Die Liebe zu so ziemlich allem - Christine Vogeley - E-Book

Die Liebe zu so ziemlich allem E-Book

Christine Vogeley

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Beschreibung

In einer hübschen kleinen deutschen Stadt gibt es ein Museum, das seinesgleichen sucht, so viele seltsame Exponate stehen dort herum und in geheimnisvoller Verbindung zueinander. Carlotta Goldkorn, die nette, tüchtige, überarbeitete Kuratorin, bereitet dort gerade die nächste Ausstellung vor und sitzt zu diesem Zweck dem Stockholmer Literaturprofessor Gösta Johansson gegenüber, der dem Museum ein Gemälde leihen will. Ja, natürlich. Liebe auf den ersten Blick. Und gleich darauf: eine Kettenreaktion dramatischer, aufwühlender Ereignisse mit (nicht gleich erkennbarem) Glückspotential: ein Paar fürs Leben, ein gelüftetes Familiengeheimnis, ein gerettetes Kind und mehrere Leute, die endlich zu sein wagen, die sie sind.

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Christine Vogeley

Die Liebe zu so ziemlich allem

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

In einer hübschen kleinen deutschen Stadt gibt es ein Museum, das seinesgleichen sucht, so viele seltsame Exponate stehen dort herum und in geheimnisvoller Verbindung zueinander. Carlotta Goldkorn, die nette, tüchtige, überarbeitete Kuratorin, bereitet gerade die nächste Ausstellung vor und sitzt zu diesem Zweck dem Stockholmer Literaturprofessor Gösta Johansson gegenüber, der dem Museum ein Gemälde leihen will.

Ja, natürlich. Liebe auf den ersten Blick.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoPrologThe most curious August-Gayette-MuseumZu Hause angekommenGummifliegenStatische ProblemeBjörkholmSchildkrötenpädagogikLovisaNilsTelefonateDie Reise nach NeuseelandEntdeckungenNoch mehr EntdeckungenFreundinnen, FreundeGeschenkEin Brief und andere OffenbarungenRegen bringt SegenWer ist das, ich?Kleines Tier, große FolgenZiemlich viel von allemAbgesangDer Allosaurus grinstJa, Bilder können sprechenDanke!
[home]

Für Georg

[home]

The best reward comes from the things done seriously

(Was du mit Ernsthaftigkeit machst,

bringt die größte Belohnung)

Spruch aus einem chinesischen Glückskeks

[home]

Nein, es stimmt nicht, dass die junge Frau, die der Maler da in dieser einen Minute mit seinem Blick eingefangen hat, für alle Zeiten auf dem Gemälde sitzen bleiben wird.

Das Bild, Öl auf Leinwand, ist ziemlich groß, so etwa eins fünfzig mal ein Meter, es zeigt uns einen Garten im sommerlichen Schweden, wir schreiben das Jahr 1894. Die junge Frau heißt Lovisa Johansson, wie wir auf dem kleinen Schild am goldenen Rahmen lesen können.

Durch die Blätter der Birke fällt Sonnenlicht, es flirrt in Lovisas braunem Haar. Sie trägt ein weißes Kleid, die Schatten in der Tiefe seiner Falten sind fast blau. Sie hält ein Buch in der Hand, sie blickt uns nicht an, liest konzentriert, scheint in die Geschichte versunken.

Aber nur noch für ein paar Sekunden.

Auf einmal hört man Birkenblätter rauschen, Gelächter dringt aus einem offen stehenden Küchenfenster, und irgendwo zerschellt Porzellan. Es riecht plötzlich nach Kaffee.

Unter unseren Füßen ist kein Museumsfußboden mehr, sondern eine Wiese. Und wir sehen, wie Lovisa sich aufrichtet, ihre Lektüre zusammenklappt und noch ein paar Sekunden lang versonnen ihr Buch betrachtet. Die Buchstaben, die auf dem dunkelroten Leder in Goldprägung leuchten, können wir nicht entziffern. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihre schmalen Hände, Lovisa sieht sich um, steht auf und geht langsam zu dem Sommerhaus, das halb versteckt hinter den Birken liegt.

* * *

Rote Welle. Na wunderbar.

Carlotta trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Es war klar, sie würde zu spät kommen. Es war nicht klar, ob der Stockholmer Gast ihr das übelnehmen würde.

Der Schwede an sich ist ein höflicher Mensch, und dieser Schwede war auch noch die ganze Nacht durchgefahren, mit einem wertvollen Gemälde im Kofferraum, um es ihr heute als Leihgabe zu überreichen.

Und dann kam Vizemuseumschefin Carlotta Goldkorn zu spät. Nicht gut. Ziemlich unhöflich.

Vor ihr hatte sich einen längere Schlange gebildet, ein Getränkelastwagen blockierte die rechte Spur. Immerhin konnte man von hier aus schon das Museum sehen. In zwei Kilometern Entfernung, oben auf dem Fichtelberg, thronten die kleine Ritterburg und der später angebaute Glaspalast.

Oh nein. Da vorne blinkte ein gelbes Warnlicht der Fichtelbacher Straßenverkehrswacht.

Carlottas Blick fiel auf einen kleinen, rothaarigen Jungen, der auf dem Bürgersteig mit hängendem Kopf bergauf trottete und dabei sein Fahrrad schob. Beide Reifen waren platt. »Retet die Waale« stand auf seinem Schulranzen, mit blauem Filzschreiber, die schwere Tasche zog seine Schultern herunter.

Ungeachtet der wütenden Huperei lenkte Carlotta ihr Auto an den Straßenrand, blieb stehen und öffnete das Fenster der Beifahrerseite.

»Ja, Leo, was ist denn passiert?«

Leo blickte auf, sein Gesicht erhellte sich bei Carlottas Anblick. Er zog die Nase hoch. »In der Schule haben sie das gemacht. Maximilian und seine Freunde, glaub ich. Ich hab’s aber nicht gesehen. Ich will ins Museum zu Mama, ich kann heute im Café essen.«

»Komm, mach dein Rad da vor der Apotheke fest und steig ein. Die Mama kann das doch heute Abend mit dem Lieferwagen mitnehmen.«

Leo nickte, lächelte zaghaft, schloss sein Rad ab, zog erleichtert den schweren Ranzen vom Rücken und krabbelte auf den Rücksitz. Carlotta fädelte sich wieder in den Verkehr ein, warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Jetzt war sie zehn Minuten über die Zeit.

»Onkel Henri fragt mich öfter, wann du wieder in sein Atelier zum Schnitzen kommst, Leo!«

Sie suchte seine Augen im Rückspiegel. Sein sonst so offenes Kindergesicht war seit einigen Monaten dunkel und bedrückt.

Er sagte nichts, aber Carlotta kannte die Antwort. Leos Mutter Emily, die mit großem Erfolg das Museumscafé führte, hatte seit ein paar Monaten wieder einen festen Freund. Und dieser Friedrich wusste, was für Leo richtig und wichtig war.

Nämlich Fußballtraining.

Fußball in all den Sekunden, Minuten und Stunden, die Leo vorher mit Staunen, Holzschnitzen, Käfersammeln und Wolkenzählen verbracht hatte. Leo war ein ungewöhnliches Kind, ein leiser, intensiver Beobachter, kein Torwart oder Stürmer.

Carlotta seufzte. Sie musste mit Emily reden. Emily war ein kluger Mensch, aber sie hörte zu sehr auf Friedrich, diesen Zwangsbeglücker, der immer wusste, was für andere gut war.

Beim Blick auf die Uhr zuckte sie zusammen.

»Oh Gott, Leo, gib mir mal bitte mein Handy aus der Tasche! Ja? Sebastian? Sei so gut, koch dem Schweden einen Kaffee und sag der Chefin, dass ich in drei Minuten da bin. Halleluja. Nein, alles okay, ich schaff’s nur einfach nicht pünktlich. Bis gleich.«

* * *

»Frau Goldkorn, Professor Johansson wartet auf Sie! Sie sollten um halb elf hier sein und nicht um elf! Also so geht das nicht!«

Die laute Stimme durchbrach die museale Stille wie klirrendes Porzellan. »Frau Goldkorn! Eine halbe Stunde! Das hier verlangt doch von jedem vollen Einsatz!« Es hallte weit durch den hohen Raum. Einige japanische Besucher blickten mit offenem Mund nach oben. Ein paar deutsche Besucher sahen unwillkürlich auf ihre Armbanduhren und stellten unabhängig voneinander fest, dass es erst Viertel vor elf war.

Museumsdirektorin Jelena Gundrich stand ganz oben im überdachten Lichthof ihrer Wirkungsstätte, am Geländer des dritten Stockwerks, und breitete die Arme aus.

Ein idealer Klangraum. Hätte Jelena Gundrich von dort oben eine Arie gesungen, wäre das einigermaßen passend gewesen. Jedenfalls passend zu ihrem Gewand aus krokodilfarbener Seide, dem gigantischen Türkisschmuck und den aufgerissenen Augen. Und passend zu der hohen Glaskuppel, die auf schmiedeeisernen Säulen ruhte.

Wie in einem altehrwürdigen Pariser Kaufhaus umlief ornamentales Geländer auf jeder Etage die Emporen des großen Lichthofs. Die Blicke der Besucher wanderten hin und her zwischen der dramatischen Erscheinung in der oberen Etage und der dunkelhaarigen Frau, die auf Turnschuhen die Treppen hinaufhastete, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.

Bitte nicht schon wieder ein öffentlicher Auftritt. Hast du eben »voller Einsatz« gesagt, Gundrich? Voller Einsatz! Ausgerechnet!

»Ich habe vorhin … angerufen und Bescheid gesagt. Ich stand … im Stau!« Carlotta keuchte, war jetzt bereits in der zweiten Etage. Sie bemühte sich, einerseits verstanden zu werden, andererseits die museale Stille nicht allzu sehr zu durchsägen. Vergeblich. Alle japanischen Augen ruhten auf Carlotta.

