Die Schädeljäger - Christiane Gref - E-Book

Die Schädeljäger E-Book

Christiane Gref

4,6

Beschreibung

Weimar, 1805. Die Heimat der deutschen Klassik steht Kopf: Eine blutige Spur enthaupteter Leichen führt durch die Stadt. Zur selben Zeit präsentiert der Phrenologe Dr. Franz Josef Gall seine umfangreiche Schädelsammlung in den Hörsälen Weimars. Hat er etwas mit den Morden zu tun? Als der Weinhändler Adrian Dennfelder das Angebot ausschlägt, seinen Schädel vermessen zu lassen, wird es auch für ihn gefährlich. Er muss den Täter finden, will er nicht selbst der nächste Kopflose sein …

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Christiane Gref / Meike Schwagmann

Die Schädeljäger

Historischer Kriminalroman

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© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart,

unter Verwendung des Bildes »Das neue Naturheilverfahren«

1

Der Mann ließ den Eingang des Alexanderhofs nicht aus den Augen. Als er sah, dass der Professor zur Tür strebte, verließ er seinen Posten an der Straßenecke. Die Hitze des Tages stieg von den Pflastersteinen auf. Der Mann wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Als er das Tuch sorgfältig in seiner Tasche verstaute, betrat der Professor das Gebäude.

»Sie können fahren, ich bleibe hier«, wandte sich der Mann an den Kutscher, der neben ihm wartete, und ließ drei Münzen extra in dessen ausgestreckte Hand fallen.

Der Mann war noch nie im Innern des neuen Gasthofes gewesen. Teure Holzvertäfelungen zierten die Wände, kelchförmige Vasen, gefüllt mit Rosen, standen auf Beistelltischen. Auffallend viele Bedienstete schlängelten sich an plaudernden Grüppchen vorbei, boten angenehm kühle Getränke und appetitlich arrangierte Süßigkeiten an. Der Mann wendete sich ab, als er den Gastgeber und dessen Frau erblickte. Er entschwand aus ihrem Blickfeld, ohne dass sie Notiz von ihm nehmen konnten. Im Speisesaal hatte man in moderner Manier auf eine lange Tafel verzichtet und stattdessen einzelne runde Tische aufgestellt. Hier und da rückten Bedienstete ein Besteck zurecht.

Noch standen oder saßen die geladenen Gäste in den anderen Räumen und ergötzten sich am Aperitif. Aus dem größten Saal erklang liebliche Musik. Die Fläche in der Mitte hatte man freigelassen, sodass später getanzt werden konnte. Dem Mann blieb, dank der Pünktlichkeit des Professors, genügend Zeit, seinen erhitzten Körper mit einem Glas Champagner zu kühlen, ehe er zur Tat schreiten würde.

Ein Diener balancierte sein Tablett zu einer Gruppe von Gästen, die eng zusammen standen und verschwörerisch tuschelten. Nicht ein Blick der aufgeregt diskutierenden Männer verirrte sich in ein wogendes Dekolleté. Das Thema, das sie erörterten, schien ihnen aufreizend genug zu sein.

Der Diener erreichte die Gäste und bot ihnen Wein und Champagner dar.

»... ist dieser merkwürdige Kauz doch gleich hierhergekommen, um sich auf seine Gebeine zu stürzen wie ein Hund auf den Knochen.«

»Ich mag ihn nicht. Er ist für mich nicht besser als ein Totengräber, dieser Gall«, ließ sich eine empörte Dame vernehmen. Nachdrücklich zupfte sie eine Locke zurecht.

»Liebes, er ist Wissenschaftler«, sagte der hoch aufgeschossene Mann zu ihrer Linken und legte begütigend seine Hand auf ihren Arm.

Der Diener kannte den Mann nicht, über den die Dame mit der widerspenstigen Locke hergezogen hatte, aber eines wusste er: Der Tratsch hatte wieder einmal seinen Höhepunkt erreicht.

»Wie geht es unserem ehrenwerten Dichter?«, wollte der Amtmann wissen und angelte sich als Letzter ein Glas Champagner vom Tablett.

»Nicht so gut, wie ich hörte«, kicherte die Dame.

Erleichtert, weil sein Tablett endlich leer war, ließ der Diener das Raunen hinter sich und wandte sich den Musikern zu, die erschöpft ihren Durst mit Wasser stillten.

