Die Scanner - Robert M. Sonntag - E-Book

Die Scanner E-Book

Robert M. Sonntag

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Beschreibung

EIN SPANNENDER NEAR-FUTURE-THRILLER Die Welt im Jahr 2035 ist eine Welt ohne Papier. Alles ist digital und für alle zugänglich – dank der Datenbrille Mobril: jederzeit und kostenlos. Rob arbeitet als Scanner für einen Megakonzern: Er digitalisiert er die letzten gedruckten Dokumente und stößt dabei eines Tages auf eine verbotene Organisation aus arbeitslosen Autoren, Buchhändlern und Journalisten. Kurz darauf sieht Rob sein eigenes Bild als Top-Terrorist auf allen TV-Kanälen. Im Kampf um Monopolisierung und Macht ist er mit einem Mal der Staatsfeind Nummer eins … Sachbuchautor Martin Schäuble greift als Robert M. Sonntag ein brisantes Thema auf und denkt es konsequent weiter. Das Ergebnis ist brillanter Roman über Freundschaft in Zeiten globaler Digitalbekanntschaften und ein hellsichtiger Kommentar unserer Tage. »Schäuble alias Robert M. Sonntag, beweist, dass er nicht nur gut recherchierte Sachbücher schreiben kann, sondern auch einen packend aufgebauten Zukunftsthriller mit einer hochaktuellen Thematik« Süddeutsche Zeitung

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Robert M. Sonntag

Die Scanner

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

EIN SPANNENDER NEAR-FUTURE-THRILLER

Die Welt im Jahr 2035 ist eine Welt ohne Papier. Alles ist digital und für alle zugänglich – dank der Datenbrille Mobril: jederzeit und kostenlos. Rob arbeitet als Scanner für einen Megakonzern: Er digitalisiert er die letzten gedruckten Dokumente und stößt dabei eines Tages auf eine verbotene Organisation aus arbeitslosen Autoren, Buchhändlern und Journalisten. Kurz darauf sieht Rob sein eigenes Bild als Top-Terrorist auf allen TV-Kanälen. Im Kampf um Monopolisierung und Macht ist er mit einem Mal der Staatsfeind Nummer eins …

Der renommierte Autor Martin Schäuble greift als Robert M. Sonntag ein brisantes Thema auf und denkt es konsequent weiter. Das Ergebnis ist brillanter Roman über Freundschaft in Zeiten globaler Digitalbekanntschaften und ein hellsichtiger Kommentar unserer Tage.

 

»Schäuble alias Robert M. Sonntag, beweist, dass er nicht nur gut recherchierte Sachbücher schreiben kann, sondern auch einen packend aufgebauten Zukunftsthriller mit einer hochaktuellen Thematik.« Süddeutsche Zeitung

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischerverlage.de/kinderbuch-jugendbuch

Biografie

 

 

Robert M. Sonntag, geboren 2010, lebte nach dem letzten der Großen Kriege in der A-Zone. Er arbeitete für den Ultranetz-Konzern. Seit 2035 liegen keine Einträge mehr über ihn vor. Sein Ultranetz-Profil ist gelöscht. Robs Buch und diese Zeilen erreichten den Fischer Verlag auf bisher ungeklärten Wegen.

Inhalt

Widmung

Klick. Vergiss das [...]

Der Alte

Das Kopfgeld

Das Fragezeichen

Die Unterrichtsstunde

Das Scannen

Die Radikalen

Die Abrechnung

Die Krisenparty

Das Nador

Der Laden

Der Abschied

Die Uhrzeit

Der Auftrag

Danke

für Fanni-2-Fanni

Klick. Vergiss das Geräusch! 2035 hat es sich ausgeklickt. Mzzzp. So klingt die Zukunft. So klingt alles. Wirklich alles. Ganz besonders 2035, im Juli.

 

Da war auch das mit ihr. Und mit dem Alten. Und mit Ultranetz. Und mit dem großen Knall. Und überhaupt und sowieso. Doch der Reihe nach.

