Die Liebe ist das Kind der Freiheit - Michael Lukas Moeller - E-Book

Die Liebe ist das Kind der Freiheit E-Book

Michael Lukas Moeller

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Beschreibung

«Keiner, den ich bisher fragte, bestritt das altfranzösische Sprichwort ‹Die Liebe ist das Kind der Freiheit›» (Michael Lukas Moeller). Doch macht uns diese Freiheit Angst. Sich wechselseitig freilassen und doch auf die Bindung vertrauen? Dazu fühlen wir uns zu unsicher. Wir unterstellen lieber, Bindung sei wechselseitiger Besitz. In kurzer Zeit ersticken wir so die Liebe. Dass Freiheit nicht Unverbindlichkeit heißt, kommt vielen nicht in den Sinn. Dass sie die Bindung vertieft, klingt unglaubwürdig … Und doch wissen wir alle, dass sich Gefühle nicht erzwingen lassen. Aber was ist denn diese Kunst der freien Bindung? Wie lassen sich Freiheit und Bindung vereinen? Dieses Buch zeigt, wie Paare das gegenseitige Geschenk der Freiheit, ohne das die Liebe nicht gedeihen kann, mit Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in der Beziehung vereinbaren können.

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Michael Lukas Moeller

Die Liebe ist das Kind der Freiheit

Das Paar im Gespräch

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Keiner, den ich bisher fragte, bestritt das altfranzösische Sprichwort ‹Die Liebe ist das Kind der Freiheit›» (Michael Lukas Moeller). Doch macht uns diese Freiheit Angst. Sich wechselseitig freilassen und doch auf die Bindung vertrauen? Dazu fühlen wir uns zu unsicher. Wir unterstellen lieber, Bindung sei wechselseitiger Besitz. In kurzer Zeit ersticken wir so die Liebe. Dass Freiheit nicht Unverbindlichkeit heißt, kommt vielen nicht in den Sinn. Dass sie die Bindung vertieft, klingt unglaubwürdig … Und doch wissen wir alle, dass sich Gefühle nicht erzwingen lassen. Aber was ist denn diese Kunst der freien Bindung? Wie lassen sich Freiheit und Bindung vereinen? Dieses Buch zeigt, wie Paare das gegenseitige Geschenk der Freiheit, ohne das die Liebe nicht gedeihen kann, mit Verbindlichkeit und Verlässlichkeit in der Beziehung vereinbaren können.

Über Michael Lukas Moeller

Michael Lukas Moeller, geboren 1937 in Hamburg. Psychoanalytiker. 1973–83 Professor für Seelische Gesundheit in Gießen, hatte er seit 1983 den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne. Im Jahre 2000 erster Preisträger des Internationalen Otto-Mainzer-Preises für die Wissenschaft von der Liebe.

Michael Lukas Moeller verstarb am 7. Juli 2002.

Wer zur Entwicklung seiner Paarbeziehung Kontakt wünscht, wende sich an:

 

dyalog Fortbildung in Partnerschaft

gegründet von Prof. Dr. med. Michael Lukas Moeller

Célia Maria Fatia, M.A.

Nordendstraße 20A

60389 Frankfurt am Main

Tel.: 069/469 15 82

 

Die Internetadresse www.dyalog.de bietet Überblick und Termine zu den Angeboten an Zwiegesprächsseminaren, Paargruppen, Wochenendgruppen und weiteren Veranstaltungen.

Vorwort

Wer die Liebe hochhält,

handelt, hat aber keine Absichten.

Laotse[*]

Jede tiefe Liebe beginnt mit dem Zufall einer Begegnung. Psychoanalytiker glauben nicht gern an Zufälle. Zu viel stellt sich als unbewusste Handlung heraus. Dennoch bleibt nach Abzug unserer geheimen, uns selbst verborgenen Absichten ein unabsehbarer Rest an Zufall, der unser Leben bestimmt. Wir verleugnen ihn schon in unserer Geburt und erst recht in unserem Tod. Wer der Liebe ins Gesicht sieht, sieht Zufall auch dort.

Die Liebe ist die Kraft in uns, die Leben in allen seinen Formen entstehen lässt: unser Gefühl, wirklich da zu sein; unsere Kinder; unsere schöpferischen Werke; unser Spielen ohne nützliches Ziel. Liebe erkennt das Leben. Sie macht nicht blind – das tut Verliebtheit. Sie macht sehend. Deswegen heißt es in der Bibel: «Und Adam erkannte sein Weib Eva.»

Aber wir sehen mit dem Leben auch unser Sterben. Sein und Nichtsein, Glück und Unglück der Liebe erzeugen sich wechselseitig. Tod und Liebe sind zwei Seiten eines Geschehens. Beide heben uns auf. Wie der Zufall.