»Dann müssen Sie eben früher losfahren! Die Arbeit türmt sich bis zur Decke!«, schrie die Chefin. Die Japaner sahen wieder nach oben. »Ich kann mich doch nicht um alles kümmern!«

Jetzt blickten die Japaner gespannt auf Carlotta. War das am Ende ein Animationsprogramm des Museums? Ein Kunstprojekt? Würde sich die Frau mit den Turnschuhen gleich das Hemd aufreißen und gequält sopranieren? Begleitet von einem Mandolinenvirtuosen, der vielleicht schon hinter der Faustkeilvitrine lauerte? Zu diesem großartigen Bühnenraum des neunzehnten Jahrhunderts hätte es gepasst.

»Um … alles kümmern? Wie … bitte? Wer sitzt denn abends … noch so lange hier … wie ich?« Carlotta atmete jetzt noch heftiger. Eine Treppe hinaufrennen und von unten nach oben gedämpft schreien zu müssen, ist eine schlechte Ausgangsposition für einen Streit.

Es hallte im weiten Lichthof. »Wenn Sie für Ihr Pensum so lange brauchen!« Gundrichs Krokodilseide flatterte, als sie mit den Armen ruderte.

Eine Rentnergruppe aus Cuxhaven verfolgte den Dialog interessiert vom zweiten Stock aus.

»Pensum?« Carlotta keuchte jetzt vor Zorn und Anstrengung, während sie versuchsweise drei Stufen auf einmal nahm und sich dabei am Geländer klimmzugartig nach oben katapultierte. »Haben Sie wirklich … Pensum gesagt? Sie wissen doch selbst ganz genau, dass es hier …«, sie schnappte nach Luft, »dass es hier kein festes Pensum gibt, sondern dass schlichtweg alles, ALLES! …«, fauchte sie, »… auf meinen Schreibtisch gekübelt wird, ich … ich träume von einem festen Pensum!«

Jetzt blickten sämtliche Museumsbesucher nach oben. Sie wollten das Finale dieses Auftritts nun auch noch sehen.

Carlotta war oben angelangt, rannte noch knapp zehn Meter und baute sich vor ihrer Chefin auf. Sie war einen Kopf größer als Frau Gundrich. »Her damit, mit dem festen Pensum!«

»Muss das hier in aller Öffentlichkeit stattfinden?« Frau Gundrich starrte Carlotta wütend an.

Das war so absurd, dass Carlotta lachte. »Soweit ich mich erinnern kann, haben Sie damit angefangen!«

»Das stimmt!«, pflichtete eine ältere Dame bei und nahm mit strengem Gesichtsausdruck ihre Lesebrille herunter. Sie hatte den Streit aus geringer Distanz zu Direktorin Gundrich verfolgt, nachdem sie vergeblich versucht hatte, sich auf eine Vitrine mit flämischer Klöppelspitze zu konzentrieren.

»Na, was soll ich denn machen, wenn der Aufzug kaputt ist und Sie die Treppe nehmen mussten?« Frau Gundrich hob beide Arme zum Himmel. »Bitte, erklären Sie mir die Logik dieses Arguments, Frau Gundrich!«

»Ich bin immer pünktlich und muss hier gar nichts erklären!«

Die fremde Dame mit der Lesebrille schenkte Carlotta einen Blick tiefster Anteilnahme.

»Hören Sie, Frau Gundrich.« Carlotta atmete immer noch heftig, sprach aber nun in leisem Ton. »Ich kann nichts dafür, wenn auf dem Fichtelbacher Ring ständig Stau ist. Ich musste meinen Onkel zum Arzt fahren.«

»Das konnte er nicht alleine?«

»Es war ein Notfall. Und mein Onkel braucht mich mehr als früher. Das wissen Sie doch. Vor allem, seitdem meine Tante gestorben ist. Ich kann einen traurigen, älteren Menschen nicht abfertigen wie eine Schalterbeamtin.«

»Ich bin auch traurig, wenn ein wichtiger Gast lange warten muss! Ihretwegen! Und ich verstehe Sie nicht, Frau Goldkorn: Ich habe diese hochattraktive Stockholm-Sache doch bewusst Ihnen überlassen, weil ich dachte, das wäre etwas für Sie!«

Halt den Mund, halt bitte sofort den Mund, sonst schmeiß ich dich über die Brüstung. Was weißt du denn schon von Onkel Henris Trauer, Gundrich? Und was für ein Blödsinn: Du hättest mir diese wunderbare Sache bewusst überlassen! Die fällt erstens überhaupt nicht in deine Zuständigkeit, und zweitens könntest du das alles doch gar nicht, Gundrich, diesen ganzen aufwendigen Papierkrieg. Ich könnte die ganze Unterhaltung heute auch auf Englisch, Französisch oder Schwedisch führen, falls es denn notwendig sein sollte, und du nicht. Ich kann zehnmal besser mit Menschen umgehen. Das weißt du. Und ich weiß es auch. Nur aussprechen darf ich das nie, sonst vergifte ich das Klima. Und ich liebe das Museum.

Laut fragte Carlotta: »In welchem Büro wartet Herr Johansson?«

»Na, in Ihrem! Ich habe versucht, ihm die Wartezeit zu verkürzen, aber er schien nicht in der Stimmung, darauf einzugehen. Vielleicht ist er schon auf eigene Faust im Museum …«

Carlotta drehte sich auf dem Absatz herum und lief zu dem Büro, auf dessen Tür ihr Name stand. Jelena Gundrich starrte hinter Carlotta her. So absurd und selbstgerecht sie auch sein konnte, sie ahnte dennoch, dass sie von Carlotta zwar viel, aber nicht alles verlangen konnte.

 

Die Sammlung des Museums war riesig. Der exzentrische Gründer des Museums, August Gayette, hatte vor über hundert Jahren so ziemlich alles gesammelt, was er geliebt hatte.

Und das war eine ganze Menge. Von Alphorn bis Zylinder.

Carlotta war Vizechefin. Und offiziell zuständig für alles, was mit Kunst zu tun hatte. Aber Carlotta erledigte nicht nur den größten Teil der Verwaltungsarbeit, sie wusste auch zuverlässig, wer grüne Froschkostüme für das Kinderfest im Museum lieferte, wie man bei Sponsoren für gute Stimmung sorgte, in welchem Depotregal die vor hundert Jahren falsch etikettierten brasilianischen Käfer schliefen und wo sich die letzte Tüte Kaffeebohnen versteckt hatte.

Vor allen Dingen aber war Carlotta die Anlaufadresse für sämtliche Mitarbeiter des Museums. Der Steuermann, der das Museum im Blick hatte, das war Carlotta.

Das Schiff bekäme sofort Schlagseite, wenn Dr. Carlotta Goldkorn einen neuen Posten fände. Das wusste Frau Gundrich.

Deshalb galt es einerseits, Carlotta bei kleinen Verfehlungen zu beschimpfen, um immer mal wieder die eigene Position zu markieren, andererseits, ab und zu überraschend großzügig zu sein, um Carlotta zu halten.

Bislang funktionierte dieser Rhythmus, aber er war anstrengend. Für Carlotta, natürlich.

 

Carlotta blieb vor ihrer Bürotür stehen. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich versuchsweise auf ihren Atem. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, nicht auf Jelena Gundrichs Attacken einzugehen?

Diese Ausfälle kamen regelmäßig, sie gehörten zu Gundrich wie Auspuffgase zu einem laufenden Motor, und sie waren durch nichts zu umgehen, außer, man blieb zu Hause.

Volontär Sebastian trat aus der kleinen Küche, die zu den Verwaltungsräumen gehörte. »Sie ist weg, Carlotta! Du kannst die Augen wieder aufmachen!« Er drückte ihr eine Thermoskanne in die Hand. »Nachschub. Ich hab deinem Gast schon mal Kaffee gekocht, er ist ganz umgänglich und frisst gerade deine Haferkekse.«

Allein Sebastians Anblick erheiterte Carlotta binnen Zehntelsekunden. Heute hatte er die langen, dunklen Haare mit einer nicht sehr diskreten Geschenkschleife zum Pferdeschwanz zusammengebunden, trug einen schwarzen Anzug, Hemd und eine Krawatte, auf der kleine angebissene Äpfel leuchteten, dazu Turnschuhe in hellem Pink.

Carlotta holte tief Luft. »Oh, du bist ein Schatz, Sebastian. Es kann so einfach sein, das Richtige zu tun. Hör mal, ich hab noch ein Problem. Ich muss gleich wieder weg, Onkel Henri vom Augenarzt abholen. Ich komme dann möglichst schnell wieder, aber ich werde wohl eine knappe Stunde unterwegs sein. Und du musst so lange den Babysitter für unseren schwedischen Besuch machen.«

»Kein Problem, ich hol mit ihm seine Leihgabe aus dem Auto oder zeige ihm das Depot und fülle ihn weiter mit Kaffee ab. Zur Not singe ich ihm auch was vor, bis du zurück bist.«

»Ach, Sebastian, warum bist du nicht Museumschefin?«

»Da bin ich noch zu klein.«

Carlotta zwinkerte ihm dankbar zu, dann klinkte sie die Tür zu ihrem Büro mit dem Ellbogen auf.

Gösta Johansson saß am Besuchertisch, vor sich Haferkekse und Kaffee, und las in einem Taschenbuch. Als sie eintrat, blickte er auf und erhob sich.

Einen Moment lang musterten sie einander, kurz genug, um nicht aufdringlich zu wirken, lange genug, um ein erstes Bild vom Gegenüber zu bekommen. Carlotta blickte in sehr wache Augen.

Gösta Johansson, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität von Stockholm, war zehn Jahre älter als sie. Er gehörte zu den Menschen, in deren Gegenwart man die eigene Anspannung sofort vergisst. Warum das so war, hätte Carlotta nicht sagen können, vielleicht waren es seine ruhigen Bewegungen, sein Begrüßungslächeln, sein verwaschener Baumwollpullover, der signalisierte, dass sein Träger nicht übermäßig förmlich sein konnte.

