Die Lichter unter uns - Verena Carl - E-Book
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Die Lichter unter uns E-Book

Verena Carl

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Beschreibung

Wovon träume ich? Was will ich? Und – sind die anderen glücklicher als ich? Verena Carl erzählt mit großer Klarheit und Entschiedenheit von einer existentiellen Situation. Anna verbringt ihren Urlaub in Taormina auf Sizilien, mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Plötzlich fühlt der Boden sich brüchig an, auf dem sie steht. Sie begegnet Alexander, der das aufregende Leben führt, das sie sich einmal für sich selbst erträumt hatte. Und Alexander? Beneidet er sie um ihr Familienglück? Mit einem Mal wird der Zweifel am eigenen Leben übermächtig, alles steht auf dem Spiel. Sieben Tage können alles verändern.

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Seitenzahl: 327

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Verena Carl

Die Lichter unter uns

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVII

Für Hannah

I

Am siebten Morgen fing es an. Das Abrutschen, Absacken, die fast unmerkliche Schieflage.

Zunächst dachte Anna sich nichts dabei und schrieb ihr Schwindelgefühl dem Haus zu. Einem alten Haus, hineingebaut in den Steilhang von Taormina, unterhalb der Straße. Die Schlafzimmer ihrer Ferienwohnung waren düster und dem Berg zugewandt, nur die Terrasse eröffnete einen Seitenblick aufs Mittelmeer. Dieser Blick, der ungebremst über Sträucher und Ziegeldächer stürzte, weiter unten über einen ungepflegten Fußballplatz und die Autobahntrasse, die das Hinterland vom Strand trennte. Bis er in der Tiefe auf die schimmernde Unendlichkeit prallte, die sich in unterschiedlichen Blauschattierungen mit dem Morgenhimmel verband.

Dazu dieses wilde Grün auf Balkonen und über Grundstücksgrenzen hinweg. Ranken, die über enge Gassen wuchsen und ineinandergriffen wie Hände. So als würde die Natur wieder einnehmen, was Menschen ihr abgetrotzt hatten. Als würde sie heimlich eine lebendige Stadt in eine überwucherte Ruinensiedlung verwandeln, Zentimeter für Zentimeter, nachts vielleicht, wenn alles schlief.

Und dieser Geruch, jeder Atemzug eine Mischung aus scharfem Putzmittel, Knoblauch und überreifen Orangen, der Anna schon bei der Ankunft vor einer Woche hatte taumelig werden lassen. Weil er sie in jenen Frühling vor zwölf Jahren zurückversetzte, in dem die Insel beim Landeanflug vor ihr gelegen hatte, rosa und weiß geschmückt wie eine Hochzeitstorte. Dieses Mal hatte verbrannte Erde sie willkommen geheißen, die Blätter waren verdorrt, und die fahlbraunen Mauern wirkten wie mit dem Erdboden verschmolzen.

All das zusammen war Grund genug, um ein wenig aus dem Tritt zu kommen, fand Anna. Wenigstens für eine Frau ihres Alters. Und vielleicht auch das dritte Glas Nero d’Avola vom Vorabend.

Aber der Gedanke war kein Trost.

Sie nippte am lauwarmen Milchschaum in ihrem Glas und warf einen Blick auf ihre Kinder. Bruno sägte an einem Stück Käse, die Haare am Hinterkopf aufgestellt, in jeder Bewegung Bereitschaft, es mit dem neuen Tag aufzunehmen. Umso mehr schien Judith zu spüren, dass etwas Seltsames vor sich ging. Sie starrte mit offenem Mund und glasigen Augen auf die Mosaiksteinchen des Esstisches, die eine gelb leuchtende Sonne bildeten, knabberte lustlos an einem Panino und forderte mit künstlicher Babystimme einen Platz auf dem Schoß ihres Vaters. Jo ließ es zu, mit diesem Blick, den er nur für seine Tochter reserviert hatte, für diese Momente, in denen sie ihre Kleinkinderkarte ausspielte, den Prinzessinnentrumpf. Genervte Liebe, liebevolle Genervtheit.

»Erinnerst du dich, was ich gestern erzählt habe? Weißt du noch, wie ein griechisches Theater aussieht?«, fragte er sie. Judith verweigerte die Antwort und versuchte, sich auf seinem Schoß zusammenzurollen. Katzenhaft stieß sie ihr Köpfchen gegen ihn, als könnte er sich auf Befehl ausdehnen auf alte Größenverhältnisse, so dass sie auf seinem behaarten Unterarm in voller Länge Platz fände wie als Neugeborenes.

Jo schwieg, bestand weder auf einer Antwort noch führte er seinen Vorschlag weiter aus, und Anna wusste, warum. Wenn Judith in dieser Stimmung war, dann war sie für keinen der Tagespläne zu begeistern, die sie gestern Abend besprochen hatten, nachdem Judith und ihr jüngerer Bruder eingeschlafen waren. Keine griechischen Theater, keine Bootsfahrten, keine Bergdörfer.

Zehn Jahre war Judith, bald elf. Ein kleines Mädchen mit einer großen Seele, das häufig mehrmals täglich zwischen den Extremen pendelte, mal beinahe eine junge Frau mit eigenständigen Gedanken, mal Kleinkind. Vor allem in den Morgenstunden war sie klein, wenn sie zu ihren Eltern unter die Decke schlüpfte und mit ihren Füßen nach einem Nest in Jos oder Annas Kniekehlen suchte. Dieses Kind, das von früh an damit beschäftigt gewesen war, Welten zu entwerfen und zu bevölkern, und das manchmal erschöpft zu sein schien von der Stimmenvielfalt in seinem Kopf. Ein Kind, für das die Zahl fünf blau war und die Zahl zwei gelb, das sich nach Jahren an Aufschriften von Zuckertütchen in Ausflugscafés erinnerte, aber jeden Tag vergaß, was »die Rechnung, bitte« auf Italienisch hieß.

Sie ruckelte sich auf Jos Oberschenkeln zusammen, und wieder einmal bemerkte Anna erstaunt, wie kurvig sie schon wurde. Wie rund ihr Po und ihre Hüften, wie schmal ihre Taille. Dabei war sie eine der Kleinsten in ihrer Schulklasse, so als könnte nicht nur ihr Geist, auch ihr Körper sich nicht entscheiden, was er sein wollte, Kind oder Frau. Anna war beinahe sicher, dass auch Judith heute diese innere Schieflage spürte und ähnlich daran litt wie sie selbst. Nur, dass sie es noch viel weniger hätte benennen können.

