Die Puppenspielerin - Sibylle Schleicher - E-Book

Die Puppenspielerin E-Book

Sibylle Schleicher

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Beschreibung

Als Kinder haben sich die Zwillingsschwestern Sarah und Sophie eine gemeinsame Welt geschaffen, die sie bis weit in ihre Erwachsenenwelt hinein verbindet und verbündet. Die beiden sind ein eingespieltes Team. Sarah baut die Puppen, Sophie schreibt die Stücke. So bewahren sie sich einen großen Teil ihrer phantasievollen Zwillingswelt auch noch im Getriebe von Familie und Beruf. Dann aber verändert eine Krankheit ihr Leben. Hilflosigkeit, Stärke, Mutlosigkeit, Zuversicht, Humor, Verzweiflung, Ungeduld, Zuneigung, Angst, Zärtlichkeit, Zusammenhalt: widerstrebende Gefühle begleiten einen unerbittlichen Prozess, in den dieser besondere Roman auf anrührende, herzhafte, sehr lebendige Weise ganz tief eintaucht.

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Seitenzahl: 335

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»Eine schwere Erkrankung bedroht die gesamte Existenz. Beziehung ist dann oft das beste Mittel gegen Angst und Isolation, insbesondere dann, wenn man bereits neun Monate im Mutterleib geteilt hat – denn dann ›kennt man sich in- und auswendig‹.

Sibylle Schleichers Puppenspielerin ist eine traurig-schöne, bewegende Zwillingsgeschichte, die auf charmante Weise die Tragfähigkeit gemeinsamer Beziehungserfahrung beleuchtet, Kosten und Nutzen psychischer Abwehrreaktionen behutsam wägt und damit den Blick wieder frei macht auf unsere eigentlichen Werte und Bedürfnisse. Das gibt Hoffnung und macht Mut.«

Dr. Klaus Hönig, Psychotherapeut, Leiter der Konsiliar- und Liaisonpsychosomatik am Universitätsklinikum Ulm

Sibylle Schleicher, 1960 in Schielleiten in der Steiermark geboren, lebt bei Ulm. Schauspielstudium in Graz. Fest-Engagements und Gastverträge führten sie u.a. an Bühnen in Graz, Darmstadt, Bielefeld, Kiel, Ulm. Freie Autorin, Schauspielerin, Regisseurin. Die Adaption ihres mit dem PeterKlein-Literaturpreis der Stadt Aachen ausgezeichneten Romanerstlings Das schneeverbrannte Dorf wurde 2017/18 am Theater Ulm uraufgeführt. Bei Klöpfer & Meyer erschien 2017 mit gehörigem Erfolg ihr zweiter Roman Der Mann mit dem Saxofon. Sibylle Schleicher ist u. a. Mitglied im österreichischen PEN.

www.sibylleschleicher.de

Sibylle Schleicher

Die Puppenspielerin

ROMAN

Sibylle Schleicher

Die Puppenspielerin

Roman

1. Auflage

Edition Klöpfer

Stuttgart, Kröner 2021

ISBN DRUCK: 978-3-520-75601-5

ISBN E-BOOK: 978-3-520-75691-6

Umschlaggestaltung: Denis Krnjaić

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2021 Alfred Kröner Verlag Stuttgart · Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Konvertierung: Zeilenwert GmbH Rudolstadt

Heimlich und hastig entrinnt unsunbemerkt flüchtig das Leben.Schneller ist nichts als die Jahre.Wir aber dachten,es wäre noch so viel Zeit.OVID

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Über den Stein werden wir noch reden müssen, sagt sie.

Aber nicht jetzt, sage ich.

Ich meine nicht das Stück und warum es noch nicht fertig ist. Ich meine den Titel. Ein fauler Stein. Da brauch ich gar nicht erst anzufangen eine Puppe zu bauen, da nehmen wir einfach einen grauen Sack, oder wie? Was soll das sein, ein fauler Stein? Nur weil er sich nicht von selbst bewegt? Getragen werden will? Wie wir als Kinder nach einem stundenlangen Heimweg. Seid nicht so faul, seid froh, dass eure Füße gehen können. Als wir so alt waren, wie ihr – Kinderlähmung! Eiserne Lunge!

Ja, sage ich. Nein. Vielleicht. Nein, keine Kinderlähmung. Das hab ich längst vergessen.

Ich nicht, sagt sie. Davor hatte ich immer Angst. Dass sie sich doch noch einstellen könnte. Es gibt ja immer eine Krankheit, vor der man am meisten Angst hat.

Stimmt, sage ich. Lungenkrebs, weil man daran angeblich langsam erstickt.

Nein, kein Krebs, sagt sie. Der kommt in unserer Familie doch gar nicht vor.

Richtig. Eine Familie, die Krankheit gar nicht kennt. Immer schön weggeredet. Nie wirklich nachgefragt. Vielleicht ist es an der Zeit, das zu ändern. Hast du Schmerzen?

Nicht mehr so arg wie zuhause.

Wieso sammelst du Wasser in der Lunge und im Herz?

Wasser ist ein kostbares Gut.

Schon, aber nicht unbedingt an diesen Stellen, sage ich.

Jetzt tanz eben ich einmal aus der Reihe. Sie versucht einen Huster zu unterdrücken, schluckt kurz und atmet lange aus. Sie wissen es selbst noch nicht genau, sagt sie. Vermutlich hat sich der kutane Lupus verändert und ist in einen systemischen übergegangen.

Sehr interessant. Geht’s auch verständlich?

Lupus erythematodes sagt dir doch was?

Lupus ungefähr, erydingsda merk ich mir nicht, sage ich. Das Auswendiglernen war deine Stärke.

Jetzt solltest du dich auch einmal anstrengen. Lupus erythematodes. Damit werde ich wohl mein restliches Leben lang zu tun haben. Beim systemischen richtet sich dein Abwehrsystem gegen den eigenen Körper, sagt sie.

Eine Autoimmunkrankheit? Lebensgefährlich?

Nein, man kann es in den Griff kriegen, meinen die Ärzte. Es ist einfach eine Art Fehlprogrammierung. Sie hustet wieder, will zu einer weiteren Erklärung ausholen, aber da öffnet sich mit Schwung die Zimmertür. Blutdruckmessen, Fiebermessen, Blutabnahme, trällert die Krankenschwester, Sie warten bitte draußen!

Aber das ist meine Schwester, meine Zwillingsschwester. Sophie!

Ich komm ja gleich wieder, Sarah, sage ich.

