Die Schanin hat nur schwere Knochen! - Sophie Seeberg - E-Book
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Die Schanin hat nur schwere Knochen! E-Book

Sophie Seeberg

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Beschreibung

Absurde Geschichten aus dem echten Leben: Sandy erwartet ein Kind vom Ex-Freund ihrer Mutter, der der Vater ihres kleinen Bruders ist. Dass die Mutter auch noch vom Ex-Freund der Tochter schwanger ist, macht das Ganze nicht einfacher für Familienpsychologin Sophie Seeberg. Als Gerichtsgutachterin erlebt sie tragische, aber auch skurrile Momente. Wenn beispielsweise eine Mutter erklärt, dass ihre Schanin "nur schwere Knochen" habe, während diese in kurzer Zeit mehrere Tafeln Schokolade verdrückt. Seeberg erzählt auch in ihrem zweiten Buch einfühlsam aus ihrem Berufsleben und bewahrt sich ihren besonderen Sinn für Humor.

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Sophie Seeberg

Die Schanin hat nur schwere Knochen!

Unerhörte Geschichten einer Familienpsychologin

Knaur e-books

Über dieses Buch

Absurde Geschichten aus dem echten Leben: Sandy erwartet ein Kind vom Ex-Freund ihrer Mutter, der der Vater ihres kleinen Bruders ist. Dass die Mutter auch noch vom Ex-Freund der Tochter schwanger ist, macht das Ganze nicht einfacher für Familienpsychologin Sophie Seeberg. Als Gerichtsgutachterin erlebt sie tragische, aber auch skurrile Momente. Wenn beispielsweise eine Mutter erklärt, dass ihre Schanin »nur schwere Knochen« habe, während diese in kurzer Zeit mehrere Tafeln Schokolade verdrückt. Seeberg erzählt auch in ihrem zweiten Buch einfühlsam aus ihrem Berufsleben und bewahrt sich ihren besonderen Sinn für Humor.

Inhaltsübersicht

VorwortHier gibt es keine Katzen!Schreien Sie es raaaaaaauuuus!Sie meinen … Jetzt??Ein Team zum VerliebenDie traurige MeridaMuff und Eso-ThermDie Schanin hat nur schwere KnochenJa, wo sind wir denn?Sandro ist wegFrau Gruber und das Killer-GenFlammende ErleuchtungMammut-StammbaumFrau Blumenau und die BallonseideHaben Sie Angst vor mir?Ich danke …
[home]

Vorwort

Als ich vor etwas mehr als einem Jahr an dem Vorgänger dieses Buches arbeitete, leitete ich das Ganze nicht mit einem Vorwort ein, sondern mit einer Vorwarnung, da die Geschichten, die ich als Gutachterin am Familiengericht erlebt habe, oft ebenso skurril wie dramatisch sind. Ich hatte die große Sorge, man könnte mich missverstehen und mir dann womöglich vorhalten, ich würde mich über die Menschen, die ich zu begutachten habe, lustig machen. Auch der unerwartete Erfolg des ersten Buches kann mir diese Angst nicht nehmen. Deshalb möchte ich auch an dieser Stelle im zweiten Band kurz erklären, warum Humor für mich so wichtig ist.

Die Arbeit als Gerichtsgutachterin ist in erster Linie eine sehr ernste Angelegenheit, denn ein Richter beauftragt mich nur dann, wenn der Fall so schwierig ist, dass er für den Abschluss des Gerichtsverfahrens die Empfehlung einer Sachverständigen benötigt. Ich muss dann beispielsweise schauen, bei welchem der sich streitenden Elternteile das Kind am besten leben sollte oder ob das Wohl eines Kindes in seiner Familie gefährdet ist. Das ist alles andere als lustig. Meist ist es traurig, beklemmend und belastend. Für die Betroffenen, aber auch für mich als Sachverständige.

Mein Weg, mit diesem schwierigen Job zurechtzukommen, ist, neben Supervision und Gesprächen mit anderen Fachleuten, der Humor.

Das mag auf den ersten Blick irgendwie verstörend oder unpassend wirken. Jeder Mensch verarbeitet emotionale Belastungen anders. Wenn ich zum Ausgleich Joggen gehen oder mich künstlerisch betätigen würde und schon eine Armada Vasen getöpfert hätte oder aber hin und wieder in den Keller gehen, die Türe schließen und sehr laut schreien würde, dann wäre das wohl eher das, was man erwarten würde. Glauben Sie mir, all das und noch mehr habe ich ausprobiert. Es half mir nur kurzfristig und auch nicht zuverlässig – von dem Lagerungsproblem stümperhaft getöpferter Behälter mal abgesehen. Und so fand ich heraus, dass ich mit den Belastungen meines Berufes am besten umgehen kann, wenn ich einen großen Schritt zurück mache und mir das Ganze mit einem Blick für die wunderlichen Momente und unfreiwillig komischen Situationen ansehe – und darüber schreibe.

Ich bin mit dieser Art der Verarbeitung nicht alleine, und ich kann sie Ihnen nur wärmstens empfehlen. Sie hilft bei nervenzerfetzenden Telefonirrgärten vom einen oder anderen Kundenservice, beim Besuch der Schwiegermutter oder wenn man schon seit Stunden auf viel zu kleinen Stühlen beim Elternabend im Kindergarten sitzt, gerade positiv über die neuen Abholzeiten abgestimmt wurde und die Mutter von Malte-Christopher »jetzt nur noch mal zur Diskussion stellen will, ob eine Viertelstunde länger wirklich so das Problem wäre«.

Humor hilft nicht nur heilen, sondern auch Situationen, die einen natürlichen Fluchtreflex auslösen, besser auszuhalten oder im Nachhinein so zu verarbeiten, dass unsere Psyche so wenig Schaden wie möglich nimmt.

Das Ergebnis dieser Art von Verarbeitung halten Sie nun in Ihren Händen. Sie finden auf den folgenden Seiten selbstverständlich nur eine Auswahl bestimmter Fälle und keinen repräsentativen Durchschnitt meiner Arbeit.

Nichts von den grotesken Begebenheiten in den folgenden Geschichten ist erfunden.

Meine jeweiligen Interpretationen und das Gehirnkino dazu möge man mir bitte auch diesmal aus oben genannten Gründen zugestehen und nicht verübeln.

Neben der Tatsache, dass ich einfach wahnsinnig gerne schreibe und auch das eine Form der Verarbeitung für mich ist, gibt es noch einen anderen Grund, aus dem ich gerne einen zweiten Band verfassen wollte: Bei der Auswahl für den Vorgänger habe ich nämlich ein paar Geschichten aussortiert, weil ich dachte, dass mir die keiner glaubt. Und so musterte ich schweren Herzens einige meiner Lieblingsgeschichten aus – und freue mich nun, sie in diesen zweiten Band gepackt zu haben.

Sollte Ihnen also etwas besonders unfassbar erscheinen, denken Sie bitte an dieses Vorwort. Sollten Sie den Kopf schütteln über betrunkene Richter zum richtigen Zeitpunkt, psychopathische Väter mit Hang zu Verschwörungstheorien, christlich-homophobe Jugendamtsmitarbeiter oder vierköpfige Familien, die sich nur von Schokolade und Frittiertem ernähren und riechen wie ein explodiertes Klärwerk, dann blättern Sie noch einmal zu diesen Zeilen zurück.

Ein guter Freund beschrieb das erste Buch als »ein Wellenbad der Emotionen – und zwar mit verbundenen Augen«. Poetischer kann man dieses verrückte Hin und Her zwischen Drama und Skurrilität, Wahnsinn und Weinen, stummem Starren und Kopfschütteln nicht beschreiben. Ich allerdings habe dafür eine etwas pragmatischere Bezeichnung: Ich nenne es einfach »Mein Beruf«.

 

Sophie Seeberg, Dezember 2014

[home]

Hier gibt es keine Katzen!

