Die ökonomische Vernunft der Solidarität - Hartmut Reiners - E-Book

Die ökonomische Vernunft der Solidarität E-Book

Hartmut Reiners

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Beschreibung

Viele Ökonomen sehen im Sozialstaat nur einen Kostenfaktor. Sie befassen sich kaum mit Sozialpolitik, obwohl das diesbezügliche Budget in Deutschland fast ein Drittel des BIP umfasst. Die ökonomischen Eigenarten des Sozialstaats passen nicht in die Welt des Neoliberalismus, der alle sozialen und ökonomischen Beziehungen in seine Kosten-Nutzen-Relationen presst. Dieser Ignoranz stehen Klagen über eine Ökonomisierung des Sozialen gegenüber, die übersehen, dass die Sozialpolitik sich nicht mehr auf Umverteilung beschränkt, sondern auch eine wachsende Branche von gesundheitlichen und sozialen Diensten steuert. Hartmut Reiners zeigt, dass das Sozialversicherungssystem trotz aller Reformbedürftigkeit in seinen Grundzügen eine hohe volkswirtschaftliche Vernunft aufweist. Die Privatisierung der von ihm abgesicherten sozialen Risiken ist nicht nur aus sozialer, sondern auch aus ökonomischer Perspektive gesellschaftlich schädlich. So kann etwa die Arbeitslosigkeit von der Versicherungswirtschaft wegen ihrer unkalkulierbaren Parameter gar nicht abgesichert werden. Die Umstellung der Rentenversicherung von einer solidarischen Umlagefinanzierung auf ein privates, kapitalgedecktes System macht die Alterssicherung von den Launen des Finanzmarktes abhängig und ist mit hohen Ausgaben verbunden, die nicht den Versicherten zugutekommen, sondern den Versicherungen und Kapitalfonds. Die gesetzliche Krankenversicherung bietet die gleichen Leistungen zu deutlich niedrigeren Kosten als die private Krankenversicherung, wie ein Vergleich der Ausgaben zeigt. Der Autor fordert daher ein Ende der Privatisierung in der Sozialpolitik und eine Demokratisierung des Sozialstaats.

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Hartmut ReinersDie ökonomische Vernunft der Solidarität

  

Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik

Diese Publikation wurde durch die Georg-Friedrich-Knapp-Gesellschaft für Politische Ökonomie e. V. ermöglicht.

© 2023 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-909-1(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-516-1)

Umschlaggestaltung : Stefan Fuhrer

Der Promedia Verlag im Internet: www.mediashop.atwww.verlag-promedia.de

Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel 1: Die Ökonomen und der Sozialstaat
1.1 Der Homo oeconomicus im Sozialstaat
1.2 Sozialpolitik und Wirtschaftsordnung
1.3 Der Sozialstaat als Sündenbock
Kapitel 2: Sozialpolitik und soziale Gerechtigkeit
2.1 Die freie Marktwirtschaft als Imperativ
2.2 Die neoklassische Wohlfahrtsökonomik
2.3 Katholische Soziallehre: Solidarität und Subsidiarität
2.4 Karl Marx und die soziale Gerechtigkeit
2.5 John Rawls: Gerechtigkeit in einer »wohlgeordneten Gesellschaft«
Kapitel 3: Die Revision des Sozialstaats
3.1 Sozialstaat und Demokratie
3.2 Neue soziale Fragen?
3.3 Neue Risiken und die Individualisierung der Gesellschaft
3.4 Abstiegsgesellschaft und Verteilungskampf
3.5 Der Sozialstaat als sozioökonomischer Prozess
Kapitel 4: Risiko Arbeitslosigkeit
4.1 Brauchen wir die soziale Arbeitslosenversicherung?
4.2 Gesetzliche Arbeitslosenversicherung
4.3 Grundsicherung für Arbeitsuchende
4.4 Bedingungsloses Grundeinkommen – sinnvolle Alternative?
4.5 Arbeitsförderung als Perspektive
Kapitel 5: Soziale Sicherheit im Alter
5.1 Ebenen der Altersvorsorge in Deutschland
5.2 Überfordert die demografische Entwicklung die Rentenversicherung?
5.3 Umlagefinanzierung, Kapitaldeckung und Generationengerechtigkeit
5.4 Der Deutschlandfonds – eine Alternative?
5.5 Perspektiven der solidarischen Rentenversicherung
Kapitel 6: Die Krankenversicherung: Privat oder Kasse?
6.1 Struktur der Krankenversicherung in Deutschland
6.2 Marktversagen im Gesundheitswesen
6.3 Die ökonomische Dynamik des Gesundheitswesens
6.4 Teure Privatisierung der Krankheitsrisiken
6.5 Perspektiven der Gesundheitspolitik
Kapitel 7: Risiko Pflegebedürftigkeit
7.1 Struktur der Pflegeversicherung
7.2 Pflegegrade und Leistungen
7.3 Perspektiven der Pflegeversicherung
Ausblick: Wer soll das bezahlen?
Literatur
Stichwortverzeichnis

Über den Autor

Hartmut Reiners, geboren 1945 in Bad Rothenfelde (Niedersachsen), ist Volkswirt und Gesundheitsökonom. Er war viele Jahre in den Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg tätig und an Reformen der Krankenversicherung zwischen 1988 und 2009 beteiligt.

Einleitung

Francis Fukuyama traf 1989 mit seinem Essay »Das Ende der Geschichte?« den publizistischen Zeitgeist. Die liberale Zivilgesellschaft und die Marktwirtschaft hätten sich endgültig als politische und ökonomische Modelle etabliert, der Sozialismus sei daher tot und begraben. Diese Erzählung bezog sich auf die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstandene Systemkonkurrenz zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft des Westens und der zentralen Planwirtschaft des RGW-Systems in Mittel- und Osteuropa, das Ende der 1980er Jahre implodierte. In den folgenden Jahren wurde dieser Systemkonflikt in der politischen Arena auf den Wohlfahrtsstaat projiziert, der sich in den westlichen Industrieländen in unterschiedlichen Ausprägungen etabliert hatte. Marktliberale Ökonomen und Publizisten sehen in ihm eine »Teufelsmühle« (Hank 2010), die mit ihren expansiven Mechanismen das erfolgreiche Modell der sozialen Marktwirtschaft zerstöre und die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beeinträchtige.