Vielleicht waren sich Mütter und Töchter stets ein wenig zu nah, Kontinente, deren Platten in der Tiefe zusammenstießen, sich verhakten, Gebirge aufwarfen, das Innerste nach außen beförderten. An Tagen wie heute zog Judith sich noch langsamer an als sonst. Brach in Tränen aus, weil ihr nichts zu gelingen schien. Starrte hungrig auf den üppig gedeckten Frühstückstisch und fand doch nichts, das ihr schmeckte. Verrührte und zermantschte Joghurt, Obst und Frischkäse, als sei sie noch zu klein, um feste Nahrung aufzunehmen.

Währenddessen hatte sich Bruno bereits zwei enorme Stücke Käse abgeschnitten, schob sie sich gleichzeitig in den Mund und zeigte beim Kauen seine neue Zahnlücke unten links. Anna beneidete ihren Sohn um diese Unempfindlichkeit, die sein Leben vom ersten Tag an einfacher gemacht hatte als das ihrer Tochter und ihr eigenes.

»Ich bin wach« war einer seiner ersten kompletten Sätze gewesen, die er als Zweijähriger morgens erwartungsvoll in den langen Flur ihrer Hamburger Altbauwohnung gerufen hatte. Mehr Nestflüchter als Nestsucher, einer, der Wärme besser speichern konnte als seine Schwester. Auch heute war Bruno immun gegen die vage weibliche Weinerlichkeit am Tisch, plapperte vor sich hin, sprang in seiner Erzählung von der letzten Klassenratssitzung zu einem Schnorchel, den er in einem Laden an der Uferstraße gesehen hatte, gegenüber dem Eingang zu einem exklusiven Strandclub, dessen Schild von verblasster Grandezza kündete. »Nur zehn Euro kostet der, der ist ganz toll, Mama, ich geb’s dir von meinem Taschengeld, ehrlich. Können wir bald los, Mama, ja?«

Anna wartete, dass das Koffein seine Wirkung tat, wartete vergeblich, und plötzlich wusste sie, dass sie und ihre Tochter sich heute besser aus dem Weg gehen würden. Sie beide brauchten Rettung, und Anna wusste, wo die zu finden war. Judith brauchte ihren Vater. Sie, Anna, brauchte ihren Sohn.

Mit Bruno an den Strand gehen, an den volkstümlicheren, öffentlichen Teil, zwei Sonnenliegen mieten, ein Wassereis kaufen, heimlich die operierten Brüste der Russin neben ihnen anstarren, die chinesischen Masseurinnen vertreiben, die die letzten Badegäste mit ihrem penetranten »massaggio!«-Angebot nervten, Marketenderinnen in einer globalisierten Welt. Der samtige Rücken eines Sechsjährigen, sein glucksendes Lachen, die Ernsthaftigkeit, mit der er alleine die Strandtasche bewachte, wenn sie, seine Mutter, auf dem Weg war zur Toilette.

Diese harmlose, leicht verstaubte Mischung würde sie heute zurückbringen auf festen Grund, während sich Jo besser Judiths schwieriger Stimmung annehmen konnte. Sie mit neuen Geschichten zudeckte, während sie gemeinsam über den Corso bummelten. Die Abenteuer der Argonauten, die Herr-der-Ringe-Saga, alles war recht, solange es episch war und verschlungen.

An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wäre Jo wohl der Barde gewesen, der fahrende Sänger. Er erzählte, so wie Musiker drauflosspielten, selbstvergessen, genussvoll, und er benutzte nie zweimal dieselben Formulierungen. Vor Jahren hatte er auch Anna förmlich hineingequatscht in die Liebe, so hatte sie es lachend im Freundeskreis erzählt. Aber seitdem die Kinder da waren, hatte er seine Worte umverteilt. Meistens war sie nur noch Zaungast seiner Erzählungen. Beide geizten sie mit ihrer Zeit, horteten sie eher jeder für sich als füreinander.

Anna hob die Hand über dem Frühstückstisch, um ihrem Mann die behaarte Wange zu streicheln. Seitdem er sich einen Bart stehenließ, sah er gleichzeitig jünger aus, so wie seine Agenturkollegen mit ihren extraschmalen Kinderjeans, und älter, wie ein moderner Homer mit wässrigen, kurzsichtigen Augen hinter der schwarzen Brillenfassung. Sie fragte sich, ob dieser neue Bart Jos Eingeständnis von Angst war oder seine Antwort darauf. Eine Ansage an die fünfundzwanzigjährigen Neueinsteiger, die seine Söhne hätten sein können, von denen er in der Hierarchie der Werbeagentur aber nicht weit genug entfernt war, um die Vaterrolle auszufüllen.

*

Zähneputzen half, kaltes Wasser im Gesicht, das Schaben der Klinge über ein paar nachgewachsene Härchen in der Achselhöhle, die Mahnungen an die Kinder wie der Refrain eines täglichen Schlafliedes. Bist du im Bad fertig? Woher soll ich wissen, wo das Delphin-Shirt hin ist? Kannst du nicht ein Mal so wie andere Kinder auch …? Die Gummibärchen bleiben hier. Doch schon auf dem Weg zum Strand, im Gänsemarsch die schmale, bürgersteiglose Straße hinter Bruno her, ahnte Anna, dass es nicht so einfach sein würde, ihre Mischung aus Wehmut und Panik loszuwerden. Ihr Spiegelbild, flüchtig und verzerrt in der Scheibe eines am Straßenrand parkenden Kleinwagens, brachte sie beinahe zum Stolpern. Während sie sich gerade noch fing, spürte sie eine Schwere und Unbeweglichkeit, die ihr neu erschien, als sei sie über Nacht gealtert. Teigige Oberarme, die Schwerkraft des Fleisches über ihren Hüftknochen, die sie selbst unter dem locker fallenden schwarzen Kleid bemerkte – war das wirklich sie? Selbst ihre neue Kurzhaarfrisur, die ihr vor wenigen Tagen noch so elegant vorgekommen war, wirkte im Autofenster nicht mehr vage französisch, sondern nur noch wie die praktische Haartracht einer älteren Frau. Sie schämte sich. So, als ginge sie in einem unvorteilhaften Aufzug zu einer Verabredung, von der sie sich viel versprach.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der hatten die bröckelnden Fassaden, das Ruinenhafte solcher Orte sie jung gemacht, hatte sie das Unfertige genossen, das Schmutzige. Als sie hinter Bruno um die Ecke bog, traf die Aussicht sie hart und unvermittelt.