»Es ist eine Schande«, sagte der Cellist. »Wir spielen für ein Publikum, das vorgibt, die Kunst zu lieben, und kommen mit unseren Instrumenten nicht gegen das Geschnatter an.«

Der Diener nickte verständnisvoll. Dasselbe war ihm auch durch den Kopf gegangen. Es gab Menschen in Weimar, die sich über die wunderbare Musik gefreut hätten. Nur befanden sie sich nicht auf dem Fest. Überhaupt waren die Gäste unangenehm. Er sehnte sich den Zeitpunkt herbei, an dem sie alle still sitzen und ihr plapperndes Mundwerk zum Zerkauen der delikaten Speisen benutzen würden.

Der Gastgeber, Conrad Behrmann, flanierte Arm in Arm mit seiner Frau durch den Saal. Stets aufs Neue versicherte er sich, dass es seinen Gästen an nichts mangelte, nickte wichtigen Persönlichkeiten zu, plauderte mal mit dieser ein wenig und scherzte mit jener.

»Das Kleid ist viel zu offenherzig. Ich fühle mich nicht wohl. Können wir das hier bitte abkürzen?«, raunte seine Frau ihm zu.

Behrmann lächelte zwei Herren an, die ihre Taschen abklopften und wehmütigen Blickes zur Tür schielten. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, sprach er sie an.

»Nun, es scheint, als hätten wir unsere Zigarren vergessen«, gab der beleibtere der beiden zurück.

Er hatte sich Behrmann noch nicht vorgestellt. Anscheinend war der dicke Mann in Gedanken ganz bei seiner Zigarre, sodass er jegliche Manieren vergaß.

»Sie finden jede Menge Tabakwaren im Salon gegenüber«, sagte Behrmanns Frau zuckersüß, die das Gespräch mitverfolgt hatte. Die beiden Herren dankten, verbeugten sich und gingen raschen Schrittes nach nebenan.

»Du bist wohl nicht bei Trost, unsere kostbaren Zigarren zu verschwenden. Die hatte ich für wichtigere Gäste vorgesehen.«

Das Lächeln auf dem Gesicht der Frau erstarb. »Es soll meinen Gästen an nichts mangeln. ›Dieses Fest soll als eines der besten des Jahres in die Geschichte Weimars eingehen‹«, zitierte sie ihren Gatten, der vor nicht ganz drei Stunden diese Worte an sie gerichtet hatte.

»Bisher ist es das auch.«

»Wie kommt es dann, dass sich einige offensichtlich nicht wohl fühlen und so aussehen, als müssten sie eine Zuchthausstrafe absitzen?«

Behrmanns Frau deutete diskret auf einen jungen Mann, der sich an einem vollen Glas Wein festhielt und trüben Blickes in die Menge sah. Weder schien er die Gesellschaft noch den Wein zu genießen. Seine Wangen waren bleich und eingefallen.

»Das ist Adrian Dennfelder«, belehrte Behrmann seine Frau. »Der schaut immer so drein.«

Lautes Gelächter lenkte Frau Behrmann ab. Drei junge Dinger hatten sich um einen Mann geschart und buhlten um seine Aufmerksamkeit. Eines der Mädchen vollführte sogar einige Tanzschritte und redete lebhaft auf ihn ein. Der Mann lächelte freundlich. Kurz überlegte sie einzugreifen. Es schickte sich nicht, derart in der Öffentlichkeit zu poussieren. Dann entschied Hermine sich jedoch, die Szene lieber aus einiger Entfernung zu beobachten. Der Mann war überaus gut erzogen, hatte für alle drei Damen ein freundliches Wort, ermunterte sie zum Reden, nickte aufmerksam in die Runde und gestikulierte nonchalant mit seinem Glas in der Hand.

Conrad war ihrem Blick gefolgt, nahm ihren Arm und strebte auf die lachende Gruppe zu.

»Herr von Marbach, darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, Hermine Behrmann? Hermine, das ist Victor von Marbach, ein geschätzter Gast, dessen Vater ich bereits kennenlernen durfte, als ich noch ein kleiner Junge war.«

Der Mann verneigte sich und deutete einen Handkuss an. Hermine konnte nicht umhin zu erröten. Sie kam sich vor, als hätte sie die Gruppe bei weitaus schändlicheren Angelegenheiten als gemeinsamen Gelächters ertappt. Und was noch schlimmer war: Von Marbachs Lächeln war wissend.