Dieser Behauptung steht die Tatsache gegenüber, dass in den »reichen Demokratien« (Wilensky 2006) die seit 60 Jahren kontinuierlich wachsenden Sozialbudgets mit einem soliden Wirtschaftswachstum einhergegangen sind. In der alten Bundesrepublik Deutschland lag die Sozialleistungsquote des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 1960 bei 18,3 Prozent. Sie stieg bis 1990 auf 24,1 Prozent und liegt heute (2021) im vereinten Deutschland bei 32,5 bzw. 30,3 Prozent, wenn man die pandemiebedingten Effekte herausnimmt. Diese Entwicklung muss den »neuen Staatsfeinden« (Roß 1998) eigentlich ein Rätsel sein. Wie kann es sein, dass der Sozialstaat mit wachsendem Wohlstand expandiert, wo der ihm doch eigentlich nach ihrer Auffassung die Existenzgrundlage entziehen sollte? Wie kann diese Entwicklung mit Wirtschaftswachstum und steigender Produktivität einhergehen, wo steigende Sozialausgaben ihren Modellen zufolge zu wirtschaftlicher Stagnation, wenn nicht Rezession führen?

Politische Ökonomie des Sozialstaats

Die Herausgeber einer Denkschrift zu 60 Jahren Sozialgerichtsbarkeit stellen in ihrer Einleitung fest, dass die Ökonomen in der Forschung und Lehre zu Fragen der Sozialstaatlichkeit in den letzten Dekaden massiv an Gewicht verloren haben (Masuch et al. 2015: VIII). Lehrstühle für Sozialpolitik, die früher zur Standardausstattung von Ökonomie-Fakultäten gehörten, gibt es kaum noch. Die in der akademischen Lehre dominierende neoklassische Ökonomik kann mit der Sozialpolitik wenig anfangen. Sie wird auf Sozialabgaben als betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor reduziert (Schmähl 2015: 31f.).

Die wenigen von der Lehrbuchökonomie präsentierten Abhandlungen zur Sozialpolitik basieren großenteils auf der in den 1950er Jahren in den USA entwickelten Public-Choice-Theorie, die in Deutschland in den 1980er Jahren auch als Neue Politische Ökonomie bekannt wurde. Sie repräsentiert einen »ökonomischen Imperialismus« (Kenneth Boulding), der die auf die Marktwirtschaft gemünzte Denkfigur des Homo oeconomicus auf die sozialen Sicherungssysteme überträgt. Deren Besonderheiten werden als fatale Abweichungen von marktwirtschaftlichen Regeln interpretiert, ohne zu fragen, ob diese im Sozialstaat überhaupt eine Relevanz haben.

Die seit über 20 Jahren in den Sozialstaat implantierten marktanalogen Mechanismen haben zu schweren Verwerfungen geführt. Dieser Sachverhalt wird im sozialpolitischen Diskurs aber nicht als ökonomisches Problem diskutiert, sondern als Frage der sozialen Gerechtigkeit. Diese »Subjektivierung der Sozialpolitik« (Stefan Lessenich) blendet die ökonomischen Parameter sozialer und gesundheitlicher Dienste aus, die sich zu einer großen Sozialökonomie entwickelt haben. Zwischen der Ökonomisierung und der Kommerzialisierung der Absicherung sozialer Risiken wird kaum unterschieden. Es mangelt an einer ökonomischen Fundierung der Sozialpolitik als der Steuerung eines Wirtschaftszweiges mit mehr als acht Millionen Beschäftigten, der sich grundlegend von anderen Branchen unterscheidet.

Strukturwandel des Sozialstaates

Das Wachstum des Sozialbudgets hängt nicht zuletzt mit den seit den 1960er Jahren steigenden Ausgaben für gesundheitliche und soziale Dienste zusammen. Heute besteht das Sozialbudget zu fast 40 Prozent aus Sachleistungen. Die in der Literatur vorherrschende Charakterisierung des Sozialstaats als reine Transfermaschine stimmt nicht mehr. Während Lohnersatzleistungen wie Renten und Arbeitslosengeld sich in den vom Lohnniveau vorgegebenen Grenzen entwickeln, steigen die Ausgaben für gesundheitliche und soziale Dienste überproportional zum BIP und den Löhnen. Dieser Strukturwandel wird von der Definition der Sozialpolitik als »Politik der Einkommensverteilung« (Elisabeth Liefmann-Keil) ausgeblendet, die nach wie vor den sozialpolitischen Diskurs bestimmt. Auch der politökonomisch hochgebildete Soziologe Heiner Ganßmann sah im Sozialstaat »nichts anderes als auf politischem Wege geltend gemachte Verteilungsansprüche« (2009: 54). Diese Eigenschaft hat er nach wie vor, insbesondere in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Aber es ist eine verkürzte Sicht, den Sozialstaat auf ein System von Transferleistungen zu reduzieren.

Der steigende Anteil der gesundheitlichen und sozialen Dienste am Sozialbudget hat seine Wurzeln in deren gegenüber der Industrieproduktion geringerer Rationalisierbarkeit. Konsumgüter haben heute einen deutlich geringeren Anteil an den Lebenshaltungskosten als früher, dafür geben wir mehr Geld für Dienstleistungen wie die in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung aus. Das ist keine Kostenexplosion, als die diese Entwicklung oft dramatisiert wird, sondern die Folge des Strukturwandels moderner Volkswirtschaften von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft.

Die Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen sind die Basis einer Dienstleistungswirtschaft, in der sechs Millionen Beschäftigte zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaften. Auch die anderen Sozialversicherungen bieten Dienstleistungen in der Gesundheitsförderung, medizinischen Rehabilitation und beruflichen Fortbildung an. Der moderne Sozialstaat schafft Jobs, mit denen die durch die Rationalisierung und Digitalisierung in der Industrie einhergehenden Arbeitsplatzverluste kompensiert werden können.

Er hat sich mit seinen Diensten genauso wie das Bildungswesen und die Verkehrsinfrastruktur zu einem unverzichtbaren Teil der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion entwickelt, dessen Budget man nicht willkürlich mit einer »Sozialbremse« (Peter Altmeier) begrenzen kann, ohne die gesundheitliche und soziale Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu gefährden. Deren Kosten verschwinden nicht mit ihrer Privatisierung, vielmehr wachsen sie, weil sie der Kosten- und Qualitätskontrolle des Sozialversicherungssystems entzogen und privaten ökonomischen Interessen untergeordnet werden. Das erhöht die Lebenshaltungskosten und damit indirekt auch die Lohnkosten. Die Vorstellung, mit der Verlagerung der Sozialabgaben in die privaten Haushalte würden sich die Kosten des Faktors Arbeit verringern, ähnelt dem Glauben von Kleinkindern, man würde sie nicht mehr sehen, wenn sie sich die Hände vors Gesicht halten.