Der Alte

Mzzzp. Die Tür zu unserem Abteil im Metro-Gleiter glitt auf. »Guten Tag, ich bin Lukas. ’tschuldigen Sie bitte die Störung. Ich lebe seit fünf Monaten in der C-Zone. Und ich bin leider auf Ihre Hilfe angewiesen. Wenn Sie vielleicht ein wenig Geld für mich haben …«

Er zeigte auf den mobilen Zahlungsempfänger, der an seinem Gürtel hing.

»… oder auch ein paar Aroma-Tabletten, ein paar Stunden Account für meine Mobril …«

Er tippte auf die Mobril-Fassung auf seinem Kopf. Sie hatte nur noch auf einer Seite ein Glas und reagierte auf sein Pochen mit einem Mzzzp. Das andere Auge schaute uns unverglast, direkt an.

»Freue mich über alles. Und ’tschuldigen Sie nochmals die Störung.«

Ich hasste diese C-Zonler. Sie erinnerten mich an den allseits drohenden Abstieg von der A- in die Chaos-Zone, wie wir A-Zonler die C-Zone nannten. Und sie erinnerten mich an Nomos. Meinen Chef. »Quote erfüllen oder ab mit euch in die C-Zone!«, sagte er immer. Ich hasste Nomos wie diesen C-Zonler. Und ich hasste diesen Metro-Gleiter.

Mit einer riesigen Geschwindigkeit schoss er auf einem Magnetgleis durch die Stadt. Der Gleiter beschleunigte und bremste im Minutentakt. Von Station zu Station. Die vielen Kurven machten mir schwer zu schaffen.

Wir saßen zu dritt im 20er-Abteil. Ich presste die Hände auf die Armlehnen. Gegenüber von mir saß Jojo, mein bester Freund. Neben mir ein alter Mann, mit dem die ganze Sache begann.

Es war eine meiner letzten Fahrten mit dem Metro-Gleiter. Ich meine nicht in dieser Woche oder so. Sondern überhaupt in meinem Leben. In wenigen Tagen sollte das alles für mich Altwissen sein. Aber davon ahnte ich nichts in dieser Minute, in der ich mit Jojo und dem Alten im Abteil saß.

Der Alte neben mir nickte dem C-Zonler zu. Der lächelte und deaktivierte seinen mobilen Zahlungsempfänger. Mzzzp. Wir waren wieder alleine in unserem Abteil. Ohne den C-Zonler. Der Alte blieb. Er hatte graue, lange Haare. Aus dem schwarzen Kapuzenpullover schaute ein gelber Hemdkragen.

Ich war perplex. Ich hatte real noch nie einen Menschen mit so vielen Haaren gesehen. Ich hatte eine Glatze, Jojo auch. Alle in diesem Gleiter vermutlich. Egal wie alt. Egal ob Frau oder Mann. Es war eine reine und rasierte Welt. Sie war glatzig. Glatzig und gut.

Ich starrte den alten Mann an. Er blickte kurz auf und lächelte. Ich fühlte mich ertappt und schaute aus dem Fenster. Schwarze Betonstreifen zogen vorbei. Jeder Streifen ein Wohnblock. Jeder Wohnblock 200 Familien. Jede Familie ein Kind. Vorausgesetzt, die Zonenregierung stimmte dem Antrag der Eltern zu.

Es durfte ja nicht jeder ein Kind haben. Wie meine Nachbarn zum Beispiel. Sie hatten zwar den Finanzcheck bestanden (beide A plus). Doch beim Gen-Eignungstest waren sie durchgefallen (über 1,3 Prozent Abweichung vom Normwert!).

Regentropfen klatschten ans Fenster unseres Abteils und zogen dünne Spuren.

»Müssen morgen mal in der Parkhalle suchen«, sagte Jojo.

»Das wird ewig dauern. Was macht unsere Quote?«, fragte ich.

»Wir liegen zurück. Nur zwei die Woche.«

Ich presste die Lippen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Zwei war richtig schlecht. Das reichte längst nicht, um alle Rechnungen zu bezahlen. Von Woche zu Woche spürten Jojo und ich weniger auf.