Unbedingt, sagt sie. Ich muss mehr über das Stück wissen, bevor ich die Puppen baue.

Das kann warten, sagt die Krankenschwester. Hier drin können wir so oder so nichts bauen. Sie lächelt.

Und bring mir eine Zeitung mit, ruft Sarah mir heiser nach, ich weiß überhaupt nicht mehr, was los ist auf dieser Welt.

Der Gang ist leer. Von irgendwoher kommt ein Lachen. Ich gehe in die andere Richtung, zu den Fenstern. Zum Licht. Langsam, als wäre ich die Patientin. Warum habe ich mich rausschicken lassen? Ich war geschockt von Sarahs blassem, aufgedunsenem Gesicht. Von ihrer farblosen Stimme. Und unserem Dialog. Als stünde etwas zwischen uns. Wie damals. Dabei gibt es bisher nichts, was wir uns nicht erzählt haben, sagen wir noch immer. Wir stecken in derselben Haut. Zweieiig hin oder her. Wenn man neun Monate lang den Mutterleib teilt, kennt man sich in- und auswendig, bevor man das erste Mal Luft holt. Wir haben uns alles erzählt.

Bis der Dirigent in unser Leben trat. Der Dirigent. Unsere erste große Liebe. Er dirigierte den vielversprechenden Aufbauchor. Nur ausgewählte Jugendliche durften mitsingen. Mit siebzehn Jahren zählten wir zu den Älteren. Wir waren stolz. Und wir verliebten uns in den Dirigenten. Nicht sofort, aber zur selben Zeit. Als wir herausfanden, dass er uns beide geküsst hatte, kam es zum Streit. Sarah fand, sie hätte als Ältere das Erstrecht. Mich hatte er zuerst geküsst. Mitten im Streit richtete sich unser Zorn nur noch gegen ihn, der offenbar imstande war, uns zu entzweien. Wir löschten seinen Namen aus unseren Köpfen und nannten ihn nur noch ›den Dirigenten‹. Wir stiegen aus dem Chor aus, wie aus einem Zug, der uns an den falschen Ort gebracht hätte. Wir hatten unsere Zweisamkeit gerettet, aber unser vertraulicher Umgang miteinander lag von nun an auf einer Waagschale. Zudem verstärkten sich bei uns für eine Weile wieder die kindlichen Verhaltensweisen. Geschwisterkonkurrenz. Wer von uns beiden konnte was besser, wer war bei wem beliebter, wer durfte bestimmen?

Bis wir uns mit ihm getroffen haben, gute zehn Jahre danach, weit weg von hier, in Papua-Neuguinea, um uns auszusprechen. Er war inzwischen verheiratet und als Lehrer in der Entwicklungshilfe dort gelandet. Lange her das alles, kommt nur noch in Ausnahmesituationen hoch. Wie gerade eben, wenn Angst im Spiel ist.

Sarah hat Angst und redet nicht darüber. Ich habe Angst und rede nicht darüber. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass es bei ihr nach wie vor um Leben oder Tod geht? Und sie pocht auf das Puppenspiel, als gäbe es nichts Wichtigeres. Unsere gemeinsame Arbeit. Nicht die herkömmliche Art des Puppenspiels, in der erst die Puppen gebaut werden und dann ein Stück entwickelt wird. Wir machen es anders. Erst schreibe ich, dann baut sie die Puppen, und dann begeben wir uns in die Proben wie auf eine Reise. Der Zeitrahmen, genau abgesteckt, muss sich den Familien unterordnen. Anders machen es die Kinder und Ehemänner nicht mit. Steht längst im Kalender, dass wir in drei Monaten mit den Proben zum Faulen Stein beginnen. Der leise Vorwurf, dass ich wieder nicht fertig geworden bin mit dem Schreiben. Nein, kein Vorwurf, da war kein Zwischenton. Sie hat es einfach nur gesagt. Aber warum? Nachdem sie es jahrelang nicht mehr erwähnt hat, sich damit abgefunden hat, dass der letzte Satz erst geschrieben wird, wenn die Puppen vollständig gebaut sind. Dennoch, mein schlechtes Gewissen steht schon in den Startlöchern.

Vom mittleren Fenster aus sieht man bis zum Berg. Schnee liegt noch auf der Spitze.

Jetzt tanz eben ich einmal aus der Reihe, was meint sie denn damit? Hat sie damals in Papua-Neuguinea doch mehr mitgekriegt? Und nie darüber geredet? Oder sind es nur die ollen Kamellen: Ich will auch einmal die Bestimmerin sein. Sie war es genauso oft wie ich.

Kaum fühlt man sich hilflos, der Rückfall in die Kindheitsmuster. Wovor habe ich Angst? Was habe ich erwartet? Bis gestern noch Herzkatheter, Beatmungsmaschine, Intensivstation. Wasser in der Lunge und im Herzbeutel. Mitten in einer Teambesprechung ging es los. Kurzatmigkeit. Sie hatte sich noch nicht viel gedacht. Am nächsten Tag die Beinschmerzen. Sie hatte es kaum noch die Treppe hochgeschafft. Der ganze Körper unter Druck. Als würde jetzt nicht nur der Atem explodieren, sondern der ganze Körper aus sich selbst ausbrechen wollen. Der Hausarzt ließ sie mit Verdacht auf Thrombose ins Bezirkskrankenhaus einliefern. Wasser wurde entdeckt. Sie wurde mit Blaulicht ins Landeskrankenhaus gebracht. Das ist gerade einmal ein paar Tage her. Mittlerweile ist sie außer Lebensgefahr.

Der Blick in den Krankenhauspark ist trostlos, das Grün noch unter dem Laub. Ein Wasserspender gluckert. Auf dem kleinen Tisch in der Sitzecke liegt eine Tageszeitung. Nachts um zwei habe der Präsident aus dem Westen seine große Rede gegen den Präsidenten des Ostens gehalten. Wenn er mit seinen Söhnen nicht das Land verlasse, werde es Krieg geben. Von selbst werde der aber nicht gehen und seine Söhne schon gar nicht. Dann wird der Westen nicht lange warten. Obwohl die Experten meinen, dass der Präsident des Westens nach den achtundvierzig Stunden Ultimatum noch zögern wird. Gleichzeitig stehen sie schon überall in Position. Krieg scheint beschlossene Sache. Der Präsident des Westens kennt den Rückweg nicht, steht da in der Schlagzeile. Die Zeitung ist über zwei Wochen alt. Der Krieg ist längst ausgebrochen. Unter dem Vorwand, dass das Land Massenvernichtungswaffen besitzt.