Die ökonomische Vernunft des Sozialstaats

Marktliberale Ökonomen bestreiten nicht, dass eine allgemeine Absicherung sozialer Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alterung und Krankheit erforderlich ist. Sie sehen darin aber keine genuin staatliche Aufgabe. Man müsse sie vielmehr privaten Versicherungsunternehmen übertragen, weil diese die allgemeine Risikoabsicherung wirtschaftlicher durchführen könnten als die von Natur aus träge und ineffiziente Sozialbürokratie. F. A. Hayek fasste diese Überzeugung in der für ihn rhetorischen Frage zusammen: »Kann ernstlich geleugnet werden, daß die meisten Menschen besser gestellt wären, wenn ihnen das Geld ausgehändigt werden würde und es ihnen frei stünde, ihre Versicherung von privaten Unternehmungen zu kaufen?« (Hayek 2005: 399).

Seit Jahren wird das wachsende Gesundheits- und Sozialwesen von mächtigen Unternehmen als ein sicheres und renditeträchtiges Anlageobjekt entdeckt. Diese Bestrebungen lassen sich kaum mit moralischer Empörung über eine unsoziale Ökonomisierung und die Profitgier von immer mehr Krankenhäuser und Arztpraxen finanzierenden Hedgefonds wirksam bekämpfen. Der Sozialstaat hat zwar mit dem Ziel, allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, einen sozialethischen Grundzug. Aber er hat auch gewichtige wirtschaftliche Argumente auf seiner Seite. Er kann allgemeine Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Alterung und Krankheit effektiver absichern als privatwirtschaftliche Alternativen.

Eine auskömmliche Rente, eine umfassende gesundheitliche Versorgung, die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit gehören zum Standard moderner Gesellschaften, der auch in der Sozialcharta der EU kodifiziert ist. Private Absicherungen dieser Risiken können sich nur dann legitimieren, wenn sie diese Aufgabe effektiver und wirtschaftlicher wahrnehmen als öffentliche Institutionen. Das ist aber nachweislich nicht der Fall, wie in den Kapiteln 4 bis 7 dieses Buches gezeigt wird:1

Eine Arbeitslosenversicherung wird von der Versicherungswirtschaft gar nicht angeboten. Die Arbeitsmarktrisiken sind von Bedingungen abhängig, die von ihren Aktuaren nicht in Versicherungsprämien kalkuliert werden können.Das Umlageverfahren der Gesetzlichen Rentenversicherung ist weniger krisenanfällig als das von Unwägbarkeiten der internationalen Finanzmärkte und den Interessen von Kapitalanlegern abhängige Kapitaldeckungsverfahren. Dieses hat zudem hohe Overhead-Kosten und unerwünschte externe Effekte, zum Beispiel in Form sprunghaft steigender Preise auf dem Immobilienmarkt als einem bevorzugten Anlagebereich von Pensionsfonds.Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) gibt für die gleichen medizinischen Versorgungsleistungen ein Drittel weniger aus als die Private Krankenversicherung (PKV). Die in der Wirtschaftspresse ständig wiederholte Behauptung, ein einheitliches Krankenversicherungssystem führe »zu einer schlechteren Versorgung und weniger medizinischer Innovation« (FAZ 23. 09. 2022), ist aus der Luft gegriffen. Das duale System von GKV und PKV hat, wie der Wirtschafts-Sachverständigenrat (2004/2005) feststellte, keine ökonomische Legitimation.In der Pflegeversicherungbietet der von der PKV verwaltete private Zweig die gleichen gesetzlichen Leistungen wie die soziale Pflegeversicherung aber nur als Kostenerstattung, was mit erhöhtem bürokratischem Aufwand für die Versicherten und ihre Angehörigen verbunden ist.

Das Sozialversicherungssystem hat eine solide ökonomische Legitimation gegenüber privatwirtschaftlichen Absicherungen, aber auch einen erheblichen Reformbedarf. Eine sachgemäße Ausstattung der gesundheitlichen und sozialen Dienste, den sozialen Abstieg im Alter verhindernde Renten und die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt sind nicht ohne ein wachsendes Sozialbudget zu haben. Die Behauptung, das sei nicht finanzierbar, ist schon deshalb falsch, weil die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme keinen Spareffekt bringt, sondern, wie noch gezeigt wird, Ressourcenverschwendung und höhere Overhead-Kosten. Die Frage ist auch nicht die nach der Zahlungsfähigkeit, sondern die nach der Zahlungsbereitschaft. Wenn sich die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik weiterhin an den Dogmen der Schuldenbremse und der Sozialabgabenbremse orientiert, werden wir die sozialen Probleme unseres Landes nicht bewältigen können.

1 Die Gesetzliche Unfallversicherung (GUV) wird in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt, obwohl sie die historische Keimzelle unseres Sozialversicherungssystems war. Sie hat eine Sonderstellung, weil sie keine Sozialversicherung für Erwerbstätige ist, sondern eine obligatorische Haftpflichtversicherung für alle Arbeitgeber, die von branchenbezogenen Berufsgenossenschaften organisiert wird. Die Beiträge werden nur vom Arbeitgeber entrichtet und richten sich nach den Risiken der Betriebe. Ein Solidarausgleich wie in den anderen Säulen der Sozialversicherung findet nicht statt.

Kapitel 1: Die Ökonomen und der Sozialstaat

Die meisten Ökonomen fremdeln mit der Sozialpolitik, deren Eigenarten nicht in ihre von Kosten-Nutzen-Kalkülen geprägte Gedankenwelt passen. An den deutschen Ökonomie-Fakultäten herrschen zwei miteinander verflochtene Denkschulen: die neoklassische Ökonomik mit dem Paradigma des nutzenmaximierenden Homo oeconomicus und der Ordoliberalismus mit dem Fokus auf eine Marktwirtschaft mit reguliertem Wettbewerb. Die Neoklassik betrachtet den Sozialstaat als eine systematische Fehlallokation von Ressourcen, was sie mit der Public-Choice-Lehre begründet. Demnach kann der Wohlfahrtsstaat nicht effektiv funktionieren, weil sich seine Akteure wie in der Marktwirtschaft am Eigennutz orientieren. Jeder versuche, aus den Angeboten des Sozialstaats so viel wie möglich für sich herauszuschlagen. Das setze eine »Teufelsmühle« (Hank 2010) von steigenden Sozialabgaben und sinkendem Wirtschaftswachstum in Gang.