Das spricht nicht für Dahingehenlassen. Die große seelische Handlung der Liebenden ist ihr tiefes Erleben. So verstehe ich den Satz von Laotse. Dieses Erleben ist heute vielfach gefährdet. Unsere innere und äußere Unfreiheit – unter unserer Anpassung kaum noch zu spüren – verhindert die Liebe, die das Kind der Freiheit ist. Von selbst gelingt die Liebe in dieser Gesellschaft nicht. Wir müssen uns gute innere und äußere Liebesbedingungen erst schaffen. Das begründet die «Arbeit für die Liebe». Sie erwächst aus dem Abschied von der kindlichen Erwartung, uns falle das Glück stets von selbst zu. Mit meinem Buch will ich nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Tätigsein auffordern. Wann werden wir einsehen, dass solche «Liebesarbeit» so notwendig ist wie Trauerarbeit, wie Berufsarbeit?

Wer zur Liebe etwas sagen möchte, sollte auch von sich persönlich reden, meine ich. Das ist doppelt schwierig, weil der Wunsch, möglichst aufrichtig zu schreiben, schnell exhibitionistisch wirken kann und das ganz persönliche Reden von der Liebe manchem Leser vielleicht zu dicht wird. Im erotischen Erleben irritieren uns Scham und Schuld ohnehin mehr, als wir wahrhaben wollen. Dennoch wollte ich nicht in die Sachlichkeit fliehen und ein abgehobenes Buch «über» die Liebe verfassen.

Da es um die Liebe geht, danke ich allen, mit denen ich gelebt habe und lebe.

Karl Markus Michel vom «Kursbuch» hat mich ermutigt, offener und weniger akademisch zu schreiben.

Dass nun dieses Buch vorliegt, verdanke ich meinem Freund und Lektor Hermann Gieselbusch.

 

Frankfurt, im Dezember 1985

Michael L. Moeller

«Ich bin nicht du und weiß dich nicht»[*]

Briefe an Celia über die Zwiegespräche

«Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um ein praktischer Mensch zu sein, ist ein Mangel an Sensibilität.»

Fernando Pessoa[*]

Die Liebe, diese beziehungsstiftende Urkraft, kommt von selbst, wenn wir sie lassen. Warum lassen wir sie nicht? Warum veröden zu viele Beziehungen?

In den folgenden Briefen an meine Freundin Celia versuche ich, fünf Grundeinsichten mitzuteilen, die auch mein Paarleben veränderten. Jeder von uns macht seine Beziehung selbst, ist aber in einem riesigen, unbewussten Beziehungsraum eng mit dem anderen verflochten. Beides wollen wir nicht wahrhaben. Wenn wir das jedoch anerkennen, haben wir eine Chance, unsere Beziehungen lebendiger zu entwickeln. Der entscheidende Weg ist das wesentliche Zwiegespräch. Er bildet den ungestörten Raum, in dem wir unser Erleben wechselseitig einfühlbar machen können. Dazu gehören eine Sprache in Bildern und Geschichten und die Einsicht, dass wir viel weniger voneinander wissen, als wir ahnen.

Erster Brief

Liebe Celia,

nichts hat mich während der letzten Jahre in den mir wesentlichen Beziehungen freier gemacht als das langsame Zusammenwachsen einiger Grundeinsichten in das Paarleben – in mein eigenes, in das meiner Freunde und in das meiner Klienten. Fünf goldene Erkenntnisse. Ich verspreche dir kühn: Mit ihnen braucht keine Beziehung mehr zu misslingen. Sie entwickelt sich wieder: zu tieferer Bindung oder zu klarerer Trennung, in der eine Partnerschaft nicht wie üblich einfach abgebrochen, sondern gemeinsam aufgelöst wird. Diese Aussicht versetzt manchen Paaren zunächst einen kleinen Schock. «Entwicklung kennt keine Sicherheit», bemerkt Tschuang-tse trocken. Auch für mich ist das manchmal kaum auszuhalten. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben? Mir gefiel, was du dazu sagtest: dass dir wenigstens die Sicherheit bliebe, dich zu entwickeln. Wer ist denn auch ernsthaft an einer Beziehungskonserve interessiert? Ich jedenfalls nicht. Ich wünsche mir für meine Beziehungen eine Art Entscheidungshilfe, eine realistische Chance, sie möglichst befriedigend zu gestalten oder, wenn sich das als zu schwierig herausstellen sollte, in gutem Einvernehmen zu beenden.

Die Voraussetzungen für diesen Erkenntnisgewinn waren in meinem gelebten Leben und in meinem Beruf äußerst günstig. Doch reichten sie nicht aus: Erst die Beziehung zu dir hat mir in den letzten fünf Jahren die Augen geöffnet. Warum? Du bist so anders als ich: Portugiesin, Arbeiterkind, fünfundzwanzig Jahre jünger und Oberschulverweigerin. Klüfte in Kultur, Schicht, Alter und Ausbildung. Wie kann ich da nur einen Deiner Sätze so verstehen, wie du ihn meinst? Und: Hast du mich je verstanden? Trotz des offensichtlichen Unterschiedes zwischen uns hat es Jahre gedauert, bis ich dein Anderssein begriff. Aber gerade dieser große Abstand war es, der sozusagen sein Gegenteil erzeugte: die beziehungsstiftenden Zwiegespräche.