Außer Lebensgefahr, was soll das heißen? Das Leben an sich eine Gefahr? Und welches Leben? Das Leben, das uns lebt, oder das Leben, das wir leben? Das Innenleben oder das Außenleben? Gefährlich ist das Leben doch immer. Ob wir mit drei Jahren Hand in Hand auf die Bundesstraße marschieren, ob wir in der Volksschule auf dem viel zu großen Loch im Plumpsklo das Gleichgewicht suchen müssen, ob wir auf den Ruinenmauern Indianer spielen, ob wir uns als Fahrschüler im Pulk auf den heranfahrenden Schulbus zubewegen, weil jeder als Erstes einsteigen will. Ob wir heiraten, Kinder kriegen oder zum Geburtstag aus viertausend Metern mit dem Fallschirm abspringen.

Die Zeitung ist uralt, sagt sie.

Ich weiß, sage ich.

Die Krankenschwester hat das Bett aufgeschüttelt. Sarah sitzt halb aufgerichtet. Das lässt sie gesünder wirken. Wenn nicht dieser trockene Husten wäre. Offenbar sammelt sich noch immer Wasser. Wir reden nicht darüber.

Der Krieg ist längst ausgebrochen, sagt sie.

Ich weiß. Die aus dem Westen haben gerade mal anderthalb Stunden gewartet und sprechen jetzt von einem schnellen Krieg und einer Erlösung des östlichen Volkes. Hybris auf beiden Seiten. Der Präsident des Ostens wälzt Sprüche, die genauso gruselig sind wie die aus dem Westen.

Das Volk ist ihnen egal, sagt sie. Kurz wird dieser Krieg nicht.

Nein.

Und dann die Bezeichnung asymmetrischer Krieg, als würde man einen Krieg auf einem Reißbrett entwerfen –

Naja, so machen sie es doch – aber asymmetrisch heißt in dem Fall nur, dass die beiden Parteien waffentechnisch und strategisch unterschiedlich ausgerüstet sind und dass eine von den Kriegsparteien dadurch haushoch überlegen ist.

Das ärgert mich. Sowas ist doch unanständig.

Wie jeder Krieg. Oder weißt du von einem anständigen Krieg?

Nach kurzem Klopfen geht die Tür auf. Eine Frau schlurft herein und leert die Mülleimer aus, wechselt die Tüten, nickt kurz und geht wieder.

Könnten wir das nicht in unser Stück einbeziehen?

Die Frau?, frage ich.

Nein, den Krieg, antwortet sie. Politischer werden. Was bewegen.

Aber indirekt gibt es doch einen Krieg im Stück, sonst gäbe es den Zweigeteilten nicht.

Du meinst: Fauler Stein und Flinker Fuß? Jona und Than.

Ja, sage ich. Jona erzählt doch in der Ballade, wie der König in seiner Wut und Eifersucht um sich geschlagen und zwei Teile aus ihm gemacht hat. Wie er das ganze Volk dafür bestraft. Wie es im Privaten anfängt und im Öffentlichen aufhört.

Das ist aber eher wie in einem Märchen. Zauberei, Wünsche und drei Aufgaben lösen.

Es soll auch ein Märchen sein, sage ich.

Eben nicht, erwidert sie. Wir sollten in diesem Stück das richtige Leben hernehmen und damit diesen Krieg nicht hinnehmen. Dass er überhaupt begonnen hat, ist so eine bittere Niederlage für die ganze Welt.

Dieser Krieg wird nicht einfach hingenommen, überall wird dagegen demonstriert. Wir sind viel zu langsam. Bis wir unser Stück fertig haben, ist er vielleicht schon Schnee von gestern.

Ein Krieg ist nie Schnee von gestern, beharrt sie. Muss ja nicht genau dieser Krieg sein. Irgendeinen Krieg gibt es immer. Du bist doch diejenige, die nur noch von Osten und Westen redet, weil dir alles so austauschbar erscheint. Zeit, Ort, Menschen. Du hast mich doch mit deinem Gerede darüber erst auf die Idee gebracht, dass es immer einen Krieg gibt, der zu den Lebensereignissen parallel läuft.

Deshalb muss man ihn nicht zitieren oder ein Stück darüber schreiben. Noch dazu ein Puppenspiel. Für Kinder.

Für die ganze Familie. Warum nicht? Diese Zunft ist in ihren besten Zeiten immer sehr politisch gewesen.

Aber wir haben gar keine Ahnung davon, gebe ich zurück und wundere mich über meinen ungeduldigen Ton. Wir sollten so ein Gespräch gar nicht führen, denke ich. Sarah ist noch nicht einmal aus dem Ärgsten raus. Der Husten und die Kurzatmigkeit dominieren unser Gespräch. Wir sind politisch gar nicht genug gebildet, fahre ich fort. Mein innerer Einwand hat sich in Luft aufgelöst. So eine grundsätzliche Änderung an einem Plot hat Sarah noch nie eingefordert. Wir können gar nicht glaubwürdig werden damit, lege ich nach.

Ja, wir haben uns bis jetzt zu wenig damit beschäftigt, gibt sie zu. Wir haben es nie gebraucht.

Die viel zitierte Gnade der späten Geburt.

Ein Lächeln huscht ihr übers Gesicht. Glückskinder haben sie uns genannt, sagt sie. Weil wir an einem Sonntag geboren sind. Im Sommer …

… in der Nachmittagssonne und kein Krieg im Land, beende ich ihren Satz.

Wir schweigen.

Wieder geht die Tür auf. Dieses Mal wird das Mittagessen serviert. Es ist noch nicht zwölf. Die Pflegerin stellt zwei Tabletts auf den Tisch. Wo ist Ihre Nachbarin?, fragt sie.

Im OP, erwidert Sarah.

Gut dann – die Pflegerin nimmt das eine Tablett wieder vom Tisch. Lassen Sie sich ruhig Zeit, sagt sie.

Wenn ich überhaupt was runterkriege, sagt Sarah.

Die Suppe wenigstens, sagt die Pflegerin in bittendem Ton, stellt noch eine Flasche Wasser auf den Tisch und geht.

Ich hebe kurz den Deckel vom Tablett. Was gibt’s?, fragt Sarah.

Suppe, Reis und Hühnerfrikassee, ein paar Salatblätter, Rosinenkuchen, sage ich.

Stellst du es mir auf das Ausziehtischchen?

Willst du wirklich schon essen? Es ist noch nicht zwölf.