Diese Auffassung teilt der die deutsche Wirtschaftspolitik seit den 1950er Jahren dominierende Ordoliberalismus und fordert, Sozialpolitik habe »in erster Linie Wirtschaftsordnungspolitik zu sein« (Eucken 1990: 315). Für Walter Eucken, Nestor dieser Lehre, bewirkt die Marktwirtschaft per se eine effektive Sozialpolitik, weil sie die »Wirtschaftsordnung mit dem höchsten wirtschaftlichen Wirkungsgrad« (ebenda) sei. Eine kartellrechtlich flankierte Wirtschaftspolitik bringe »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) und löse damit auch die meisten sozialen Probleme. Man müsse die private Vermögensbildung in Form von Sparplänen und Wohneigentum fördern und durch gezielte Geldleistungen kinderreiche Familien und einkommensschwächere Personengruppen unterstützen. Ansonsten solle man die staatlichen Sozialleistungen auf eine das Existenzminimum abdeckende Grundsicherung beschränken.

1.1 Der Homo oeconomicus im Sozialstaat

In der herrschenden Lehre wird die Ökonomik als die Wissenschaft von der Allokation knapper Ressourcen verstanden, gemäß der Definition von Lionel C. Robbins: »Die Ökonomie ist die Wissenschaft, welche das Verhalten der Menschen als Beziehung von Zielen und knappen Mitteln mit verschiedenem Nutzen untersucht.« (zit. nach Jochimsen und Knobel 1971: 16). Sie beschäftigt sich demnach mit Fragen der Nutzen- und Gewinnmaximierung unter dem Vorzeichen von Knappheit. Dieses Paradigma gilt für alle Akteure im Wirtschaftsleben, für etliche Ökonomen darüber hinaus auch für menschliches Verhalten schlechthin. Es ist entweder eine Leerformel, wenn es besagt, dass Handlungen von Personen stets von Ziel-Mittel-Relationen geprägt sind. Oder es ist eine übergriffige Ideologie, wenn damit die Gewinnmaximierung zu einer anthropologischen Konstante in allen Lebenslagen erklärt wird.

Der Homo oeconomicus als Denkfigur

Die von Robbins 1932 formulierte Definition vom ökonomischen Denken und Handeln hatte sich schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Denkansatz der neoklassischen Ökonomik durchgesetzt (Blaug 1996: 277ff.). Er richtet den Fokus auf die Knappheit von Gütern und hat damit eine andere Fragestellung als die klassische Ökonomik von Adam Smith über David Ricardo bis zu Karl Marx, in deren Mittelpunkt die Untersuchung über das »Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen« steht, wie es im Titel des Hauptwerkes von Adam Smith formuliert wird.

Eine solche Ökonomik beschäftigt sich mit der arbeitsteiligen Produktion von Gütern und deren Anerkennung auf den Märkten als gesellschaftlich nützliche Dinge. Sie entstand mit der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert, die zur Massenproduktion von Gütern jenseits von Subsistenzwirtschaft, feudalem Merkantilismus und monopolistischen Zünften führte.

Die Bauernmärkte und Handwerkermessen im ausgehenden Mittelalter waren strikt reguliert und hatten nicht den Charakter von Warenmärkten. Das Erwerbsstreben stand zudem unter dem biblischen Verdikt von Habgier und Selbstsucht. Der als Nestor der Ökonomik geltende Adam Smith war eigentlich Moralphilosoph. Er wollte zeigen, dass die freie Marktwirtschaft keineswegs, wie Klerus, Adel und Zünfte warnten, im Chaos und Sittenverfall endet, sondern über eine unsichtbare Hand zur rationalen Steuerung des Warenaustausches führt. Er fasste dies in einer der berühmtesten Sentenzen der ökonomischen Theorie zusammen (Smith 1963: 21f.):

»Wir erwarten unser Essen nicht von der Wohlfälligkeit des Fleischers, Brauers oder Bäckers, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.«

Dieses Verhalten von Marktteilnehmern kombinierten Ökonomen wie Stanley Jevons, Carl Menger und Leon Walras in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Gossen’schen Gesetz des sinkenden Grenznutzens von Gütern (Hofmann 1964: 129ff.). Der tritt ein, wenn für jede zusätzlich für ein bestimmtes Gut ausgegebene Geldeinheit der damit erworbene Zusatznutzen geringer wird. Die Höhe des Preises einer Ware hängt demnach von ihrer Knappheit ab, die mit steigender Nachfrage zu Preiserhöhungen und bei abnehmender Nachfrage zu Preissenkungen führt. Die Aufgabe von Ökonomen wird darin gesehen, den Gleichgewichtspunkt zu bestimmen, an dem Zusatzaufwand und Zusatznutzen im Einklang stehen.

Damit wurde die Ökonomik in eine Praxeologie transformiert, deren Mechanismen sich unabhängig von Raum und Zeit auf alle Menschen und ihre sozialen Beziehungen anwenden lassen. Sie gelten für Robinson auf seiner Insel ebenso wie für global aufgestellte Großkonzerne. Der Begriff vom ökonomischen Denken und Handeln gleitet damit in die Trivialität ab, dass »ungeachtet der Gegebenheiten und namentlich der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft, das menschliche Handeln, soweit es rational ist, immer versuchen wird, das Beste aus jeder gegebenen Situation herauszuholen« (Schumpeter 1972: 128).

Die in zahlreichen Publikationen ausführlich belegte Kritik, die von der Denkfigur des Homo oeconomicus vorgestanzten Modelle seien spekulativ und hätten keine seriöse wissenschaftliche Fundierung,2 perlt an den meisten Ökonomen ab. Sie werden in ihrer akademischen Ausbildung im Denken und Formulieren von Optimierungsmodellen trainiert. Weichen diese von der Empirie ab, wird die Diskrepanz nicht auf eine mangelhafte Theorie zurückgeführt, sondern einer falschen Realität angelastet oder mit Hilfe der notorischen Ceteris paribus-Klausel3 von der komplizierten gesellschaftlichen Wirklichkeit abgeschottet. Der britische Ökonom Jonathan Aldred kommt in seiner kritischen Bestandsaufnahme der neoklassischen Ökonomik zu dem Ergebnis, sie bestehe »aus einer Sammlung hochgradig unrealistischer Geschichten über einen selbstsüchtigen und hyperrationalen homo oeconomicus« (Aldred 2020: 23, Hervorhebung im Original), den der Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen (2020) einen »rationalen Dummkopf« nennt.