Gösta Johansson hatte eine schmale, aber kraftvoll wirkende Frau von vielleicht vierzig Jahren vor sich, blickte in dunkle Augen, in ein Gesicht, das gleichzeitig aufmerksam und müde war. Und ihr Gesichtsausdruck – Ärger, überlagert von höflicher Zuwendung – verriet, dass sie etwas zu tun gehabt hatte mit den lauten Stimmen, die vorhin zu ihm durch die Tür gedrungen waren.

Sie setzte die Thermoskanne ab, hielt ihm die Hand hin und sah verlegen aus. »Hej, ursäkta att jag kommer så sent …«

Er nahm ihre Hand. »Auch wenn wir bisher in Schwedisch gemailt haben, Sie können ruhig deutsch mit mir reden. Damit ich es nicht verlerne. Meine Mutter war Deutsche!«

Carlotta lächelte überrascht. »Und meine war Schwedin! Es tut mir so leid … Ach, ich hatte vorhin Ärger mit Frau Gundrich, weil ich zu spät komme. Es ist mir sehr unangenehm, dass ich Sie habe warten lassen, aber …«

»Das kann doch mal passieren«, meinte Gösta Johansson. »Hauptsache, ich muss nicht noch eine Viertelstunde lang mit Frau Gundrich reden. Sie wollte mich unbedingt unterhalten. Dabei wollte ich das gar nicht. Ich langweile mich nie alleine.«

Carlotta bat ihn mit einer Geste, wieder Platz zu nehmen, goss ihm einen Kaffee ein und setzte sich in den Sessel gegenüber.

Gösta Johansson war froh, dass die Vizechefin des Museums keinerlei Ähnlichkeiten mit Frau Professor Gundrich hatte. Jelena Gundrich gehörte zu den Frauen, die ihm Angst einjagten. Als sie ihn vor zwanzig Minuten begrüßt hatte, fasste er in derselben Sekunde den Entschluss, diesen Museumsbesuch sehr kurz zu gestalten. Er war irritiert gewesen, weil er gedacht hatte, Dr. Carlotta Goldkorn vor sich zu haben.

Irritiert war er, weil aus Carlottas Mails ein humorvoller und warmherziger Grundakkord geklungen hatte. Und, um bei musikalischen Begriffen zu bleiben, für Jelena Gundrich waren Stakkato und Kakophonie passender. Jetzt, bei Carlottas Anblick, war seine Erleichterung groß.

Und da war noch etwas, das wie ein Komet vorüberzog, ein halb gefühlter, halb geahnter Gedanke, der so unglaublich war wie, ja, vielleicht wie der Augenblick, in dem man zum ersten Mal in seinem Leben das Nordlicht am Himmel erblickt. Diese Ahnung erschien Gösta Johansson jedoch so unfassbar, dass er sie vorüberziehen ließ, ohne sie zu formulieren.

Aber das Licht hinterließ eine Spur.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er den Konversationston wiederfand.

Er wies auf einige Sägespäne an Carlottas Hemdärmel. »Haben Sie mit Holz gearbeitet?«

Anscheinend war Dr. Goldkorn auch in äußeren Dingen wenig förmlich. Sie trug blaue Cordhosen, einen blauen Baumwollpullover, der in Nabelhöhe eine breite Sägemehlspur aufwies, darüber ein offen stehendes, altes Herrenhemd. Mit Flecken.

Carlotta blickte an sich herunter und erschrak. In der Eile hatte sie vergessen, das Putzhemd gegen eine ordentliche Jacke zu tauschen. So trat man nicht vor einen Menschen, der dem Museum etwas Wertvolles für die neue Ausstellung leihen wollte. Wahrscheinlich hatte sich Jelena Gundrich auch darüber aufgeregt – und sie hatte recht. Carlotta klopfte eilig das Sägemehl vom Pullover und zupfte die Späne vom Ärmel. »Nein, äh … mein Onkel ist Holzbildhauer, und wo er ist, sind auch Sägespäne.«

Professor Johansson schien ihre Verlegenheit überbrücken zu wollen. Er wies auf Fotos, die gerahmt auf Carlottas Schreibtisch standen. Jule mit Schultüte, Jule, kopfüber am Klettergerüst hängend, Jule, die Zunge herausstreckend, Onkel Henri und Tante Antonia, beide feingemacht, zwischen ihnen eine junge Carlotta, stolz ein Dokument in die Kamera haltend.

»Ihre Tochter und Ihre Eltern?«

»Sozusagen. Mein Onkel und meine Tante. Ich bin bei ihnen aufgewachsen. Hier, auf diesem Foto halte ich gerade meinen taufrischen Kunsthistoriker in der Hand, ich habe in Freiburg und Berlin studiert. Knapp zwei Jahre später habe ich hier im Museum angefangen. Natürlich noch nicht in diesem Büro! Und das kleine Monster am Klettergerüst, ja, das ist meine Tochter. Allerdings vor neun oder zehn Jahren. Jetzt ist sie vierzehn. Haben Sie auch Kinder?«

»Ja. Einen Sohn, der gerade in Neuseeland ist und von dem ich immer mal eine Nachricht per Handy bekomme. Bis Ende des Sommers darf er das noch, dann wartet in Stockholm wieder die Schule auf ihn.«

»Immerhin Stockholm«, meinte Carlotta. »Eine der schönsten Städte, die ich kenne, wirklich. Nein, ich glaube sogar, die schönste Stadt. Ich liebe es sehr.«

Es schien ihn zu freuen. Carlotta, erleichtert und froh über einen so zugänglichen Gast, wurde wieder von ihrem Schuldgefühl übermannt. »Ich habe immer noch das Bedürfnis, Ihnen zu sagen, dass meine Verspätung einen triftigen Grund hatte!«

Er beugte sich etwas vor. »Und ich wette, dass Sie mir den Grund am liebsten sofort und ausführlich erzählen würden!«

Carlotta lachte. »Sie kennen sich gut aus mit Menschen, was? Ich habe einen geradezu pathologischen Drang, mich für meine Verfehlungen zu rechtfertigen, und zwar so lange, bis mein Opfer in Tränen schwimmt. Vor Mitleid mit mir, natürlich. Aber ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kommen heute Abend zu uns zum Essen, dann brauche ich nicht so viel zu erklären. Sie werden den Grund meiner Verspätung dann kennenlernen. Persönlich.«

»Danke. Das nehme ich gerne an. Aber was anderes: Wissen Sie, es ist merkwürdig, wenn man ins Ausland fährt und dort auf ein Stück eigene Familiengeschichte trifft.« Er wies auf ein querformatiges Bild, das in breitem Goldrahmen hinter Carlottas Schreibtisch hing. »Das ist Lovisa, die erste Frau meines Urgroßvaters. Ich habe dieses Gemälde noch nie im Original gesehen. Wir hatten zu Hause nur ein Foto davon.«

Sie betrachteten die junge Frau, die in einem hölzernen Gartenstuhl lag, die Knie leicht angezogen, so dass der lange, weiße Rock in anmutigen Falten ihre Füße fast verdeckte. Sie schien gänzlich vertieft in ihre Lektüre, ein in dunkelrotes Leder gebundenes Buch.

»Das Bild ist schon seit weit über hundert Jahren hier im Museum. Ich liebe es!« Carlotta wies auf ein paar helle Lichtreflexe im Gras. »Ich kann mich nicht sattsehen an diesem Licht, es ist so virtuos gemalt. Typisch Jasper Johansson eben. Sagen Sie, hat jemand in Ihrer Familie die Begabung Ihres Urgroßvaters Jasper geerbt?«

Gösta Johansson schüttelte lächelnd den Kopf. »Mein Sohn ist ein guter Pianist, aber mit der Malerei hat es niemand in der Familie.«

»Wissen Sie etwas mehr über Lovisa? Wer war sie?«

Gösta Johansson hob bedauernd die Hände. »Es fanden sich im Nachlass seltsamerweise keine Dokumente, keine Hinweise, die mit ihr zu tun hatten. Lovisa stammte aus Dalarna, vom Siljansee, mein Urgroßvater und Lovisa waren nur etwa fünf Jahre lang verheiratet. Sie ist sehr früh gestorben, das ist alles, was wir wissen.«

»Schade, ich war so neugierig!« Carlotta sah enttäuscht aus.

»Sehen Sie, und ich dachte, ich könnte im Gegenteil von Ihnen etwas über Lovisa erfahren, weil sie ja vor über hundert Jahren mal hier in Fichtelbach war, um mit Jasper ihren reichen Gönner August Gayette zu besuchen. Also hat sie hier auch keine Spuren hinterlassen, wenn Sie nichts über Lovisa wissen?«

Carlotta schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht.«

»Sagen Sie, bevor wir weiter über die geheimnisvolle Lovisa spekulieren – schenken Sie mir eine Privatführung? Ich kenne Ihr Museum ja nur aus dem Reiseführer. Es ist eine etwas ungewöhnliche Sammlung, oder?«

»Oh ja. Als ich zum ersten Mal hier war, wusste ich nur: Hier will ich mal arbeiten! Da war ich, glaube ich, fünf Jahre alt. Übrigens …«, Carlotta stand auf, zog ein bunt kartoniertes Buch aus dem Regal, »… wir sind hier seit letztem Jahr auf Seite achtundsiebzig. Zwischen diesen Pappdeckeln landet nur ganz Besonderes.« Sie reichte es ihrem Gast.

Gösta Johansson las den Titel Culture & Curiosities in Europe, wendete es hin und her, identifizierte einen New Yorker Verlag und grinste. »Ganz Europa in einem Reiseführer, das schaffen wirklich nur die Amerikaner!«

Er schlug das Buch auf, eine bebilderte Seite zeigte die ungewöhnliche Architektur des Museums von Fichtelbach.

Auf einem Hügel stand die kleine Ritterburg aus dem vierzehnten Jahrhundert Arm in Arm mit ihrem Anbau aus Schmiedeeisen und Glas, einer Konstruktion, die um 1895 einmal tollkühn und hochmodern gewesen sein musste.