Viel zu früh, ich weiß. Krankenhaus eben. Es kommt immer zu früh und trotzdem wartet man schon darauf.

Das bleibt sicher lang lauwarm, sage ich, nehme den Deckel ab und stelle ihr das Tablett hin, die Suppe vorne.

Karfiol, sagt sie. Das gibt Körpergewitter, würde Fritz sagen.

Was? Wer?

Fritz ist einer aus meiner Theatertruppe. Du weißt schon, Die Fidelen, Theater als Therapie für Menschen mit Behinderung. Der würde so ein Wort wie Furzen niemals in den Mund nehmen, meint sie, und wir lachen. Sie versucht zumindest zu lachen. Es misslingt, weil ein Huster dazwischenkommt. Ich gebe ihr die Wasserflasche. Das mit dem Lachen muss ich wohl erst wieder üben, stellt sie fest und nimmt lieber einen Löffel Suppe zu sich. Dann schiebt sie das Tablett weg.

Darfst es aufessen, sagt sie zu mir.

Ich kann dir nicht dein ganzes Mittagessen wegessen.

Konntest du doch früher auch. Weißt du noch? Im Kindergarten? Als mir die Klosterschwester den Hauptgang in die Suppe geschüttet hat, weil ich so langsam gegessen hab.

Und danach den Pudding dazu, weil du noch immer nicht fertig warst. Ja, das macht mich heute noch wütend. Da musste ich deinen Teller schnell leer essen.

Da hast du dich ganz schön ins Zeug geschmissen für mich.

Und dafür mit dem Bürstenrücken eins auf die Finger bekommen.

Und trotzdem hast du mir weiter beim Essen geholfen. Das vergesse ich dir nie.

Ich hätte es aber lieber doch vergessen, sage ich. Das war einfach nur gemein. Dass du zuschauen musstest, wie ich auf dem Holzscheit kniend auf meine ausgestreckten Hände die Bürstenschläge einkassiert habe.

Das war nicht lustig.

Zuschauen müssen war schlimmer als geschlagen werden.

Stimmt, aber danach haben wir uns gewehrt. Wir haben uns das nicht gefallen lassen. Und sehr bald danach mussten wir nicht mehr hin. Ohne dich wäre das nie gegangen. Mit einem Zwilling an der Seite kann einem nichts passieren, sagt Sarah. Zu zweit war alles halb so schlimm und doppelt so schön.

Das ist lang her, sage ich. Jetzt werden wir alt.

Ach komm, dreiundvierzig ist nicht alt.

Aber wenn man zuerst über seine Krankheiten redet, bevor man über die erste große Liebe lacht –

Das ist wirklich lange her, sagt sie, mein Gott, unser Schwur damals. Schon gar nicht mehr wahr.

Willst du nicht wenigstens vom Kuchen probieren?, frage ich, weil ich mich mit dem Verlauf des Gesprächs plötzlich gar nicht mehr wohl fühle. Hier, mit Rosinen, die magst du doch so gern. Mein Haus würd ich verschenken für Rosinen.

Na, das nun auch wieder nicht.

Nicht du, das ist aus dem Faulen Stein. Hullamonda.

Was, wer?

Die Schnecke, die immer zu spät kommt, weil sie bei den Süßigkeiten hängenbleibt.

Schnecke? Kann ich mich grade nicht dran erinnern, sagt Sarah und gähnt.

Das sagt sie bei ihrem ersten Auftritt, wenn alle Tiere da sind und sich auf JonasGeschichten freuen.

Ah, ja.

Aber gelesen hast du das Stück?, frage ich etwas irritiert.

Soweit vorhanden, ja sicher, aber zurzeit bleibt mir manches nicht lang im Kopf. Und was bleibt und was nicht, darüber habe ich leider keine Herrschaft. Das hat dein Schwager auch festgestellt.

Hans?

Ja.

Wieso nennst du ihn meinen Schwager?

Weil mir sein Name gerade nicht eingefallen ist, sagt sie und versucht erneut ein Lachen.

Ich habe plötzlich das Bedürfnis aufzustehen und im Zimmer auf und ab zu gehen, gehe aber nur ans Fenster und kippe es. Lass uns das ganze Projekt aufschieben, schlage ich vor und versuche, meiner Stimme die nötige Festigkeit zu verleihen. Nimm du dir deine Zeit fürs Gesundwerden, und danach sehen wir weiter.

Gesundwerden? Vergiss es! Ich hab es dir doch gesagt, der Autoimmunkram wird mich noch länger in den Klauen halten. Deine Geschichte von der faulen Socke lenkt mich vielleicht ein bisschen ab.

Aber wenn du sie dir gar nicht merken kannst?

Dann erzählst du sie mir noch einmal.

Und du vergisst sie wieder.

Du musst sie mir eben so lange erzählen, bis sie in meinem Gedächtnis wohnen bleibt. Das hat den Vorteil, dass du deine Geschichte auch kennenlernst und dich nicht mehr verirrst im Wald.

Das wäre schön, sage ich.

Und später müssen wir gar nichts mehr auswendig lernen. Sarah schiebt das Tischchen weg und setzt sich zurecht. Dann sieht sie mich erwartungsvoll an. Ich stehe am Fenster, schaue auf den Weg zum Park, wo eine Reihe von warm eingepackten Patienten auf Rollstühlen durch die frische Luft geschoben wird. Sarah kann zumindest noch gehen, denke ich. Ich muss mir einfach ihren Optimismus überziehen. Alles wird gut.

Dann fange ich an zu erzählen: Jona ist ein Stein, aber nicht irgendeiner am Wegesrand, sondern ein besonderer. Er kann sprechen, und er kann herzerwärmende Geschichten erzählen. Er bringt die Tiere des Waldes zum Lachen und die sorgen voller Dankbarkeit für sein Wohl. Des Nachts nimmt er ihnen mit seiner Gabe die Angst vor dem großen Grolomutschk.

Ich muss plötzlich gähnen. Du hast recht, wenn ich es so vor mich hin erzähle, klingt es wirklich langweilig, sage ich, während ich das Fenster schließe. Trotzdem will ich, dass es ein Märchen bleibt. Vielleicht sollte ich dir das Stück besser vorlesen. Wieder und wieder. Ich drehe mich zu Sarah um. Sie ist im Sitzen eingeschlafen.

Sarah wollte noch warten, sagt Hans. Sie schläft im Moment so viel, dass sie ohnehin kaum Besuch empfangen könnte. Es ist alles so schnell gegangen.