Das Meer, dachte sie. Das Meer ist zu schön für mich. Wenigstens das Mittelmeer vor Taormina, an einem Oktobertag. Die abgetragenen Sandalen vom vergangenen Sommer gaben ihren Füßen zu wenig Halt, der Asphalt fühlte sich heiß an unter den dünnen Sohlen.

Weil sie sich so auf ihre Schritte konzentrierte, hätte sie beinahe die tote Katze vergessen, die bereits seit drei Tagen an der Wegbiegung auf ihrer Route zum Strand lag. Die durfte Bruno auf keinen Fall sehen. Anna hätte kilometerweite Umwege in Kauf genommen, um zu verhindern, dass er das hingeschleuderte, beschädigte Etwas zwischen den vertrockneten Gräsern entdeckte.

Judith war schon dafür verloren. Die Ärmste war am ersten Morgen vorneweg gegangen und hatte schreiend auf den Kadaver gedeutet, während Bruno weiter hinten durch etwas abgelenkt war. Wahrscheinlich die jungen Kätzchen auf der Mauer, ihre beinahe unnatürliche Biegsamkeit, ihre Farbe, steinern, als wären sie keine Lebewesen, sondern Teil des alten Bauwerks.

Schnell hatte sie mit Bruno unter einem Vorwand die Straße überquert, an den folgenden Tagen den Sicherheitsabstand immer mehr vergrößernd, dabei mit einem Seitenblick prüfend, ob endlich ein barmherziger Straßenkehrer das verwesende Tier weggeräumt hatte.

»Bruno!« Sie griff nach seiner Hand und zog, und der Junge stockte mitten in einer aufgeregten Plapperei und sah sie erschrocken an. »Komm«, rief sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit, »wer zuerst da ist.« Gleichzeitig hielt sie ihn eisern gepackt, damit er ihr nicht entwischen konnte.

Bruno und sie nahmen Stufe um Stufe der ausgetretenen Treppe, die in weiten Windungen den Hang hinuntermäanderte, vorbei an Drachenbäumen, windgebeugten Pinien und Feldsteinmauern, in deren Ritzen sich Eidechsen versteckten. Die Kakteen trugen Initialen von Liebespaaren, jemand hatte »Refugees welcome« in die fleischigen, länglichen Triebe eines Feigengewächses eingeritzt. Von irgendwoher krähte ein Hahn. Olivenbaumblätter glitzerten silbrig. Im unteren Teil des Weges schlug ihnen die stickige Abluft von Klimaanlagen entgegen. Rechts und links warnten Schilder vor dem Betreten privater Grundstücke.

Am Strand angekommen, wollte Bruno als Erstes sein Wassereis. Der Mann vom Imbiss kramte in einer Truhe und schnalzte bedauernd, weil er nur noch eines mit Erdbeergeschmack fand, nicht mehr Brunos Lieblingssorte. I am sorry, Signora, last week of season, you know? In der folgenden Woche würden sie den Laden absperren und in die wohlverdienten Ferien gehen. Am Saum des Meeres saß ein Bademeister auf einem Klappstuhl, Beine ausgestreckt, und las Zeitung. Ein schwacher Eukalyptusduft hing in der Luft. Jedes Mal, wenn eine der Strandmasseurinnen ihre Ölflasche öffnete, wurde er stärker.

Bruno schmollte nur kurz, dann ließ ihn die Aussicht aufs Schwimmen seinen Groll über die falsche Eissorte vergessen. Während Anna sich ins Wasser gleiten ließ, fühlte sie sich für den Moment wieder mit der Welt im Reinen. Das Kind mit den sonnengebleichten Härchen im Nacken, die Rufe der Sonnenbrillenverkäufer zwischen den spärlich besetzten Reihen blauer Liegestühle, die Türmchen und durchbrochenen Terrassengitter eines alten Hotels, das alles verband sich zu einem Bild zeitloser Harmonie. Sie stand und wartete auf die nächste Welle, die ihr die Kiesel unter den Füßen lockerte. Im selben Moment kam das beängstigende Gefühl zurück, und nun wusste sie, woran es sie erinnerte. Kein Schmerz, keine Übelkeit, nichts Körperliches. Sondern ein inneres Ziehen wie Geburtswehen, das immer wieder nachließ, um sich dann umso mehr zu steigern.

*

Am späten Nachmittag begann sie zu bluten, mit der unangemessenen Heftigkeit der späten Jahre. Sie suchte erst in ihrem Kulturbeutel, dann im Badezimmerschränkchen, fand aber keine Tampons.

Sommersatte Tagestouristen belagerten das enge Geschäft vor der Porta Messina, schleppten Wasserflaschen, Sonnencreme und Panini zur Kasse. In der hintersten Ecke entdeckte Anna, was sie brauchte, und packte noch einige Birnen aus der spärlich belegten Obsttheke in eine Plastiktüte. Alibi-Früchte, als wäre das einzelne Päckchen vom Hygiene- und Haushaltsbedarfsregal ihr peinlich. Wieder spürte sie ein Ziehen, das in ihrer Körpermitte begann und sich ausbreitete bis in die Fingerspitzen.

Auf dem Heimweg zur Ferienwohnung ging sie noch langsamer als zuvor, die Beine zusammengepresst. Staubige Autos überholten sie hupend, ein-, zweimal rief jemand etwas in ihre Richtung, nicht freundlich. Das Schnalzen, das Pfeifen, die gewisperten Worte, die ihr früher an solchen Orten einen Klangteppich ausgelegt hatten, waren lange verklungen.

Sie fragte sich, ob es an den veränderten Zeiten lag, ob auch junge Frauen und junge Männer heute so unbeachtet wie unaufmerksam durch südliche Städte spazierten, den Blick auf das Display eines Smartphones gerichtet. Oder doch an ihr.

An den Nachmittagen während ihrer Hochzeitsreise war sie manchmal allein aus der Villa Mare geflüchtet, die so viel Vergangenheit atmete mit ihren Bücherregalen in der Lobby, den Spiegeln in Goldrahmen, den alten Fensterscheiben im Frühstückssaal. In dem Glas Schlieren, Wellen, winzige Blasen, die die Luft eines fernen Tags einschlossen, an dem andere Frauen geliebt, gehofft, mit dem Altwerden gehadert hatten. Mütter, Töchter, Schwestern, Ehefrauen.