»The most outstanding August-Gayette-Museum of Fichtelbach, quite a curious mixture of art, fossiles and historic costumes, eine kuriose Mischung aus Kunst, Fossilien und historischen Kostümen«, las er laut.

»Outstanding in jeder Hinsicht! Und im Moment noch mehr als sonst. Überall Chaos!« Carlotta wies auf einen großen Arbeitstisch, auf dem sich Bücher, Manuskripte und Folianten türmten. Ein Plakatentwurf verdeckte das umfangreiche Zettelchaos direkt vor ihrem Bürosessel. Auf dem Plakat stand in großen Lettern: August Gayette – Ein Leben.

Gösta Johansson hatte sich erhoben und betrachtete den Entwurf. Das blasse, stark gerasterte Porträtfoto eines schnurrbärtigen Herrn des neunzehnten Jahrhunderts bildete den Hintergrund des Plakats. »Das ist der Entwurf der Grafikerin«, erklärte Carlotta. »Für die Ausstellung, in der Ihre Leihgabe hängen wird.«

»August Gayette – war es ein gutes Leben?«, fragte Gösta Johansson.

»Ich glaube schon!« Carlotta sah ihren Gast nachdenklich an. »Der Schwerpunkt ist diesmal das Porträt seiner exzentrischen Persönlichkeit. Aber mir fehlt für die Ausstellung noch etwas ganz Besonderes. Sagen wir, das, was ein belegtes Brötchen zum Canapé macht.«

Carlotta zog das fleckige Hemd aus, zupfte den letzten Sägespan vom Pullover und begutachtete sich kurz in einem kleinen Spiegel, der am Bücherregal hing.

»Dass Sie so eitel sind, hätte ich jetzt nicht gedacht!«, meinte er.

Sie lächelte. »Hier im Raum sind sogar Kamm und Bürste, ich weiß bloß nicht, wo! Aber ich habe noch ein Problem, Professor Johansson: Ich bin nicht nur zu spät gekommen, ich muss noch mal los, meinen Onkel vom Augenarzt abholen. Ich bin in einer knappen Stunde wieder zurück. Und dann bekommen Sie Ihre Privatführung. Unser Volontär Sebastian wird Ihnen während dieser Stunde das Depot zeigen und …«

»Oh nein, danke, wenn ich mich so lange an Ihren Computer setzen darf, bin ich vollkommen zufrieden. Ich muss dringend ein paar Mails beantworten.«

Carlotta wies erleichtert auf ihren Bürosessel. »Bitte! Es tut mir so leid, aber manchmal kommt eben alles zusammen. Onkel Henri hatte heute früh eine Sehstörung, und dieser Schreck sitzt mir noch in den Knochen.«

»Ganz ruhig, ist alles kein Problem!« Er hatte bereits an ihrem Schreibtisch Platz genommen und sah zu ihr hoch. »Das finde ich sogar außerordentlich nett, wenn in einer Stunde die Tür aufgeht und Sie dann noch einmal hereinkommen. Es gibt Wiederholungen, die ich sehr mag.«

* * *

»Onkel Henri, du arbeitest auf gar keinen Fall mit irgendeiner Kettensäge, solange deine Pupillen noch geweitet sind, klar?«

»Okay, Chefin. Denn rauch ich erst mal eine.«

Er setzte sich in seinen Korbsessel auf die Terrasse und fingerte nach den Zigaretten in seiner Brusttasche. »Wusste ich doch, dass meine Augen vollkommen fit sind. War wohl irgendein Kreislaufscheiß.«

Carlotta wuchtete einen Wäschekorb auf einen Hocker und klappte den windschiefen Wäscheständer auseinander. »Na, Gott sei Dank. So, fünf Minuten hab ich noch. Ich häng nur schnell die Wäsche auf, dann muss ich sofort wieder los, Onkel Henri, ich hab den schwedischen Professor im Büro sitzen.«

»Ist er nett?«

»Ja, doch. Ziemlich sogar. Du wirst ihn heute Abend kennenlernen. Er kommt zum Essen.«

»Hör mal, Kleene, mir ist da heute Nacht was durch den Kopf gegangen«, sagte Onkel Henri nach einer Schweigepause und drückte die Zigarette an der Sohle seines Arbeitsstiefels aus. »Also für den Fall, dass ich mal nicht mehr da bin, musst du mir was versprechen, Carlotta.«

Carlotta setzte sich ihrem Onkel gegenüber und nahm seine Hand. »Also, was soll ich dir versprechen?«

»Dass du dieses Haus später mal nicht so blödsinnig modernisierst mit Fensterrahmen aus Kunststoff und Granitböden und Schwebeklo und solchem Zeugs. Es hat so viel Charakter und Geschichte. Die Wände haben schon so viel Leben geatmet. Wie ’ne alte Schachtel eben.«

Carlotta nickte. »Geht in Ordnung, Onkel Henri. Mach ich nicht. Ist versprochen.«

»In zehn Jahren bist du selber ’ne alte Schachtel.«

Onkel Henri war nicht das, was man einen charmanten Menschen nennt. Er war Berliner. Daran hatten auch Jahrzehnte des Exils in der Mittelgebirgsprovinz nichts geändert.

Carlotta lachte. »Na, sagen wir in zwanzig. Und dann bin ich froh, wenn man an mir nicht herumoperiert.«

»Siehste«, sagte er zufrieden und trank einen Schluck Kaffee.

Sie stand wieder auf und hängte mit eiligen Bewegungen nasse Handtücher über die Metallstreben. »Altes, dummes Onkel, du kennst mich doch nun lange genug. Ich mag unser Haus so, wie es ist. Und so soll es auch bleiben.«

»Ich würde es dir ja gerne vererben, dann könnte ich die Sache mit den verbotenen Plastikfenstern zur Bedingung machen, aber es ist ja leider schon dein Haus. Immerhin – wenn ich dir die Liebe zu alten Türklinken vererbt habe, ist das ja auch schon was.«

Carlotta, ein rotes Unterhemd in der rechten Hand, hielt einen Moment inne. »Und die Liebe zu gutem Essen, bizarr geformtem Schwemmholz, schönen Wolken, Bildhauerei, bunten Holzmännlein und zu allem, was krabbelt und fliegt. Ja, und das, was ich über Kunst weiß, weiß ich von dir.«

Er grinste zufrieden. »Also, du willst sagen, es war nicht alles Müll, was du von mir gelernt hast?«

Carlotta warf mit dem nassen Unterhemd nach ihm. Es landete auf seinem Kopf. Er ließ es dort liegen und beobachtete den hellen Frühsommerhimmel, die Wolken, die von Westen kamen, es eilig hatten und sich zu immer neuen Wandergebirgen auftürmten.

»Weißt du, Kind, das Wesentliche in der Kunst kann man nicht lernen. Und eigentlich ist es auch unsagbar.« Onkel Henri nahm das nasse Unterhemd vom Kopf und warf es zurück. »Aber all das hohle Gequatsche über Kunst, das ich in meinem Leben schon gehört habe!«

»Deine alte Galeristin, wie hieß die noch?« Carlotta zog ein verknittertes T-Shirt in Form. »Diese Reden zu deinen Vernissagen, so ein Gelaber. Heiße Luft und viele schöne Vokabeln.«

Onkel Henri breitete die Arme aus und zitierte: »Leidvoll, aber dennoch eine gewisse Hybris im Blick, in ihrer Grundform embryonal, so recken sich diese drei Gestalten wie in Erwartung der Apokalypse gen Himmel …«

Er brach ab und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. »Drei Ypsilon in einem Satz! Ha! Und dabei waren meine Modelle für diese Skulpturen drei Obstpflückerinnen, die ich mal in Frankreich auf einer Apfelplantage geknipst habe. Weil ihre Körper so hübsche Kurven hatten.«

Carlotta konnte sich noch gut an diese Vernissage erinnern. »Bitte schreiben Sie von den französischen Apfelmädchen und nicht diesen blödsinnigen Scheiß von der Apokalypsenerwartung!«, hatte Onkel Henri damals dem Pressevertreter zugemurmelt. Leider etwas zu laut, denn die Galeristin hörte es auch, warf ihr Sektglas an die Wand und kündigte die Geschäftsverbindung. Was beiden gut bekommen war.

Onkel Henri schnaubte verächtlich. »Das Ewiggültige von Essen, Erde, Drecksarbeit, genau das wollte ich in meine Holzfiguren packen. Ja, und die dabei zufällig entstandene Schönheit. Die Wahrheit ist oft ganz einfach.«

Carlotta beobachtete ihren Onkel. Wie wach und jung er aussehen konnte, wenn es um seine Arbeit ging. Seine dunklen Augen, in den letzten zwei Jahren oft so trübe und müde, waren auf einmal klar und lebhaft, hatten die alte Blickschärfe, trotz der heute ungewohnt großen Pupillen. Seine immer noch dichten, grauen Haare waren kurz geschnitten und standen senkrecht in die Höhe wie bei einem Terrier. Die kantigen Gesichtszüge, die tiefen Falten, erzählten von einem eigenwilligen Naturell. Seinem Gesicht war das wechselvolle Leben abzulesen, aber keine Bitterkeit.

Carlotta blickte auf ihre Armbanduhr und zuckte zusammen. »Oh Gott, ich muss in einer Minute los!« Sie bückte sich, griff drei Wäschestücke auf einmal.

Er beobachtete sie. »Nur keine Hektik, ich kann das doch später machen!«

»Lass mal, Onkel Henri. Ich bin ja schon fast fertig. Aber wenn du heute Nachmittag eine Viertelstunde Zeit hättest, könntest du das Rosenspalier reparieren. Aber erst, wenn deine Pupillen wieder in Normalstellung sind, hörst du?«

Plötzlich hielt sie inne. Sein Gesichtsausdruck hatte innerhalb von Sekunden gewechselt. Das kam sehr oft vor. Seit zwei Jahren. Sie setzte sich wieder auf den wackeligen Gartenstuhl, nahm sein Gesicht in beide Hände und hielt ihre Stirn gegen seine. Sie war kalt. Heute war ein ungewöhnlich kühler Tag für Anfang Juni.