Ja, aber seither sind Tage vergangen, sage ich. Wenigstens Mutter sollte verständigt werden. Und Therese und Karl.

Gut, eure Mutter und die Geschwister, sagt er und räumt den Suppentopf vom Tisch. Er wirkt erschöpft, aber gefasst. Mit sicherem Griff zieht er aus dem Stoß von Zeitungen, Werbebroschüren und Kinderzeichnungen einen Notizblock hervor. Sie braucht Unterhosen, die Hautcreme und eine Nagelfeile, liest er vom Block ab. Bringst du ihr das?

Gut, sage ich. Wissen sie bei der Arbeit Bescheid?

Dass sie im Krankenhaus ist, ja. Mehr nicht.

Was mehr?

Na, wie lange. Dass sie wahrscheinlich nicht mehr zurückkommt.

Ich dachte, sie sei über den Berg.

Ist sie auch. Aber wenn der Lupus so weitermacht, wird sie bald nicht mehr im Heilpädagogischen Förderzentrum arbeiten können.

Weiß sie das?

Nein, ich glaube nicht. Oder vielleicht doch. Vielleicht schläft sie deshalb so viel.

Nicht gerade ihre Art, die Dinge zu lösen, eher meine, sage ich. Kann sich aber auch alles geändert haben. Krankheit verändert einen angeblich.

Möglich, sagt er. Wie lange kannst du noch bleiben?

Nur ein paar Tage. Ich kann die verschobenen Deutschkurse nicht ausfallen lassen, auch wenn die VHS sonst flexibel ist, und die Klasse von der Berufsschule ist auch wieder zurück von der Exkursion. Aber bald sind Osterferien. Da könnte ich wie sonst mit Familie kommen, wenn dir das nicht zu viel wird.

Nein, das ist gut, dann hat Flo David zum Spielen und ich kann mit Leo auf den Berg, sagt er. Ich muss los. Kinderturnen. Ich hab Fahrdienst. Grüß Sarah, ich komm’ heute Abend noch zu ihr. Ach und – sag ihr nichts von der Frühpension, wenn sie nicht selbst darauf zu sprechen kommt.

Gut, sage ich, ich werde ihr das Stück vorlesen, da schläft sie ganz schnell wieder ein.

Er lacht. Auch so eine Sache, die Puppen, sagt er.

Was meinst du damit?, frage ich. Denkst du, dass sie keine Puppen mehr wird bauen können?

Weißt du, dass sie im Krankenhaus ›Die Puppenspielerin‹ genannt wird? Er lacht wieder und sucht dabei die Eckbank ab.

Was suchst du? Und warum nennen sie sie so? Liegt sie ihnen damit in den Ohren wie mir?

Nein, sie haben es nur irgendwie mitgekriegt, aber – Himmel, wo hab ich meine Jacke hingeschmissen?

Aber –

Aber sie können unseren Nachnamen nicht gescheit aussprechen.

Und warum nennen sie Sarah dann nicht ›Die Puppenbauerin‹? Das würde es eher treffen, sag ich. Deine Jacke liegt auf dem Schemel.

Danke, sagt er und greift danach. Und ja, fährt er fort, Sarah hat versucht, das zu korrigieren, aber die Pflegerin konnte sich mit dem Wort nicht anfreunden. Sie wollte -bauerin durch -bastlerin ersetzen.

Oh je, sage ich und muss jetzt auch lachen. Sarahs darauf folgenden Vortrag hätte ich gern mal wieder gehört.

Hättest du nicht, sagt er.

Der Schlüssel ist auf dem Schlüsselbrett, sage ich. Da, wo das Auto hingemalt ist.

Wieso das denn? Da ist er doch nie.

Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Denkst du, dass sie keine Puppen mehr wird bauen können?

Wir reden später weiter, sagt er, während er den Autoschlüssel vom Haken nimmt. Mach dir keine Gedanken. Übermorgen wissen wir mehr. Übermorgen gibt es einen neuen Befund.

Daher meine bleibende Unruhe, denke ich. Der ›rote Wolf‹ ist tückisch, lese ich in den Blättern, die Hans mir aus dem Internet ausgedruckt hat. Er wird oft erst sehr spät erkannt, weil er so viele verschiedene Gesichter hat. Eine Heilung ist nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse nicht möglich, aber man kann mit der Krankheit leben lernen. Die Lebenserwartung der Betroffenen ist normal. Was immer normal bedeuten mag. Frühpension mit dreiundvierzig eher nicht. Und was ist das dann noch für ein Leben, wenn in unserem Alter Spaziergänge zur Qual werden können?

Ich trage das schmutzige Geschirr in die Küche, stelle es auf die Ablage vor dem Fenster. Auf dem Fenstersims liegen die ersten Holzköpfe, die Sarah geschnitzt hat. ›Die Puppenspielerin‹. Passt so gar nicht. Wir haben nie viel mit Puppen gespielt. Einmal haben wir eine besessen, aber sie war zu kostbar zum Spielen. Eine Babypuppe, die alles konnte, trinken, pinkeln, weinen. Sie kam direkt aus Amerika, ganz in Weiß gekleidet. Sie kam allein und wir waren zu zweit. Keine von uns beiden wollte sie haben, weil man sich die Hände waschen musste, bevor man mit ihr spielen durfte. Allerdings wollte auch keine von uns beiden sie der anderen alleine überlassen. Der Streit darüber bekam der Puppe nicht gut. Schon am ersten Tag ihres Daseins in unserem Kinderzimmer konnte man die Beine nicht mehr reponieren. Wir legten sie in ihr Bett, deckten sie gut zu und griffen wieder zu unseren alt bewährten Puppen, die mehr aushielten und von denen wir eben zwei hatten. Zwei Holzscheite. Die Astnarben taugten als Augen, alles andere konnte man sich vorstellen, wie man es gerade brauchte. Wenn wir im Dschungel unseres Schamalakelands unterwegs waren, auf Expedition sozusagen, störten die Puppen eher und wurden wieder zu Holzscheiten, die man ins Feuer schmeißen konnte. Wir haben wirklich nie viel mit Puppen gespielt. Einerseits. Andererseits – als Sarah das Schnitzhandwerk entdeckte und die ersten Augenhöhlen bohrte, in die sie bewegliche Augen einsetzte, hat sich etwas geändert. Jetzt wurden die Holzscheite von sich aus lebendig. Jetzt konnte man sie nicht mehr in Holzscheite zurückverwandeln. Das war der Anfang der Holzkopfsammlung. Das war der Anfang des Puppenbaus. Das war der Anfang unseres Figurentheaters. Wir sind Puppenspielerinnen.