»Weißt du noch am Anfang?«, fragte ich.

»Vor lauter Scannen kaum Zeit zum Atmen«, sagte er.

Jojo und ich arbeiteten für die Scan AG – ein Tochterunternehmen des Weltkonzerns Ultranetz. Unser Arbeitgeber wollte die glatzige Welt papierfrei machen. Alles Wissen für alle! Jederzeit! Kostenlos! lautete das Motto. Wir halfen der Scan AG bei der Verwirklichung dieses Traumes. Jojo hatte mich reingeholt. Und ich träumte mit.

»Die Zeit der Buchagenten ist vorbei«, sagte Jojo.

Ich zählte nicht mehr die grauen Häuserblocks, hatte bei 132 aufgehört. »Vielleicht machen wir was falsch?«

»Wir haben einfach schon alle Leser gefunden«, sagte Jojo. »Alle Bücher schon gekauft. Allen Quatsch schon gescannt.«

Jojo war der Pessimist des Tages.

»Und wenn wir die Abteilung mal wechseln?«, schlug ich vor.

»Will keine verstaubten Landkarten suchen.«

»Notizblöcke?«

»Nein!«

»Printbriefe?«

»Vergiss es einfach. Und bevor du fragst: auch keine verschimmelten Ordner voller Papier.«

»Vielleicht sind die anderen Teamchefs etwas …«

»… netter als Nomos? Träum weiter!«

Nomos jagte uns in der Zentrale von Seminar zu Seminar, von Meeting zu Meeting. Er händigte uns das Bargeld aus, mit dem wir die Leser überredeten. Und er gab uns unseren Anteil. Der Verdienst war nicht besonders. Aber besser als nichts.

Bevor ich bei der Scan AG angefangen habe, hatte ich verzweifelt einen Job gesucht. Mein Altwissen-Studium musste ich nach ein paar Monaten abbrechen. Die Studiengebühren waren zu hoch. Ich konnte mir keine Mobril-Vorlesung mehr leisten. Ganz zu schweigen von den Real-Veranstaltungen an der Uni. Selbst in der letzten Reihe waren die Preise noch unverschämt teuer.

Erst wollte ich es nicht wahrhaben. Ich suchte nach Nebenjobs. Aber auch die alte Lehrmeisterin konnte mir nicht helfen. So nannte ich meine Lieblingsprofessorin. Sie schickte mir Anzeigen über die Mobril zu. Täglich.

Schnellkurs: In vier Wochen zum Allfach-Lehrer (B-Zonen-Lizenz).

Seniorenlager in C-Zone sucht engagierte Pflegekräfte – auch ohne Vorkenntnisse.

Nach meinem Studienabbruch fand ich dank Jojo immerhin dieses Buchagenten-Ding. Als ich längst für Ultranetz arbeitete, erhielt ich immer noch ihre Anzeigen. Irgendwann löschte die Zonenverwaltung das Studienfach. Altwissen hatte von einer privaten Prüfagentur (Master & Partner) ein mieses Rating bekommen.

Zu wenig Sponsorengelder, hieß es in einer Erklärung der Zonenverwaltung, erfordern diesen wichtigen Schritt. Und: Es ist ein Schritt in die Zukunft! Sogar ich hatte dafür bald Verständnis. Alles Altwissen war längst digitalisiert. Jeder konnte es auf Lexi-Ultranetz abrufen. Jederzeit! Kostenlos!

Mein Chef Nomos hatte mich im Vorstellungsgespräch ausgelacht, als er von meiner Unizeit hörte.

»Altwissen? Was wolltest du damit anfangen?«

»Ich interessiere mich für Politik. Also, bin neugierig … Und dachte, vielleicht …«

Er unterbrach mich und schrie mich an. »Studiere die Zukunft! Sei wirklich neugierig, nicht altgierig. Verstanden?«

Ich verstand und bekam den Job.