Die Blindheit für das Anderssein eines Menschen, der einem nahesteht, ist kein ausgefallenes Beziehungssymptom – das ist mir heute klar –, sondern eine allgemeine, typisch menschliche Täuschung. Jetzt erst weiß ich, dass ich nichts von dir weiß.

«Wissen ist seicht, Nicht-Wissen ist tief.» Wie schwer ist der einfache Tschuang-tse heute, in der wissenschaftsgeprägten Welt, zu verstehen.

Was sich in mir noch sehr vorläufig zusammenfügt, halte ich für den Kern einer Psychoanalyse der guten Beziehung. Sie muss die bisherige Psychoanalyse der konflikthaften Beziehung ergänzen. Denn nur mit einer Hoffnung, mit dem Bild der guten Beziehung, sind wir fähig, die in jeder Beziehung lauernden Ängste aufzunehmen und aufzulösen. Manchmal kommt es mir märchenhaft vor. So als hätte ich gleichsam einen Stein der Weisen zu verschenken. Er ist auch in deinen anderen Beziehungen zu verwenden: in der Familie, in Freundschaften, bei der Arbeit – vor allem aber in der Liebe. Er glitzert, dieser harte Brocken: ein Stein des Anstoßes – vor allem, weil man sich selbst begegnet.

In meinen atemlos kurzen Briefen an dich lasse ich weg, wie die Gesellschaftsmechanik unser aller Liebe in die heutige Kümmerform gebracht hat. Wir sind ja selbst diese Gesellschaft und haben keine Alternative. Ich möchte nur daran erinnern, dass die innige, tyrannisch intime Zweierbeziehung ein zwangsläufiges Ergebnis der kapitalistischen Industrialisierung ist, und komme im nächsten Brief direkt zur Sache.

Dein Michael

Zweiter Brief

Liebe Celia,

die fünf Erkenntnisse, von denen ich dir gestern schrieb, sind unterschiedliche Ansichten ein und derselben Gestalt – eben der guten Beziehung – und nur miteinander verständlich. Ich nenne sie dir in vorläufigen und unzureichenden Sätzen. Es fällt mir übrigens nicht leicht, persönlich und bei uns zu bleiben. Ich bin durch die Wissenschaft, die stets verallgemeinert und dadurch beziehungslos wird, verdorben.

Die gute Beziehung ist nicht, sie kann werden. Deswegen fange ich so an:

1. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, von der wechselseitigen Unkenntnis auszugehen und dich nicht mehr mit meinen Vorstellungen zu kolonialisieren.

2. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, unser gemeinsames unbewusstes Zusammenspiel ernst zu nehmen und damit zu erkennen, dass ich verantwortlich, aber nicht unabhängig bin.

3. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, wesentliche Zwiegespräche als notwendig anzusehen und zu verwirklichen; nur so kann ich lernen, mich und dich ernst zu nehmen; und du kannst mir nicht wesentlich sein, wenn ich mir nicht wesentlich bin.

4. Ich möchte in unserer Beziehung lernen, mich in konkreten Erlebnissen und nicht in Begriffen zu erläutern, weil Bilder und Geschichten erst wirklich tiefgehend und umfassend wiedergeben können, wer ich bin – und wer du bist.

5. ;Ich möchte in unserer Beziehung lernen, zu erkennen, dass ich mir auch die Gefühle mache, von denen ich gern annehme, dass du sie mir machst – zum Beispiel Kränkung und Schuldgefühle –, oder von denen ich glaube, dass sie mich einfach überkommen – wie etwa Angst und Depression.

Gemeinsam sind diesen «Lernzielen» zwei Einsichten: erstens, dass ich meine Beziehung insgesamt sehr aktiv gestalte, auch dort, wo ich denke, es passiert eben so. Vor allem: Auch meine Liebesempfindungen mache ich zu einem großen Teil selbst. Das gilt für alle, auch wenn sie es noch nicht aus eigener Erfahrung wissen. Zweitens geht es darum, dass wir uns in Partnerschaften viel mehr austauschen und abstimmen müssen, als wir es ahnen.

Keiner bezweifelt das altfranzösische Sprichwort «L’amour est l’enfant de la liberté» – die Liebe ist das Kind der Freiheit. Für mich ist es eine tiefe Wahrheit. Sie ist schön. Und sie ist entsetzlich. Denn wir richten die Liebe zugrunde, indem wir in unseren Beziehungen Bindung mit Besitz des anderen verwechseln. Wir verwandeln sehr schnell das zu jeder Liebe gehörende Gefühl, mit dem geliebten Menschen zusammen sein und ihn in dieser Gefühlsform «besitzen» zu wollen, in den ausgesprochenen, ja oft tätlichen Anspruch: «Du gehörst mir.» Vermutlich ist es der Wunsch nach Sicherheit, das heißt, es ist unsere Unsicherheit, die auf diese Weise die Freiheit in der Partnerschaft in Unfreiheit verwandelt und die Liebe ganz gezielt in tausend kleinen Alltagshandlungen zum Schwinden bringt. Wollen wir die Liebe freilassen, geht es also darum, uns wechselseitig zu befreien – genauer gesagt: die äußere und innere Unfreiheit zu mindern, die wir unter dem gesellschaftlichen Zwang, uns selbst unter Kontrolle zu halten, täglich nachproduzieren. Diese Befreiung beginnt – und endet – mit dem Entschluss, uns so zu akzeptieren, wie wir sind.