Onkel Henri hatte Tränen in den Augen.

Das Rosenspalier. Die Glory of Dawn, die jetzt im Rausch ihrer kleinen rosa Blüten stand, hatte Tante Antonia vor drei Jahren an das Spalier gepflanzt. Der Garten war ihr täglich erlebbares Erbe.

»Ach, Carlotta. Ohne Antonia bin ich nur die Hälfte.«

Sie streichelte seine Terrierhaare. »Du bist nicht bloß die Hälfte. Es fühlt sich so an für dich, aber du bist es nicht.«

»Im Frühling«, Onkel Henri putzte sich geräuschvoll die Nase, »im Frühling hat Antonia immer so Grünzeug in Joghurtbechern keimen lassen, Unkraut, Gräser, Getreidehalme, was weiß ich. Da leuchteten ihre Augen so wie die von ’nem kleinen Dackel vor der Bratwurst.«

Auch Onkel Henris Poesie war in Berlin zu Hause. »Und denn, im Sommer …«

»… war der Garten ein einziger Dschungel«, ergänzte Carlotta.

Er blickte auf, versuchte ein halbes Lächeln, aber es gelang nicht. »Ich erzähl immer dasselbe, was?«

»Nee, machst du nicht. Nur wenn’s um Antonia geht. Und dann antworte ich immer dasselbe.«

»Und – wird’s dir langweilig?«

»Nee, wird’s mir nicht.«

»Und warum nicht?«

»Weil ich es gerne höre, wenn du von Antonia sprichst. Und weil ich dich seit ein paar Jahrzehnten ziemlich lieb habe.«

Jetzt lächelte er.

Mehr wollte Carlotta für den Moment nicht.

Sie umarmte ihn. »So, jetzt muss ich endgültig los. Sonst mache ich mir Feinde, du kennst doch Großfürstin Gundrich.«

»Die Idiotin da soll froh sein, dass sie dich hat! Schließlich kannst du alles! Bloß Kinder erziehen kannst du nicht.«

»Und alte renitente Onkels in Schach halten schaff ich auch nicht. Man kann eben nicht alles können. Ach, übrigens, ich hab vorhin Leo getroffen, der Kleine sieht gar nicht gut aus.«

»Friedrich und Fußball, was?«

»Genau.«

»Ich sag dir was, Carlotta. Wenn das so weitergeht, dann kaufe ich mir Friedrich. Ich kenn ihn zwar nur flüchtig, aber er wäre nicht der erste Blödmann, bei dem ich mal ein paar Synapsen ganz neu verknotet hätte.«

Das stimmte. Onkel Henri besaß ein sehr unkonventionelles pädagogisches Talent.

»Und wenn du Leo siehst, dann grüß den Kleinen von mir und sag ihm, dass seine Werkzeuge hier immer auf ihn warten. Die laufen ihm nicht weg. Ich auch nicht.«

Carlotta goss ihm noch einen Kaffee ein. Diese Dialoge, die der eigentlichen Verabschiedung folgten wie der Abspann einem Film, konnten sich hinziehen. Jeden Tag aufs Neue. Und eigentlich fehlte es beiden, wenn dieser Abspann aus Zeitgründen mal ausfallen musste. Seit Antonias Tod hatten sich zwischen ihnen Rituale eingespielt, die wärmten. Aber heute war der Druck einfach zu groß. Onkel hin, Trösten her, nun ging nichts mehr. Carlotta nahm ihre Tasche, wandte sich an der Tür noch einmal um. »Jule wird heute bei dir klingeln, dass du Bescheid weißt, Onkel Henri. Sie hat den Schlüssel verloren.«

»Nein! Nicht schon wieder! Der wievielte ist das seit letztem Jahr?«

Carlotta zuckte mit den Achseln.

»Deine Tochter ist eine Schlampe.«

»Ich weiß. Kann sie nur von dir haben, Onkel Henri. Und bitte, schick sie gleich nach oben, sonst macht sie schon wieder keine Hausaufgaben. Und sie soll ein Käsebrot essen. Heute Abend koche ich dann richtig. Ich ruf dich noch an, damit du vielleicht schon ein paar Kleinigkeiten vorbereitest.«

»Aye, aye, Sir!« Onkel Henri legte die Hand zum kurzen Gruß an die Schläfe.

Carlotta zog die Tür hinter sich zu und rannte zu ihrem Auto.

Onkel Henri stand auf, zog seine blaue Arbeitsjacke über, steckte die Zigaretten in die Brusttasche, nahm den Kaffeebecher und stieg die fünf Stufen, die von der Terrasse zum Garten führten, hinunter. Er dachte an seine Arbeit, an die noch unfertige Holzfigur, die auf ihn wartete, und auf den schmerzenden Schatten Antonias fiel ein tröstendes Licht.

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The most curious August-Gayette-Museum

Gösta Johansson blickte erstaunt auf, als Carlotta wieder in der Tür stand. »Schon zurück? Ich lese gerade Interessantes über Sie auf Ihrer Museumsseite. Sie sind mit August Gayette verwandt?«

Carlotta nickte. »Er war mein Urgroßonkel.«

»Ich glaube, das Wort ›ungewöhnlich‹ werde ich heute noch ein paarmal gebrauchen«, meinte Gösta Johansson und musterte Carlotta. »Ungewöhnlich finde ich zum Beispiel, dass meine Mutter Deutsche war und Ihre Schwedin. Mein Urgroßvater Jasper war also der Maler, der von Ihrem Urgroßonkel August lukrative Aufträge bekam. Sind Sie eigentlich mit dem Namen Gayette geboren?«

Carlotta nickte. »Bin ich. Aber hier im Museum ist eigentlich alles ungewöhnlich. Kommen Sie, jetzt ist Ihre Privatführung dran.«

 

Vor der Bürotür wies sie mit ausladender Armbewegung auf Glaskuppel und Lichthof. »Im Grunde genommen ist dieses Museum für Fichtelbach ein, zwei Nummern zu groß. Aber im Jahr 1893 wurde Fichtelbach tausend Jahre alt. Und August Gayette hat seiner Heimatstadt dieses Museum zum Geburtstag geschenkt. So wie andere Leute ihrer Tante einen Kuchen.«

Gösta bewunderte das rankenartige Geländer, die Metallsäulen, an deren oberen Ende fliederfarbene Glasornamente in die Kuppel wuchsen. Von hier oben hatte man nicht nur einen guten Blick in die Kuppel, sondern auch auf die anderen Etagen, auf die beleuchteten Vitrinen, auf Bilder und Skulpturen.

»Ein bisschen Pariser Jugendstil mitten in Deutschland, und dann auch noch dieses nette Tierchen, also irgendwie …« Gösta wies auf die Mitte des Lichthofs, auf das rekonstruierte, große Skelett eines Allosaurus maximus. Es reichte vom Erdgeschoss bis über den ersten Stock. Dort grinste der Saurier das Publikum an, mit einem beeindruckenden Gebiss.

»Unfreiwillig komisch, meinen Sie?« Carlotta lachte, diese Wirkung hatte das Museum häufig auf Besucher aus europäischen Großstädten. »Das stimmt.«

»Aber es hat Charme.« Gösta Johansson beobachtete einen Moment lang die Besucher, die sich in den unteren Etagen wie bunte Fische um die Objekte scharten, dann wandte er sich zu Carlotta, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer und verschränkte die Arme. »Wer war dieser August Gayette? Dass er ein Nachkomme fleißiger Hugenotten war, kann ich mir bei diesem Namen denken, aber das ist auch schon fast alles, was ich weiß.«

»August Gayette war reich. Oder besser: stinkreich. Sie kennen doch die italienische Hutmarke Borsalino, oder?«

»Na klar. Ein Klassiker.«

»In Deutschland dagegen, aber auch in Frankreich und vor allem in den USA trug man damals seinen ›Gayette‹. Diese Hüte waren einfach unverwüstlich. Seine Filzhutfabrik hat August damals so viel Geld gebracht, dass er seine Sammelleidenschaft ungehindert ausleben konnte. Das ist er übrigens!« Carlotta wies auf ein Ölgemälde, das fast direkt vor ihnen an der Wand hing.

August Gayette, in bürgerlicher Aufmachung mit Stehkragen und Uhrkette, saß entspannt in einem Korbsessel. Er schien wohlgenährt, der Ausdruck seiner dunklen Augen war nachdenklich und freundlich. In der rechten Hand hielt er ein Glas Rotwein, die linke war erhoben, als wolle er eben an der Zigarre ziehen, die zwischen Daumen und Zeigefinger steckte. Blauer Rauch kringelte sich über seinem Kopf. Das Ganze wirkte wie eine atmosphärische Momentaufnahme. Die Andeutung des Umfelds sah, wie der Korbsessel, nicht sonderlich luxuriös aus.

»Wie heißt noch mal dieses schöne deutsche Wort?«, fragte Gösta. »Ein Lieblingswort meiner Mutter. Ich glaube ›leutselig‹. Genau. Leutselig sieht er aus.«

Carlotta nickte. »Das trifft es, ganz sicher. Normalerweise posierten die Herren aus dem Geldadel oder der Industrie zu dieser Zeit anders. Sie konnten vor lauter Wichtigkeit kaum noch atmen. August dagegen war ein entspannter Mensch. Der Maler hat versucht, das zu zeigen, deshalb hat er Augusts Körpersprache festgehalten.«

Gösta beugte sich vor, um die Signatur zu entziffern, zog aber die Stirn kraus. Er blickte wieder auf und sah Carlotta fragend an. »Wie, man weiß nicht, wer das gemalt hat?«

»So ist es. Von diesem Bild kennen wir nur das Entstehungsjahr, 1896. Die Signatur ›A.F.‹ konnten wir bis heute keinem Maler zuordnen. Ich fahnde schon seit Jahren nach ihm. Aber es gibt nicht eine einzige Spur!«

»Seltsam!«

Carlotta nickte. »Es gibt nur ein paar stilistische Ähnlichkeiten mit Anders Zorn[1], den kennen Sie ja sicher. Wir haben im Depot immerhin noch dreizehn Gemälde von unserem Phantom A.F., ein paar hübsche Landschaften, ein paar anonyme Porträts. Aber wo sie entstanden sind und wer der Maler war …« Carlotta zuckte mit den Schultern.