Die Zonenverwaltung verkündete an der Uni das Ende von Altwissen, und meine alte Lehrmeisterin war verschwunden. Spurlos. Ohne eine Mobril-Nachricht. Ich erhielt von ihr keine Anzeigen mehr. Keine Ratschläge. Nichts.

Ich machte mir Sorgen. Eine Weile suchte ich in ihrem Ultranetz-Profil nach Familienmitgliedern. Sie hatte nur 500 eingetragene Freunde (ich: 8500) und keine besten Freunde mit Premium-Status (ich: 650).

Ich schickte eine Nachricht an all ihre Freunde. B-Zonen-Joni antwortete als Einziger. Sie kam nach der Abschiedsrede an der Uni nicht mehr nach Hause. Keine Ahnung, woher das B-Zonen-Joni wusste. In der B-Zone lebte sie sicher nicht.

Die Arbeit mit Jojo bei Ultranetz lenkte mich ab. Ich kannte ihn seit der Schulzeit. Und bei den Abschlusstests waren wir ein gutes Team. Ich machte seine Prüfung in Altwissen (Schwerpunkt: 2015 – vom Finanzkollaps zum Krieg), Jojo meine in Mathe (keine Ahnung, welches Thema).

Wir tauschten dazu einfach unsere Mobrils aus. Schummeln interessierte sowieso keinen. 400 Schüler saßen in der Halle dicht an dicht nebeneinander. Lehrer hab ich in den letzten Schuljahren nur noch in der Mobril gesehen. Wenn überhaupt. Jojo studierte nach der Schule an einer Privatuni von Ultranetz. Dort muss er wohl zu viel herumgespielt haben und landete schließlich bei den Buchagenten.

 

Jojo und ich schwiegen uns nun schon eine Weile im Metro-Gleiter an. Ich zählte wieder Wohnblöcke. Ich würde Jojo später ausrechnen lassen, wie viele Leute in diesem Quartier wohnten. So weit kam es nicht. Der alte Mann neben mir packte ein Buch aus. Bestimmt hatte er unser Gespräch mitbekommen und wollte das Geld.

»Was wollen Sie für das Bündel Papier haben?«, fragte Jojo keine zwei Sekunden später. Wir sagten nie Bücher. Wir sprachen in Altsprech von Wälzern, Schmökern, Schwarten oder Schinken.

Das lernten wir bei Nomos in der Zentrale. Dort wiederholte er Seminar für Seminar den Satz: »Denkt an unseren Traum! Alles Wissen für alle! Jederzeit! Kostenlos!«

Der Alte antwortete nicht auf Jojos Frage. Er schlug sein Buch auf. Lehnte sich zurück. Und las darin. Jojo gab nicht so schnell auf. »Würde sagen, ich gebe Ihnen einen Zehner.«

Das war lächerlich wenig, doch so hatten Jojo und ich am meisten Erfolg. Immer nannten wir zuerst einen winzigen Betrag. Daraufhin verteidigten die Leser ihr Papierbündel.

»Das Buch ist unverkäuflich.«

»Das gedruckte Wort ist unbezahlbar.«

»Dieses Werk wird seinen Besitzer nie wechseln.«

Zeit für die zweite Stufe. Jojo griff in seine Jackentasche und zog ein Päckchen Hunderter heraus. Zwanzig Stück. Das überforderte jeden. So viel Bargeld war nirgends mehr zu sehen. Schließlich gab es den mobilen Zahlungsempfänger und den Fingerabdruck.

2000 in bar gab es nur bei uns. Und wir legten noch einen drauf. »Das ist für das bisschen Papier. Für jedes weitere gedruckte Bündel erhalten Sie von uns 2500. Für jeden Namen eines Lesers, den Sie kennen und uns nennen, 1000.«

Als ob das nicht ausgereicht hätte, fügten wir dramatisch hinzu: »Das ist unser letztes Angebot. Und es gilt exakt die nächsten zwei Minuten.«