»Es hat mich gefreut, Herr von Marbach. Sie entschuldigen mich bitte.«

Hermine ließ ihren verdatterten Mann und von Marbach stehen. Letzterem schien ihre Flucht nichts zu bedeuten, jedenfalls unternahm er keinen Versuch, sie daran zu hindern. Er wandte sich wieder den drei Grazien zu, was Hermine einen Stich versetzte.

Sie fand sich neben Adrian Dennfelder am Rande des Geschehens wieder. Bewusst drehte sie von Marbach und seiner Hühnerschar den Rücken zu und war erleichtert, dass Dennfelder sie nicht mit Plattitüden belästigte. Er hatte sich keinen Schritt bewegt. Hermine war überzeugt, dass auch kein Schluck aus seinem Glas fehlte.

Die bedeutendste Feier des Jahres schien an Dennfelder unbemerkt vorbeizuziehen.

Der Diener verließ die Musiker und begab sich in das Entree, um sich ein wenig auszuruhen. Dort standen samtbezogene Bänke und es gab viele Separees, in die man sich zurückziehen konnte.

»Karl«, hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, lugte über die Köpfe der Gäste hinweg. Uli kam auf ihn zu. Karl entsann sich, dass Ulrich draußen zum Dienst eingeteilt war. Er war dafür verantwortlich, dass die aufgestellten Laternen im Park brannten und genügend Decken für diejenigen bereitlagen, die es später aus der stickigen Hitze an die frische Luft zog.

Uli sah blass aus. Schweiß bedeckte sein Gesicht.

»Komm mit«, sagte Uli.

»Was ist denn?«

»Nicht hier.«

Karl folgte seinem Freund in den Park. Während Karl ging, taumelte Uli, als habe er einen über den Durst getrunken.

»Was ist dir denn?«

»Zeig ich dir. Das glaubst du mir sowieso nicht, wenn ich’s dir nur erzähle.«

Als sein Blick Ulis ausgestrecktem Finger folgte, verstand Karl, was Uli meinte. Er verstand es so gut, dass er sich erbrach. Der Tote, der abseits des Weges lag, bot einen grausamen Anblick.

Dennfelder nickte Frau Behrmann zu. Sie lächelte ihn zwar an, doch er wusste, dass sie es nur aus reiner Höflichkeit tat. Mit ihren Gedanken war sie sicherlich noch bei von Marbach, auch wenn sie ihm den Rücken zukehrte. Ihr Blick wirkte abwesend. Ihre geröteten Wangen erschienen ihm lächerlich. Doch er wusste, sie war nicht die Einzige, die von Marbachs Charme erlegen war. Der Name schien wie ein Fluch über der weiblichen Gesellschaft Weimars zu liegen. Dennfelder nickte Frau Behrmann nochmals zu und entschied, sie sich selbst zu überlassen.

Karl hatte Uli zur Hauptwache geschickt. Er selbst hatte sich ein paar Schritte von dem Leichnam entfernt, hin und her gerissen, seine Herrschaften zu informieren oder aufzupassen, dass nicht einer der Gäste aus Versehen auf den Toten stieß. Hätte er Uli doch erst zur Küche geschickt, der Sohn des Stallmeisters hätte ebenso gut zur Polizei laufen können. Und schneller wäre er allemal gewesen. Karl wischte sich mit seinem Hemdsärmel über die Stirn. Irgendwo in der Nähe stimmte ein Vogel ein wütendes Klagen an, im selben Moment sah Karl ihn aus den Sträuchern auffliegen. Ganz sicher hat ihn nur die Katze aufgeschreckt, versuchte er sich zu beruhigen. Trotzdem lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Von der Terrasse erklang das helle Lachen einer Dame. Am liebsten würde Karl fortlaufen. Wenn ihm doch nur nicht so übel wäre. Und wie lange brauchten die Polizisten denn noch? In diesem Moment vernahm er Stimmen und eilige Schritte. Endlich!