Dein Michael

Dritter Brief

Liebe Celia,

wie beginne ich nur mit der unendlich vielfältigen ersten Einsicht? – Der andere ist anders. Deshalb heißt er ja so. Eine Binsenweisheit. Doch keiner lebt nach ihr. Das verblüfft mich heute am meisten. Jedes Paar, das zu mir kommt, verwickelt sich binnen kurzem in die altbekannte Fehde: «Nein, so war es überhaupt nicht, es war vielmehr so.» Sie ringen um die Wahrheit. Die entspricht in der Regel der jeweils eigenen Auffassung. Dazu sage ich dann, sie hätten ja auch recht. Wir haben nur eine einzige Realität: die wir erleben. Das ist unsere Wirklichkeit und Wahrheit. Was wir dabei allerdings pausenlos verleugnen, ist die gleichrangige Wahrheit des anderen. Und die ist eben anders. Es kommt also in der Beziehung nicht darauf an herauszukriegen, wie es wirklich gewesen ist, sondern sich zu fragen: Wie hast du es erlebt? Wie ich? Die beiden Erlebniswelten wechselseitig wahrzunehmen, das ist entscheidend. So und nur so machen wir unsere Bindung selbst.

Die subjektive, deine und meine, Wirklichkeit ist wesentlich. Es bringt uns nicht weiter, die objektive Realität festzustellen. Was wollen wir denn beide mit einer über uns schwebenden objektiven Wahrheit anfangen? Ich habe nur eine Antwort: Mit der wollen wir von uns selbst ablenken, uns selbst vertuschen. Diese objektive Wahrheit ist belanglos. Bedeutsam ist: zu zweit mit beiden Wirklichkeiten zu Rande zu kommen. Die meisten Paare erleben einen Hinweis darauf wie eine Erlösung. Sie machen endlich die ersten Schritte, hinter der Mauer der sogenannten Realität sich selbst zu suchen. Nur Männern fällt es schwer einzusehen, dass Fakten eine Spezialform der Phantasie sind. Eine Eheforschung aus England ergab, dass fast alle Ehekräche auf wechselseitigen Missverständnissen beruhen. Jetzt genauer gesagt: auf der Unfähigkeit anzuerkennen, dass der andere seine eigene Wirklichkeit hat. Die Blindheit gegenüber dem Anderssein des anderen gilt nicht nur zwischen Mann und Frau, sondern ebenso in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen untereinander. Es ist deswegen eine gefährliche Illusion, auf die «gleiche Wellenlänge» zu setzen.

Die erste Einsicht lässt sich in einen lapidaren Satz zusammenfassen: Deine Beziehung ist nicht meine Beziehung, obwohl es um dieselbe geht. Das macht mir manchmal Schüttelfrost. Erst wenn ich entdecke, dass die Erkenntnis «Ich bin nicht du und weiß dich nicht» die beste Voraussetzung ist, sich verstehen zu lernen, wird mir wohler.

Dein Michael

Vierter Brief

Liebe Celia,

wie wirkt es sich aus, wenn ich deine Andersartigkeit nicht annehme? Ich wähne mich in einer heilen Welt mit dir, in einer Lebenswohnung, in einer einzigen Realität. Eine schöne, wärmende Illusion. So einfach, so bequem.

Das Bild dieser lauschigen Hütte reicht allerdings nicht. Denn wenn ich meine Wirklichkeit über dich ausbreite, wenn ich also zu wissen meine, wie du erlebst, ohne dich zu fragen, dann mache ich unversehens meine Welt zu deinem Maßstab. Eine unbemerkte Unverschämtheit. Sie ist bei allen Paaren die tägliche Regel.