Genau in diesem Augenblick zogen wir eine Stoppuhr aus der Hosentasche. Sie war an einem dünnen Plastikband befestigt, projizierte rot blinkende Zahlen in den Raum. Mzzzp, und die Zeit lief rückwärts. Zwei Minuten, eine Minute und 59 Sekunden, eine Minute und 58 Sekunden, eine Minute und …

Fast alle Leser waren in den ersten 15 Sekunden zum Verkauf bereit. Dickschädel brauchten über eine Minute. Einer brach vor uns in Tränen aus. Das war vielleicht vor einem halben Jahr. Das Angebot machte ihn fertig. Manche Leser wollten so ein Buch nie verkaufen. Bis wir mit 20 Geldscheinen alle Prinzipien wegwischten. Wir bekamen alle. Fast alle.

Einen von zehn, den konnten wir mit Geld nicht locken. Der hatte entweder schon genug davon, oder er war ein Fanatiker. Ein Büchernarr. Im schlimmsten Fall sogar ein Bibliophiler. Gerade so einen wollte die Scan AG am liebsten knacken. In den Schulungen bei Ultranetz brachten sie uns in griffigen Formeln bei: Vielleser gleich Fanatiker, Fanatiker gleich Sammler, Sammler gleich viele Bücher, viele Bücher gleich viel Geld für Buchagenten. Und Buchagenten wie Jojo und ich hörten so etwas sehr gerne.

Seminare hin oder her, es blieb dabei: Einen von zehn bekamen wir nicht. Also ließ sich Ultranetz ein anderes Vorgehen einfallen. Bei hartnäckigen Lesern sollten wir möglichst viel Persönliches in Erfahrung bringen. Woher sie kommen. Wohin sie fahren. Am besten natürlich, wie sie heißen und wo sie wohnen.

Wir reichten diese Daten umgehend an Nomos weiter. Der nannte uns daraufhin unfähige HUKAFEHLI (Humankapital-Fehlinvestitionen), weil wir den Leser nicht vom Verkauf überzeugen konnten. Nachdem er sich wieder beruhigte, überwies er uns eine kleine Prämie. Je nachdem, ob die Daten hilfreich waren. So lief es immer ab. Für uns HUKAFEHLI.

Keine Ahnung, was weiter mit den Leserdaten geschah. Es interessierte uns nicht. Die Stimmung bei Jojo und mir war nicht besonders. Gerade in den letzten Monaten. Wir fanden schlichtweg keine Leser mehr.

Wir rasten in den Gleitern von Stadtrand zu Stadtrand. Stundenlang. Ich verbrachte davon die Hälfte der Zeit auf der Toilette. Wir spazierten durch die Parkanlagen der A-Zone. Schauten uns in den Aroma-Cafés um. Klingelten an Haustüren. Durchsuchten die Wartehallen der Ärzte und Behörden. Klapperten die Adressen ab, die uns andere Leser genannt hatten. Nichts. Tage vergingen ohne einen einzigen Leser.

Der alte Mann im Metro-Gleiter neben mir war daher mehr als wichtig für uns. Und für unsere Quote. Ich brachte kein Wort heraus. Irgendwas an diesem Leser war anders. Damit meine ich nicht sein unglatziges Äußeres. Nach Jojos Angebot, dem lächerlichen Zehner, verzog der Alte nicht einmal die Mundwinkel. Er las weiter. Er beachtete uns nicht. Jojo setzte das Programm wie immer fort.

Er breitete die Geldscheine auf dem Tisch zwischen sich und dem Alten aus. Keine Reaktion. Das überraschte mich nun wirklich. Egal wie stur die Leser waren, auf das viele Geld glotzten sie alle. Jojo wollte die eingeübten Sätze abspulen. Er musste aber davon abweichen, weil der Alte nicht für eine Millisekunde auf den Tisch sah.

»Auf dem Tisch ZWISCHEN UNS liegen ZWEITAUSEND in bar.« Dann wieder Standardtext. »Das ist für das bisschen Papier. Für jedes weitere Bündel …«

»… erhalte ich von euch 2500. Für jeden Namen eines Lesers, den ich kenne und euch nenne, 1000«, leierte der Alte gelangweilt runter.