Wenn ich heute an meine ersten Fälle als Gutachterin zurückdenke, dann wundere ich mich manchmal, dass ich damals nicht gleich wieder aufgegeben habe. Ich war notgedrungen noch unerfahren, unsicher, und die Ausbildung hatte mich nicht auf das vorbereitet, was mich in dem Beruf erwartete. Ein paar gut gemeinte praktische Ratschläge oder Warnungen von praktizierenden Gutachtern hätten mir damals schon geholfen, aber ich hatte nur mein theoretisches Wissen, ein großes Interesse für Menschen und den Willen zu helfen. Das war sicherlich Grundvoraussetzung für den Beruf, aber beileibe nicht genug, wie ich schnell herausfinden sollte. Schon der zweite Fall brachte mich in vielerlei Hinsicht an meine Grenzen und wer mein erstes Buch »Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey!« gelesen hat, erinnert sich vielleicht noch an Familie Koch. Mutter, Vater und Kind hausten in einer extrem verdreckten, stinkenden Wohnung, in der sich der Müll sowie alle möglichen anderen Dinge, die kurz davor waren, ebenfalls Müll zu sein, teilweise bis zur Decke stapelten. Das Kinderzimmer war als solches gar nicht zu erkennen, und es gab für die ganze Familie nur eine Zahnbürste, die als solche noch weniger zu erkennen war. Selten habe ich mich hilfloser gefühlt als in dem Moment, als die kleine Nadja mich bat, sie doch bitte mitzunehmen.

Der Fall endete glücklicherweise gut, und so nahm ich mir also voller Tatendrang und gespannter Aufregung meinen nächsten Fall vor. (Damals bearbeitete ich die Fälle noch nicht parallel, sondern immer nur einen nach dem anderen.)

Die Akte war erstaunlich dünn: Sie bestand nur aus drei Seiten, auf denen im Wesentlichen stand, dass Frau Seitmann ihre Tochter, die neunjährige Jenny, wieder zu sich nehmen wolle, das Gericht aber nicht wisse, ob das zum Wohle des Kindes sei, und daher die Sachverständige Frau Seeberg beauftrage, dies zu prüfen.

Zwar wusste ich nicht, warum Jenny nicht bei ihrer Mutter lebte und seit wann sie sich wo befand, aber das würde ich ja im Gespräch mit Frau Seitmann erfahren. Das klang erst mal gar nicht so kompliziert, wie ich fand, und ich ahnte nicht, wie dramatisch falsch ich mit dieser Einschätzung tatsächlich lag …

 

Es ging schon damit los, dass ich einigermaßen abgehetzt bei der angegebenen Adresse ankam, weil ich mich mal wieder mehrfach verfahren hatte. Als ich endlich in der Goethestraße vor dem Haus mit der entsprechenden Nummer stand, sah das gar nicht nach einer Privatadresse aus, sondern nach einer gigantischen Institution, Behörde oder etwas in der Art.

Ich kontrollierte noch einmal die Adresse, die in der Akte stand. Es war diese Adresse. Es sei denn, der Straßenname war richtig, aber die Stadt die falsche. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir das mehr als einmal passiert ist.

Damals gab es ja noch keine Navis fürs Auto, und ich musste mit Hilfe einer Straßenkarte sowie am Abend vorher ausgedruckter Wegbeschreibungen zu den Terminen finden. Sollte ich die Erfindungen benennen, ohne die ich nicht mehr leben kann, käme das Navi noch vor dem Handy und nur ganz knapp hinter der Druckerpresse. Seit ich eins besitze, habe ich einige Jahre meines Lebens eingespart, die ich ansonsten damit verbracht hätte, Karten hin- und herzudrehen, Straßenschilder zu entziffern, selbige im Inhaltsverzeichnis des Falk-Plans zu suchen und im Anschluss daran einen oder mehrere Nervenzusammenbrüche zu erleiden, weil ich a) mal wieder die falsche Technik beim Auseinanderfalten angewandt hatte, b) den Plan nicht mehr klein gefaltet bekam und c) feststellen musste, dass ich inzwischen weiter vom Ziel entfernt war als beim letzten Blick auf die Karte.

Das allein wäre ja noch irgendwie zu kompensieren, aber leider ist auch mein Orientierungssinn nicht nur mangelhaft, sondern schlicht und ergreifend nicht vorhanden. Wenn ich in ein Geschäft gehe – und sei es nur für einige Sekunden –, dann weiß ich beim Hinausgehen nie, aus welcher Richtung ich gekommen bin. Als ich einmal in den Semesterferien in einer größeren Firma gejobbt hatte, konnte ich mich dort nur orientieren, indem ich jedes Mal zum Eingangsbereich zurückging, um von dort in die Teeküche, die Verwaltung oder in irgendeinen anderen Raum zu gehen, da ich mir nur vom Eingang aus so halbwegs den Weg hatte merken können.

Ich habe schon Stunden damit verbracht, mein geparktes Auto zu suchen, und bin selbst bei Strecken, die ich über Wochen fast täglich fahren muss, manchmal der felsenfesten Überzeugung, diese oder jene Straße noch nie, aber wirklich noch nie, gesehen zu haben. Obwohl ich schon mein Leben lang damit zu kämpfen habe, komme ich mir nach wie vor jedes Mal sehr dumm vor, wenn ich beispielsweise beim Stadtbummel plötzlich auf dem Viktualienmarkt stehe und am liebsten laut ausrufen würde »Ach, hier ist der!«. Würde ich zur Entwicklung von Verschwörungstheorien neigen, wäre ich davon überzeugt, dass öffentliche Plätze, Straßen und auch Zimmer innerhalb von Gebäuden, in denen ich mich aufhalte, an immer andere Orte gebracht werden, um mich zu verwirren.

Nein, im Ernst: Glauben Sie mir, bis auf meinen fehlenden Orientierungssinn bin ich vollkommen normal. Echt jetzt.

Na ja, vielleicht wenn man von meiner Neigung zu Abschweifungen absieht …

 

Zurück zu Frau Seitmann beziehungsweise ihrer Adresse, denn auch hier zweifelte ich augenblicklich an meiner Wegfindung. In diesem offiziellen Gebäude konnte die Frau doch unmöglich wohnen? Ich schaute ein drittes Mal in die Unterlagen und verglich die Schreibweise und Hausnummer mit dem Stadtplan: Kein Zweifel, es war definitiv die Adresse, die in der dürftigen Akte stand.

Ich ging also zum Haupteingang und hoffte, jemanden zu finden, der mir weiterhelfen konnte. Inzwischen war ich trotz großzügig eingeplantem Wegfindungspuffer schon einige Minuten zu spät, und das mochte ich gar nicht. Ich finde es einfach unhöflich, Menschen warten zu lassen – zumal, wenn es sich um einen so wichtigen Termin wie ein Begutachtungsgespräch handelt. Ich beschloss, in Zukunft noch eine halbe Stunde Puffer zusätzlich einzuplanen, sah mich im Eingangsbereich des Gebäudes um und erblickte freudig einen Schalter mit der hilfreichen Aufschrift »Information«. Der Herr hinter der Glasscheibe blinzelte mich durch eine dicke Brille freundlich an und schob das kleine Fenster auf. »Na, wie kann ick Ihnen denn weiterhelfen, Frollein?« Ich nannte ihm Frau Seitmanns Adresse und erkundigte mich, ob das denn hier sei oder ob es vielleicht noch eine andere Straße in diesem Ort mit dem gleichen Namen …?

Der Schalterbeamte erklärte in breitem Berliner Dialekt, dass ich hier »goldrischtisch« sei und dass diese hier im Ort die einzige Goethestraße sei. Wo käme man denn da hin, wenn es von jeder Straße mehrere gäbe? Da würden die Leute ja andauernd vor falschen Häusern stehen.

Da hatte er recht. Ich bereute die nicht allzu intelligente Frage sofort und habe sie seitdem auch nicht mehr gestellt.

Ich sah wohl ein wenig verloren aus, denn er beugte sich vor und fragte in freundlichstem Onkel-Tonfall: »Wen wolln Se denn besuchen, Frollein? Ick kann ja hier in meiner Liste schaun. Dafür bin ick doch da!«

Ach so … ja … Vielleicht hielt sich Frau Seitmann ja hier auf. Aber was war »hier« eigentlich? Ich stammelte etwas, in dem die Worte »Frau Seitmann«, »Begutachtung« und »wo bin ich hier eigentlich« vorkamen. Zumindest habe ich es so in Erinnerung.