»Sagen Sie, ich habe eben in Ihrem Museumskatalog gelesen, dass August Gayette sämtliche Expeditionen, bei denen man all diese Fossilien für das Museum fand, finanziert hat. Aber er sei nie mitgefahren. Warum eigentlich nicht?« Gösta betrachtete den Genussmenschen August mit wachsender Sympathie.

»Angeblich war es ihm zu unkomfortabel«, erklärte Carlotta. »Zu diesem Thema gibt es einen Brief an einen Freund, in dem August plastisch beschreibt, wie er abends mit seinem Bordeaux und einer Havanna am Kaminfeuer sitzt und die Reiseberichte seiner Wissenschaftler liest. Er liebte Abenteuer über alles. Hauptsache, er brauchte nicht selbst dabei zu sein. Expeditionszelte hätten kein fließendes Wasser und kein nettes Stubenmädchen, das würde ihn von den Reisen abhalten. Das steht jedenfalls in diesem Brief. Ich vermute allerdings, er hatte Angst.«

Gösta lehnte sich zurück. »Ist mir sehr sympathisch. Ich fürchte, ich gehöre auch zu dieser Sorte Mensch.« Er hob entschuldigend beide Hände. »Ich lese mit Leidenschaft Berichte über Bergbesteigungen in Tibet oder Nepal. Und während der mutige Bergsteiger bei fünfzig Grad minus am Seil über dem Abgrund wackelt, sitze ich vor meinem roten Holzhaus und trinke ein Bier. Das ist übrigens die sicherste Methode, wie man solche Abenteuer überlebt.«

»Sie wohnen in einem roten Holzhaus?«

»Nur im Sommer. Auf einer Schäre. Das Haus gehört schon lange der Familie, Ihr Urgroßonkel August hat es kennengelernt, als er meinen Urgroßvater im Jahr 1895 in Schweden besuchte.«

Carlotta seufzte sehnsüchtig. »Die Schären im Frühling und ein rotes Sommerhaus – ich geb’s zu, ich bin neidisch.«

»Kennen Sie die Stockholmer Schären?«

»Oh ja, ich bin als Kind sehr oft da gewesen. Die schwedische Hälfte meiner Seele hat immer wieder Heimweh danach. Das Thema darf ich jetzt aber nicht vertiefen, wir haben noch viel vor uns. Wo war ich, Professor? Ach ja. Also: August Gayette hat jede Menge Kunst gesammelt, das wissen Sie ja«, fuhr sie fort, »unter anderem holländische Stillleben aus dem siebzehnten Jahrhundert, hinreißend schöne Stücke. Dazu noch Hüte, Schmuck, historische Kostüme, barocke Zahnstocher, alte Fischbeinkorsetts, Musikinstrumente aus Bayern, Afrika und dem Rest der Welt und …« Carlotta musste überlegen.

»Und die weltberühmte Sammlung von Versteinerungen aus dem Fichtelbacher Steinbruch und aus Südamerika!«, half Gösta Johansson.

Carlotta lachte. »Sehen Sie, daran hätte ich nicht mehr gedacht. Aber ich bin keine Paläontologin, das ist der Grund dafür, dass ich mal eben das halbe Museum vergesse. Also, August war ein kreativer Exzentriker. Er wollte, dass die Menschen durch Neugierde lernen, durch Kontraste, durch extreme Kombinationen. Seine Idee von einem guten Museum war für das neunzehnte Jahrhundert höchst ungewöhnlich. Doch das zeige ich Ihnen lieber, als darüber zu reden. Am besten fangen wir im zweiten Stockwerk an, das ist nämlich vor einem Jahr neu gestaltet worden, streng nach August Gayette.«

Im zweiten Stockwerk angekommen, bog Carlotta in einen Gang ab und blieb vor der ersten Vitrine stehen, neben einer Besucherin, die sich vorgebeugt hatte und durch das Glas starrte.

Gösta sah diese Besucherin eine Zehntelsekunde zu spät. Er rempelte sie unsanft an, erschrak, trat einen Schritt zurück. »Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht …«

In der nächsten Sekunde erschrak er gleich noch einmal. Der Aufprall war hart gewesen, die Dame hatte sich nicht einen Millimeter bewegt. Gösta trat einen Schritt zurück. »Aber – die ist ja gar nicht echt!«

Er betrachtete die Blondine. Tatsächlich. Eine große Puppe. Sie hatte ein stupsnasiges Kindfrauenprofil, ihre hochgesteckten Haare wirkten echt. Der Mund war geöffnet, ihre Miene verriet Erstaunen und Konzentration. Etwas unheimlich waren sie schon, die starr aufmerksamen Glasaugen, die durch jeden hindurchblickten, die langen Wimpern, die fast echt wirkende Haut aus Kunstharz, der kleine Leberfleck auf der rechten Wange. Jetzt erst bemerkte Gösta Johansson, dass die aufprallresistente Besucherin ein völlig unzeitgemäßes Kleid trug: lang, eng tailliert, fliederfarben und resedagrün gestreift, mit kokettem Polster über dem Hinterteil, einer Tournüre. Seitlich auf dem Kopf saß ein kleiner Hut mit Federn, Schleier und einem grünen Vogel.

»Das ist Clothilde«, erklärte Carlotta. »Und ihr Kleid stammt bis ins Detail aus einem Wiener Modekatalog von 1870. Weil die Besucher gerade hier, wenn sie um die Ecke biegen, auch schon mal gerne in sie hineinrennen, wollten wir sie eigentlich versetzen. Aber die Fichtelbacher Dauerbesucher haben protestiert.« Sie wies auf eine Sitzbank, die etwa drei Meter entfernt stand. »Die Stammgäste lieben es, die Anzahl der Kollisionen zu zählen. Und einer unserer Stadtschreiber hat Clothilde sogar schon in einer Kurzgeschichte verewigt. Aber Sie sollten einen kurzen Blick in die Vitrine werfen.«

Gösta Johansson interessierte sich nicht besonders für Schmuck. Aber Clothilde hatte in ihm eine ungewohnte Neugierde geweckt, er betrachtete aufmerksam Colliers und Ohrringe. Plötzlich stutzte er. »Moment mal, dieses geflochtene Armband mit der Medaillonschließe – was für ein seltsames Material ist das denn?«

»Biedermeier, Deutschland 1830, und das Flechtwerk ist – ja, gehen Sie ruhig etwas näher an die Vitrine – es ist aus echten Haaren.«

»Leicht gruselig. Aber sagenhaft, wie filigran das ist!« Gösta Johansson betrachtete das unglaublich präzise, fein und kompliziert geflochtene breite Armband und sah dann unwillkürlich auf seine Finger. »So etwas konnten wahrscheinlich nur Frauen herstellen, deren Hauptberuf sich ›Ich sitze am Fenster und warte‹ nannte, oder?«

»Nicht nur. Es gab auch Profis, die diese Stücke herstellten. Zum Beispiel Friseure. Schmuck aus Haaren liebte man damals, im Biedermeier fand man das romantisch. Uhrketten für den Verlobten oder Halsschmuck für die beste Freundin zur Hochzeit, als Zeichen von Liebe, Treue und Verbundenheit.«

Carlotta zeigte in die Vitrine. »Und hier, direkt daneben, dieses Armband aus ziselierten Goldperlen, das trug eine kleine Etruskerin.«

»Direkt neben diesem Goldschmuck – ist das etwa ein Kinderarmband aus einem Automaten? Das ist ja eine wilde Mischung!«

Carlotta nickte. »Da haben Sie einen ersten Vorgeschmack von August Gayettes Idee. Er hasste monotone Vitrinen und wollte immer die Unterschiede, aber auch die Verwandtschaften zwischen den Epochen aufzeigen, egal, wie weit sie auseinanderliegen.«

»Stimmt. Das Bonbonkettchen wirkt plötzlich ganz anders, wenn die Klassiker daneben liegen. Nämlich ebenfalls klassisch. Erstaunlich.«

»Und das ist es ja auch. Schmuck aus wertlosem oder besser aus vergänglichem Material gab es zu allen Zeiten. Das kleine Etruskermädchen hat ihr Armband ja nicht so geliebt, weil es aus Gold war, sondern weil es ihr die Lieblingstante geschenkt hatte – vielleicht mit dem Satz: Du bist das beste Kind auf der Welt!« Carlotta stockte. Der Schmerz war wieder einmal unbemerkt gekommen, herangeflutet mit ihren eigenen Worten, die Tante Antonias Worte gewesen waren, ungezählte Male.

Sie konnte einen Moment lang nicht weitersprechen, wandte den Kopf ab.

Gösta Johansson blickte auf. Carlottas Gesicht gehörte zu den lesbaren. Er betrachtete ruhig die Vitrine und wartete.