Jojo schaute zu mir. Ich zog die Schultern nach oben. Der Grauhaarige klappte sein Buch zu, legte es auf die Geldscheine.

Er blickte mir in die Augen und sprach zu mir. So als ob Jojo nicht im Abteil säße. »Ich schenke es dir. Bevor du es aber scannst und für immer vernichtest, musst du es lesen. Kannst du mir das versprechen?«

Ich blieb sprachlos. Uns hatte noch nie ein Leser sein Buch einfach so überlassen wollen. Und keiner hatte mich bisher zur Lektüre aufgefordert. Wer war dieser Mann? Wieso wollte er, dass ausgerechnet ich das Ding las? Sicher war nur eines für mich. Mit diesem Leser konnten wir kein Geld verdienen.

Jojo beugte sich zu mir über den kleinen Tisch, hielt die Hand vor den Mund und flüsterte. »Der ist verrückt. Wir suchen uns ein anderes Abteil. Melden den Vorfall. Wir brauchen vorher nur noch ein paar Daten.«

Ich sagte nichts, konnte meinen Kopf weder schütteln noch mit ihm nicken. Die Sache war total schräg.

Jojo blieb gelassen. Er setzte sich aufrecht hin. Schob das Buch sachte auf die Seite. Sammelte die Geldscheine ein. Und machte weiter seinen Job. »Für manche ist so ein Wälzer viel wert. Wir respektieren natürlich Ihre Meinung. Ich bin übrigens Alex. Das ist Paul.« Jojo zeigte auf mich. »Wir arbeiten für die Scan AG. Wie ihnen sicher bekannt ist, wollen wir das Wissen für alle jederzeit und kostenlos verfügbar machen. Können wir Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal fragen, Herr …?«

Ich schämte mich für Jojos ärmlichen Versuch, den Namen des Buchmenschen zu erfahren.

»Bergmann, Arne Bergmann«, sagte der Alte zu meiner Überraschung. Bevor Jojo nachhaken konnte, sprach er weiter. »Nomos wird das reichen. Da bin ich ganz sicher, Jojo. Was sagt Ihr Kollege Rob dazu?«

Jojo arbeitete wie eine Mobril. Er speicherte das, was wir bei den Seminaren von Ultranetz lernten, irgendwo in seinem Schädel. Er konnte auf alles jederzeit zugreifen. Für jede Bemerkung paukten wir den dazu passenden Satz.

Einmal wollte ein Leser mit uns diskutieren. »Ich weiß nicht, wieso Ultranetz jedes Buch braucht! Ihr habt diesen Buchtitel doch bestimmt schon tausendmal gekauft und gescannt.«

Unsere Antwort folgte nach einer Sekunde. »Vielleicht haben wir aber nicht exakt diese Ausgabe und exakt diese Auflage. Womöglich haben Sie als Leser wertvolle Notizen an den Rand geschrieben. Dinge unterstrichen. All das kann für andere Menschen sehr nützlich sein. Ihre Anmerkungen werden somit der Nachwelt überliefert. Jedes Druckerzeugnis hat schließlich seinen eigenen Charakter.«

Das schmeichelte dem Leser ungemein. Uns konnte keiner überraschen. Wir waren auf alles und jeden vorbereitet. Nur auf diesen Arne Bergmann nicht, der Nomos’ Namen kannte. Und unsere echten auch!

Jojo suchte nach einer passenden Reaktion. Das dauerte. Nun schwiegen wir alle. Jojos Gehirn brauchte mehr Zeit als üblich, funktionierte aber nach wie vor vorbildlich. Ihm fiel der letzte Satz des zehn Punkte umfassenden Leitfadens für Buchagenten ein. Bei unüblichen Verhaltensmustern umgehend Teamleiter kontaktieren! Alle gesammelten Daten melden!