Public Choice

Die Public-Choice-Lehre ist die Reaktion der neoklassischen Ökonomik auf den Wohlfahrtsstaat und wird auch von Soziologen als wichtiger Beitrag zur Analyse sozialer Mechanismen des Wohlfahrtsstaates gewürdigt (Berger 2001, Bude 2019). Sie hat Vorläufer in Joseph Schumpeters Theorie der Demokratie und im Unmöglichkeitstheorem von Kenneth Arrow:

Joseph Schumpeter zieht eine Parallele zwischen Märkten und der Politik, die in der Demokratie ein »Wahlstimmenmarkt« sei (Schumpeter 1972: 427ff.). Dort gehe es nicht um die Suche nach optimalen Problemlösungen, sondern um das Erringen politischer Mehrheiten. Zwischen einem in Wahlen geäußerten Volkswillen und dem individuellen Wollen bestehe ein Widerspruch, der nicht harmonisch in eine »volonté générale« überführt werden könne.Kenneth J. Arrow untermauerte Schumpeters These, ohne sich direkt auf sie zu beziehen, in seinem die Public-Choice-Lehre begründenden Werk »Social Choice and Individual Values« (Arrow 1951) mit dem Unmöglichkeitstheorem. Er zeigt mit mathematischer Beweisführung, dass es kein demokratisches Politiksystem geben kann, das eine kollektive Präferenz hervorbringt.

Anthony Downs (1965) formulierte auf Basis dieser Grundannahmen eine »Ökonomische Theorie der Demokratie«, die davon ausgeht, dass politisch gesteuerte Systeme wie Märkte nach dem Muster der individuellen Nutzenmaximierung funktionieren. James M. Buchanan und Gordon Tullock (1962) und Mancur Olson (1968) leiteten daraus einen Strukturmangel aller kollektiven Systeme wie Sozialversicherungen und Gewerkschaften ab. Sie behaupten, dass dort individuell rationales Handeln zu ökonomisch irrationalen Ergebnissen führt. Organisationen, die Kollektivgüter anbieten, stünden vor einem Dilemma. Eine freiwillige Mitgliedschaft habe Trittbrettfahrer-Effekte zur Folge, da auch Nicht-Mitglieder von den Leistungen profitierten. Das zahlende Mitglied sei der oder die Dumme, jedenfalls ergebe es für einzelne Personen keinen ökonomischen Nutzen, dieser Organisation beizutreten. Deshalb könne sie nur auf Basis einer Zwangsmitgliedschaft Bestand haben, etwa mit einer Sozialversicherungspflicht oder einem Tarifmonopol von Gewerkschaften.

Moral Hazard

Dieser Zwang wiederum provoziere eine Überinanspruchnahme von Leistungen, da jedes Mitglied ohne Rücksicht auf seinen tatsächlichen Bedarf für seine Beiträge so viel wie möglich wieder aus dem gemeinsamen Topf herauszuholen versuche. Aus der Tatsache, dass es für alle Gruppenmitglieder vorteilhaft wäre, wenn das gemeinsame Ziel erreicht würde, folge nämlich nicht, dass sie auch ihr individuelles Handeln auf die Erreichung dieses Ziels ausrichten würden. Zwar sei es im Interesse aller, sich solidarisch zu verhalten. Da jedoch die einzelnen Gruppenmitglieder befürchten müssten, dass die jeweils anderen sich eigennützig verhalten und damit Vorteile verschaffen, verhalten sie sich selbst auch so, um nicht zu den Benachteiligten zu gehören. Gruppenziele und individuelles Verhalten der Gruppenmitglieder würden sich in dem Maß auseinanderentwickeln, wie die Gruppe wachse. Je größer diese sei, umso schwieriger sei es für einzelne Mitglieder, das Verhalten der anderen einzuschätzen oder zu kontrollieren. Die Anonymität großer sozialer Einheiten verführe zwangsläufig dazu, sich des von der Gruppe bereitgestellten Gutes übermäßig zu bedienen.

Diese Erzählung wird als Moral Hazard bezeichnet, ein aus der Feuerversicherung in den USA stammender Begriff, der das Risiko der fahrlässigen, wenn nicht mutwilligen Brandstiftung durch Versicherte meint. Zu seiner Illustration werden von ihren Protagonisten gerne Begebenheiten aus dem Alltag herangezogen, die mit Politik nichts zu tun haben. Der Sozialökonom Philip Herder-Dorneich, der Moral Hazard als »Rationalitätenfalle« bezeichnet, wählt das Gleichnis eines alkoholseligen Betriebsausfluges. Werde ein solches Vergnügen per Umlage mit der gleichen Pauschale für alle Teilnehmer finanziert, sei es für niemanden lohnend, auf ein Bier zu verzichten. Im Gegenteil, es sei ökonomisch rational, mehr als die anderen zu trinken, um hinterher nicht derjenige zu sein, der mit seiner Enthaltsamkeit den Rausch der anderen finanziert. Herder-Dorneich konstatiert (1982: 50): »Bei Umlagen wird Zurückhaltung im Konsum irrational.« Das ist schon mit Bezug auf Betriebsausflüge eine gewagte These, geht aber an der Realität des Sozialstaats weit vorbei.

Das Moral-Hazard-Theorem spielt vor allem in der Gesundheitsökonomik eine Rolle. Es wurde in den 1960er Jahren von Kenneth Arrow (1963) und Mark Pauly (1968) im Zusammenhang mit der Einführung einer sozialen Krankenversicherung für Rentner (Medicare) und Sozialhilfeempfänger (Medicaid) in den USA entwickelt. Sie setzten jedoch unterschiedliche Akzente. Arrow konstatiert eine grundsätzliche ökonomische Asymmetrie im Gesundheitswesen, die sich aus der dominanten Position der Ärztinnen und Ärzte ergibt. Auf deren Expertise müssen sich die Patientinnen und Patienten verlassen. Aber ärztliches Handeln orientiert sich nicht nur an medizinischen Erfordernissen, sondern auch an den ökonomischen Interessen der Arztpraxen und Krankenhäuser. Arrow sah in der sich daraus ergebenden angebotsinduzierten Nachfrage auch ein moralisches Problem. Aber man kann ökonomische Interessen nicht mit Appellen an das Gewissen des medizinischen Personals eingrenzen, sondern nur mit kollektivvertraglichen Vereinbarungen über Vergütungen und die Sicherung der Versorgungsqualität (Näheres in Kapitel 6). Mark Pauly sah das anders und verortete das Problem der Leistungsausweitungen im Gesundheitswesen eher in Fehlanreizen eines vollen Krankenversicherungsschutzes. Ohne finanzielle Eigenverantwortung der Versicherten in Form von finanziellen Eigenbeteiligungen käme es zu einer Überinanspruchnahme von Leistungen.