Nach einer Weile sprach Carlotta weiter. »Und sehen Sie, so ein blau-rosa Bonbonarmband hat sich schon manches kleine Mädchen von der Seele gerissen, um seine Freundin zu trösten – was für ein Wert! Wert ist ja etwas Subjektives. Es ist meist nicht so wichtig, ob etwas aus Gold oder Dosenblech gemacht ist, wenn man Zuneigung verschenken will. Und genau das wollte August eben auch zeigen.«

Gösta nickte zustimmend. Dann musterte er Clothilde noch einmal. »Es gefällt mir, dass Ihre Figuren individuelle Gesichter haben. Und die Gestik wirkt echt. Nichts ist schlimmer als historische Gewänder an modernen Schaufensterpuppen in albernen Posen.«

»Die Puppen wurden extra für das Museum hergestellt, das war eine Idee von Frau Gundrich.« Carlotta senkte die Stimme. »Es ist nicht immer einfach mit ihr, aber wenn sie eine Idee hat, dann ist sie fast immer gut. Sie hat das Konzept von August Gayette nicht nur verinnerlicht, sie denkt es weiter. Madame ist anstrengend, aber andererseits könnten wir hier einen trockenen Bürokraten auch gar nicht brauchen. Übrigens, nicht, dass Sie denken, hier stünden immer dieselben Puppen herum, nein! Über Nacht verschwinden sie und werden einfach durch andere ersetzt. Hippies, Germanenfürsten oder ältere Herren in schottischer Nationaltracht mit Dudelsack.«

Carlotta fasste Gösta Johansson am Ärmel und zeigte auf ein junges Mädchen, das barfuß am Ende einer langen Vitrine mit barocken Kostümen stand. Sie trug einen kurzen Rock aus groben, gedrehten Wollschnüren, ein ebenso grobes Hemd, einen Gürtel mit großer, runder Schließe und hielt in der erhobenen Hand ein Handy. »Das ist Gunilla. Sie steht erst seit ein paar Tagen dort.«

Das Mädchen erinnerte an eine Gymnasiastin der ökologischen Fraktion, die an Sommertagen den Fichtelbacher Hedwigsbrunnen auf dem Marktplatz umlagerte. Carlotta war mit zwei Schritten bei ihr. So mochte sie ausgesehen haben, um 1360 vor Christus, in Dänemark, denn dort hatte man in einem Grab das Original dieses bronzezeitlichen Teenagergewands gefunden.

»Geht das nicht ein bisschen weit mit diesem Ding in der Hand? Ich find’s etwas übertrieben.« Gösta machte ein skeptisches Gesicht.

Carlotta lachte. »Doch, absolut, und das hatte unsere Gunilla gestern auch noch nicht! Das war irgendein Witzbold, der sein ausrangiertes Handy originell entsorgt hat.«

»Interaktives Museum auf Fichtelbacher Art?«, fragte Gösta.

»Genau! Ich glaube, August wäre damit einverstanden gewesen.« Carlotta wollte dem Bronzezeitkind das Mobiltelefon aus der Hand nehmen. Aber sie hielt inne. »Nein, das lasse ich erst mal so. Wer weiß, vielleicht ist Frau Gundrich sogar entzückt darüber. Das weiß man nie.«

Gösta betrachtete das junge Bronzezeitmädchen, das mit dem stillen Gesicht, den ländlich roten Wangen und den glatten, dunkelblonden Haaren vollkommen zeitlos wirkte. »Also, die Idee mit den Figuren gefällt mir. Aber wird denn hier nicht viel kaputt gemacht?«

»Erstaunlicherweise hält sich das in Grenzen. Unsere stummen Besucher bekommen schon mal einen Kaugummi ins Gesicht geklebt, Clothilde hat mal ein Ohrring gefehlt. Aber umgerechnet auf die Zeitspanne ist das ein ziemlich geringer Schaden. Wissen Sie, wenn Sie den Menschen etwas zutrauen, im positiven Sinne, ist das oft viel wirkungsvoller, als etwas zu verbieten.«

Sie bogen um eine Ecke, passierten einen gewölbten Durchgang und fanden sich in einem Raum mit meterdicken Mauern und kleinen Fenstern wieder. Hier regierte keine leichtfüßige Eleganz mehr, denn man war im ehemaligen Wappensaal der Ritterburg von Fichtelbach, erbaut im Jahre des Herrn 1335.

»Raffiniert«, meinte Gösta. »Man merkt gar nicht, wie geschickt hier neunzehntes und vierzehntes Jahrhundert zusammengenäht wurden.«

»Die Burg war eine halbe Ruine. Normalerweise hätte man so etwas im neunzehnten Jahrhundert nicht gemacht. Man hätte eher die Burg abgerissen oder sie pseudomittelalterlich wieder aufgebaut. Aber August war ein visionärer Dickschädel, er wollte das Alte erhalten und mit dem Neuen verbinden. Was heute normal ist, war damals ungewöhnlich.«

Grimmige Ritter der Fichtelbacher Sippe, ausgestorben im achtzehnten Jahrhundert, äugten von den Wänden. Gösta betrachtete die Ahnengalerie. »Hubertus der Halslose«, las er. »Der Porträtist war ja sehr unbarmherzig! Und wer ist das daneben?«

»Johann der Dicke!«

»War er mit dem Bild einverstanden?«

»Das weiß ich leider nicht. Die Porträts sind alle später entstanden, nach Beschreibungen von Zeitgenossen. Der Maler hat die Texte im Stadtarchiv gefunden und dann seine Phantasie walten lassen.«

»Johann sieht aus wie ein Kuchen mit zu viel Backpulver!«, meinte Gösta und besah sich die nächsten Herren. Konrad der Kahle konnte sich tatsächlich mit keinem einzigen Haar trösten. Er hatte noch nicht einmal Augenbrauen und wirkte wie ein erstauntes Schwein. Und Guntram der Starke weckte den dringenden Wunsch, ihm nie auf freier Wildbahn zu begegnen.

»Kommen Sie, Herr Johansson, wir gehen mal zu …« In diesem Moment kam eine Besuchergruppe hereinmarschiert, ihnen voran Herr Heimchen.

Franz Rudolf Heimchen, ein sanfter, älterer Herr, sah aus, als sei er eines Tages einfach aus einem Spitzweggemälde ins Museum gehüpft. Er war Historiker und Instrumentenspezialist, aber, ähnlich wie Carlotta, Heinzelmännchen für alles. Er blieb vor drei Ritterrüstungen stehen, die Besucher gruppierten sich erwartungsvoll im Halbkreis um ihn.

»Ein bisschen habe ich Ihnen ja schon über August erzählt«, begann er den Vortrag mit seiner hohen, etwas brüchigen Stimme, nickte Carlotta grüßend zu und musterte den Mann an ihrer Seite flüchtig, »und über das nicht ganz kleine Geschenk, das er seiner Stadt zum tausendsten Geburtstag machte, nämlich das alles hier.«

»Wir bleiben noch eine Minute«, flüsterte Carlotta, und Gösta nickte.

»August Gayette, meine Damen und Herren, hatte im Mai 1893 eine gigantische Einweihungsfeier für das Museum organisiert, es war viel Prominenz anwesend, darunter eine Prinzessin zu Schaumburg-Lippe. Ein schlauer Professor mit Orden auf der Brust hielt eine Rede über die Kunst, danach kam der Bürgermeister dran und lobte eine halbe Stunde lang den hochgeschätzten Gönner der Stadt. Dann übergab er das Wort an August Gayette, der dankte nur kurz und sagte: ›Bevor wir jetzt alle viel Champagner trinken, verehrte Gäste, sag ich Ihnen nur einen Satz, nämlich: Geschichte muss lebendig erzählt werden, sonst lernen wir nichts aus ihr!‹ Und bei diesem Stichwort klappte er diesem Herrn hier«, Herr Heimchen wies mit dem Daumen auf die Ritterrüstung hinter ihm, »das Visier nach oben, und die Rüstung brüllte: ›Jawoll, Herr Gayette‹, und hob ihre furchtbar knirschende, blecherne Hand zum Gruß. Woraufhin die dicke, alte Prinzessin Schaumburg kreischend zu Boden sank.«

Das Publikum murmelte und kicherte verhalten.

»August Gayette war zwar ein angesehener Bürger«, fuhr Herr Heimchen fort, »aber auch ein Enfant terrible. Dazu kann ich Ihnen noch eine Geschichte erzählen. Einmal war das ganze Museum in heller Aufregung, weil sämtlicher Schmuck über Nacht verschwunden war, dafür fand man Ketten und Armbänder aus Eicheln und Kastanien in den Vitrinen. Und auf den kostbaren alten Fayencen aus Portugal lagen Kuchenstücke und Trauben. Dabei konnte es August nicht gewesen sein, denn seine Diener und die Köchin schworen Eide darauf, dass er am Vorabend seine Villa nicht verlassen habe. Einen Tag lang stand Fichtelbach kopf, August war die Ruhe selbst und befahl seinen Museumskräften, den Kuchen aufzuessen und die Dinge abzuwarten. Und tatsächlich, am nächsten Tag war der Schmuck wieder da, und auf den portugiesischen Tellern, auf denen tags zuvor der Kuchen geduftet hatte, lagen die Eicheln und Kastanien. Jedenfalls«, Herr Heimchen zeigte auf ein paar gerahmte Kopien vergilbter Zeitungsblätter, »der Fichtelbacher Tagesanzeiger hatte damals immer was zu schreiben. Ab und zu gab’s auch geheimnisvolle Fackeln, die nachts ganz oben auf den Burgzinnen plötzlich brannten, oder irgendwelche hüpfenden Irrlichter. Halb Fichtelbach rätselte herum, und ein ängstliches Damenkränzchen ließ extra Messen lesen. Irgendjemandem fiel dann auf, dass man das Geflacker niemals beobachten konnte, wenn August auf Reisen war. Und nach seinem Tod hörte es ganz auf. Ach, und noch so ein Histörchen, aber kommen Sie, das erzähle ich Ihnen im Nachbarsaal!«

Die Gruppe trappelte brav hinter Herrn Heimchen her.

»Und man weiß wirklich nicht, was dahintersteckte?«, fragte Gösta.

Carlotta schüttelte den Kopf. »Der Nachtwächter hatte immer Zeugen dafür, dass wirklich niemand im Museum gewesen sein konnte. Diese Rätsel wurden nie gelöst, bis heute nicht.«

Es wurde wieder ruhig. Carlotta lotste ihren Gast ein paar Schritte weiter. Hinter einem Rundbogen öffnete sich ein weiter Raum. Wie eine sanfte Herde standen Harfen aller Größen in der Mitte des Saales zusammen. Die vielen Hölzer und Ornamente aus verschiedenen Ländern und Jahrhunderten, Perlmutt, Goldbeschläge und Intarsien schimmerten im Nachmittagslicht, das durch die Fenster dieses Rittersaals fiel.