Jojo stand auf, zu ruckartig, wie ich fand. »Ich bedanke mich bei Ihnen für das gute Gespräch, Herr Bergmann.«

Jojo wollte mich mit sich ziehen und riss am Ärmel meiner Jacke. Ich blieb wie festgeklebt sitzen. Ich überlegte noch immer, wieso mich der Alte direkt angesprochen hatte und warum er mich noch immer anschaute. Jojo verschwand im benachbarten Abteil.

»Tut mir leid. Wir müssen das Gespräch an einem anderen Ort fortsetzen. Ich muss jetzt gehen«, sagte Bergmann zu mir.

Mir schossen tausend Fragen durch den Kopf. »Die nächste Station liegt in der C-Zone. Da würde ich an Ihrer Stelle nicht aussteigen«, sagte ich dann nur.

Der alte Mann lächelte, ließ das Buch unter seinem Pullover verschwinden. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um. »Bis bald!«

Er sprach in Rätseln. Bevor ich etwas fragen konnte, redete er weiter. »Du bist bleich. Verträgst diese Metro-Gleiterei nicht.«

Er strich mit seiner Hand über meine Glatze, zog sich die Kapuze seines Pullis über und verschwand im schmalen Korridor.

»Nächster Halt: C-Zone, 3. Quartier, eine Minute Aufenthalt«, sagte eine sanfte Männerstimme. Der Metro-Gleiter raste in eine steile Kurve. Bremste keinen Atemzug später von viel zu schnell auf Nichts.

Ich eilte den Gang entlang zur Toilette. Ich sah Jojo im benachbarten Abteil. Er hatte die Mobril auf und setzte sich vermutlich gerade mit Nomos in Verbindung. Jojo sah über die Brillengläser zu mir, zeigte mit dem Daumen nach oben und grinste. Ich deutete auf meinen Bauch und rannte weiter.

Der Gleiter war bereits in der B-Zone, als ich den Spülknopf drückte. Ich zitterte am ganzen Körper und drehte mich zum Waschbecken um. Das kalte Wasser floss über die Hände. Über mein Gesicht. Die Stirn. Den kahlen Schädel. Bis zum Nacken. Ich richtete mich auf, stieß die Stirn an der Ablage, fluchte und öffnete die Augen.

Im Spiegel sah ich einen blassen, müden, aber immerhin glatzigen Buchagenten und ein paar handgeschriebene Wörter in grüner Farbe.

Morgen früh, 8 Uhr, Sunshine Café, C-Zone, 20. Quartier. Bis bald! Arne

Das Kopfgeld

Zu Hause (A-Zone, 8. Quartier) hielt ich einen Finger an die Tür. Mzzzp.

Mein Vater kam mir im Hausflur entgegen. »Du siehst aus, als hätte dich jemand eine Woche im Metro-Gleiter eingesperrt.«

Besser könnte ich meinen Zustand nicht beschreiben, wollte ich sagen. Da war er schon im Wohnzimmer verschwunden.

Ich folgte ihm. »Jojo und mir ist heute was Unglaubliches passiert.«

Mein Vater setzte sich seine Mobril auf. »Mobril. Kontakt. Lars.« Er hatte gleich Nachtschicht, und Lars, sein Kollege, wollte ihn abholen. Mein Vater arbeitete als Ingenieur für die Firma, die Magnetgleise für Gleiter verlegte. Mein Albtraum war seine Leidenschaft.

»Unglaubliches ist passiert?«, fragte mein Vater.

»Ja, und zwar …«

»Schön«, sagte er. Er hatte Lars in der Mobril. »Hey, wie ich sehe, bist du schon in meiner Straße. Ich komme raus!«

»Na, also dann …«, sagte ich zur Tür. Mein Vater war schon weg.

Arbeit war für ihn alles. Keine Arbeit, keine A-Zone. Und seit der Sache mit Mike hatte mein Vater richtig Angst. Der Abteilungsleiter hatte Mike fristlos entlassen. Und so ist Lars an die Stelle gekommen.