Der nette Onkel berlinerte etwas Unverständliches vor sich hin und blätterte in einem Ordner herum. Dann strahlte er mich an. »Na, da hamm wa’s ja! Ick melde Sie mal an, wa?«

Ich war erleichtert, dass ich offenbar doch am richtigen Ort war, fühlte mich aber auch verunsichert, weil ich keine Ahnung hatte, was das hier für eine Einrichtung war. Nirgendwo war ein Schild oder sonst eine Art von beschreibender Aufschrift zu sehen, und ich war wirklich ziemlich verwirrt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, es sei meine Schuld, dass ich nicht wusste, wo ich war und wieso Frau Seitmann nicht in einem normalen Wohnhaus wohnte. Eine erfahrene Sachverständige hätte diese Information sicher gehabt, dachte ich mir. Heute weiß ich, dass das Quatsch war. Auch eine Gutachterin mit jahrelanger Erfahrung hat zunächst nur die Informationen, die man ihr via Unterlagen zukommen lässt, und das war in diesem Fall eben diese spärliche Adresse. Aber sie hätte über das Selbstbewusstsein verfügt, ihre Unwissenheit zuzugeben und sich spätestens jetzt zu erkundigen, was für eine Art Institution das hier eigentlich sei.

Ich hatte damals aber weder Erfahrung noch Routine oder gar berufliches Selbstbewusstsein. Und so war ich völlig sinnloserweise krampfhaft damit beschäftigt, nicht »aufzufliegen«. Als der Informationsmann mir eröffnete, die Frau Klaasen werde mich abholen, tat ich so, als sei es für mich das Normalste der Welt, nickte wissend bei der Erwähnung der mir gänzlich unbekannten Frau Klaasen und lehnte mich betont lässig an einen Pfeiler.

In meinem Kopf aber war die Hölle los. Mehrere Fragen drängten sich wie übereifrige Journalisten nach vorne, schubsten sich gegenseitig und riefen wild durcheinander: »Wer zum Henker ist Frau Klaasen?«, »Stand da etwas in der Akte, was Sie überlesen haben, Frau Seeberg?«, »Kommen Sie immer so unvorbereitet zu den Terminen?«, »Wie wollen Sie denn nun herausfinden, wo Sie sind?«, »Meinen Sie nicht, dass es auffallen wird, dass Sie offenbar von gar nichts eine Ahnung haben?«

Als eine elegante Frau um die vierzig auf mich zustürmte, zerstoben die Fragen zu Staubwolken und ließen mich mit einem dumpfen Gefühl der Unzulänglichkeit zurück.

Ich gab der Frau, bei der es sich wohl um Frau Klaasen handelte, mechanisch die Hand und folgte ihr durch mehrere Gänge und Treppenhäuser. Oh Gott, wie sollte ich hier jemals wieder den Ausgang finden?

Schließlich hielt Frau Klaasen abrupt vor einer Türe an, die genauso aussah wie die gefühlt 387 anderen Türen, an denen wir auf dem Weg vorbeigekommen waren, und öffnete sie. Nachdem sie ein launiges »Frau Seitmann, da ist die Gutachterin!« in den Raum geschmettert hatte, wandte sie sich an mich. »Wenn Sie nachher noch Fragen haben, ich bin noch bis 18 Uhr im Teamraum.« Sprach es und verschwand.

Dabei hätte ich doch jetzt so viele Fragen gehabt. Unter anderem die, wo der verfluchte Teamraum ist …

Egal. Ich war endlich da, wo ich schon vor einer Viertelstunde hätte sein sollen. Bei Frau Seitmann.

Ich bemerkte bald, dass in diesem Fall auch eine Stunde oder ein Tag wenig Unterschied gemacht hätten.

Frau Seitmann saß in einer Art Wohnzimmer auf einem Sofa, doch trotz meiner vorherrschenden Unsicherheit war mir sofort klar, was hier nicht stimmte: Ich kam mir vor wie in einem Möbelhaus. Dieses Wohnzimmer war … tot. Hier standen zwar Möbel und auch eine Vase (mit Kunstblumen) sowie ein paar Dekoartikel im Regal, aber es war offensichtlich, dass hier niemand wohnte. Auch nicht Frau Seitmann.

Inzwischen kenne ich Räume wie diesen recht gut und empfinde sie nicht mehr als seltsam. Fast alle Einrichtungen und auch die meisten Jugendämter verfügen über derartige Räumlichkeiten. Sie sind allemal besser als ein kahler Raum mit nur einem Tisch und ein paar Stühlen, und ich war schon oft sehr dankbar für diese »Möbelhauswohnzimmer«. Aber an diesem Tag irritierte mich der Raum in erster Linie. Zumal ich ja noch immer nicht wusste, wo verdammtnochmal ich hier eigentlich war. Vielleicht würde mir Frau Seitmann diese Frage ja gleich beantworten, dachte ich. Aber ich lag falsch.

 

Ich streckte ihr meine Hand entgegen und stellte mich vor. Frau Seitmann ignorierte die Geste und wandte den Kopf in Richtung Fenster. Sie war eine rundliche, leicht verschmuddelte Erscheinung und hatte eine auffallend ungesunde Gesichtsfarbe.

Ich war unschlüssig, wie ich ob dieser tendenziell unfreundlichen beziehungsweise gar nicht vorhandenen Begrüßung reagieren sollte, und entschied mich, so zu tun, als wäre nichts gewesen. Also setzte ich mich Frau Seitmann gegenüber in den Sessel und begann zu erklären, warum ich gekommen war und wie die Begutachtung nun ablaufen werde. Frau Seitmann schaute mich nicht an und sagte auch nichts. Okay, ich hatte ihr ja auch keine Frage gestellt …

»Frau Seitmann, erzählen Sie mir doch ein bisschen von sich.«

Beim Tippen dieses Satzes steigt wieder das Schamgefühl von damals in mir hoch. Das war ja nun wirklich keine gelungene Gesprächseröffnung mit jemandem, der noch nicht einmal »Guten Tag« sagte. Ich hatte es nicht mal geschafft, eine halbwegs vernünftige Frage zu formulieren. Himmel …!

Frau Seitmann schaute weiterhin aus dem Fenster ins Nichts und ignorierte mich. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als hätte sie damit recht.

Es war gar nicht so leicht, das Bedürfnis zu unterdrücken, einfach aufzustehen, zu gehen und eine Umschulung zu beginnen. Mir erschien ein Job als Fleischereifachverkäuferin mit einem Mal sehr erstrebenswert – und das, obwohl ich Vegetarierin bin.

 

Aber ich stand nicht auf und ging, sondern versuchte erneut, mit Frau Seitmann ins Gespräch zu kommen.

»Frau Seitmann, wann haben Sie Jenny das letzte Mal gesehen?«

So. Das war eine konkrete Frage, auf die sie doch sicher reagieren würde. Immerhin war ich hier, weil sie ihre Tochter wieder bei sich haben wollte.

Frau Seitmann sah mich weiterhin nicht an, begann aber zu sprechen. Ich höre noch heute ihre brüchige, leise Stimme, die mir damals eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

 

»Wo ist Jenny?«

 

Nachdem ich mich halbwegs gesammelt hatte, erklärte ich Frau Seitmann, dass ich nicht wisse, wo Jenny sei, und gehofft habe, dass sie mir …

»Jenny hatte immer so ein Stofftier. Eine Katze. Die war grau. Wie diese grauen Männer in dem Buch. Da muss man immer so lange an der Kasse warten. Aber das mache ich nicht mehr.«

Frau Seitmann sah mich zum ersten Mal an und wandte für mehrere Minuten den Blick nicht ab.

Ich schluckte. Erstens hatte ich keine Ahnung, was genau sie mir da gerade gesagt hatte. Es ergab für mich keinen Sinn. Wo sollte ich anknüpfen, um ein Gespräch zu führen?

Zweitens wuchs mein Gefühl der Unfähigkeit zu einem riesigen schwarzen Zottelmonster, das den gesamten Raum auszufüllen schien. Es hob tadelnd die Augenbrauen und schüttelte enttäuscht den Kopf.

Frau Seitmann starrte mich nach wie vor an, oder mehr durch mich hindurch, so genau war das nicht zu erkennen. Ich musste irgendetwas sagen oder tun! Jetzt! Bevor sie wieder aus dem Fenster schaute und mich ignorierte …

»Frau Seitmann, wie alt sind Sie?«

Hatte ich das wirklich gefragt?

Das zottelige Unfähigkeitsmonster schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Oder lachte. Wahrscheinlich beides. Ich hätte gerne mitgemacht.