Friedemann, der Sohn des Stallmeisters, drückte sich am Vorhang zu den Gesellschaftsräumen herum. Bevor Karl das letzte Mal zu den Gästen gegangen war, hatte er ihm aufgetragen, mit einem frisch gefüllten Tablett am Vorhang zu warten. Jetzt balancierte Friedemann das Tablett in seiner Hand. Doch wo war Karl? Ob er ihn falsch verstanden hatte? Friedemann setzte das Tablett auf das kleine Tischchen neben sich und schob den Vorhang gerade so weit zur Seite, dass er in den Raum spähen konnte. Ein Gast mit einem Glas Wein in der Hand verschwand in einem der Separees. Friedemann war gerade einmal zehn Jahre alt, dennoch wusste er, dass auf den Festen der hohen Herren schon so manche junge Dame mit geröteten Wangen, in der Hoffnung unentdeckt zu bleiben, in eines der Separees schlich. Nur Augenblicke später nahm ein unbekümmerter Herr den gleichen Weg. Welche junge Dame wohl auf diesen Herrn wartete? Er sah so ernst aus.

Hermine Behrmann kicherte, als von Marbach mit seinen Fingern die Linie ihrer Stirn nachzeichnete. Sie hatte nicht lange gebraucht, sich wieder der geselligen Runde von Marbachs zu nähern. Als Vorwand hatte sie ihrem Mann eine Nichtigkeit ins Ohr geflüstert. Und ihre Einsicht wurde belohnt: Die Schädellehre dieses Wiener Doktors Gall war in aller Munde und hatte den Vorteil, besonders zur Freude der Damen, dass einige interessante Spielereien daraus erwuchsen, die auf den Gesellschaften überaus beliebt waren. Als von Marbach vorschlug, ihren Kopf abzutasten, um die Geheimnisse ihres Wesens ans Licht zu bringen, brauchte Hermine zur Überredung nur einen Blick in die enttäuschten Gesichter der jungen Damen zu werfen, um lächelnd zuzustimmen. Von Marbachs Blick wich sie allerdings aus.

Friedemann beobachtete, wie der Mann wieder aus dem Separee heraustrat. Nun war er gespannt, welche Dame gleich folgen würde. Da erwischte ihn etwas von hinten, sodass Friedemann in den Vorhang taumelte, in den er sich Hilfe suchend krallte.

»Friedemann, was stehst du hier im Weg?«

Wie eine Quaste baumelte Friedemann im Vorhang und blickte dem anderen Diener hinterher, der mit zwei Schüsseln in der Hand durch die Tür des Speisesaals verschwand.

Der Herr aus dem Separee war stehen geblieben und sah ihn belustigt an.

»Wenn du deine Beine wieder findest, könntest du mir eine Kutsche rufen.«

Friedemann rappelte sich hoch und strich seine Kleider glatt. Zur Antwort senkte er den Kopf und verneigte sich.

Victor von Marbach strich mit der Daumenkuppe über die Augenbrauen Hermine Behrmanns.

»Ihr Mann sagte, Sie hätten sich nicht ein Mal in Ihrem Leben verloren …«, von Marbach hielt inne und spitzte seine Lippen. Dann löste er seine Hände von ihrem Haupt. Für einen Moment senkte er den Blick.

Hermine schluckte. War er verlegen? Konnte das sein? Nein, nicht der weltgewandte, der Frauenherzen verschlingende Victor von Marbach! Oder doch? In ihr wuchs das lähmende Gefühl der Verzückung. Nein, sie durfte nicht. Sie trat einen Schritt zurück.

Er hob den Kopf. »Verzeihen Sie meine ungelenken Worte, wie stümperhaft von mir. Die Wahrheit ist«, Victor von Marbach glitt ein Lächeln über das Gesicht, »Ihr Mann hält große Stücke auf Ihren Orientierungssinn. Er sprach davon, dass Sie, wenn Sie einmal einen Ort besucht haben, ihn jederzeit, um nicht zu sagen, mit verbundenen Augen wiederfinden könnten. Ist das wahr, Frau Behrmann? Ist es Ihr größtes Geheimnis, dass Sie sich ohne Hilfe Ihres Gatten in unserer Welt zurechtfinden?«