Psychoanalytiker und andere Helfer sind aus beruflicher Verbiegung davon besonders oft befallen und ebendeswegen durch vermehrte Beziehungsstörungen gekennzeichnet. Auch du kannst dieses unbemerkte Absolutsetzen der jeweils eigenen Wirklichkeit wahrscheinlich in deinen Beziehungen wiederfinden. Heute fasse ich es kaum noch, mit welcher Unverfrorenheit ich einst meine Partnerinnen und Partner nach meinem Bild von ihnen gedeutet und festgelegt habe. Ohne dass wir es merken, setzen wir einfach voraus, dass wir wüssten, was der andere fühlt, denkt, will, wünscht, tut. Ich nenne das heute die Kolonialisierung des Partners. Es handelt sich um den Versuch, den anderen ins eigene Weltreich sozusagen als Provinz einzugliedern. Wenn er das nicht will, ist er lieblos. Kein Wunder, dass auch sexuelle Störungen die Folge sind. Fast jeder Krach in der Beziehung ist der Kampf darum, wer wen kolonialisiert. Dieser Krieg hat kein Ende in sich. Eine Scheinlösung ist die Unterdrückung eines Partners. Einer gibt irgendwann nach. Die Ruhe im Hause ist dann ein gärender Unfrieden. Denn auf diese Weise haben wir uns selbst die Grube gegraben. Wir können uns nicht mehr einfühlen, nicht mehr aufeinander abstimmen. Wir können unsere wesentlichen Bedürfnisse gar nicht mehr äußern. Die Enttäuschung der unterdrückten Bedürfnisse bleibt unbemerkt. Entsprechend sammeln wir unterdrückten Zorn in der Beziehung an. Wir blockieren die Selbstentwicklung von uns beiden. Unsere Aggressivität lässt die Schuldgefühle ansteigen und verengt schließlich die Beziehung, bis sie versandet. Da gedeiht natürlich auch keine Erotik.

Wir übersehen, dass die Beziehung kein Zustand ist, sondern eine immerwährende Entwicklung. Wenn wir die Andersartigkeit des anderen nicht wahrnehmen, leiten wir eine Beziehung ein, die über Jahre schließlich kaputtgehen muss. Zum Glück, möchte ich hinzufügen. Denn noch fürchterlicher als kaputte sind jene Scheinbeziehungen, die nur noch aus einem glatten Nebeneinander der Partner bestehen und ein Miteinander bestenfalls in der Verwaltung des Alltags kennen. Nach meinen Beobachtungen ist dies die häufigste Eheform. Ich vermute inzwischen: Die geheime Absicht vieler Ehepartner ist es, gerade so viel zusammen zu sein, dass sie sich nicht kennenlernen können.

In einer solchen Scheinbeziehung sorgen wir wechselseitig ununterbrochen für Enttäuschungen. Je mehr ich aber enttäuscht bin, desto mehr fixiere ich mich auf meine unerfüllten Bedürfnisse und damit auch auf mein Weltbild. Aus der Enttäuschung stammt die Aggressivität. Es ist ungeheuer, welcher Hass sich über Jahre in einem Paar ansammelt. Er gipfelt im Paar-Rassismus. Ich beginne die Welt des anderen zu verachten, die mir mit ihren ständigen Übergriffen so lästig wurde und doch auch so fremd blieb. Jeder Rassismus betreibt schließlich die Auslöschung des anderen.

Bei länger bestehenden Beziehungen ist das die schwierigste Aufgabe: diesen Hass und die Missachtung, hinter der eine große Trauer über das versäumte Leben steht, gemeinsam aufzuarbeiten. Bei denen, die es wollen, kommt oft jede Hilfe zu spät. Die meisten aber rühren gar nicht daran. Ein trauriges Ende. Hoffentlich ersparen wir es uns.

Dein Michael

Fünfter Brief

Liebe Celia,

auch wenn ich es für fruchtbarer halte anzunehmen, dass du dich, mich, unsere Beziehung und die Welt anders erlebst als ich, reicht das noch lange nicht, um diese Revolution zu zweit zustande zu bringen, die ich in meinen Beziehungen als große Befreiung erlebt habe. Es gehören vier andere Einsichten unauflösbar dazu.

Die zweite Einsicht lautet: Mein Verhalten und dein Verhalten sind stets doppelt bedingt: durch mich und durch dich. Dieses Zusammenspiel unseres Unbewussten, unseres unbewussten Handelns – fachsprachlich Kollusion –, bestimmt auf ungeahnte Weise fast alles, was ich tue und was du tust – vom Denken und Entscheiden bis zum Fühlen und Träumen. Erst in den Paarselbsterfahrungsgruppen habe ich bemerkt, wie sehr zum Beispiel Träume der Partner – meist aus derselben Nacht – um dasselbe unbewusste Thema kreisen. Aber welche Paare tauschen ihre Träume miteinander aus? Partner, die eine wesentliche Beziehung zwischen sich fühlen, sind keine ganz unabhängigen Individuen mehr. Jeder ist unbewusster Mittäter bei den Handlungen des anderen. Das Unbewusste beider Beziehungspartner kommt aus einem gemeinsamen Raum, ist eng miteinander verwoben. Denn die unbewusste Wahrnehmung ist etwa zehnmal umfangreicher als die übliche bewusste Aufmerksamkeit.

Stell dir vor: Du nimmst von mir zehnmal mehr wahr, als dir bewusst ist – und ich von dir. Deshalb sind in einer Partnerschaft die Gefühle, die aus den unbewussten Wahrnehmungen und aus dem riesigen Raum der unbewussten Beziehung stammen, viel wesentlicher als die Urteile des Verstandes. Nur manchmal wird ein Teil der unbewussten Vorgänge in uns bewusst – bei sogenannten Übertragungen oder bei der Abwehr von Ängsten. Wenn ich dich so erlebe wie meinen jüngsten Bruder und du mich wie deinen älteren, dann entspricht das einer wechselseitigen unbewussten Abstimmung.