Da bekam ich auch schon die Quittung, denn Frau Seitmann sah wieder weg. Diesmal in Richtung Regal.

Sie zeigte in eine Zimmerecke. »Und wenn man das Radio anmacht, können sie einfach so ins Zimmer gelangen.«

Urplötzlich drehte sie den Kopf, und ihre Augen waren angstgeweitet, als sie flüsterte: »Die kontrollieren hier alles und filmen das.«

 

Ich schluckte und versuchte, ihrem Blick standzuhalten: »W … Wer tut das, Frau Seitmann? Wer kontrolliert Sie?«

Ihr Blick wurde leer. Dann wandte sie sich blitzschnell zum Fenster und zischte: »Das weiß ich doch! Ich weiß das! Jetzt sei halt mal still!«

Sie sah mich feindselig an. »Ich lasse mich von Ihnen nicht kontrollieren! Sie wollen mich doch nur ausspionieren! Aber ich weiß Bescheid! Hier ist alles voller Strom und Elektrik. Ich weiß das.« Mit diesen Worten wandte sie sich wieder dem Fenster zu, schaute hinaus und schwieg mit zugekniffenem Mund.

Irgendwie wollte ich das so nicht auf mir sitzen lassen.

»Frau Seitmann, ich …«

»Hier gibt es keine Katzen! Keine einzige! Und Sie glauben, ich merke das nicht?« Frau Seitmann wurde immer lauter. »Ich habe das sehr wohl bemerkt!! Jawohl!! ICH WEISS DAS! ICH WEISS DAS ALLES!! DAS KÖNNEN DIE RUHIG WISSEN!«

Die Türe öffnete sich, und ein junger Mann trat ein. Er trug einen schlabberigen Pulli, Nickelbrille und lange Haare. Ich war so froh, nicht mehr alleine mit Frau Seitmann zu sein, dass ich ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Er nickte mir freundlich zu und nahm dann Frau Seitmann sanft am Arm. »Kommen Sie, wir gehen jetzt zusammen in Ihr Zimmer. Da mache ich Ihnen dann einen Tee. Einen Pfefferminztee. Den mögen Sie doch so gerne.«

Frau Seitmann flüsterte etwas Unverständliches und ließ sich von ihm nach draußen führen. Ich hörte, wie sie gemeinsam den Gang entlangschlurften und der junge Mann weiterhin beruhigend auf sie einredete.

Ich wünschte mir auch jemanden, der beruhigend auf mich einredete. Und mir Tee machte. Und mich in mein Zimmer brachte…

Als es auf dem Flur längst wieder totenstill geworden war, saß ich noch immer da und starrte vor mich hin.

Was war das gewesen? Was hatte ich falsch gemacht? Was sollte ich jetzt tun? Wo war dieser vermaledeite Teamraum? Und warum hatte ich nicht Jura studiert wie meine Geschwister? Die hatten es gut! Die mussten keine Frau Seitmanns besuchen.

Ich stand auf, nahm meine Tasche und trat auf den Flur. Wäre der Ausgang direkt vor mir gewesen, wäre ich wahrscheinlich einfach gegangen. Doch so irrte ich einige Zeit durch diverse Gänge und Treppenhäuser, bis ich glaubte, mich an etwas zu erinnern.

Inzwischen hatte ich mich einigermaßen beruhigt und beschlossen, dieser Frau Klaasen ein paar Fragen zu stellen. Ob sie bemerken würde, wie unvorbereitet und ahnungslos ich war, war mir inzwischen egal. Ich würde diesen Fall aufklären und meinen Job machen und mich dabei weder von einer unvollständigen Akte aufhalten lassen noch von irgendwelchen Leuten, die über das Radio alles filmen und kontrollieren. Und erst recht nicht von meinem mangelhaften Orientierungssinn!

Dieser hatte mich immerhin zurückgeführt zu dem Informationsschalter im Eingangsbereich, wo mich der Berliner Onkel schon von weitem mit belustigt hochgezogenen Augenbrauen musterte. Ich lächelte und erklärte ihm, dass ich nun doch gerne noch einmal mit Frau Klassen gesprochen hätte, aber nicht wisse, wo der Teamraum sei, woraufhin der Informationsmann mit einem gut gelaunten »Null Problemo« eine Nummer wählte und Frau Klaasen bat, »det Frollein« ein zweites Mal abzuholen.

 

Kurze Zeit später saß ich in einer Art Konferenzraum und hatte einen dampfenden Kaffee vor mir. Ich fühlte mich schon alleine deswegen besser, weil ich sicher sein konnte, dass Frau Klaasen im Vergleich zu Frau Seitmann eine ganz normale Gesprächspartnerin sein würde. Und weil ich einen Kaffee bekommen hatte. Aber vor allem hatte sich meine Einstellung zu der Situation um 180 Grad gedreht. Ich hatte keine Lust mehr, mich von irgendwem oder irgendwas verunsichern zu lassen, und wollte nun ein paar Antworten hören. Also fragte ich Frau Klaasen nach ihrer Einschätzung bezüglich Frau Seitmanns.

Frau Klaasen zuckte mit den Schultern und nippte an ihrem Espresso. »Die ganze Begutachtung ist ja ohnehin eine Farce.«

Aha.

Das war nicht das, was ich mir als Erklärung vorgestellt hatte, obwohl mir natürlich auch längst einleuchtete, dass Frau Seitmann in diesem Zustand nicht geeignet war, ein Kind zu erziehen. Trotzdem blieb ich stur. »Frau Klaasen, könnten Sie mir bitte Ihre Einschätzung bezüglich Frau Seitmann schildern?«

Sie schaute mich an, als wäre ich nicht ganz dicht.

»Na, das haben Sie doch selbst gesehen. Akute Phase, die kriegt nix mit. Morgen kommt sie wieder in die Klinik, und dann sollen die sich mit ihr rumärgern.«

Ich war schockiert. Frau Klaasen fehlte offenbar jegliche Empathie. Ihr schien Frau Seitmann einfach nur lästig zu sein. Sollte sich doch jemand anderes um sie kümmern. Nein, sich mit ihr »rumärgern«.

Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg. Auf diese gefühllose Frau Klaasen. Aber nicht nur auf sie, sondern auch auf mich, denn schließlich war ich wenige Minuten zuvor selbst erleichtert gewesen, als der junge Mann Frau Seitmann mitgenommen hatte und ich mich nicht mehr mit ihr befassen musste. Sofort schlich sich wieder die Unsicherheit in meine Knochen, und ich fühlte mich mies, egoistisch und unprofessionell.

In den folgenden Jahren dachte ich oft an diese Situation, und ich erzähle sie heute noch gerne jüngeren Kollegen. Denn es ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie schwierig eine Begutachtung sein kann, wenn man unzureichend vorbereitet und aus Überforderung zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist.

Und es ist auch ein hervorragendes Beispiel dafür, dass es nicht professionell ist, ein Gespräch mit einem ironischen »Na, dann vielen Dank für die ausführliche Information!« zu beenden und mit einer schwungvollen Miss-Piggy-Drehung den Teamraum zu verlassen.

Vor allem, weil es total peinlich ist, wenn man dem Gesprächspartner einige Minuten später im Tiefgeschoss der Einrichtung begegnet, weil man den Ausgang nicht findet.

 

Menschen in Filmen und Büchern lassen nach solchen Erlebnissen gerne mal den Kopf auf die Tischplatte fallen.

Ich nutzte dafür das Lenkrad in meinem Auto, rutschte aber höchst unfilmisch nach links ab (so ein Lenkrad ist ja rund…) und stieß mir den Kopf mit einem gut hörbaren »Bonk« an der Seitenscheibe. Eine kleine Gruppe, die sich zur Rauchpause vor die Tür begeben hatte, sah geschlossen zu mir herüber. Ich war mir fast sicher, dass sich auch Frau Klaasen darunter befand, obwohl ich sie in der Gruppe nicht identifizieren konnte. Ganz bestimmt hatte sie sich gerade zufällig vor die Einrichtung begeben und mir bei meinem missglückten Versuch zugesehen, mich filmreif der Erschöpfung hinzugeben.

Ich wollte nur noch nach Hause.