Hermine Behrmann fühlte sich kein Stück besser als eine der Damen, über die sie sich Augenblicke zuvor noch so erhaben gefühlt hatte. Sie warf einen Blick auf ihren Mann. Konnte der Nichtsnutz sie nicht aus dieser Situation retten, in die sie sich dummerweise selbst begeben hatte? Orientierungssinn, völlig unbrauchbar für eine Frau, dachte sie, als würde eine Frau überhaupt die Gelegenheit bekommen, sich zu verlaufen. Doch wie recht von Marbach hatte. Es ging darum, zu verlieren, sich zu verlieren. Den dümmsten Fehler zu begehen, den eine Frau tun konnte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich vor den Augen ganz Weimars lächerlich machen. Aber dafür hatte sie nicht diesen Kauz geheiratet, damit sie sich bei der ersten Gelegenheit ihre eigene Arbeit, ihr eigenes Ansehen selbst verdarb.

Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sie hinter von Marbach den Diener Karl auftauchen sah. Er trug kein Tablett in seinen Händen, schaute sich nicht wohlsorgend bei den Gästen um. Was machte er? Sein Blick schweifte durch den Saal – wie unverfroren.

Keine gute Art, Karl, dachte sie. Sie musste ihn verwarnen, sobald wie möglich. Sie sah, wie Karl anscheinend gefunden hatte, was er suchte – er eilte auf jemanden zu. Hermine Behrmanns Blick folgte seinem eiligen Schritt. Er stob direkt auf ihren Mann zu, der sich anscheinend von der Gruppe entfernt hatte. Wann war das geschehen? Er hatte doch gerade noch neben ihr gestanden. Nun unterhielt er sich mit diesem unangenehmen Menschen, der tatsächlich die Hälfte des Jahres im ungemütlichen England weilte. Kaum hatte Karl ihn erreicht, flüsterte er ihm etwas ins Ohr – ohne zu warten, bis dieser sein Gespräch beendet hatte. Was war nur mit diesem Diener los?

Dennfelder wartete auf Nachricht, dass seine Kutsche eingetroffen sei. Merkwürdigerweise waren alle Diener aus dem Vorraum verschwunden, waren sie doch vor Kurzem noch in Scharen präsent gewesen. Er schaute zur Tür, wartete, tippte mit der Schuhspitze auf den Fußboden. Kurze Zeit später tauchte der Junge aus dem Vorhang wieder vor ihm auf, die Augen ohne Furcht auf ihn gerichtet. Er schien etwas außer Atem zu sein, die Wangen wirkten erhitzt, wahrscheinlich hatte er seinen Auftrag so schnell wie möglich zu erfüllen versucht. Der Junge erstaunte ihn. Er hätte vermutet, dass er das Weite suchen würde, sobald sich ihm die Gelegenheit dazu böte. Immerhin hatte er den Jungen in einer äußerst peinlichen Lage gefunden. Mutig! Das gefiel Dennfelder. Er schürzte die Lippen und überlegte. Wie hoch wohl sollte der Lohn für diesen wagemutigen Burschen ausfallen? Zu viel als auch zu wenig könnte den Geist verderben.

»Mein Herr, ist etwas? Soll ich die Kutsche wieder fortschicken?«

Eine Spur Verunsicherung glomm in den hellen Augen Friedemanns auf. Dennfelder schmunzelte. »Nein, Junge, es ist alles in Ordnung. Hier dein Lohn für so viel Eifer.« Er drückte ihm eine kleine Münze in die Hand. Sie reichte, um sich der Loyalität des Jungen für das nächste Mal zu versichern. Ohne ihn weiter zu beachten, wandte Dennfelder sich um.

Noch ehe er den Knauf umfasste, wurde die Tür von außen aufgezogen. Dennfelder trat einen Schritt zur Seite, um dem Ankömmling nicht wider Willen um den Hals zu fallen. Es war ein Polizist, der sich zwar nicht die Zeit nahm, ihn anzuschauen, aber trotzdem das Wort an ihn richtete. Im Vorbeigehen, die Hand erhoben, um schon von vornherein alle Fragen im Keim zu ersticken.

»Niemand verlässt den Gasthof!«

Trotz des noblen Äußeren erinnerte er Dennfelder an eine Vogelscheuche. Er ging so aufrecht, als hielte ihn ein Stock im Rücken. Das Gesicht war von Falten zerfurcht. Doch die Augen glänzten voller Tatendrang.