Damals war ihr gewesen, als ginge sie zwischen Blicken spazieren, ein Gefühl, das gleichzeitig erniedrigend und erhebend war. Jünger war sie gewesen und hatte Röcke getragen, die schwangen und wippten wie ihre Haare, damals noch schulterlang und ohne graue Strähnen im Kastanienbraun. Aber es gab noch etwas anderes, schwerer zu Greifendes, das die Männer auf der Straße ihre Witterung aufnehmen ließ. An diesen Nachmittagen war sie aus einem Flitterwochenbett gekommen. Manchmal auch von einem Liegestuhl im Hotelgarten, lesend, die Beine so angezogen, dass der Rock ihr bis in die Kniekehlen rutschte. Eine junge Ehefrau, in Sicherheit und dennoch begehrt.

Seit sieben Tagen waren sie in Taormina, Jo und sie, in dem Haus am Hang. Sechs Nächte hatten sie in dem breiten Ehebett mit dem hölzernen Kopfende geschlafen. Aber noch nicht ein Mal miteinander.

*

»Ich glaube, die zweite Urlaubswoche bekommt mir nicht«, sagte sie abends auf der Terrasse zu Jo.

Er sah auf und fixierte sie über die Kante seines Tablets, auf dem er sich durch Nachrichtenseiten scrollte. Die Beleuchtung des Displays tauchte sein Gesicht in einen freundlichen Schein und erinnerte Anna an die Madonnen auf den Bildern italienischer Renaissancemaler und ihre von der Krippe angestrahlten Gesichter. In seinen jüngeren Jahren hatte Jo muskulös gewirkt, ohne es wirklich zu sein. Seither schien es, als hätte er sich in sich selbst zurückgezogen, war massiger und unbeweglicher geworden. Sie hob die Hand und strich ihm über die kurzgeschorenen grauen Haare.

Plötzlich war die Berührung ihr unangenehm, weil sie so selbstverständlich war, so alltäglich.

Anna griff nach einer der Birnen aus dem kleinen Supermarkt, die auf einem Keramikteller lagen. Die Frucht duftete nach gar nichts. Nicht einmal die Birnen im Süden hielten, was sie versprachen. Sie biss hinein und hatte im nächsten Augenblick den Mund voll mehliger, körniger Fruchtfleischmasse.

»Ja?«, fragte Jo schließlich.

Sie griff nach einem Glas Rotwein, führte es an den Mund und spülte die Reste der geschmacklosen Birne hinunter. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Egal. War nur so ein Gedanke.«

Sie stand auf, trat an die Brüstung und lehnte sich darüber, so dass sich das Gitter in ihren Bauch presste. Entlang der Bucht flackerten verschiedenfarbige Lichter, das Festland gegenüber streckte sich als golden schimmernde Linie ins Dunkel. Weiter oben blinkten die Positionsleuchten eines Flugzeuges. Von fern drang der Klang eines Quartetts von Straßenmusikern zu ihr herüber: Gitarre, Tambourin, Akkordeon und eine hohe, hektische Flöte.

Jo ließ sein Tablet auf den Tisch sinken.

»Sag’s ruhig. Du vermisst die Villa Mare.«

»Dafür bin ich nicht mehr schön genug.«

Jo lachte gequält. »Mach nur weiter so. Noch eine melodramatische Frau kann ich heute nicht ertragen.«

Sie drehte sich um, schuldbewusst. Er hatte ja recht, er war es, der dafür sorgte, dass Judith nicht in ihren Gefühlsfluten unterging. Gut möglich, dass sie, Anna, ihn dafür zu wenig würdigte. Sie nahm sich vor, ihm bei nächster Gelegenheit etwas Gutes zu tun. Etwas, das ihn überraschen würde. Nur: Was konnte das sein, nach so vielen Jahren, so vielen Nächten, die sie gemeinsam auf einer Matratze verbracht hatten im gemeinsamen Wellengang der Körper? Selbst im Schlaf, sie immer rechts und er immer links, spürten sie doch jede Bewegung des anderen, schaukelten einander in ihre getrennten Traumwelten.

»War’s so schwierig mit Judith?«, erkundigte sie sich vorsichtig.

»Was fragst du, du kennst sie doch. Es gibt diese Tage, da ist sie ein Fass ohne Boden. Da kannst du alles reinschütten, Liebe, Verständnis, Geschichten, und es fällt gerade so durch.«

»Und heute war einer dieser Tage.« Eine Feststellung, keine Frage.

»Jedenfalls hat sie mir die Ohren vollgejammert, dass sie ins Flitterwochenhotel will. Und warum wir nicht umziehen können, wenigstens für die zweite Urlaubshälfte. Ist ja nicht so, dass ich mir die Website nicht angeschaut hatte. Dort hätten uns zwei Tage so viel gekostet wie hier zwei Wochen.«

Anna blickte auf die Terrakottafliesen. Geld war ein wunder Punkt. In entscheidenden Momenten ihres Lebens, bei der Entscheidung für einen Beruf und der für einen Mann, hatte sie nicht darüber nachgedacht. Jetzt gab es Zeiten, da dachte sie über wenig anderes nach.

Spätestens seitdem sie Kinder bekommen hatten, lebten sie ein wenig über ihre Verhältnisse. Die Eigentumswohnung in Hamburg, auf der richtigen Seite der Allee, die den guten vom schlechten Schulbezirk trennte. Mit doppelverglasten Schallschutzfenstern, nur finanzierbar dank einer Eigenkapitalspende ihrer Eltern. Das Auto, gebraucht und Ursache ständiger Zitterpartien, wann der Verschleiß teurer werden würde als eine Neuanschaffung. Nun diese leichtsinnige Entscheidung für den Urlaub in Italien, an diesem mondänen Ort, wenn auch in einer schäbigen Unterkunft. Es war, als müssten sie mit jedem Caffè latte, jeder Eintrittskarte einem hungrigen Gott Tribut zollen.