 

Dort angekommen (selbstverständlich hatte ich mich auf dem Heimweg verfahren), war ich froh, dass die Kinder schon im Bett waren und mein Mann am Computer saß. Ungestört von den Blicken irgendwelcher Rauchergrüppchen ließ ich den Kopf unfallfrei und mehrfach auf die Tischplatte meines Schreibtisches fallen und überlegte durch den Schmerz hindurch, was nun meine nächsten Schritte sein würden.

Ich hatte damals noch kein Fachteam, keine Kollegen, die ich fragen oder denen ich mein Herz ausschütten konnte. Also entschloss ich mich dazu, mit einem guten Buch ins Bett zu gehen, alle Gedanken, die mit diesem Fall zu tun hatten, in eine Truhe mit Vorhängeschloss zu sperren und am Morgen ausgeruht an der Stelle direkt nach dem Kopf-Tisch-Moment weiterzumachen.

 

Am nächsten Tag setzte ich mich frisch geduscht mit einer Tasse Kaffee an den Schreibtisch, fest entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen und jetzt verdammtnochmal eine ordentliche Begutachtung durchzuführen.

Ich nahm mir noch einmal die Akte vor und stellte fest, dass beim Gerichtstermin auch eine Dame vom Jugendamt anwesend gewesen war. Sie wurde nicht weiter erwähnt, doch ihre bloße Nennung war Grund genug, sich bei der Frau zu melden.

Dies war mein erster Kontakt zu Frau Ehring, und sie ist und bleibt seitdem meine absolute Lieblingsjugendamtsmitarbeiterin.

Kompetente Mitarbeiter gibt es glücklicherweise viele, auch eine Menge mit dem Herz am rechten Fleck, aber Frau Ehring toppt das Ganze durch ihre Kreativität bei der Lösungsfindung, mutiges Auftreten vor Gericht und einem unverwüstlichen Humor.

»Ah, Sie sind die Sachverständige in der Sache Seitmann. Schön, dass Sie anrufen. Wir haben hier ja wahre Aktenberge zu früheren Verfahren. Ich schlage vor, Sie kommen in den nächsten Tagen mal vorbei. Dann trinken wir einen Kaffee, ich erzähle Ihnen was zum aktuellen Stand der Dinge, und Sie können die Akten einsehen und schauen, was Sie davon brauchen können.«

Aktenberge? Ich blickte auf meine drei spärlichen Zettel und fand, das klang wirklich wunderbar. Wir vereinbarten einen Termin für den übernächsten Tag, und ich fühlte mich gleich viel besser.

Ich erfuhr, dass Frau Seitmann schon seit vielen Jahren unter psychotischen Schüben litt. Herr Seitmann hatte sich kurz vor Jennys Geburt von seiner Frau getrennt, lebte inzwischen in Österreich und hatte keinerlei Interesse an seiner Tochter. Er zahlte zwar für sie, hatte sie aber noch nie gesehen und wohl auch nicht vor, etwas daran zu ändern.

Jenny war im Alter von ein paar Monaten zum ersten Mal in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht worden, als ihre Mutter für einige Wochen in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Es folgten mehrere solcher Aufenthalte, und als Jenny zwei Jahre alt wurde, brachte das Jugendamt sie mit Einwilligung der Mutter in einer Dauerpflegefamilie unter, wo sie auch heute noch lebte.

Frau Seitmann hatte ihre Tochter in unregelmäßigen Abständen meist in Form von begleiteten Kontakten gesehen. Es hatte gute Phasen gegeben, aber auch weniger gute. Zeitweise war Frau Seitmann unzuverlässig gewesen und hatte Kontakte vorzeitig beendet. Vor einigen Wochen hatte sie dann ihrer Tochter Jenny während eines Besuches gesagt, dass diese ja auch nicht besser sei als »die anderen« und sie nicht glauben solle, dass sie das nicht bemerke. Dabei war Frau Seitmann urplötzlich wütend und ausfallend geworden, und der Kontakt hatte sofort beendet werden müssen.

 

Frau Ehring seufzte. »Rauchen Sie, Frau Seeberg?«

Ich verneinte, erklärte aber, dass es mir nichts ausmache, wenn sie rauchen würde.

»Ach, das ist schön! Ich mag tolerante Menschen. Ich meine, ich weiß, dass Rauchen blöd ist, aber ich tu’s einfach zu gerne. Und mal ehrlich, so ein paar Fehler darf man ja schon haben, oder?« Frau Ehring zwinkerte mir zu, schenkte mir noch einmal Kaffee nach und kramte in ihrer Handtasche.

»Wir müssen aber nach draußen gehen. In Ordnung?«

Das Jugendamt hatte einen erstaunlich idyllischen Innenhof mit großen alten Bäumen, unter denen schmiedeeiserne Bänke standen. Frau Ehring steuerte auf eine sonnenbeschienene Bank zu, setzte sich und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen.

»Aaach, schön!« Sie atmete tief ein und aus. Dann lächelte sie mich an. »Bei all diesen unerfreulichen Dingen muss man sich schon aktiv den Sinn für Schönes bewahren, finden Sie nicht?«

Ja, das fand ich auch und finde es noch.

Ich habe in all den Jahren viel von Frau Ehring gelernt. Unter anderem, dass man jede Gelegenheit nutzen sollte, das Gesicht der Sonne entgegenzuhalten.

 

Wir schwiegen eine Weile. Dann erzählte Frau Ehring weiter. Jenny war nach diesem letzten Kontakt zu ihrer Mutter verständlicherweise sehr verstört gewesen. Die Pflegefamilie hatte Kontakt zu einer Kinderpsychologin aufgenommen und sich darum bemüht, Jenny wieder zu stabilisieren. Glücklicherweise war das ganz gut gelungen.

»Trotzdem«, Frau Ehring drückte ihre Zigarette mit Nachdruck aus, »es ist einfach unglaublich, dass so etwas überhaupt passieren musste! Frau Seitmann ist seit anderthalb Jahren in der Einrichtung, in der Sie sie besucht haben. Von denen kamen keinerlei Hinweise darauf, dass es ihr nicht gut geht oder sonst irgendwas anders ist als sonst. Als wir den Vorfall geschildert haben, sagt diese Betreuungstrulla doch tatsächlich: ›Ja, das wundert mich nicht. Die Seitmann ist zurzeit wirklich schwierig, und ich glaube auch, die nimmt ihre Medikamente nicht.‹«

Frau Ehring atmete tief durch. »Also, ich erlebe ja einiges hier, aber diese Frau … Dings, na …«

»Klaasen?«

»Ja, genau! Diese Frau Klaasen ist wirklich das Letzte!« Frau Ehring sah mir wohl mein Erstaunen über ihre klaren Worte an. »Na, ist doch wahr! Sie ist Frau Seitmanns Betreuerin, weiß offenbar, dass sie ihre Medikamente nicht zuverlässig nimmt und gerade kurz vor einem Schub ist, und lässt sie zu einem Umgangskontakt mit Jenny gehen! Das darf einfach nicht wahr sein! Und dann kommt noch dieser Winkeladvokat daher und redet der armen Frau Seitmann ein, sie müsste jetzt beantragen, dass Jenny wieder bei ihr wohnen soll! Das ist komplett hirnverbrannt! Aber wem sage ich das? Sie haben sie ja selbst erlebt, oder?«

Allerdings hatte ich das. Und vor allem hatte ich diese Frau Klaasen erlebt! Ich schilderte Frau Ehring meinen Besuch bei Frau Seitmann in allen Einzelheiten. Na ja, also in allen wesentlichen Einzelheiten … Ich wollte mich ja nicht gleich beim ersten Kontakt allzu schlecht darstellen.

»Frau Seeberg, ich will Ihnen ja nicht in Ihre Arbeit pfuschen, aber könnten Sie sich vorstellen, dass wir vielleicht erst einmal einen runden Tisch machen und Sie dann eventuell gar kein Gutachten schreiben? Ich meine, die Sache ist ja ohnehin klar. Da hatte Frau Klaasen tatsächlich recht. Im Grunde braucht man kein Gutachten, um zu erkennen, dass Jenny auf gar keinen Fall wieder zu ihrer Mutter kann. Aber Herr Baumann ist erst seit ein paar Wochen Familienrichter und wollte nichts ohne eine Sachverständige entscheiden. Auch klar irgendwie. Also, wollen wir einen runden Tisch vorschlagen und alles in Ruhe besprechen? Ich glaube, Frau Seitmann braucht auf jeden Fall ganz dringend eine neue Betreuerin.«

Ich kann gar nicht sagen, wie erleichtert und dankbar ich Frau Ehring war. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Da war jemand, der sinnvolle Ideen hatte und mir ein bisschen half, eine gute Sachverständige zu werden.