Ich wasche die Suppenteller ab, obwohl ich sie einfach in die Geschirrspülmaschine stecken könnte. Trödle in der Küche herum. Ich sollte mir stattdessen das Manuskript vornehmen und den Faulen Stein zu Ende schreiben. Aber ich versorge lieber die restliche Suppe, die genauso gut auf dem Herd stehen bleiben könnte, stelle sie in den Kühlschrank, verpacke das Brot sorgfältig in der Stofftasche, wische die saubere Arbeitsfläche ab. Wieder dieses Gefühl, im Grunde gar nicht helfen zu können. Obwohl, da sein vielleicht auch schon eine Hilfe ist. Mit einem Mal beeile ich mich doch, ziehe die Jacke erst draußen über, um zur gewohnten Zeit ins Krankenhaus zu kommen.

Auf dem Tisch im Krankenhausgang liegt jeden Tag eine neue zwei Wochen alte Zeitung. Irgendwer legt sie da in den frühen Morgenstunden ab. Als würde der- oder diejenige das Weltgeschehen um zwei Wochen zurückversetzen wollen. Vor den Krieg, vor den Ausbruch von Sarahs Krankheit. Als könnte man andere Wege einschlagen, wenn man stetig die alten Tageszeitungen liest. Nicht logisch, zugegeben, aber reizvoll.

Der Blick aus dem rechten Gangfenster zieht mich mitten in den Frühling. Ein Laubsauger legt das sprießende Grün frei. Saugt Herbst und Winter weg. Ein furchtbares Gerät, stinkt und ist laut. Und trotzdem wirkt der Park danach wie befreit. Warum können sie bei Sarah mit dem Wasser nicht die ganze Krankheit mit aufsaugen? Eine ähnliche Erlösung schaffen. Die Sonne scheint direkt aufs Fenster, wärmt die Sinne, die nicht wissen, was sie mit dem Verstand machen sollen. Der Schnee auf der Bergspitze ist weniger geworden. Oder auch nicht und es scheint nur so, weil man nie genau hinschaut. Der Laubsauger hat gar nicht gesaugt. Er bläst die Blätter zu einem großen Haufen zusammen. Was man sehen will und was man tatsächlich sieht, unterscheidet sich zuweilen.

In der Zeitung täglich Kampfberichte. Der Krieg wird allmählich Teil des Alltags. Wenngleich in sicherer Entfernung. Eine große Angriffswelle auf die Hauptstadt im Osten. Im Fernsehen könne man die Computeranimationen sehen wie einst im zweiten Golfkrieg, steht im Kommentar auf der ersten Seite. Aber alles wirke unecht und fördere eine unzuverlässige Kriegsberichtserstattung. Angeblich gestellte Filme von beiden Seiten. Eine Propagandaschlacht. Dazwischen schleicht sich die Realität, von der man aber auch nicht weiß, wie real sie ist. Die vom Westen haben versehentlich einen Bomber ihrer eigenen Streitmacht erwischt. Bilder von Sandstürmen. Soldaten mit tränenden Augen, weil sie dem Sand nicht entkommen können. Ein West-Soldat sei Amok gelaufen, als ihm klarwurde, dass die Zahl der getöteten Zivilisten viel höher ist als angenommen, steht auf Seite drei der Zeitung mit ausführlichem Bericht über die psychische Verfassung der Soldaten, die nur auf Fixpunkte strategischer Landkarten zielen. Ein teuflisches Spiel, weil sich all diese Hebelbeweger wie Götter vorkämen.

Grutziwotzkisch, sagt Sarah.

Was jetzt, das ewig frühe Mittagessen oder die Kriegsbilder?, frage ich.

Na, eindeutig die Kriegsbilder. Die sind echt grutziwotzkisch. Kannst du kein Lepatschola mehr?

Doch, sonst würde ich es nicht im Stück einsetzen.

Was ich gar nicht einmal so gut finde, sagt sie.

Aber es ist doch toll, wenn man eine Sprache zur Verfügung hat, bei der sich die einzelnen Worte nicht auf ihre Bestimmung festlegen lassen, bei der augenblicklich klar wird, dass der Zuhörer den Sinn des Gesagten bestimmt, nicht der Redner. Damit können wir spielen. Wie früher.

Eben, sagt sie, das ist wie ein Verrat an unserer Geheimsprache, am ganzen Schamalakeland.

Und wenn du unsere Sprache jetzt einfach im Alltag einsetzt, ist das kein Verrat?

Das ist was anderes. Erstens ist mein Zustand hoffentlich nicht alltäglich, zweitens fallen mir Adjektive zurzeit nicht ohne Weiteres ein. Und grutziwotzkisch fällt mir wahrscheinlich noch ein, wenn ich auch anfange die Verben zu vergessen.

Du meinst das ernst?

Leider ja. Wortausfall. Ich weiß auch nicht, was das ist. Ich schau diese Bilder an und will ein bestimmtes Wort sagen, und mir fällt nur das Wort ›grauenhaft‹ ein. Aber das meine ich nicht.

Nein, du meinst grutziwotzkisch. Das käme in diesem Fall in etwa einem ›gespenstisch‹ gleich.

Gut, dass wenigstens du ein bisschen Deutsch kannst.

Gespenstisch auch, weil man die Bilder nicht gleich mit Krieg in Verbindung bringt. Eher mit einem Abenteuerfilm oder einem Horrorspiel.

Endzeitstimmung, sagt Sarah. So aussichtslos, wenn die alle nicht gescheit miteinander reden. Man möchte gern eingreifen, wie in einen Kinderstreit, aber selbst, wenn man es könnte, würde es nichts ändern.

Weil es bei den Kindern ja auch nie viel ändert, wenn man sich einmischt.

Genau, sagt Sarah. Sie sitzt aufrecht im Bett und hat zum ersten Mal etwas mehr gegessen. Der Karren steckt zu tief im Dreck, fährt sie fort. Dazu die Uneinigkeit Europas. Am Ende steht da immer das Problem arm gegen reich, diese Riesenklüfte. Das müssen wir alles ins Stück mit reinnehmen. Ich hab übrigens schon eine erste Idee zu den Ameisen. Da baue ich lauter Marotten, du weißt schon, diese Schlenkerfiguren.

Das ist gut, dann kann man sie deutlich kleiner machen als die anderen Tiere und an einem verkürzten Besenstiel auftreten lassen, der nur von einer Hand geführt werden muss.