Vor einer großen Konzertharfe aus Ahorn fiel Gösta eine sitzende, lebensgroße Puppe auf, sie trug einen hellen, langen Rock, ihr Oberkörper war vorgebeugt. Den Kopf hatte sie gesenkt, ihre Haare fielen so, dass das Gesicht kaum zu erkennen war, ihre schmalen Finger lagen auf den Saiten. In ihrer konzentrierten Pose glich sie einem andächtigen Engel, der seit Jahrhunderten unbewegt auf den Jüngsten Tag wartet, um endlich ein erlösendes Halleluja anstimmen zu können.

Nichts hätte einen größeren Gegensatz zu den klobigen Rittern bilden können als diese lyrischen Instrumente, die engelsgleiche Harfenistin und ihre stumme Musik, die durch den Raum schwebte.

Gösta legte den Kopf schief. »Ganz ehrlich – das Puppenmädchen finde ich ein bisschen kitschig!«, raunte er. Carlotta wollte etwas sagen, ihre Mundwinkel zuckten, aber sie blieb stumm.

In dieser Sekunde griff der Puppenengel in die Saiten und spielte einen langen Satz perlender Töne, verspielte sich, setzte ab und begann von neuem. Gösta zuckte zusammen, Carlotta berührte beruhigend seinen Oberarm.

»Madonna, das ist ein Tag der Schrecken!« Er nahm ihre Hand und legte sie sich auf die Brust. »Spüren Sie das?«, flüsterte er. »Dreifacher Puls!«

»Tut mir leid«, flüsterte sie zurück. »Die Puppe lebt! Ich hätte Sie warnen sollen. Aber Sie sind einem typischen Gayette-Effekt aufgesessen, und das gehört eben auch zum Museum. Hier findet heute Abend ein Konzert statt, und deshalb probt die Harfenistin aus unserem Fichtelbacher Musikkolleg.« Sie wies auf den Flügel, der auf einem Podest an der Stirnseite des Saales stand. Sie blieben noch ein, zwei Minuten stehen, lauschten dem Mädchen. Fast schien es, als lauschten auch die anderen Harfen ihrer Kollegin.

Die Musik verstummte, das Mädchen beugte sich noch weiter vor, hob raschelnd einige Papiere vom Boden, blickte auf und grüßte Carlotta mit einer kleinen Geste.

»Ihr Puls ist wieder normal!« Carlotta zog vorsichtig ihre Hand unter der seinen hervor.

 

Im nächsten Raum blieb Gösta Johansson plötzlich wie elektrisiert stehen. Nautiluspokal mit Silberfassung stand unter einem Bild, das Frans Calvers 1658 gemalt hatte. Es war eines der Lieblingsgemälde August Gayettes gewesen.

Der Becherteil des fein ziselierten Silberpokals bestand aus dem schimmernden Perlmutt einer Nautilusschnecke. Daneben leuchteten hellrote Kirschen auf glänzendem Damast, der so echt wirkte, dass man das Tuch am liebsten zwischen die Finger genommen hätte. Schmetterlinge gaukelten auf Früchten, die in einer chinesischen Porzellanschale lagen – alles lebensecht von Meisterhand gemalt: ein holländisches Zeugnis aus einem Jahrhundert, als die Kapitäne längst auf großen Seglern die Meere durchpflügten und die nördlichen Länder mit dem Luxus exotischer Importe wie Pfeffer, Porzellan und Seidenstoffe erfreuten.

Gösta Johansson wandte sich zu Carlotta. »Sie halten mich jetzt wahrscheinlich für verrückt, aber genau dieses Bild hängt in Stockholm in meinem Wohnzimmer, exakt das gleiche! Es ist nicht signiert und ganz klar eine Kopie dieses Calvers hier. Auf der Rückseite steht: ›Mit Compliment – August Gayette‹.«

»Das ist ja ein Ding!« Carlotta war sichtlich erstaunt. »Also ein Geschenk von August an Jasper. Wissen Sie, wann es in Ihren Familienbesitz gelangt ist?«

»Nein, leider nicht!« Erst jetzt bemerkte Gösta ein kleines Bild, das links neben dem Calvers hing. Ein buntes Bild in einem billigen, roten Holzrahmen, gleichwertig neben dem holländischen Meisterwerk im vergoldeten Barockrahmen.

Mit krakeligen Filzstiftbuchstaben hatte jemand den Titel unter sein Werk gemalt: »Mein Lieblingsbecher lebt« – und das war nicht übertrieben. Der gepunktete Kakaobecher hatte haarige Ohren, eine grüne Knollennase und grinste aus einem Bett von Kirschen, Bananen und Erdbeeren, gemalt von Kinderhand. Genauer gesagt von »Katrin, sieben Jahre«, wie ganz unten am Bildrand zu lesen war.

Carlotta sah Göstas fragendes Lächeln.

»Kinderhand neben Meisterhand, auch das ist eine August-Idee, jedenfalls so ähnlich. Das hier«, sie zeigte auf das bunte Deckfarbenbild, »stammt aus einem Malwettbewerb. Aber jetzt zeige ich Ihnen etwas ganz Poetisches. Lyrik aus Kalkstein.« Sie ging voraus. »Dazu brauche ich gar nichts zu sagen, dieses Objekt erzählt selbst genug.«

Carlotta hielt Gösta auf der Türschwelle kurz zurück. »Diesen Raum liebe ich. Ich bin jetzt seit zehn Jahren hier, und ich habe mich immer noch nicht sattgesehen.« Sie zeigte auf die linke Wand. »Das ist der sogenannte Elfenstein. Wir haben Paläontologen und Fossilsammler aus Madrid und Tokio, die extra nur wegen dieser Kalksteinplatte zu uns kommen.«

Tatsächlich hingen in diesem Raum nur zwei Objekte einander gegenüber, mehr gab es nicht zu sehen. Gösta trat näher und war vom ersten Augenblick an fasziniert.

Eine sehr große Steinplatte unter Glas hing an der linken Wand: drei fossile, fast unversehrte Libellen schienen nebeneinander zu schweben. Jede hatte eine Flügelspanne von fast zwanzig Zentimetern. Eisenhaltiges Wasser war vor Urzeiten zwischen die Steinplattenschichten gesickert, die rotbraunen Ablagerungen gaben nun die feine Äderung der Flügel und die Formen der Körper nahezu vollkommen wieder. Die großen Libellen sahen aus, als wären sie von der Erdgeschichte vor einhundertfünfzig Millionen Jahren Reigen tanzend überrascht worden.

Die tanzenden Großlibellen schauten auf die gegenüberliegende Wand, auf ein Stillleben von Willem van den Molen, Libellen auf Pfirsichen, Delft 1678. In einer Porzellanschale lagen die Früchte, auf ihrer samtigen Haut schimmerten täuschend echt gemalte Wassertropfen. Zwei Libellen gaukelten mit bläulich irisierenden Flügeln auf den Pfirsichen.

»Über diesen Pfirsich will man mit dem Finger streichen und die Wassertropfen fühlen! Und wie die Flügel der Libellen flirren! Ich kann es nie glauben, dass man einen hauchfeinen Libellenflügel mit so etwas Irdischem wie Ölfarbe malen kann, als wäre er echt!« Carlottas Begeisterung spiegelte sich in ihrem Gesicht. »Sehen Sie, Willems gemalte Libellen wirken echter als die auf dem Elfenstein, dafür haben die auf dem Elfenstein tatsächlich mal gelebt!«

Gösta bewunderte die langen, schimmernden Körper, vibrierend, jederzeit zum Abheben bereit, dann drehte er sich um die eigene Achse und staunte wieder über die Größe der echten Libellen und das über Jahrmillionen erhaltene Filigranwerk ihrer Flügel.

Er ließ seinen Blick über die ausgetretenen Steinplatten des Bodens wandern. Auch hier Zeitspuren, ungezählte Menschen waren singend, weinend oder nachdenklich durch diesen Raum gelaufen und hatten eine Bodenfurche von einer Tür zur anderen hinterlassen. Die hellen, buckligen Steinplatten glänzten im Nachmittagslicht wie geduldige Rücken stiller Riesenfische.

Nach einer Weile zeigte Gösta auf die holländischen Libellen. »Hinter meinem Sommerhaus sind auch immer welche, viel kleiner als diese, aber auch sehr schön. Ich beobachte sie gerne, wenn sie sich auf die hellen Birkenstämme setzen. Ich glaube, sie müssen sich im Sonnenlicht aufwärmen.«

Carlotta wies auf den Elfenstein. »Diese Libellen, ist das nicht unglaublich? Welches Tier sieht nach hundertfünfzig Millionen Jahren immer noch so aus wie beim ersten Entwurf? Ach was, Libellen gibt es ja schon viel, viel länger. Ich glaube, seit dreihundertfünfzig Millionen Jahren.«

Gösta nickte. »Es muss ein bewährtes Konstruktionsmodell der Evolution sein.«

»Ob man das vom Menschen auch mal sagen kann?«

»Gute Frage. Wir können noch nicht mal rückwärts fliegen, geschweige denn in der Sonne an kleinen Birkenstämmen kleben«, entgegnete Gösta. »Immerhin können wir denken. Aber damit das so bleibt, bräuchte ich jetzt …«

»Einen Kaffee, ich weiß.«

»Wieso wissen Sie das? Sie können bestimmt denken und fliegen!«

»Natürlich«, sagte Carlotta ernsthaft. »Das hat mir Tante Antonia beigebracht. Und von ihr hab ich noch etwas Wichtiges gelernt: Kein echter Schwede kann ernsthaft zwei Stunden am Stück ohne Kaffee leben.«

* * *

Das Museumscafé konnte mit zwei Sensationen trumpfen.

Da war zum einen die Lage: Durch verglaste Bögen hatte man einen weiten Blick über die Fachwerkhäuser und Kirchtürme von Fichtelbach und über die heitere Landschaft, ein Bilderbuchpanorama.