Über viele Jahre hatte sich Anna angewöhnt, alles eine Nummer kleiner zu nehmen, hatte sich auf ein Maß geschrumpft, von dem sie nicht wusste, ob es normal war oder bescheiden. Sie selbst schlug sich so durch. Wandte oft mehr Energie auf, sich gegen falsche Annahmen zu wehren – sie war nicht Hausfrau, sie war freie Journalistin! –, als sich um neue Aufträge zu kümmern. Die plätscherten deshalb auch nur gelegentlich herein: ein Pressetext für eine erfolglose Künstlerin, federleichte Beiträge für wöchentlich erscheinende, auf dünnem Papier gedruckte Frauenzeitschriften. Breites Themenspektrum, Sex und Beikost, der renommierte Experte empfiehlt, amerikanische Wissenschaftler haben in einer Studie … Immerhin gab die vorgetäuschte Berufstätigkeit ihr das ein oder andere Alibi an bleiernen Nachmittagen auf dem Spielplatz. Nein, Schätzchen, Mama kann jetzt keinen Anschwung geben, Mama hat eine wichtige E-Mail bekommen, das siehst du doch. Von Jahr zu Jahr ging Jo etwas gebückter unter der wenig zeitgemäßen Last, die Familie fast allein zu versorgen. Dabei buchten die Agenturchefs ihn immer nur Woche für Woche, von Gnadenfrist zu Gnadenfrist.

»Anna?«, fragte Jo und holte sie zurück in den Augenblick.

»Die Villa Mare war nie eine Option. Du musst das gar nicht so betonen«, sagte sie. Sie sah auf die Terrasse der Nachbarwohnung, auf der sich die Umrisse eines kleinen Betonmischers neben einem Stapel Stahlrohrstühlen abzeichneten.

»Ich finde die Ferienwohnung gut«, setzte sie hinzu.

»Findest du nicht.«

»Nicht?«

»Du erträgst es ja kaum, hier zu sein. Fliehst gleich morgens nach dem Frühstück. Was stinkt da eigentlich so erbärmlich im Bad?«

»Ach das. Das habe ich heute morgen herausgefunden. Eine Rolle Verbandsstoff, die nass geworden ist und die jemand so in das Spiegelschränkchen gelegt hat.«

»Ich dachte schon, da ist irgendwo ein totes Tier.«

»Mach’s nicht schlechter als es ist. Mit zwanzig habe ich in schlimmeren Bruchbuden gewohnt.«

»Ja. Aber da warst du jung.«

»Jetzt bist du gemein.«

»Nur realistisch. Wenn man jung ist, kann einem nichts etwas anhaben. Nicht mal eine verwanzte Hostel-Matratze.«

Jo legte sein Tablet ab und erhob sich. Einen Moment lang hoffte Anna, er würde zu ihr an das Geländer kommen und eine Hand unter den Träger ihres Kleides schieben. Dann würde er sie küssen wie an jenen lang vergangenen Nachmittagen, als sie nicht weit von hier entfernt in ihrem Bett über der blauen Bucht gelegen hatten, träge wie Echsen auf sonnenwarmen Felsen.

Stattdessen wandte er ihr den Rücken zu und ging hinein, gerade im selben Moment, als sie Judiths klagende Stimme aus dem Kinderzimmer hörte.

Sie erschrak über die Trauer darin, die Sehnsucht, die nicht nur dem Schlaf gelten konnte, der wieder einmal nicht kam. Auch nicht nur dem Vater, der zuverlässig an ihrer Seite war. Sondern etwas Größerem, das nicht verschwinden wollte. Egal, wie oft ihr Jo über die Stirn streichen würde. Es war, als ob Judith ein Grundvertrauen fehlte: dass man sich verabschieden durfte in den Schlaf, sich fallenlassen in der Gewissheit, dass es ein Zurück geben würde. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.

»Wie häufig musst du noch?«, rief sie ihm nach.

»Alle zehn Minuten«, kam Jos Stimme zurück, »so ist es versprochen.«

Aus Richtung der Straße war Hundebellen zu hören, ein Radio, das kurz laut gedreht wurde und dann wieder leiser. Die Geräusche hallten durch den Abend. Anna fragte sich, wie andere Frauen das machten, ob die noch mehr begehrt, noch anders geliebt wurden als sie, oder ob es einfach an Jos beruflicher Situation lag, den langen Arbeitstagen, der ungewissen Zukunft, den Träumen in Powerpoint, von denen er ihr manchmal morgens berichtete.

»Und?«, fragte sie, als er zurückkam. Wortlos setzte er sich wieder auf die Terrassenbank und stützte seine nackten Füße auf einem Stuhl ab.

Er schürzte die Lippen.

»Noch dreimal, schätze ich. Dann haben wir’s geschafft. Dudi, der Schlaf und ich.«

Anna mochte nicht, dass er ihre Tochter immer noch bei diesem Namen aus Kindertagen nannte. Einem Namen, den Judith sich selbst gegeben hatte in dieser frühen Zeit, in der sich Silben und Wörter langsam aus dem Gebrabbel herausschälten. Sie sah auch nicht gern, wenn er Judith morgens aus dem Bett hob und an den Frühstückstisch trug, ganz so, als wäre sie drei Jahre alt und nicht bald elf.

Sie selbst machte die unendliche Bedürftigkeit des Kindes manchmal innerlich rasend. Es war die gleiche Wut, die sie überkam, wenn technische Geräte den Dienst verweigerten, das Auto nicht anspringen wollte oder der Drucker beharrlich Fehlermeldungen produzierte. Erschrocken rief sie sich in solchen Momenten zur Ordnung, ließ sich nichts anmerken, leistete vor sich selbst Abbitte, tat Buße mit einer Extraportion Erdbeer-Sahne und Streuseln in den Eisdielen des Viertels, die Judith alle kannte.

Anna erwartete, dass Jo sich wieder seinem Tablet zuwenden würde, diesem unheimlichen Fenster zu einer Welt, in der es näherkommende Bürgerkriege gab, demokratisch gewählte Diktatoren, Flüchtlingsströme, Terrormilizen, die ihren Geiseln den Kopf abschnitten. Sie verstand nicht, dass er es nicht wenigstens im Urlaub schloss, sich keine Ferien vom globalen Horror gönnte. Aber er blieb unbeweglich sitzen und sah sie an, mit wachen Augen, so als hätte Judith seine Aufmerksamkeit für den Abend noch nicht restlos erschöpft.

»Du warst noch nicht fertig«, stellte er fest.

»Mit was?« Sie lehnte sich gegen das Geländer und fuhr mit den Fingern durch ihre kurzen Strähnen.