Lauter Styroporköpfe. Unsere Kommunisten.

Was?

Aus den emsigen Ameisen machen wir die Kommunisten. Die heißen nicht ohne Grund die Schnoblobovs.

Kann es sein, dass du gerade deinen intellektuellen Erwartungshorizont ignorierst?

Nein, ich bin nicht deppert. Wir machen aus den verschiedenen Tiergattungen die verschiedenen politischen Gruppierungen.

Wie originell. Das solltest du trotzdem noch einmal überschlafen.

Hab ich schon. Reichlich. Besorg du mir bitte die Styroporkugeln und die Futterseide und dann reden wir noch einmal darüber.

Ameisen als Marotten sind ja gut, aber –

Im Grunde sollte ich überhaupt nur Marotten bauen, sagt sie, oder Marionetten für die Hauptfiguren. Schau sie dir doch an, diese Weltpolitiker. Irgendwer zieht an deren Fäden. Irgendwer, der sich besser auskennt. Nur nicht der liebe Gott.

Weil es den nicht gibt, sag ich.

Ach was, natürlich gibt es ihn, aber sowas ist ihm zu blöd.

Wär aber schön, wenn man jemanden verantwortlich machen könnte für so einen Scheiß. Auch für deine Krankheit, was immer es ist.

Zumindest doch kein systemischer Lupus erythematodes, wie es scheint.

Dabei könnte ich es mittlerweile ohne Stocken aussprechen.

Manches lernt man halt umsonst, sagt sie und gähnt. Hat dir Hans den Befund gezeigt?

Ja. Sehr genau drücken sie sich nicht aus.

Als würdest du diese Sprache verstehen.

Mit Nachschlagen im Pschyrembel ein bisschen.

Du mit deinem Pschyrembel, der Hans mit seinem Internet, sagt Sarah. Lasst das lieber bleiben. Es macht aus euch keine Fachleute.

Darum geht’s gar nicht, wir wollen einfach was verstehen. Deine Ärzte suchen doch auch, schließen im Moment nur eher aus. Festlegen wollen sie sich nicht.

Können sie sich nicht. Sie warten noch auf einige Untersuchungsergebnisse. Sie tippen auf eine Infektion, eine übergangene Infektion. Sie suchen weiter, klar, aber das ist zumindest fürs Erste eine eindeutige Entwarnung. Mir geht es ja auch schon viel besser.

Sagt wer? Du hast immer noch Wasser in Lunge und Herz, dazu eine Rippenfellentzündung, musst regelmäßig an den Atemschlauch und den Weg auf’s Klo schaffst du nicht allein.

Du hast eben eine andere Perspektive als ich, sagt sie. Du musst es in Relation zu den ersten Tagen sehen. Und überhaupt, anderswo ist Krieg, da sterben die Menschen. Um mich kümmert sich wer.

So kann man natürlich jedes Argument aushebeln.

Außerdem sind die Frauen, bei denen es ausbricht, fünfzehn bis dreißig Jahre alt. Mein Fall wäre ungewöhnlich.

Du bist ungewöhnlich, sag ich.

Sie presst die Lippen aufeinander.

Tut mir leid, lenke ich ein. Das wollte ich nicht. Dir eins überbraten und dann in den Zug steigen.

Du kommst doch wieder?

Klar. In der Karwoche. Da bist du schon zuhause.

Gut. Ich schlaf ein bisschen vor, dann geht es sicher besser mit dem Zuhören. Dinosaurierehrenwort.

Und ich hab vielleicht das Stück fertig. Schneckenehrenwort.

Du denkst dran, dass wir ein Zeichen im Sinne des Friedens setzen wollen?

Ja, sag ich und denke in diesem Moment tatsächlich, ich werde alles umschreiben. Nur für Sarah.

Du musst los, sagt sie.

Im Zug verschwindet der rote Wolf mit jedem Kilometer weiter aus meinem Gedankenfeld. Wie schnell man sich entziehen kann. Rein in den Zug, über die Grenze ins Nachbarland, die Landschaft vorbeiziehen lassen und nach zweieinhalb Stunden steigt man in einer anderen Realität wieder aus. Eigentlich steigt man schon in eine andere Realität ein. Die hektischen Telefonierer, die vor jeder Station aktiv werden: Schatz, wir sind pünktlich. Gut. Nein, das erzähl ich dir ein andermal. Besser eine warme Suppe. Eine Kakophonie, bei der ich immer denke, dass sie einmal als Klangteppich unter eine Szene gelegt werden müsste. Damit die Puppen danach tanzen, auf Worte tanzen wie auf Ballettmusik. Ob das bei Sarah schon als gesellschaftspolitisch durchgehen würde?

Es regnet. Das Rattern des Zuges wird dadurch lauter. Manchmal nimmt man ein Geräusch erst wahr, wenn ein zweites dazukommt. Ich schotte mich mit dem Kopfhörer ab. Die Reformations-Sinfonie von Mendelssohn. Eine Empfehlung von Sarah. Sie hört im Gegenzug die Walzer von Schostakowitsch. Wenn sie es aushält. Die Kopfhörer sind für sie im Moment unerträglich. Der rote Wolf kehrt schneller als gedacht in meine Gedanken zurück. Warum denk ich noch an ihn, wenn die Ärzte ihn doch ausgeschlossen haben? Aber was ist es dann? Und woher kommt es? Warum ausgerechnet sie, die so gesund lebt, nicht raucht, sich bewusst ernährt? Warum warte ich so ungeduldig auf eine Diagnose, einen unverrückbaren Namen für die Krankheit? Ich kann doch spüren, dass es anders ist als bei all den Kinderkrankheiten, die wir gemeinsam gestemmt haben, weil wir uns gleichzeitig angesteckt hatten. Anders auch als bei den großen Zahnkrisen, die ich nicht mit ihr geteilt habe. Was hätte ich von einem genauen Namen für die Krankheit? Warum nimmt mich das Warten so mit, wenn ich ohnehin weiß, dass das Ergebnis der Untersuchungen auf jeden Fall unser aller Leben verändern wird? Und wie schlimm muss das Warten erst für sie sein? Aber sie kriegt Tabletten gegen die Schmerzen. Und die Angstgefühle. Alle Fragen, die aufkommen könnten, werden sanft ummantelt. Sonst würde sie die Erste sein, die fragen würde, wo die Ursprünge der Krankheit liegen. Und sie würde gleich bei Louise Hay nachschauen, die seelisch-geistigen Gründe erforschen und nach den Zusammenhängen suchen.