»Eine altersbedingte Freisetzung«, hieß es in der offiziellen Erklärung. Lars, der neue, war 22 Jahre alt. Die Leute hatten entweder eine Alterszusatz-Extra-Versicherung abgeschlossen oder etwas auf die Seite gelegt. Wer nicht versichert war und kein Geld auf der Seite hatte, der zog zu seinen Kindern. Wer keine Kinder hatte oder, noch schwieriger, wer Nachwuchs hatte, der da nicht mitspielte, der landete in der C-Zone. Und dort in den Randquartieren am Stadtende.

Mike hatte weder eine Versicherung gehabt noch Geld, Kinder oder Lust auf die C-Zonen-Randquartiere. Nach seiner letzten Nachtschicht lud er meinen Vater zum indischen Imbiss ein. Ich verfolgte das Treffen über meine Mobril. Mein Vater hatte mir eine Einladung zugeschickt.

»Ich mach Schluss mit dem Ganzen«, sagte Mike.

Die Zahl der Zuschauer stieg sprunghaft von 232 auf 680. Ich hatte die Einladung an meine Freunde weitergeleitet, und manche von ihnen hatten offenbar wiederum ihre Freunde eingeladen.

»Ruhig bleiben. Wir finden was für dich, kannst dich darauf verlassen«, sagte mein Vater.

482 Zuschauer.

»Was finden? Als Rentner Rentner pflegen? In einer C-Zonen-Fabrik schuften?«

54 Zuschauer.

»Es gibt auch noch …«

18 Zuschauer.

»… nichts gibt es. Alles ist vorbei.«

»Zweimal Aroma-Yogi-Tee?«, fragte der Kellner.

Mike nickte.

»Ich bring mich um.«

1048 Zuschauer.

Der Kellner servierte Tee mit Yogi-Aroma.

»Mach mal langsam«, sagte mein Vater. »Hab die Wohnung auch noch nicht abbezahlt. Und bringe ich mich deswegen gleich um?«

»Du hast einen Job. Ich nicht!«, sagte Mike.

Drei Stunden später legte sich Mike irgendwo im 5. Quartier auf eine Magnetschiene und aktivierte seine Mobril. »Mobril. Kontakt. Abteilungsleiter.«

Sein Vorgesetzter nahm den Mobril-Kontakt an. Er hörte Mikes Stimme, und er sah das, was Mike sah. In diesem Moment war das eine breite Magnetschiene und ein heranrasender Metro-Gleiter.

»Sie sind schuld«, schrie Mike.

Der Abteilungsleiter sagte nichts. Das musste alles zu schnell gegangen sein. Vielleicht zuckte er zusammen, als die grellen Signallichter des Gleiters vor sich in der Brille auf ihn zurasten.

Woher ich das alles weiß? Alle wissen es! Mike übertrug die Mobril-Aufnahmen an seine Mobril-Basis zu Hause. Seine Ex-Frau hatte Zugriff zur Basis. Sie stellte den Film ins Ultranetz.

Mein Freund Jojo gehörte zu den Ersten, die die Bilder sahen. Er hatte ein Mobril-Abo für die besten Filme auf Ultranetz. Mikes Suizid landete an diesem Vormittag auf Platz eins. Mehrere Stunden Mobril-Kommentare sammelten sich an.

»Aua! Das tat sicher weh! Breites Grins«, meinte Sabi-2009.

Bob48 knackte Mikes Ultranetz-Profil. Er veröffentlichte Mobril-Filme der letzten 15 Jahre, alle Fotos und Kontaktlisten. »Die Wahrheit ist …«, textete Bob48 und machte somit auf das ganze Material neugierig.

Eine ganze Nacht schaute ich mir Mikes Fotos an. Angefangen von seiner Ausbildungszeit. Er hatte eine sehr hübsche Freundin damals. Auch wenn ihre langen, schwarzen Haare mich irritierten. Mit Glatze wäre sie perfekt gewesen.

Mein Vater wollte das alles nicht sehen. Er glaubte nicht an den Selbstmord seines besten Freundes. Erst als Mikes Frau eine Einladung zur Trauerfeier per Mobril verschickte. Es war das erste und letzte Mal, dass ich meinen Vater weinen sah. Und irgendwie rührte mich das.