»Was ist denn geschehen?«, murrte Dennfelder unwillig.

Die Vogelscheuche warf ihm einen hastigen Blick zu.

»Ich bin Inspektor Niemer. Und Sie sind?«

»Adrian Dennfelder.«

»Begleiten Sie mich bitte wieder hinein in den Salon. Ich werde mich zu gegebener Zeit erklären. Und du kommst auch mit, Junge!«

Friedemann sah mit großen Augen zu dem hageren Mann empor, wurde von ihm unsanft nach vorne geschoben und lief schließlich mit zitternden Beinen vor den Männern her.

Hinter den Dreien strömten weitere Polizisten ins Foyer und durchmaßen in kleinen Gruppen die anderen Räume. Überwältigt von der Schnelligkeit der Männer lehnte sich Dennfelder an die Wand und harrte der Dinge, die da unweigerlich kommen würden. Er hatte darauf geachtet, sich so zu positionieren, dass er die Ansprache des Inspektors hören konnte.

Conrad Behrmann sah sich mit fahlen Wangen im Raum um. Hermine flüsterte von Marbach eine Entschuldigung zu und ging zu ihrem Mann.

»Ah, Hermine, da bist du.«

Irrte sie sich oder bebte er vor Fassungslosigkeit? »Was ist los?«, flüsterte Hermine.

»Wir haben eine Leiche im Park.«

Hermine rang um ihre Contenance. Sie fächelte sich mit beiden Händen Luft ins Gesicht, viel zu wenig, um ihren flatternden Atem zu beruhigen.

»Wer?«, krächzte sie und erkannte ihre Stimme nicht wieder.

»Ich weiß es nicht. Die Polizei muss jeden Moment hier sein.«

Es verstrichen tatsächlich nur wenige Augenblicke, bis Uniformierte den Raum betraten. Ein Diener deutete auf die Behrmanns, die Seite an Seite standen und so aussahen, als müssten sie zum Gefecht ausrücken.

Dennfelder beobachtete die Szene von seinem Standort aus. Hermine Behrmann hatte er unterschätzt. Sie hielt sich besser als ihr Mann, der abwechselnd rote und dann wieder blasse Wangen bekam, als könne sich seine Haut nicht für eine Temperatur entscheiden. Er schien auch nicht in der Lage zu sein, dem Inspektor zu antworten. Hermine gab für ihn Auskunft, untermalte ihre Worte mit anmutigen Gesten. Der Inspektor schien zufrieden. Er drehte sich einmal im Kreis, inspizierte die gaffende Festgesellschaft und wartete, bis die Polizisten alle Gäste in den Saal bugsiert und an den Türen Stellung bezogen hatten.

Der Inspektor klatschte in die Hände. Augenblicklich erstarb das aufgeregte Flüstern ringsum.

»Sehr verehrte Anwesende. Es tut mir leid, diese Feier für beendet zu erklären und Sie dennoch zu bitten, den Alexanderhof nicht zu verlassen. Halten Sie sich für Fragen bereit. Verzichten Sie auf Mutmaßungen und konzentrieren Sie sich auf Geschehnisse, die Sie möglicherweise beobachtet haben. Wir werden versuchen, uns für jeden von Ihnen genügend Zeit zu nehmen.« In den letzten Worten lag eine gewisse Schärfe, wie Dennfelder feststellte.

Stille senkte sich über den Saal. Mit großen Augen schauten die Gäste umher, versuchten zu ergründen, was sich Abscheuliches zugetragen hatte. Niemand wollte auffallen und doch machte sich jeder verdächtig.

Eine korpulente Dame neben Dennfelder konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten. Unbeholfen fing er sie auf, konnte nicht verhindern, dass seine Hand am unteren Rand ihres Korsetts Halt suchte, das daraufhin ein hässliches Knirschen von sich gab. Angesichts der nicht eben leichten Person ging er unfreiwillig in die Knie und war erleichtert, als ihm die Fracht von einem Diener abgenommen wurde, der sie auf einen Stuhl setzte und sich bei den Umstehenden nach Riechsalz erkundigte. Als Dennfelder den Blick hob, sah er, dass von Marbach nur wenige Schritte entfernt stand, seine Lippen waren amüsiert gekräuselt.