»Der zweiten Urlaubswoche. Wieso kannst du die nicht leiden?«

»Nicht diese speziell. Alle. Ich ertrage die zweite Hälfte so schwer. Diesen ewig gedehnten Abschiedsschmerz.«

Jo beugte sich vor und kratzte sich am Fuß, dann fuhr er mit einem Finger unter den Nagel des großen Zehs. Er beförderte einen Krümel hervor und schnippte ihn weg. Anna fragte sich, ob er das vor zehn Jahren auch schon getan hätte. Vielleicht waren harmlose Gesten wie diese der Anfang, führten irgendwann zu offenen Toilettentüren und Gähnen mit weit geöffnetem Rachen in Gegenwart des anderen. Welche Geheimnisse sollten Körper nach so vielen Jahren noch voreinander haben? Anna beobachtete eine winzige Raupe, die sich auf dem Geländer krümmte und wand, und pustete sie dann hinunter auf die tiefer liegende Außentreppe, unwillig, ihr beim Sterben zuzusehen.

»Verstehe ich nicht«, sagte Jo. »Ist die Mitte nicht eigentlich perfekt? Wenn du dich auskennst, keine Reiseführer mehr studieren musst, nicht mehr auf schlechte Lokale hereinfällst und weißt, dass es sich lohnt, vom Strand nach oben die Seilbahn zu nehmen?«

Anna dachte nach. Wie sollte sie das leise Grauen in Worte fassen, das sie jedes Mal packte, wenn etwas sich dem Ende näherte? Es war, als würden die Gegenstände vor ihr zurückweichen, als würde sich eine Glaswand vor sie schieben. Je näher die Abreise rückte, desto mehr Glanz lag auf den Dingen, unerträglich wie ein Sommer, der sich in den Oktober ausdehnte.

»Und wenn wir doch noch mal einen anderen Ort ausprobieren?«, fragte sie. »Syrakus, das könnte mir gefallen. Eine dreitausend Jahre alte Stadt haben die Kinder noch nicht gesehen.«

»Dann sollten wir morgen nicht zu spät frühstücken.«

»Ich meinte nicht als Ausflug. Ich meinte, ob wir nicht ein paar Tage dort verbringen. Als Neuanfang.«

»Wie, Neuanfang?«

»Für den Urlaub. Wir starten einfach noch mal bei Tag eins, statt den letzten Tagen hier beim Vergehen zuzusehen.«

Eine Falte bildete sich zwischen Jos Augenbrauen.

»Ich hab die Wohnung aber schon für die ganzen zwei Wochen bezahlt!«

Sie fuhr mit dem Finger über die Stelle auf dem Geländer, wo sich eben noch die Raupe gekrümmt hatte.

»Weißt du, was ich als Erstes mache, wenn wir wieder in Hamburg sind?«, fragte sie.

»Zum Italiener gehen?«

»Mich bewerben. Mich umhören. Mich mal wieder mit den anderen treffen, in der Verlagskantine.«

Er zuckte lächelnd die Schultern. »Fragen kostet nichts.« Dabei klang er wie ein Arzt, der einem Patienten mit einer besorgniserregenden Diagnose Mut machen wollte.

»Bei dir nichts Neues, oder? Ich meine, mit eurer Vereinbarung?«

»Welcher?«

Als hätte er nicht genau gewusst, wovon sie sprach.

»Die Festanstellung. Der Job als Creative Director, wenn dieser Kollege geht, wie heißt er? Björn? Jörn?«

Jo inspizierte einen Kaffeefleck auf der Tischoberfläche. »Anna«, sagte er, jede Silbe eine Anstrengung, »bitte.«

»Ich meine ja nur.«

»Ja. Ich weiß, du meinst es gut.«

»Aber du sagst mir doch Bescheid, wenn …«

Er musterte sie so durchdringend, dass sie ihren Satz nicht beendete. Dann hob er die Füße von der Sitzfläche des Stuhls und rückte ihn ihr zurecht, mit einer übertriebenen Geste, wie ein Kellner.

»Komm mal her«, sagte er.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«

»Warum?«

Sie machte einen Schritt auf die Terrassentür zu.

»Schon wieder Dudi?«, fragte er und lauschte.

»Nein. Ich blute.«

*

Kurze Zeit später ließ sich Anna allein auf dem hölzernen Hocker vor einem Café nieder. Die Tische und Stühle auf dem Bürgersteig, unter einem Vordach aus farbigem Glas, waren wie im Zuschauerraum eines Theaters angeordnet. Jeweils zwei Sitzgelegenheiten nebeneinander. Zeichnungen von Spielkarten bedeckten die Wände im Inneren, rechts und links von der Theke.

Sie bestellte Aperol Spritz und beobachtete das abendliche Schaulaufen auf dem Corso Umberto. Frauen mit blauen Haarspitzen und Fingernägeln wie Kunstwerken, Rucksackduos in Funktionsjacken, dazwischen das ein oder andere Bildungsbürgerpaar, aufgebrochen zur klassischen Seelensuche. Die Frauen in zeltartigen Leinenkleidern und mit Holzperlenketten, die Männer in tief sitzenden, senffarbenen Cordhosen. Dazwischen schlenderte eine Reihe von Promoterinnen für eine Tankstellenkette, Flyer in der Hand und auf der Brust einen sechsbeinigen Wolf mit roter Zunge. Am leichtesten waren die wenigen Einheimischen zu erkennen. Die Männer nahmen auch bei Regen und Dunkelheit nicht die Sonnenbrille ab. Ihre Frauen ließen nackte, gebräunte Arme aus flauschigen Wollpullundern blitzen.

Lockerte sich die Reihe kurzzeitig auf, konnte Anna die Auslage des Geschäftes gegenüber sehen. Vor der Ladentür stand ein Drehständer mit breitkrempigen Strohhüten, geschmückt mit roten und blauen Bändern. Hin und wieder probierte eine der vorübergehenden Frauen einen davon auf und beugte sich über den winzigen Spiegel an der Mittelkonsole. Die meisten zuckten lachend vor ihrem Spiegelbild zurück. Anna spielte mit dem Gedanken, Judith einen der Hüte zu kaufen. Ihre Tochter liebte Verkleidung und Maskenspiel, sie würde gerne in die Rolle der unbekümmerten Flaneurin schlüpfen. Vielleicht tat ein Hut ihr gut, besser als die nächste Portion Gelato.

Anna nahm einen Schluck von ihrem Getränk. Die laminierte Cocktailkarte vor ihr auf dem Tischchen war mit denselben Zeichnungen illustriert, die auch im Inneren des Cafés an den Wänden hingen. Das Motiv der Spielkarte war immer das gleiche. Ein einsamer Herrscher mit einem Stab, mal detailliert und verspielt gezeichnet, mal stark stilisiert und nur aus ein paar wenigen Farbflächen zusammengesetzt. Er hatte etwas Einsames, aber zugleich etwas Tröstliches. Ein Richter, ein Herrscher, einer, der Wahrheit von Lüge unterscheiden konnte und richtig von falsch.