Ich lasse die vergangenen Monate durch mein Gemüt ziehen. Das gemeinsame Weihnachtsfest. Ja, sie hatte eine Erkältung, die sich hingezogen hat, ja, sie hatte diesen trockenen Husten. Waren das Signale? Jetzt nicht wieder die alte Malariaangst. Nachdem wir in Papua-Neuguinea gewesen waren, hatten wir jahrelang hinter jeder Grippe gleich eine Malaria vermutet, die aber nie diagnostiziert worden war.

Oder ein genetischer Schleudersitz, der nur sie ausgesucht hat? Eben zweieiig.

Die Krankheit als Reise sehen. Dann würde man sie gedanklich positiv besetzen können. Eine Bergwanderung. Habt’s Taschentücher mit, Zündhölzer, eine Schnur, eine Kerze, ein Sackerl?, höre ich Tante Rita fragen.

Plötzlich wird es schwarz vor dem Fenster. Wir sind im Tunnel. In meinen Ohren der letzte Satz der Sinfonie, die mir bis jetzt gefallen hat, aber der Choral –. Der Zug ist jetzt vollkommen vom Tunnel verschluckt. Im Fenster sehe ich den älteren Mann auf dem gegenüberliegenden Sitz, wie er den Rosenkranz betet. Auch eine Möglichkeit, die Zeit rumzubringen, denke ich. Vielleicht auch eine Möglichkeit, eine innere Ruhe zu finden. Ein feste Burg ist unser Gott. Verstand Mendelssohn zu beten? Beten wie als Kind, vielleicht etwas, das man wieder probieren sollte. Aber sicher nicht so wie der Mann da. Er rupft an den Perlen, als würde er eine Gans im Schoß haben, die noch bis zur nächsten Station federlos sein muss. Er betet ungeduldig und hastig, als würde er fluchen, rupft so, dass man die Perlen gar nicht sehen kann. Das Bild im Fenster verliert an Schärfe, das Tunnelende wird sichtbar. Der Mann streicht über die Schnur. Ich riskiere einen Blick hinüber. Er setzt sich einen Kopfhörer auf und streicht noch einmal über das entwirrte Kabel, das jetzt gar nicht mehr wie ein Rosenkranz aussieht.

Aus Verlegenheit greife ich nach der Zeitung, die auf dem Nebensitz liegt. Sie ist zwei Wochen alt, wie die Zeitungen im Krankenhaus. Die vom Westen haben jetzt den Flughafen der Ost-Hauptstadt in der Zange, steht in der Schlagzeile. Ich suche den ausführlicheren Artikel dazu. Die Seite fehlt, aber sonst ist alles da. Ich muss lachen. Vielleicht gibt es jetzt nur noch alte Zeitungen zu kaufen? Für unseren Großvater war die Zeitung von gestern schon nur noch eine, die man zum Obstkisten auslegen benutzen konnte. Der Nachbar war froh, dass er jede Woche einen Stapel für sein Klo mitnehmen durfte. Das kam im Hause unseres Großvaters nicht in Frage. Da gab es Klopapier, naturweiß. Druckerschwärze ist ungesund, und überhaupt sollte man zuerst den Stuhlgang begutachten, dann den abgewischten Rest auf Naturweiß. Im Stuhl sind alle Krankheiten frühzeitig zu erkennen, bestätigte mein Vater meinen Großvater, und wir kicherten augenblicklich los, wenn er einmal wieder die neuartigen Klosetts verdammte, in denen der ganze Dreck gleich im Wasser verschwand. Unbrauchbar zum Inspizieren. Der routinierte Blick ins Klo, nachdem man sein Geschäft erledigt hatte, verlor sich ab da im schwimmenden Klopapier.

Ob der rote Wolf sich im Stuhlgang zu erkennen gäbe, ist eine andere Frage.

Der Zug hat inzwischen zehn Minuten Verspätung. Grund ist eine Störung im Betriebsablauf. So wird der Grund gleichzeitig zur Folge seiner selbst. Spätestens jetzt gerät der Vergleich von Krankheit mit einer Reise ganz gewaltig ins Hinken. Meine Damen und Herren, wir danken für Ihr Verständnis, hört man die Stimme mit dem charmanten Akzent aus dem Lautsprecher. Wir erreichen in Kürze den Zielbahnhof. Der Zug verendet hier.

Zuhause vergeht die Zeit schneller, wird umgehend vom Alltag in Beschlag genommen. Kind, Küche, Kurse. Zwei Übersetzungsaufträge. Berge von Schmutzwäsche.

Dazu die Frühlingssonne. Die ersten Strahlen offenbaren ihn immer wieder, Jahr um Jahr: den Dreck des Winters. Ruß und Salz, und überall Spinnweben. Die Tage längst länger, die Dunkelheit kürzer. Wir putzen im Haus und ums Haus herum, mähen den Rasen, bevor der Regen kommt. Als könnte man die ganze Welt aufräumen. Die Bewältigung des gemeinen Frühlingsalltags wird zur zügigen Bewältigung der Angst vor Krankheit und Krieg. Fast zu zügig, sagt Leo, und ich stimme ihm zu. Aber es nützt nichts, wenn wir hier in Panik erstarren und uns der allgegenwärtigen Ohnmacht aussetzen.

Ja, sage ich. Und wir machen weiter. Alles nimmt seinen Lauf.

Auch der Krieg. Abends sehen wir die Nachrichten, werden immer wieder aufs Neue Zeugen der täglichen Erzählnot der Medien. Im Grunde wissen alle, dass es nichts Glaubhaftes zu berichten gibt, dass die sogenannten Fakten von beiden Seiten kräftig eingefärbt werden.

David kommt zum Gute-Nacht-Sagen. Die Wettervorhersage ist gerade vorbei. Und, fragt er, welches Wetter haben sie für morgen ausgesucht?

Das falsche mal wieder, gibt Leo zurück. Die wissen noch immer nicht, wann die Eisheiligen sind.

Müssen doch nur im Kalender nachschauen, sagt David. Da musst du bei der ARD anrufen, Papa!

Ja, sagt Leo, und wir lachen und ich muss an die Zeit denken, als David noch ernsthaft glaubte, dass die ARD das Wetter für uns aus einem Karteikasten raussuchte. Wie schnell die Jahre vergangen sind, seit er in der Schule ist. Wie er seit Kurzem an seiner Schlagfertigkeit feilt, manchmal noch einen Schritt zu weit. Ein forsches Tasten. Gepaart mit dem Entschluss, mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.