 

Einige Tage später saß ich also mit diversen Fachleuten an einem tatsächlich runden Tisch in einem Konferenzraum im Jugendamt und war froh, dass Frau Ehring ganz selbstverständlich die Gesprächsleitung übernommen hatte.

Frau Klaasen saß die ganze Zeit über schweigend dabei, doch als Frau Ehring sie fragte, ob sie nicht auch der Meinung sei, dass es Aufgabe ihrer Einrichtung sei, auf Frau Seitmanns Medikamenteneinnahme zu achten, schnaubte sie verächtlich und entgegnete: »Tja, wenn sie sie aber nun mal nicht nehmen will? Dann ist das eben so. Ich sag immer, ist ja ihr Schub und nicht meiner.«

Daraufhin atmeten alle Personen rund um den Tisch erst einmal schockiert ein und aus, was Frau Klaasen aber augenscheinlich nicht bemerkte oder einfach ignorierte. »Wie lang dauert das denn jetzt noch?«, fragte sie stattdessen, was ihr noch mehr erstaunte Blicke einbrachte. Ich musste sie wohl besonders auffällig angestarrt haben, denn sie wandte sich an mich. »Sie brauchen gar nicht so zu schauen, Sie werden schon sehen, wie viel Spaß der Beruf mit den ganzen undankbaren Bekloppten macht. Und bis dahin lernen Sie doch erst mal den Unterschied zwischen drittem Stock und Tiefgeschoss.«

Noch Wochen später fielen mir abends unter der Dusche diverse brillante Antworten auf diesen Spruch ein, aber in dem Moment war ich viel zu baff. An meiner Stelle sprach Frau Ehring, und ihre Stimme klang, als wollte sie damit den runden Tisch in zwei Hälften schneiden: »Vielleicht gehen Sie jetzt einfach, Frau Klaasen, denn hier sind Sie keine weitere Hilfe. Uns nicht und ganz sicher auch nicht Frau Seitmann. Guten Tag.«

Frau Klaasen zuckte nur mit den Achseln, griff Tasche und Jacke und verließ wortlos den Raum. Das war das letzte Mal, dass ich sie zu Gesicht bekam. Obwohl ich in den folgenden Jahren immer wieder die Einrichtung besuchte, in der ich Frau Klaasen kennengelernt hatte, ist sie mir dort nie wieder über den Weg gelaufen. Nach Frau Klaasens Abgang waren sich alle schnell einig. Selbstverständlich sollte Jenny auch weiterhin und zwar dauerhaft bei ihrer Pflegefamilie bleiben. Frau Seitmann sollte zunächst stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden und im Anschluss daran in eine Einrichtung kommen, die im Gegensatz zu der bisherigen auf psychisch Kranke spezialisiert war und Besuchskontakte mit leiblichen Kindern vor- und nachbereitete sowie begleitete. Alle Beteiligten waren sich einig, dass Jenny und auch Frau Seitmann nie wieder Situationen wie den letzten Besuchskontakt erleben sollten.

Im Zuge meiner Arbeit an diesem Buch habe ich mich nach der aktuellen Situation in dem Fall erkundigt und erfahren, dass Jenny inzwischen eine Ausbildung in einem sozialen Beruf gemacht hat und aktiv an der Pflege ihrer Mutter beteiligt ist.

 

Im Anschluss an den runden Tisch reichte Frau Ehring mir die Hand. »Das haben wir ja prima hingekriegt!« Ich lächelte. »Na ja, Sie haben das prima hingekriegt. Ich bin währenddessen stümperhaft herumgestolpert und wäre ohne Sie sicherlich gegen eine Wand gerannt.«

Frau Ehring lächelte zurück, hielt meine Hand noch etwas fester und sagte: »Sie werden eine gute Sachverständige, denn Sie haben das Herz am rechten Fleck und sind nicht zu stolz, Hilfe anzunehmen. Das machen die meisten am Anfang falsch, und dadurch wird oftmals vieles schlimmer. Sie haben das alles ganz richtig gemacht. Lassen Sie sich da von niemandem etwas anderes einreden. Auch von sich selbst nicht!«

Ich brachte nur noch ein wackeliges Lächeln und ein »okay« zustande, bevor ich mich eilig verabschiedete. Frau Ehring sollte die Tränen nicht sehen, die sich gerade in Windeseile in meinen Augen sammelten. Ich war gerührt von ihrer Freundlichkeit und unsagbar erleichtert, dass der Fall zu einem guten Ende gekommen war.

Ich hatte bei diesem Gutachten eine Menge gelernt. Selbst wenn es im Endeffekt gar nicht zu einem solchen gekommen war. Auch das war Teil der Lektion gewesen. Im Grunde also ein wirklich gutes Gefühl. Aber mir war nun völlig klar, dass ich als Sachverständige mit einer so riesengroßen Verantwortung viel mehr können und wissen musste.

Noch am selben Tag stürzte ich mich in die Suche nach Fort- und Weiterbildungen, Supervisionsgruppen, Fachteams und Instituten für Rechtspsychologie und verbrachte in den nächsten Monaten viel Zeit damit, andere Fälle zu studieren, mich mit Profis auszutauschen und all die Möglichkeiten kennenzulernen, die jenseits von Gutachten und Gerichtsterminen zur Verfügung stehen.

Insgesamt kann ich heute sagen: Es hat geholfen. Und wie!

 

Nebenbei sei aber auch gesagt, dass ich über meine Erlebnisse bei Tagungen, Seminaren und Co ein weiteres Buch schreiben könnte. In diesem Buch sollen zwei Kapitel genügen …

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Schreien Sie es raaaaaaauuuus!

A propos Weiterbildung: Ich möchte einmal kurz von meinen Erfahrungen auf dem Weg zur Sachverständigen berichten.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, sich im Rahmen eines Psychologie-Studiums oder nach Abschluss desselben fortzubilden. Ich möchte nicht auf einzelne Institutionen eingehen oder Tipps geben, welche Fortbildungen eher zu empfehlen sind als andere. Ich verfüge nur über ganz persönliche Erfahrungen. Und was für welche.

Nach erfolgreich bestandenem Vordiplom meldete ich mich als Erstes zu einer großen Fachtagung in Hamburg an. Dort wurden Vorträge zu allen möglichen Therapieformen sowie Forumsdiskussionen und Seminare geboten, und es waren internationale Gäste angekündigt. Als Student bekam man noch dazu einen Rabatt, der das Ganze bezahlbar machte.

Neugierig machte ich mich also auf in den Norden und fühlte mich dabei ganz erwachsen und irgendwie … psychologisch.

Auf der Tagung stellte ich allerdings fest, dass ich die einzige Studentin war. Alle anderen Teilnehmer, die mir über den Weg liefen, waren mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Oder sahen zumindest so aus.

Ich unterdrückte das Gefühl, fehl am Platze zu sein, und folgte erst einmal dem Strom in den Vortragsraum. Was genau dort geboten wurde, wusste ich gar nicht, aber da etwa neunzig Prozent der Tagungsteilnehmer zu diesem Vortrag drängten, nahm ich an, dass es sich um etwas handelte, was man als angehende Psychologin und Fachtagungsbesucherin unbedingt gehört haben musste.

Tatsächlich landete ich im Hauptsaal, der etwa sechs- bis siebenhundert Personen fasste. Ich fand einen Sitzplatz am Rand der vorderen Reihen, setzte mich … und verbrachte die nächsten anderthalb Stunden in fassungslosem Staunen. Denn was mir dort geboten wurde, sprengte nicht nur alle Klischees, die in Filmen, Comedy-Programmen oder Stammtischen über unserem Berufsstand ausgekippt werden. Nein, was sich nun vor meinen Augen abspielte, übertraf jedes Klischee um ein Vielfaches.