Wie Anna hier saß, schaute, die raue Oberfläche kleiner Salzcracker an ihrem Gaumen zerdrückte, fühlte sie sich als Gegenentwurf zu der Gruppe, die gerade mit gleichförmig bedruckten Baseballkappen an dem Café vorbeigeführt wurde. Einige der Frauen trugen Mundschutz, so als könnte schon die italienische Luft sie gefährden, sie anstecken mit dem Virus der Unbotmäßigkeit. Manche hatten Rucksäcke vor die Brust geschnallt, andere trugen ihre Handtaschen um den Hals, was sie aussehen ließ wie zu große Kindergartenkinder. Orangefarbene Walkie-Talkies baumelten von ihren Schultern, in ihren Ohren steckten Kopfhörer, über die ihre Führerin ihnen erklärte, wo es langging. Sie lief vorweg und schwenkte zwei künstliche Blüten an langen Stängeln über ihrem Kopf, offenbar ein sicheres Erkennungszeichen im Gegensatz zu Wimpeln und Schirmen. Unmöglich, vom rechten Weg abzukommen.

Aber, dachte Anna, vielleicht war der Unterschied zwischen ihr und der Gruppe ja doch nicht so groß. Auch den Kurzzeitbesuchern, den Tagesgästen von den Ozeankreuzern war ja die allzu innige Berührung mit fremden Orten unangenehm, all das, was da reiben konnte und scheuern. So wie es heute an ihrem, Annas, Leben scheuerte. Weshalb sie die Welt zu ihrem Freilichtmuseum erklärten, von dem sie nichts verlangten als die nötige Fototapetenkulisse für Selfies.

Genauso wie es Menschen gab, die rastlos durch die eigene Existenz navigierten, immer nur kurz irgendwo festmachten, andere nur als Hintergrund benötigten, nirgends Bindungen eingingen, die die Gültigkeitsdauer eines Flugtickets überstiegen. Vielleicht deshalb, weil sie Abschiede so wenig ertrugen wie Anna.

Die Gruppe entfernte sich, und Anna verschob das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit um eine Winzigkeit nach links, hin zu dem jungen Paar am Tisch schräg vor ihr. Schon als die beiden auf den bunt lackierten Hockern Platz genommen hatten, waren sie ihr aufgefallen. Mann und Frau im Halbprofil, beleuchtet von Glück, die älteste Geschichte der Welt. Seitdem sie ihre Getränke bestellt hatten, umhüllte sie ein befriedigtes Schweigen.

Und sie saßen nicht einfach, nein, sie thronten: Er breitbeinig, sie die Ellenbogen auf ihren Knien aufgestützt, als zirkulierte in ihren Körpern ein satteres Blut. Der Mann trug einen Pullover mit V-Ausschnitt, als wäre er gerade im Hafen von Bord einer Yacht gegangen. Gleichzeitig war da noch eine fast kindliche Art, sich zu bewegen, rastlos die Arme ständig neu zu kreuzen. Mehr als sein Gesicht zeigten diese Gesten, dass er noch nicht lange erwachsen war, noch nicht ganz angekommen in seiner endgültigen Form. An den Körper der Frau schmiegte sich ein schwarzes Kleid, so schlicht wie teuer, so geschnitten, dass die Formen darunter nicht grell ausgestellt wurden, sondern vornehm zurückgenommen und doch eindeutig erkennbar waren. Im Kontrast dazu standen ihre fast weißblonden Haare in ihrer kunstvollen Natürlichkeit.

Zweifellos: Hier saßen zwei, die es auch sonst gewohnt waren, den Ton anzugeben, die in einer unzweifelhaften, natürlichen Ordnung der Dinge weit oben angesiedelt waren. Durch Geburt, durch Erziehung, durch Herkunft. Zwei Schöne aus einer Sphäre, in der man weich fiel, in der hochfloriger Teppichboden jeden Sturz abmilderte, in der das Gefühl für Privileg so tief verankert war, dass man Reichtum und Erfolg, Gesundheit und Glück für etwas hielt, das einem zustand.

Die Frau hob anmutig die Arme und arrangierte ganz nebenbei ihre Frisur neu, ein Haarknoten mit demonstrativ leger herausfallenden Strähnen. Dabei verrutschte ihr Kleid ein wenig und spannte um ihre Mitte. Erstaunt registrierte Anna, dass die Frau schwanger war, gerade so weit, dass man es ihr unzweifelhaft ansah. Aber vielleicht machte genau das den königlichen Auftritt komplett.

Später hätte Anna nicht mehr sagen können, ob sie etwas verpasst hatte. Oder ob es nur diese kleine Geste war, die plötzlich alles veränderte, als hätte jemand in einem schummrig beleuchteten Zimmer ein Neonlicht angeknipst. Vielleicht war Anna kurz abgelenkt, durch den Jungen im Fußballshirt, der dort draußen auf dem Corso einen schmuddeligen Hund jagte, oder den Kellner, der mit fragend hochgezogenen Augenbrauen auf Annas beinahe leeres Glas zeigte. Aber als sie das nächste Mal zu den beiden Schönen hinübersah, schien alles anders. Es war nur ein winziges Zurückzucken, aber Anna registrierte es: wie die Frau die Arme um sich schlang, als wäre ihr kalt. Wie sie die Lippen anspannte, schließlich zurückwich, als der Mann neben ihr seine Hand ausstreckte, um ihre Wange zu berühren. Wie sie den Kopf schüttelte, ganz sacht nur, halb ärgerlich, halb resigniert, wie eine Mutter, deren Kind sich in der Öffentlichkeit danebenbenahm.

Auf einmal war Anna nicht mehr sicher, ob sie da einem glücklichen Paar zugesehen hatte. Nein, sie hatte die Zeichen missdeutet. Das war von Anfang an ein angespanntes Schweigen gewesen, und dieses gemeinsame Getränk vielleicht der Versuch, einen Streit beizulegen, ja, vielleicht hatte die beiden ein ähnlicher Impuls in dieses Café geführt wie Anna: sich einzufügen in diese Jam Session aus gedämpfter Unterhaltung, Absätzen auf glänzend schwarzem Pflaster, Gläserklirren, einem fernen Bass und darin unterzugehen. Teil eines Mosaiks aus Gesichtern zu werden, um einander für eine Weile nicht mehr ansehen zu müssen.