Ulis und Karls Vernehmung dauerte am längsten. Die beiden waren aufgeregt, wiederholten sich des Öfteren und fielen sich gegenseitig ins Wort.

Inspektor Niemer hielt sie für unschuldig. Er erkannte Lügner, wenn er sie sah. Diese Burschen waren ehrliche Häute, das spürte er. Leider konnten sie nichts zur Aufklärung beitragen. Kopflos sei die Leiche gewesen. Nun, das war offensichtlich. Den Kopf hatten Niemers Männer noch nicht entdeckt, obgleich sie mit hellen Laternen immer und immer wieder den Park absuchten. Das viele Blut wies darauf hin, dass der Mann im Park ermordet worden war. Die Leiche war, sah man einmal vom fehlenden Haupt ab, unversehrt. Es zeigten sich nicht die geringsten Kampfspuren an Haut oder Kleidung. Wohlgefällig waren alle Knöpfe und Schließen noch an Ort und Stelle. Der Siegelring am rechten Zeigefinger hatte dem Toten schließlich zu seinem Namen verholfen, denn der Schmuck wurde mehrfach von den Gästen erkannt: Es handelte sich um Professor Ferdinand Paul Schilling, der an der Universität in Jena Geisteswissenschaften gelehrt hatte.

Inspektor Niemer saß mittlerweile in seiner Amtsstube und vergrub stöhnend die Stirn in seinen Handinnenflächen. »So weit so gut, wir haben einen toten Professor ohne Kopf. Wurde das weise Haupt inzwischen gefunden?«

»Nein«, gab Unterinspektor Weiland mit belegter Stimme zurück.

»Das ist niederträchtig.«

»Mord ist immer infam«, bekundete Weiland und reichte seinem Vorgesetzten ein Glas mit Selbstgebranntem.

Der Inspektor trank es leer und lächelte dankbar. Dann hielt er das Glas in die Höhe und zog die Augenbrauen zusammen.

2

Es klopfte. Dennfelder stützte sich seufzend auf die Armlehne, seine Schreibfeder hielt er sorgsam über das Tintenfass. Er sah zur Tür. Wenn es seine Schwiegermutter Martha Starken wäre, würde sie hereinstürzen, ohne die dazugehörige Aufforderung abzuwarten. Doch nichts passierte. Also musste eine Person mit mehr Manieren vor der Tür stehen – sein getreuer Hausdiener Lambrecht zum Beispiel.

»Herein!«, rief Dennfelder. Er schloss für einen kurzen Moment die Augen, gerade so lange, bis er hörte, wie die Türklinke vollends heruntergedrückt wurde. Der Türöffner wies eine mechanische Tücke auf, wodurch die Falle erst im letzten Moment des Herabdrückens in der Art nachgab, als hätte sie sich zuvor gegen das Öffnen gewehrt und gäbe nun jeden Widerstand auf. Dabei verursachte die Falle ein lautes Klacken, als sie endlich aus dem Schließkolben sprang. Als Dennfelder dieses Klacken vernahm, öffnete er seine Augen wieder.

Elsa Luise, die junge Frau Dennfelders, saß in ihrem Privatsalon am anderen Ende des Flures im ersten Stock ihres Stadthauses und stickte. Ihre Mutter, die Witwe Martha Starken, stand am Fenster und blickte missmutig hinaus.

»Liebes Kind, wie kannst du nur in diesem schrecklichen Licht deine Arbeit verrichten? Ich kann mir kein günstigeres Zimmer vorstellen, was dem Sticken so wenig zuträglich wäre wie dieses hier. Überhaupt ist Weimar so … so dunkel.«

Elsa Luise nickte. Allerdings galt das Nicken ihren letzten Stichen, die sie gerade zählte. Ihrer Mutter hatte sie gar nicht richtig zugehört.

»Wenn dein werter Herr Papa dies sehen könnte, aber ach, was klage ich?«, jammerte die Witwe und schnäuzte sich in ihr besticktes Taschentuch. »Dein werter Herr Papa, Gott hab’ ihn selig, hätte deinen Gatten unterstützt. Ja, auf eine gewisse Art sind die Männer doch alle gleich. Das Geschäft, das Geschäft! Es ist das Einzige, was sie wirklich interessiert.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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