlich! Worauf wartest du?«

»Ach was. Wir sind nur Freunde.«

»Ja sicher. Ganz dicke Freunde. Ach, mach doch, was du willst …«

»Warum hat sie eigentlich lila Haare? Erlauben sie euch jetzt schon solche Extravaganzen?«