Die wechselseitige unbewusste Beziehung vollzieht sich sehr schnell und ohne grammatisch und logisch geregelte Sprache: durch kleine Bewegungen, durch Veränderungen im Mienenspiel, durch den Tonfall beim Reden, durch Gesten und Bewegungsfolgen. Jede Partnerwahl ist in dieser Weise unbewusst bestimmt. Die «Liebe auf den ersten Blick» gibt einen Eindruck von der Schnelligkeit des unbewussten Austausches. Aber das ist nicht nur am Anfang so, sondern jederzeit in einer bestehenden Beziehung. So erzeugen wir in unbewussten Handlungen auch all unsere Stimmungen, die unserem Bewusstsein vom Himmel zu fallen scheinen. Zu zweit können wir auch viel besser das, was uns Angst macht, aus dem Bewusstsein verdrängen. Doppelt genäht hält immer besser.

Die für den Alltag bedeutendste Folge dieser Einsicht ist, dass wechselseitigen Vorwürfen, aber auch Selbstvorwürfen oder Schuldgefühlen der Boden entzogen wird. Ich kann dir nichts vorwerfen, weil ich immer selbst beteiligt bin an deinen Handlungen. Mit Vorwürfen oder Selbstbezichtigungen versuchen beide immer wieder, nur einen Partner zur einzigen Ursache zu machen. Diese moralisch richtende Haltung entpuppt sich als Abwehr der wechselseitigen Verflechtung und Abhängigkeit.

Dein Michael

Sechster Brief

Liebe Celia,

was können wir tun? Das führt zur dritten Einsicht. Es bleibt nur ein Ausweg, und der ist auch noch der beste: Wir müssen uns wechselseitig erläutern, das heißt wirklich mitteilen. Auf diese wesentlichen Gespräche müssen wir uns zunächst einlassen. Nur so lassen sich vier Bereitschaften gleichzeitig vereinen: dass ich mich öffne und äußere – was keinem Menschen leichtfällt –, während du mir zuhörst, und dass ich aufmerksam bin und dir zuhöre, wenn du von dir sprichst.

Plötzlich wird klar, dass eine solche Beziehungsform ein gemeinsames Handeln ist – und eine Beziehung ist praktisch nichts anderes. In diesen Zwiegesprächen kommt sie zustande, gerät in Bewegung und entwickelt sich. Das verändert auch außerhalb der vereinbarten Zeit das gesamte Verhältnis zueinander. Die wesentlichen Gespräche brauchen eine ungestörte Situation und manches mehr. Daher mein Rezept für solche Zwiegespräche – zum Selbermachen:

Wenigstens einmal in der Woche ein Gespräch. Möglichst regelmäßig, sonst entwickelt sich nichts. Die Wiederholung ist das Geheimnis des Erfolges. Sie gibt Zeit zum Lernen und zum Umlernen; sie lässt der Beziehung Raum, sich in der Tiefe zu entfalten; der rote unbewusste Faden geht nicht verloren. Keine Störung: kein Telefon, kein Essen, keine Kinder und keine Überraschungsbesuche. Nicht länger als eineinhalb bis zwei Stunden, sonst fördert die unbemerkte Ermüdung aggressive Themen. Jeder über sich. Ein offenes Gespräch. Keine Kolonialisierungsversuche. Kein bohrendes Fragen, kein Drängen. Zwiegespräche sind kein Offenbarungszwang. Äußern und Zuhören möglichst gleich verteilen. Schweigen und Schweigenlassen, wenn es sich ergibt.

Fast immer geht zu Anfang alles schief. Zwei aber lernen es mit der Zeit besser als einer allein. Wir behindern uns ja nicht nur, wir unterstützen uns auch manchmal. Jeder entwickelt sich selbst und hilft dadurch dem anderen, sich selbst zu entwickeln. Im Gelingen und Misslingen sind wir uns wechselseitig ein Modell. Wir können uns damit dem Ideal einer guten Beziehung annähern. Für mich heißt das: dass jeder sich in der Beziehung besser verwirklichen kann als allein. Landauf, landab ist das Gegenteil der Fall: Die Selbstverwirklichung wird behindert, wo es nur geht.

Diese einfachen Gespräche, eigentlich das Selbstverständlichste der Welt, rufen Angst hervor und seltsame Schwierigkeiten, auch wenn die Partner so weit sind, sie für sinnvoll, ja notwendig zu halten. Diese Barrieren gleichen dem Widerstand gegen eine psychoanalytische Therapie. Zunächst geht also nichts. Alle träumen davon abzuwarten, bis sie spontan in der richtigen Stimmung sind oder bis sich eine gute Gelegenheit im Alltag bietet. Sie bietet sich aber fast nie von selbst. Spontaner nämlich ist der unbewusste Widerstand. Es genügt zwar ein ruhiger halber Abend. Aber wer hat den schon? Entweder müssen wir noch arbeiten, oder wir haben was vor, oder wir sind zu erledigt, oder wir sehen überhaupt lieber fern.