Die Debatte über angebots- und nachfrageinduzierte Moral-Hazard-Effekte wird bis heute in den Lehrbüchern zur Gesundheitsökonomik geführt (Breyer et al. 2013, Hajen et al. 2017). Auch neoklassische Ökonomen gehen davon aus, dass die freie Marktwirtschaft im Gesundheitswesen wegen der Asymmetrie im Arzt-Patienten-Verhältnis nicht funktionieren kann. Deshalb solle man dort nur marktähnliche Instrumente der Kostensteuerung und Preisbildung verwenden, um zu einer möglichst optimalen Ressourcenverwendung zu gelangen. Sie sehen in Selbstbehalten und Zuzahlungen der Versicherten effektive Mechanismen zur Steuerung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen. Geht diese nach einer Einführung oder Erhöhung von privaten Zuzahlungen zurück, wird das als eine Bestätigung des Moral-Hazard-Theorems gewertet.

Die Abnahme von Arztbesuchen oder des Arzneimittelverbrauchs ist jedoch an sich kein valider Beleg für positive Anreizwirkungen von Selbstbeteiligungen. Sie können zwar je nach ihrer Höhe Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Leistungen und die Ausgaben der Krankenversicherungen haben. Aber finanzielle Belastungen können Versicherte auch von einer rechtzeitigen medizinischen Behandlung abhalten, was die gesundheitlichen Risiken erhöht und zu vermeidbaren Kostensteigerungen im Gesundheitswesen führt. Paulys These der systematischen Fehlanreize für Mitglieder von Krankenversicherungen hat keine empirische Evidenz. Sie taugt noch nicht einmal als Prüfhypothese, weil sie unterstellt, dass medizinische Behandlungen ein erstrebenswerter Genuss sind, von dem man gar nicht genug bekommen kann. Diese Annahme kann man schon mit dem Hinweis auf Zahnbehandlungen, die lästige 24-Stunden-Blutdruckmessung und die leidvolle Chemotherapie als unrealistisch verwerfen. Auch die Behauptung, eine soziale Krankenversicherung verleite zu gesundheitlich riskantem Verhalten, weil sie für dessen Folgen aufkomme, geht an der Realität vorbei. Die gesundheitlichen Chancen und Risiken hängen vor allem von den genetischen Eigenschaften der Menschen und ihrer sozialen Lage ab, die sie beide individuell gar nicht oder nur sehr begrenzt beeinflussen können.

Die entscheidende Frage ist, ob es Eigenbeteiligungen der Versicherten geben kann, mit der die GKV-Ausgaben begrenzt werden, ohne damit sozial Schwache und chronisch Kranke auszugrenzen oder finanziell zu überfordern. Alle bisher dazu gemachten Untersuchungen laufen darauf hinaus, dass es die sozialverträgliche und zugleich die Behandlungsausgaben effektiv steuernde Form der Selbstbeteiligung der Patientinnen und Patienten nicht gibt (Reiners 2019: 93ff.). Zuzahlungen haben nur dann einen sinnvollen Effekt, wenn den Versicherten die Wahl zwischen von der Kasse bezahlten Standardleistungen und teureren Therapien mit dem gleichen Effekt gelassen wird. Das ist zum Beispiel in der Arzneimittelversorgung in Segmenten möglich, wo der Patentschutz für Wirkstoffe ausgelaufen ist und mehrere Produkte mit gleicher Wirkung am Markt sind (Reichelt 1994). Ansonsten gilt die Faustregel, dass Zuzahlungen entweder hoch und ausgabenwirksam sind, aber soziale und gesundheitliche Schäden riskieren, oder niedrig und sozial verträglich sind, dann aber keine Auswirkungen auf die Inanspruchnahme von Leistungen haben.

Ökonomischer Imperialismus

Moral Hazard ist eine von vielen Derivaten der Denkfigur des Homo oeconomicus. Dessen Kosten-Nutzen-Schema hat sich von ökonomischen Fragestellungen der Ressourcenverteilung immer weiter entfernt. Es hat sich eine »Ökonomik von Allem« verbreitet (Aldred 2020: 191ff.), die sich mit ihren Optimierungskalkülen in alle möglichen Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens einmischt. Der wichtigste Protagonist dieser Hybris, die Kenneth Boulding als »ökonomischen Imperialismus« bezeichnete (Boulding 1973: 118), ist Gary Becker. Sein »ökonomischer Ansatz zu menschlichem Verhalten« (Becker 1982) reduziert alle Lebensäußerungen und Verhaltensweisen auf die Maximierung des persönlichen Vorteils, wobei die Definition dessen, was vorteilhaft ist, sich nach Beckers Postulat allein im Kopf eines jeden Individuums abspielt. Mit soziologischen Analysen menschlichen Verhaltens und dessen Einbettung in soziale Zusammenhänge kann Gary Becker nichts anfangen, wie er in einem Gespräch mit der Wirtschaftsjournalistin Karen Horn bekannte (Horn 2009: 175). Der Denkansatz des Homo oeconomicus mit seiner klaren Kosten-Nutzen-Logik sei so umfassend, »dass er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist« (Becker 1982: 8).

Mit ihm begründet er, weshalb Mütter nicht berufstätig sein und zu Hause bleiben sollten, während ihre Ehemänner Geld verdienen und die Familie ernähren (Becker 1991). Diese Aufgabenteilung mache die Hausarbeit produktiver, weil sie von einer Fachkraft ausgeübt werde, und steigere wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten der Männer den Lebensstandard der Familie. Auch die Sexualität wird in dieses Schema gepresst, wobei Kinder als »commodities«, also Wirtschaftsgüter, gelten, die in einer Ehe günstiger produziert werden könnten als in außerehelichen Beziehungen (Becker 1991: 124). Eigentlich gehören solche »Freakonomics« (Aldred 2020: 200ff.) ins akademische Kuriositätenkabinett, aber die Schwedische Reichsbank erwies sich als humorlos und belohnte Gary Becker 1992 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften.