Ein Mann betrat die Bühne und wurde alleine schon dafür gefeiert wie ein Rockstar. Es wurde gejubelt und mit den Füßen gestampft, einige Tagungsgäste standen sogar auf. Standing Ovations schon zu Beginn eines Vortrags. Offenbar war ich die Einzige, die keine Ahnung hatte, wer der Typ überhaupt war. Aber da alle um mich herum frenetisch klatschten und johlten, stimmte ich zumindest in Ersteres höflich ein, um nicht direkt aufzufallen. Der Mann sonnte sich für mein Gefühl deutlich zu lange in dem Begrüßungsapplaus. Danach erklärte er in kurzen Sätzen, dass er die einzige wahre und zu hundert Prozent erfolgversprechende Therapieform praktiziere und somit in der Lage sei, sämtliche psychischen Störungen und Erkrankungen in kürzester Zeit zu heilen. Ein begeisterter Zwischenapplaus wurde von ihm mit gönnerhaft-maskenhaftem Lächeln quittiert, und er fuhr fort, dass er in einer Kurzsitzung von wenigen Minuten seelische Blockaden für immer lösen und den Menschen zu einer glücklichen Zukunft verhelfen könne.

Ich blickte mich vorsichtig um. Alle Zuhörer in meinem Sichtfeld hingen förmlich an seinen Lippen. Ich sah überall Köpfe zustimmend nicken, so als wüssten diese Leute alle schon Bescheid und holten sich nur noch die Bestätigung, dass es sich bei dem Redner um ein Genie handelte. Dieses Genie war auch selbst sichtbar davon überzeugt, unglaublich mitreißend zu wirken. Mir ging er nach kürzester Zeit einfach nur wahnsinnig auf die Nerven, denn für mich waren seine Arroganz und Selbstverliebtheit fast körperlich spürbar …

Gerade hatte ich mich dazu durchgerungen, den Saal zu verlassen, da winkte Herr Fantastisch zwei Helfern zu, und diese schleppten eine dicke Matratze auf die Bühne. Nun war ich zugegebenermaßen doch neugierig, was es damit auf sich hatte, und blieb.

Während die Matratze von ihm eingewunken wurde, als ginge es darum, ein Flugzeug zu landen, erklärte er wortreich, wie vielen Menschen er schon geholfen habe und wie dankbar ihm all diese armen Kreaturen gewesen seien, denen er quasi ein neues Leben geschenkt habe.

Kaum waren die beiden Helfer von der Bühne verschwunden, blieb er plötzlich stehen, senkte den Blick und hielt sich die Hände an die Schläfen, damit auch die Menschen ganz hinten im Saal sehen konnten, wie sehr er sich konzentrierte. Ich hatte so fest mit einem Trommelwirbel gerechnet, dass ich mich verwundert umblickte, als dieser ausblieb. Auch als der selbsternannte Wunderheiler schließlich wieder ins Publikum sah, die Arme ausbreitete und verkündete, dass er nun vor aller Augen mehrere Menschen heilen werde, setzte kein spannungsgeladener Musikteppich ein, und ich erinnerte mich daran, dass ich ja eigentlich einer Fachtagung zum Thema Psychologie beiwohnte. Oder zumindest extra deswegen nach Hamburg gekommen war.

In meinem Hirn standen mehrere Fragen Schlange: Wartete hinter der Bühne eine Gruppe psychisch angeschlagener Menschen darauf, sich von ihm vor einem riesigen Fachpublikum therapieren zu lassen? Wie hatte er sie dazu gebracht? Und war das überhaupt erlaubt? Noch während mir diese und etwa tausend andere Fragen durch den Kopf schossen, stand der Herr Wunderheiler plötzlich mitten unter den Zuhörern. Nur zwei Meter entfernt von mir!

Oh nein!

Er hatte gar keine psychisch Kranken mitgebracht, er suchte sie hier in seinem Publikum!

Sofort schaltete ich um in meinen »Wage-es-ja-nicht«-Modus; wie immer, wenn ich mich in einem Publikum wiederfinde, in dem nach vermeintlichen Freiwilligen gesucht wird. Bevor ich diesen rettenden Automatismus herausgebildet hatte, war es mir nämlich ständig passiert, dass jeder Zauberer, Comedian oder Junggesellinnenabschiedsstripper zielgenau auf mich zusteuerte, wenn es darum ging, jemanden zur allgemeinen Belustigung auf die Bühne zu zerren. Nach ein paar peinlichen Situationen auf diversen Bühnen und einer Handvoll nicht minder beschämender Momente auf Hochzeitsfeiern und Geburtstagen hatte ich irgendwann genug Bestimmtheit und Wut angesammelt, um so viel wilde Entschlossenheit und wahrscheinlich auch ein hohes Maß an Unzurechnungsfähigkeit auszustrahlen, dass mich niemand mehr neben sich auf der Bühne stehen haben möchte.

Das sah offenbar auch der Herr Wunderheiler so, denn er streifte mich nur kurz mit seinem Blick, las dann die große Schrifttafel über meinem Kopf, die ihm in leuchtend roten Neonlettern »WAGE. ES. NICHT.« entgegenblinkte, bog dann recht überraschend zwei Schritte vor mir nach links ab und hielt einer zutiefst erschrockenen Dame um die fünfzig das Mikrofon vor das Gesicht. Sie brachte vor Schreck und Unbehagen kein Wort heraus und musste sich daraufhin von dem Herrn Therapeuten anhören, dass sie wohl noch nicht bereit für seine Hilfe sei, und sein Blick wanderte über die Dame hinweg in den Saal.

»Also, wer von euch möchte seinen inneren Schmerz loswerden? Wer von euch möchte frei von Ängsten sein? Wer?«

Und was soll ich sagen, es meldeten sich doch tatsächlich welche! Auf einer Fachtagung für Psychologen! Meldeten sich Personen, die gewillt waren, sich auf einer Bühne von diesem Mann in Minuten therapieren zu lassen! Die konnten doch unmöglich …

Doch. Sie konnten.

Mr. Wunderheiler wählte vier Personen aus, denen die unendliche Ehre zuteilwurde, sich zu ihm auf die Bühne stellen zu dürfen.

Die Erinnerung an das, was dann geschah, ist auch jetzt noch Jahre danach mehr als verstörend, und ich versuche, Ihnen nun das Ganze möglichst unaufgeregt und wahrheitsgetreu zu schildern.

 

THERAPEUT zu Mann: Kommen Sie! Ich sehe Ihnen an, dass Sie eine schwere Kindheit hatten.

MANN(erfurchtsvoll gehaucht): Ja. Das stimmt …

THERAPEUT: Legen Sie sich auf die Matratze, und lassen Sie alles raus!

MANN legt sich auf die Matratze.

MANN liegt so rum.

THERAPEUT: Los! Denken Sie an all den Schmerz! An all das, was Ihnen angetan wurde von Ihren Eltern!

MANN liegt weiter rum.

THERAPEUT: Sie müssen es rauslassen! Los! Machen Sie Ihrem Schmerz und Ihrem Ärger Luft!

MANN(kaum hörbar): Hmpf.

THERAPEUT: Mehr! Los! Schreien Sie! Sonst werden Sie Ihren Schmerz niemals los! Er wird für immer Ihr Leben vergiften! Los! Schreien Sie!

MANN(leise): Aaah.

THERAPEUT(schreit): Looooooos! Schreien Sie es raaaauuus! AAAAAAaaaaaah! AAAAAAAAAAaaaaaaaaah!

MANNschaut verschreckt zum Therapeuten.

THERAPEUT(noch lauter): AAAAAAAAAAAAAAaaaaah…!! Los! Machen Sie! Sie wollen doch nicht, dass Ihre Eltern Ihr Leben für immer zerstört haben! AAAAAAAAAAAAAAAaaaaaaaaaaaaah!!

MANN(leise): Aaah.

Kurze Stille.

MANNerhebt sich von der Matratze und erklärt, er habe möglicherweise eine Halsentzündung und könne deshalb nicht so laut. Er schleicht wieder auf seinen Platz.

 

FRAU 1legt sich ungefragt auf die frei gewordene Matratze.

THERAPEUT(erfreut über ihr Engagement): Ich sehe, Sie hatten auch viel zu leiden als Kind. Sie haben viele Traumata durchleiden müssen. Ihre Kindheit ist ein einziger großer Schmerz. Lassen Sie ihn r…

FRAU 1unterbricht Therapeuten durch markerschütternden Schrei.