Dein Michael

Siebter Brief

Liebe Celia,

die wesentliche Beziehung – das ist die vierte Einsicht – hat auch eine andere Sprache. Wir sprechen ja selbst über unsere Gefühle in allgemeinen, abstrakten Begriffen.

Als du mich neulich am Telefon «lustig» genannt hast und ich das auch fand, war ich immerhin schon so weit nachzufragen. Das Ergebnis überraschte mich: Du fandest mich nicht nur in ganz anderen Verhaltensweisen lustig, als ich es annahm, sondern du meintest mit «lustig» überhaupt etwas anderes.

Wir verführen uns mit der abstrakten Sprechweise zu scheinbarem Verstehen, laden zu Projektionen ein, die wir nicht einmal bemerken können, und vergiften manchmal durch unerkannte Missverständnisse die ganze Beziehung. Anders wird es, wenn wir konkret die bildliche Vorstellung oder die kleine erlebte Szene schildern, die stets in uns aufkommt, sobald wir einen Gefühlsausdruck wie «gut leiden mögen» oder «eklig finden» verwenden. Gleich geht das Verstehen tiefer, wird lebendiger und weniger missverständlich. Bildersprache also statt Begriffssprache.

Und nun zur letzten Einsicht. «Willst du etwas gemacht haben, dann tue es selber.» Ein kanadisches Sprichwort, das es in sich hat. Tue es, wenn du etwas fühlst, und warte nicht auf den anderen. Mein Gefühl ist schon ein Impuls zu handeln. Wenn ich den erst in mir blockiere, um dann beleidigt zu sein, wenn du ebenfalls nichts tust, dann schiebe ich einfach dir in die Schuhe, was ich selbst «getan» habe. «Du tust ja überhaupt nichts», lautet dann mein Vorwurf.

Eine weitere gefährliche Falle in der Beziehung ist meine Erwartung, dass der andere meine Verfassung von selber merken solle. Das ist in der Regel ein maßloser Anspruch, eine Überforderung.

Das Sprichwort reicht aber noch tiefer: Selbst meine Passivität ist meine aktive Leistung. Viel mehr, als mir bewusst wird, mache ich selbst – nicht nur die Personen in meinen Träumen, die ich nicht bin; nicht nur meine Fehlleistungen; auch meine Liebe, meine Leidenschaft, mein ganz konkretes sexuelles Erleben; und – ich sagte schon – auch Kränkung, Angst, Depression und Schuldgefühle, die ich so gern auf dein Verhalten zurückführe. Was beabsichtige ich damit, dass ich gekränkt bin? Diese Frage nach den geheimen Absichten in mir ist zentral. Ich mache mir Kränkung, Angst und Depressionen mit deiner Hilfe selbst.

Ich bin verantwortlich für das, was ich fühle. Das heißt für mich: Ich versuche, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Ich las bei dem jüdischen Philosophen Martin Buber diesen Satz: «Es kommt einzig darauf an, bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern.» Bei sich beginnen, aber nicht bei sich enden, das ist gemeint. «Von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen.» Das ist härter, als ich dachte.

Ich bin überzeugt davon, dass die Liebe das Kind der Freiheit ist. Und ich habe bisher – Entwicklung kennt keine Sicherheit – die Liebe für das Wesentlichste im Leben gehalten. Wenn ich aber frei sein und Freiheit lassen will, muss ich auch zu mir stehen. So läuft schließlich alles auf die eine Frage hinaus: Bringe ich so viel Mut auf?

Dein Michael

Achter Brief

Liebe Celia,

anderthalb Jahre sind seit dem ersten Brief vergangen. Ich habe in dieser Zeit manches über Zwiegespräche gelernt. In Beziehungen, die mir viel bedeuten, möchte ich Zwiegespräche nicht mehr missen. Warum? Ich erlebe den anderen in solchen Gesprächen erst wirklich. Die Beziehung verwandelt sich mit der Zeit durch die gemeinsame Aktivität in eine tiefe Bindung, der nichts mehr von Klammern oder Einengung anhaftet. Sie befreit die Liebe nach und nach vom Schutt der Missverständnisse und unbemerkten Enttäuschungen. Es ist mir, als sähe ich auf einmal klar in die offene Weite. Das heißt aber auch: Die Reise geht ins Ungewisse. In den Gesprächen entsteht immer mehr, als jeder Einzelne hätte vorbringen oder voraussehen können. Zwiegespräche sind stets für eine Überraschung gut. Gerade das ist manchem nicht geheuer.

Zwiegespräche, die ich selber über lange Zeit oder nur kurzfristig mit anderen führte, sind unterschiedlich wie Tag und Nacht. Bei regelmäßigen, jahrelangen Zwiegesprächen erlebe ich am deutlichsten, wie sehr wir unsere Bindung selber machen und wie wenig eine Beziehung ihren unabänderlichen, schicksalhaften Verlauf nimmt. Die Macht des Zufalls bleibt trotzdem ungeschmälert.