1.2 Sozialpolitik und Wirtschaftsordnung

Der Neoliberalismus ist eine Sammelbezeichnung für politische Projekte, die sich die Hegemonie der Marktwirtschaft zum Ziel gesetzt haben. Als sein Geburtshelfer gilt die nach dem Zweiten Weltkrieg vom Publizisten Walter Lippmann, dem Ökonomen Friedrich A. Hayek und dem Philosophen Karl Popper initiierte Mont-Pelerin-Gesellschaft (MPS). Sie war anfangs ein Forum von Wissenschaftlern und politischen Publizisten, die eine »offene Gesellschaft« (Karl Popper) anstrebten und sich als Gegenbewegung zu sozialistischen Programmen der Wirtschaftsplanung verstanden. Schon bald zog sich der kritische Rationalist Karl Popper zurück, und die MPS entwickelte sich zu einem marktradikalen Zirkel, der vor allem von Hayek und seinen Anhängern geprägt wurde (Nordmann 2005: 211ff., Thomasberger 2012).

In Deutschland etablierte sich zeitgleich ein Denkkollektiv von Ökonomen unter der Führung von Walter Eucken, deren Ordoliberalismus bis heute die akademische Lehre und den wirtschaftspolitischen Mainstream in Deutschland dominiert (Ötsch et al. 2017, Ptak 2003). Beide Gruppierungen eint das Streben, der Marktwirtschaft zur politischen Hegemonie zu verhelfen, sie haben aber unterschiedliche Vorstellungen über die Realisierung dieses Ziels. Während Hayek für einen marktradikalen Ansatz steht, der politische Eingriffe in den Markt grundsätzlich als freiheitsfeindlich ablehnt, postuliert der von Eucken initiierte Ordoliberalismus eine politische Marktregulierung. Für beide Richtungen ist der »Wille zur Wettbewerbsordnung mit dem Willen zur Freiheit eng verbunden« (Eucken 1990: 250) und der Markt die »Verfassung der Freiheit«, so der Titel von Hayeks sozialphilosophischem Hauptwerk (Hayek 2005). Beide ziehen daraus unterschiedliche politische Konsequenzen, die man mit »Planung für den Markt« und »Planung für die Freiheit« überschreiben kann (Thomasberger 2009).

Ordoliberalismus versus Marktradikalismus

Die Ordnungspolitik ist ein Begriff aus einer spezifisch deutschen Tradition der ökonomischen Lehre, der in der internationalen Literatur sogar im deutschen Original verwendet wird (Schefold 1981). Der Trend zur Monopolisierung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts führte zu einer Debatte über Wettbewerbspolitik, die nur dem Markt eine optimale Ressourcensteuerung zuordnet. Eucken entwickelte eine Marktformenlehre von der vollkommenen Konkurrenz über Teiloligopole, Oligopole, Teilmonopole zu Monopolen (Eucken 1989: 163ff.). Dabei gibt es für ihn eigentlich »nur die Wahl zwischen zentralverwaltungswirtschaftlicher Lenkung wesentlicher Teile des Wirtschaftsprozesses und der Wettbewerbsordnung«. Alle anderen »Lösungen des Ordnungsproblems« könnten nur »vorübergehenden Bestand haben« (Eucken 1990: 245). Eucken postuliert eine Wirtschaftspolitik, deren Instrumente auf den Erhalt der marktwirtschaftlichen Ordnung ausgerichtet sind und nicht darauf, ob sie geeignet sind, bestimmte Probleme zu lösen. Diese Marktdogmatik hat sich »jeder Empirie entledigt, mit Hilfe derer man Strukturmängel des Wirtschaftssystems verstehen will« (Ötsch et al. 2017: 91). Wirtschaftliche Fehlentwicklungen und Disparitäten haben für ihn stets die gleiche Ursache: die Abweichung vom Pfad der marktwirtschaftlichen Tugenden.

In der Bestimmung des Marktes als der natürlichen Wirtschaftsordnung sind sich Eucken und Hayek einig. Jedoch ist Eucken ein entschiedener Gegner der Laissez-faire-Wirtschaft, die davon ausgeht, dass der Markt ein sich selbst optimal regulierendes System ist. Er habe einen immanenten Hang zu Monopolen, jeder Marktteilnehmer suche nach Möglichkeiten, »um Monopolist zu werden« (Eucken 1990: 31). Damit werde der Wettbewerb als Voraussetzung für Innovationen und ökonomisches Wachstum zerstört. Der Staat habe die Aufgabe, die marktwirtschaftliche Ordnung zu bewahren und sie vor ihren suizidalen Tendenzen der Monopolbildung zu schützen. In diesem Sinn haben Ordoliberale nichts gegen einen starken Staat, der den Markt reguliert, ohne die Wirtschaft direkt zu lenken (Eucken 1990: 197ff.). Allenfalls haben sie, wie Alexander Rüstow einräumt, Erklärungsprobleme. Ordoliberale seien zwar Gegner der Planwirtschaft und träten für die Wirtschaftsfreiheit ein. Der Markt habe jedoch einen »überwirtschaftlichen Rahmen, und innerhalb dieses Rahmens kann die Sache gar nicht planmäßig genug hervorgehen. Was der Staat tut, muss er planmäßig tun.« (Rüstow 1971: 26).

Für den marktradikalen Hayek sind hingegen alle Staatseingriffe in den Markt ein Irrweg. Die meisten »Dienstleistungen, die die Organisation der Regierung uns bieten kann«, sind in seinen Augen überflüssig und freiheitsraubend, bis auf Sicherheitsorgane, »die die Durchsetzung der Regeln des gerechten Verhaltens gewährleisten« (Hayek 1980: 179). Der sich selbst regulierende Markt ist für ihn keine nur ökonomische Angelegenheit, sondern das »Leitbild eines innerlich konsistenten Modells« einer »spontanen« gesellschaftlichen Ordnung (Hayek 1980: 94). Hayek versteht sich als Verfechter einer gesellschaftspolitischen Utopie, die zwar »nicht zur Gänze verwirklichbar sein mag«, aber »nicht nur die unentbehrliche Voraussetzung jeder rationalen Politik (ist), sondern auch der wichtigste Beitrag, den die Wissenschaft zur Lösung praktischer Politik leisten kann« (ebenda). Es gehe darum, sich gegen die »Unterwerfung der Gesellschaft unter den Staat« zu wehren und den Markt als einen »Prozess« zu fördern, »der größer ist, als wir selbst, aus dem stets Neues, Unvorhergesehenes herauswächst und der sich in Freiheit auswirken kann« (Hayek 1957: 84). Der Markt mit einem von staatlichen Regulierungen freien Wettbewerb ist für ihn das einzig legitime gesellschaftliche »Entdeckungsverfahren« (Hayek 1969), alles andere sei »Anmaßung von Wissen« (Hayek 1973). Der Mensch weiß nichts, der Markt weiß alles – auf diese Kurzformel kann man Hayeks Gesellschafstheorie einer spontanen Ordnung bringen. Hayek und seine Anhänger betreiben eine »Vergötzung des Marktes« (Vogl 2017) und betrachten demzufolge alle Versuche einer politischen Steuerung wirtschaftlicher und sozialer Prozesse als Hybris, wenn nicht Blasphemie. Der Markt ist für sie kein Verteilungsinstrument, sondern ein »Gottesbeweis« (ebenda).4