THERAPEUT: Ja! Genau! So! Weiter so! Lassen Sie sich in den Schm…

FRAU 1(diverse lange, grelle Schreie)

THERAPEUT: Weiter! Ja! Nehmen Sie Ihren ganzen Körp…

FRAU 1schlägt mit den Armen um sich, trommelt mit den Beinen auf die Matratze, brüllt wie am Spieß.

THERAPEUTsagt was, ist aber wegen des lauten Geschreis nicht zu verstehen.

FRAU 1richtet den Oberkörper auf, lässt sich wieder umfallen, wiederholt dies mehrere Male, trommelt dann weiter mit den Beinen und Armen, dreht sich auf den Bauch, hebt den Kopf und macht nun Geräusche, die klingen, als foltere man auf der Bühne eine übergewichtige Elchkuh.

THERAPEUTgeht zu Frau 1 und legt sich auf sie.

 

Nein, Sie haben sich nicht verlesen. Der Mann legte sich wirklich und wahrhaftig auf die Dame. Ich sah mich um. Niemand außer mir schien das in irgendeiner Weise seltsam zu finden. Ganz im Gegenteil: Fassungslos registrierte ich, dass außer den mir bereits bekannten wissend Kopfnickenden nun auch viele andere mit angestrengt fachlich-interessiertem Blick auf die Bühne blickten und dabei betont seriös mit der Hand ihr Kinn zwirbelten.

Einer Eingebung folgend, ließ ich meinen Blick in das Halbdunkel auf den Rängen wandern, um dort vielleicht eine Kamera aufblitzen zu sehen. Dann musterte ich den Wunderheiler auf der Bühne eingehend, in der vagen Hoffnung, dass sich jeden Moment Hape Kerkeling die überhebliche Maske vom Gesicht reißen würde. Vielleicht steckte hinter diesem bizarren Schauspiel tatsächlich eine Inszenierung für die »Versteckte Kamera«! Aber warum war ich dann die Einzige, die sich über all das wunderte? Waren am Ende alle eingeweiht, und man wollte nur mich … Nein. Dieser Aufwand war nun wirklich mehr als deutlich zu groß, nur um damit eine völlig unbekannte Psychologiestudentin fürs Fernsehen reinzulegen.

Meine Vermutung oder soll ich sagen »Hoffnung«, dass das Ganze nur eine Inszenierung sein konnte, zerschlug sich in dem Moment, als die Frau unter dem Therapeuten begann, sich an diesem zu reiben.

 

Ja. Zu reiben.

 

FRAU 1schluchzt hemmungslos, klammert sich an den Therapeuten und reibt sich an ihm in mehr als eindeutiger Weise. Dabei beginnt sie wieder zu schreien.

FRAUEN 2 UND 3legen sich dazu. Gruppenkuscheln. Körper reiben aneinander. Kakophonisches Geschrei. Dazu Geräusche, die ich nicht einordnen kann. Und auch irgendwie nicht einordnen will.

FRAU 1zieht ihr Oberteil aus.

ICHwill wegschauen, kann aber nicht.

THERAPEUT: Sie müssen all den Schmerz Ihrer Kindheit! All die traumatischen Erlebnisse, die Trauer, die Wut! DENSCHMEEERZ! Loslassen!

FRAUEN 1, 2, 3(überrascht-begeistert-orgiastisch): Ooooooh!

FRAU 1springt auf und hopst auf der Matratze herum.

FRAUEN 2 UND 3springen ebenfalls auf und nehmen sichtbar Anteil.

THERAPEUT: Mehr! Da ist so viel mehr Schmerz! All der dunkle Schmerz, der dich vergiftet!

FRAU 1rauft sich beim Hopsen die Haare, brüllt unverständlich und plumpst dann hörbar von der Matratze.

FRAU 2lässt sich umgehend auf Matratze fallen, beginnt zu heulen und klingt dabei wie der »Pumuckl«.

THERAPEUT(wendet sich an Frau 2): Nicht heulen! Schreien! Sonst bleibt der Schmerz immer in dir! Und vergiftet dich!

FRAU 2versucht zu schreien, ist aber offensichtlich zu erschöpft.

THERAPEUT: Schrei! Willst du immer mit dem Schmerz leben und langsam daran zugrunde gehen? Schrei!

FRAU 2weint nun hemmungslos.

THERAPEUT: Das macht dich nicht wütend, was deine Eltern mit dir gemacht haben? Nein? Das MUSS dich wütend machen!

 

Dieser Therapeut hatte keine Ahnung, was die Eltern dieser Frau getan hatten. Er ging einfach davon aus, dass alle Eltern Dinge tun, die zu traumatischen Reaktionen führen. Ich sah weiter fassungslos zu. Inzwischen war Frau 2 damit beschäftigt, mit den Fäusten auf der Matratze herumzuhauen und dabei sehr, sehr unflätige und ekelhafte Beschimpfungen auszustoßen. Ich spürte das Verlangen, mir die Ohren zuzuhalten.

 

Angestachelt von dem sogenannten Therapeuten, schrie die Frau weiter herum, betitelte dabei ihre Eltern mit höchst skurrilen Substantiven und boxte ungelenk die Matratze, bis sie erschöpft von selbiger rutschte, um Platz zu machen für Frau 3.

Diese ließ sich nicht lang bitten, tat in etwa das Gleiche wie Frau 1 und 2, die sich derweil im Hintergrund der Bühne in den Armen lagen und einander dabei leise anwimmerten. Als irgendwann auch Frau 3 fertig gebrüllt und herumgetobt hatte, umarmte man sich erst zu dritt und dann den Therapeuten, wobei auch diese gemeinsame Umarmung augenblicklich stark schlüpfrige Tendenzen entwickelte.

 

Im Anschluss an diese mehr als erstaunliche Performance wiederholte der Herr Wunderheiler noch einmal das, was er zu Beginn schon gesagt hatte, fügte aber nun ausdrücklich hinzu, dass jeder verantwortungsvolle Therapeut unbedingt diese Methode von ihm erlernen solle – und zwar in mehreren Wochenendseminaren zu irrsinnigen Preisen. Denn jeder Therapeut müsse zuallererst seinen Patienten den Schmerz ihrer Kindheit nehmen. Aber dies – und das dürfte ja nun allen klar sein – sei nur mit seiner Methode möglich.

Wozu man mehrere Wochenenden benötigen sollte, um Leute lautstark dabei anzufeuern, eine Weile herumzuschreien und auf Matratzen zu hauen, erschloss sich mir damals nicht. Aber ich war ja auch noch Studentin. Was wusste ich schon?

 

Ach ja, eines sollte ich noch klarstellen: Die Damen auf der Bühne waren wirklich keine Mitarbeiter von Herrn Fantastisch gewesen. Ich sah ein paar von ihnen später in anderen Vorträgen und wurde in der Cafeteria Zeuge, wie Frau 1 zu ihrer Kollegin sagte, sie werde nun auch diese Therapieform in ihr Repertoire aufnehmen, denn so etwas dürfe man seinen Patienten doch nicht vorenthalten.

 

Natürlich sah ich nach diesem einschneidenden Erlebnis dem Rest der Tagung mit gemischten Gefühlen entgegen. Was würde mich noch erwarten? Und wollte ich das wirklich miterleben? Schon spielte ich mit dem Gedanken, wieder abzureisen und das Ganze als Erfahrung zu verbuchen. Doch das Leben hat kein Drehbuch und folgt nun mal keinen dramaturgischen Pfaden. Tatsächlich verlief der Rest der Tagung schon fast enttäuschend normal. So wohnte ich zwei weitere Tage lang fachlich kompetenten Vorträgen bei und lernte verschiedene ernst zu nehmende Therapieformen kennen. Vieles wirkte auf mich angenehm sinnstiftend. Insofern war ich nach Ablauf der Veranstaltung recht versöhnt mit meinem zukünftigen Beruf.

Auch möchte ich auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass alle Tagungen, Seminare oder Lehrgänge grundsätzlich sinnlos, albern und bestenfalls verstörend sind. Trotzdem blieb mir diese seltsame Zirkusvorstellung bis heute im Gedächtnis, und es passiert mir immer wieder, dass mich die eine oder andere effekthascherische »Therapieform« an jenen Wunderheiler zurückdenken lässt.

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Sie meinen … Jetzt??

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