Während Anna an ihrem bitteren Getränk nippte, näherte sich ein Mann dem Tisch schräg vor ihr. Zielstrebig kam er auf die beiden zu, mit federnden Schritten, und wieder schien es Anna, als würden sie sich fast unmerklich versteifen.

Der Ankömmling bemerkte das nicht. Er zog mit einer schwungvollen Bewegung einen unbesetzten Hocker vom Nachbartisch heran, ließ sich fast gleichzeitig darauf fallen und beugte sich zu der jungen Frau hinüber. Erstaunt registrierte Anna, wie ähnlich sich die beiden Männer sahen, die die Frau einrahmten. Beide hatten die gleichen jungenhaften Gesichtszüge, die gleichen vollen Lippen, die gleichen gewellten Haare. Nur, dass sich um die Augen und den Mund des einen ein halbes Leben mehr eingegraben hatte als im glatten Gesicht des anderen. Und dass der Jüngere die Haare im Gesicht trug, während der Ältere sie zurückgekämmt und zu einem grau und dunkel schimmernden Helm fixiert hatte.

Für einen Moment entstand ein Triptychon von perfekter Symmetrie, der helle Hinterkopf der Frau zwischen zwei fast identischen Profilen. Doch fast augenblicklich kippte die Achse, als der Ältere seinen Arm um die Schöne legte und ihr einen Kuss gab, voll Besitzerstolz, so schien es Anna. Dieses Mal wich sie nicht zurück, sondern ließ es geschehen, dass ihr da einer seinen Stempel aufdrückte, in der ersten Reihe, zwischen Bühne und Zuschauerraum.

Wie in einem Kaleidoskop, das mit jeder weiteren Umdrehung ein neues Muster erzeugte und vielfach spiegelte, bot sich Anna ein neues Bild. Die Schönen am Nebentisch waren kein Paar, nicht glücklich, nicht unglücklich, sondern die junge Frau eines älteren Mannes und sein Sohn. Vielleicht war das, was sie vorhin für den Versuch einer zärtlichen Geste gehalten hatte, etwas ganz anderes gewesen. Vielleicht hatte der Junge nur einen Krümel aus ihrem Gesicht wischen wollen, eine Selbstverständlichkeit zwischen zweien, die sich vertraut waren.

Der Ältere hatte seinen Überfall beendet, und die Frau griff nach einem Smartphone in der Ecke des Tischchens. Anna sah, wie sie mit ausgestrecktem Finger Bilder und Worte fortwischte und verschob, zu sich heranholte und verstieß. Gleichzeitig schien es, als würde der Sohn vor den Augen seines Vaters schrumpfen, kindlicher werden, vom Mann zum verstockten Teenager. Er gab einsilbige Antworten und befingerte ein rosafarbenes Zuckertütchen.

Sie unterhielten sich auf Deutsch, aber wegen des Lärms um sie herum verstand Anna nur Bruchstücke. Es ging um eine Mountainbike-Strecke in den Weinbergen, Dörfer zwischen Geröllhalden und erstarrten Lavazungen, und zwischendrin fuhr sich der Vater mit dem Unterarm über die Stirn, als würde ihm allein die Erzählung einen sportlichen, männlichen Schweiß aus den Poren treiben. Obwohl er die Worte an seinen Sohn richtete, dachte Anna, zog er seine Show eher für die Frau in der Mitte ab. Ein Vater, der seinen Sohn neben sich verblassen ließ, um noch heller zu strahlen, der einen Prinzen brauchte, um sich seines Königtums zu versichern.

Wie oft, dachte Anna, hatten Paare das nötig, suchten sich Zeugen für ihre Liebe, Zuschauer für ihre Leidenschaft, als würden sie implodieren, wenn sich die Welt von ihnen abwandte. Erstaunt registrierte sie, dass sie sich dem Mann verbunden fühlte. Obwohl er ihr nicht sympathisch war, weil er nicht für sich allein stand, sondern für eine wohlbekannte Form der Rücksichtslosigkeit.

Wie war sie diese Geschichten leid, eigentlich. Diese Familienväter, die plötzlich diese Volte drehten, dem Trugschluss erlagen, man könnte noch einmal von vorne beginnen. Die sich selbst hinters Licht führten mit einer frischen Frau und frischen Kindern. Während die abgelegten Gattinnen sich in jene schmallippigen Geschöpfe verwandelten, die samstags zum Pilates gingen, mit wippendem Pferdeschwanz durch Parkanlagen joggten, sonntags allein Bänke in vollen Gartencafés besetzten und sich weigerten, für Familien mit Kindern zur Seite zu rücken. Frauen wie abgerissene Puzzleteile mit wunden Rändern.

Dabei hatten sie noch Glück, wenn die Männer ihr schlechtes Gewissen wenigstens mit Eigentumswohnungen und Neuwagen für die Verflossene ummänteln konnten. Es weinte sich nun mal besser auf dem Designersofa als auf dem Plastikklappstuhl, und wenn eine nicht mehr berührt wurde, war sie im Vorteil, wenn sie jederzeit für eine Massage zahlen konnte.

Anna musterte den Mann am Nebentisch, seine Skelettuhr, deren Uhrwerk sichtbar seinen Dienst tat, wie ein Herz, das in einem aufgeschnittenen Brustkorb pochte. Sein geschmackvolles Hemd, seine genoppten Slipper auf dem Pflaster. Er hatte eine breite Hand auf den Rücken der Blonden gelegt, während er weiter seine Abenteuer zum Besten gab und sich dabei immer wieder umschaute. Die junge Frau hatte die Beine übereinandergeschlagen. Ihre Füße steckten in Schuhen, die mit einem Schuppenmuster bedeckt waren und metallisch glänzten. Der Mann wandte seinen Kopf nach rechts, nach links, mit zunehmender Ungeduld. Offenbar hatte der Kellner nicht wahrgenommen, dass aus dem Zweier- ein Dreiertisch geworden war.

Und dann, auf einmal, blieb der suchende Blick des Mannes an Annas Gesicht hängen.

Sie fühlte sich ertappt. Beschämt, dass er sie dabei erwischt hatte, wie sie dieses Schauspiel für drei Figuren in sich aufsog.

Aber da war noch etwas anderes in seinen Augen. Eine Neugier, ein Hunger, der auf einen Schlag Annas Unsichtbarkeit beendete. Der sie für einen Moment in grelles Licht setzte, ganz so, als wäre sie gemeint.

Der Mann hatte sie gesehen.

II