Marina hielt die Gespräche anfangs für ein «Beglückungsprogramm». Das sagten auch andere mit anderen Worten: Es klinge so, als sei alles machbar.

Dazu möchte ich sagen: Wir vergessen allzu gern, dass die Beziehung in jedem Fall von uns «gemacht» ist. Von wem denn sonst? Eine Beziehung kann gar nicht anders als machbar sein. Sie ist durch und durch unser Werk. Unser Handeln ist uns nur zum großen Teil unbewusst. Wir stellen uns fälschlich vor, wir wären passiv oder gar Opfer. Wir kriegen nicht richtig mit, was wir tun. Aber wir können es herausbekommen, wenn wir darauf achten. Das ist in Zwiegesprächen meines Erachtens am besten möglich.

Natürlich ist nicht alles machbar. Das meiste ist Zufall. Es ist nicht zu fassen, wie sehr wir ihn verleugnen. Aber es ist dennoch viel mehr zu machen, als wir annehmen. Davon bin ich inzwischen überzeugt.

Nur eine Voraussetzung muss erfüllt sein: Die beiden Partner müssen miteinander wenigstens so viel Beziehung aufnehmen, dass sie ihr Verhältnis erleben und durcharbeiten können. Kurz: Es müssen wenigstens Zwiegespräche zustande kommen. Und das ist eben nicht gerade die Regel. Wir beide haben das ja selbst erfahren. Wenn nicht einmal dieses Minimum gegeben ist, bleibt das Paar entscheidungsunfähiger. Es kann sich weder binden noch trennen, geschweige denn entwickeln. Leider ist das der Normalfall, wenn ein Paar zu mir in die Praxis kommt.

Die Zwiegespräche wirken am stärksten, wenn sie regelmäßig stattfinden. Wie viele Paare, die zu mir in die Praxis kommen, stellen auch Marina und ich fast belustigt fest, wie der Pegel unserer unterschwelligen Gereiztheit im Alltag ansteigt, wenn ein Zwiegespräch ausgefallen ist. Kein Wunder: Uns fehlen die Abstimmung unserer Bedürfnisse und die wechselseitige Einfühlung in die momentane innere Lage des anderen.

Dein Michael

Neunter Brief

Liebe Celia,

die Zwiegespräche habe ich auch bei kurzen Begegnungen mit Freunden und Freundinnen versucht: Mit Karl, mit Christiane, mit Manfred und mit Bine ging es zu meiner Überraschung leicht in die Tiefe. Ich bin froh, diesen Weg zu kennen, und habe das Gefühl, wirklich Wesentliches erfahren und ausgetauscht zu haben. Selbst mit dem sechsjährigen Lasi gelang kürzlich ein echtes Zwiegespräch: für zehn Minuten, auf seinen Wunsch. Ich war ganz verblüfft. Zwiegespräche zwischen Eltern und Kindern sind ebenso sinnvoll wie Zwiegespräche zwischen Erwachsenen. Sie stärken das Familienleben. Besucht mich jemand von außerhalb für einige Zeit, wünsche ich mir ein Zwiegespräch. Meine Begegnungen werden dadurch lebendiger und reicher – ganz anders als meine früheren Treffen, in denen ich mit meinen Freunden auch nicht nur über Belangloses sprach, sondern versuchte, wesentlich zu bleiben.

Monate nach einem einzigen Zwiegespräch während eines Besuches habe ich Bine nach ihren damaligen Gefühlen gefragt. Was sie empfand, scheint mir typisch: Sie sei sehr aufgeregt gewesen. Es sei ihr abenteuerlich, aber auch bedrohlich vorgekommen, vor allem, weil sie nicht wusste, was da eigentlich passierte. Unser gemeinsames Vertrauen habe ihr über ihre Angst hinweggeholfen. Sobald sie zu sprechen angefangen hätte, sei die Beklommenheit geschwunden. Inzwischen probiert sie in ihren Beziehungen mit wechselndem Erfolg die Zwiegespräche aus. Sie nennt sie «lebensbereichernd». Sie meint allerdings, für die meisten Menschen seien sie sehr ungewohnt. Vielleicht gingen sie sogar lieber zum Psychoanalytiker, weil sie sich da noch am Helfer festhalten könnten und nicht selbst so sehr ausgesetzt wären. Die Angst kann sich auch sehr viel stärker zeigen. Du hast selbst beobachtet, wie dir plötzlich und unerklärlich Worte und Gedanken entschwinden, die du gerade noch im Sinn hattest. Ich achte auf solche Momente bei mir sehr. Sie zeigen eine Verdrängung im Augenblick ihres Entstehens an. Dahinter steht eine Angst, die mit dem, was da entschwindet, verbunden ist.

Dein Michael

Zehnter Brief

Liebe Celia,

ich habe es natürlich leicht, für die Zwiegespräche zu sein, weil die Paare, die in meine Praxis kommen, mir zur Genüge vormachen, welche Ängste in welcher Weise die Gespräche be- oder gar verhindern.