Soziale Marktwirtschaft

Kaum ein anderer Begriff hat die deutsche Wirtschaftspolitik der vergangenen 75 Jahre so beherrscht wie die Soziale Marktwirtschaft. Sie wurde zur »Utopie des Westens, die sagen soll, dass der Kapitalismus irgendwie nett, zu aller Nutzen und sogar unbürokratisch eingerichtet werden kann« (Kaube 2022). Die meisten Parteien reklamieren ihn für ihre Wirtschaftspolitik, auch wenn sich dahinter unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Programme und Zielsetzungen verbergen. Er wird allgemein Ludwig Erhard zugeordnet, wurde aber von seinem Mastermind Alfred Müller-Armack kreiert.5 Er entwickelte in seinem 1947 erschienenen Buch »Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft« die Soziale Marktwirtschaft als »Strukturformel«. Der Marktliberalismus alter Prägung irre darin, »daß er den Preismechanismus als eine völlig in sich funktionierende Maschine betrachtete« (Müller-Armack 1990: 63). Der Markt brauche eine politische Regulierung, um seine die allgemeine Wohlfahrt fördernden Eigenschaften zum Tragen bringen zu können.

Zwar hielten die Väter des Ordoliberalismus die Sozialpolitik für eine notwendige Ergänzung der Marktsteuerung, aber das machte ihre Lehre noch lange nicht zu einer verkannten Grundlage des modernen Wohlfahrtstaates, wie einige Autoren heute in einer »verklärenden Sicht« (Wendl 2021) behaupten. Davon wollten seine Protagonisten nichts wissen. Sie hielten ihn für einen »modernen Wahn« (Erhard 2020: 245) und wollten die Sozialpolitik auf eine nicht näher definierte Grundsicherung beschränken. Müller-Armack (1990: 116) stellte die für ihn rhetorische Frage, »ob wir nicht gerade im Interesse der sozialen Ziele eine marktwirtschaftliche Umorientierung der Sozialpolitik vornehmen müssen«.

Wie eine solche Sozialpolitik konkret aussehen soll, bleibt in den Schriften der Ordoliberalen im Ungefähren. Die Sicherung der marktwirtschaftlichen Ordnung hat für sie absolute Priorität. Alle politischen Maßnahmen mündeten »in der einen Frage nach ihrer Wirkung auf die Leistungsfähigkeit des Produktionsapparates. Wenn es also richtig ist, daß nur verteilt werden kann, was vorher produziert wurde, dann muß die erste Frage aller Sozialreformer auf die Wirtschaftsordnung mit dem höchsten wirtschaftlichen Wirkungsgrad gerichtet sein.« (Eucken 1990: 315). Erst auf dieser Basis könne man sich Gedanken über eine »spezielle Sozialpolitik« (ebenda: 318f.) machen. Die müsse vor allem in der Förderung von Privateigentum liegen. Wie die Erfahrung gezeigt habe, sei der Besitz eines eigenen Hauses und Gartens von zentraler Bedeutung »sowohl als Ausgleich für die einseitig beanspruchende Berufstätigkeit wie auch als wirtschaftlicher Rückhalt« (ebenda: 319).

Müller-Armack (1990: 119) trat auch für direkte staatliche Zuwendungen an Haushalte mit kleinem Einkommen ein, wie etwa die Sparförderung, das Kindergeld oder Zuschüsse zur Bildung von Wohneigentum. Für Ordoliberale hat zwar »das Versicherungswesen für die Arbeiter besondere Bedeutung«, und wenn das nicht ausreiche, seien auch staatliche Wohlfahrtseinrichtungen notwendig. »Aber der Akzent sollte, wo irgend angängig, bei der Stärkung der freien Initiative des einzelnen liegen« (Eucken 1990: 319). Nicht die solidarische Sozialversicherung ist die gewünschte Lösung, sondern die individuelle Risikoabsicherung mit Spar- und Versicherungsverträgen, gegebenenfalls mit einer staatlichen Subventionierung.

Das sah Ludwig Erhard genauso (2020: 254): »Der staatliche Zwangsschutz muß oder sollte dort haltmachen, wo der einzelne und seine Familie in der Lage sind, selbstverantwortlich und individuelle Vorsorge zu treffen.« Die Ausweitung sozialstaatlicher Versicherungen über den Kreis der »schutzbedürftigen Personen« hinaus lehnte er entschieden ab. Das gelte insbesondere für Bestrebungen, »die selbständigen Erwerbstätigen in die Kollektivsicherung einzubeziehen« (ebenda: 255). Soziale Sicherheit sei »gut und in hohem Maße wünschenswert, aber Soziale Sicherheit muß zuerst aus eigener Kraft, aus eigener Leistung und aus eigenem Streben erwachsen. Soziale Sicherheit ist nicht gleichbedeutend mit Sozialversicherung für alle – nicht mit der Übertragung der individuellen menschlichen Verantwortung auf irgendein Kollektiv.« (Ebenda: 262, Hervorhebungen im Original). Sozialversicherungen sollen auf untere Einkommensschichten beschränkt bleiben und ihre Aufgaben mit steigender wirtschaftlicher Kraft auf Privatversicherungen übertragen werden.

1.3 Der Sozialstaat als Sündenbock

Die Dogmen der neoklassischen Ökonomik bestimmen seit den 1980er Jahren in Deutschland den Diskurs zur Sozialpolitik. Ein wachsendes Sozialbudget erhöhe über die Sozialabgaben die Lohnkosten und führe zur Staatsverschuldung. Beides bremse die wirtschaftliche Dynamik, gefährde die globale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und gehe zulasten der nachwachsenden Generationen. Auch die Weltbank, die OECD und die EU