Die Schokoladenvilla – Zeit des Schicksals - Maria Nikolai - E-Book
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Die Schokoladenvilla – Zeit des Schicksals E-Book

Maria Nikolai

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Beschreibung

Eine unheilvolle Zeit. Ein Familienerbe in Gefahr. Eine Liebe, die grenzenlos ist.

Stuttgart, Sommer 1936: Die junge Chocolatière Viktoria muss ihre Lehrzeit in Frankreich abbrechen, weil die heimische Schokoladenmanufaktur dringend ihre Unterstützung braucht. Die Zeiten sind unsicher, man will die Familie Rothmann aus der Leitung ihres Unternehmens drängen. Noch während sich Viktoria und ihre Mutter Judith mit allen Mitteln wehren, taucht der Schokoladenunternehmer Andrew Miller in Stuttgart auf. Der gutaussehende Amerikaner bringt nicht nur Viktorias Gefühlsleben durcheinander, er bietet den Rothmanns auch einen Ausweg an. Doch ist er wirklich der, für den er sich ausgibt? Als die Ereignisse sich überstürzen, drängt zudem ein lang gehütetes Familiengeheimnis ans Licht …

Der dramatische letzte Teil der erfolgreichen Bestsellertrilogie.
Das Taschenbuch in hochwertiger, veredelter Romance-Ausstattung.

Alle Bände der Saga:
Band 1: »Die Schokoladenvilla«
Band 2: »Die Schokoladenvilla. Goldene Jahre«
Band 3: »Die Schokoladenvilla. Zeit des Schicksals«

... und ganz neu erschienen:
»Töchter der Hoffnung. Die Bodensee-Saga« – Der Auftakt von Maria Nikolais neuer Trilogie!

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Seitenzahl: 622

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MARIA NIKOLAI liebt historische Stoffe, zarte Liebesgeschichten und Schokolade. Mit ihrem Debüt »Die Schokoladenvilla« schrieb sie sich in die Herzen ihrer Leserinnen: Band 1 und 2 der opulenten Saga standen monatelang auf der Bestsellerliste. Die Schokoladenvilla: Zeit des Schicksals ist der letzte Teil der großen Bestsellertrilogie rund um die Stuttgarter Fabrikantenfamilie Rothmann.

Die Schokoladenvilla in der Presse:

»Unheimlich gut recherchiert. Man bekommt sehr viele Informationen darüber, wie in Stuttgart zu dieser Zeit gelebt wurde. Auch was fürs Herz, ein richtig schöner Sofaschmöker.« SWR

»Leidenschaft zum Lesen.« Closer

»Liebevoll erzählt und genau das Richtige für kuschelige Stunden.« Neue Welt

»Der perfekte Mix aus Schokolade, Historie und Liebesgeschichte.« Nürtinger Zeitung

»Süßer Auftakt einer verführerischen Familiensaga.«TV für mich

Außerdem von Maria Nikolai lieferbar:

Die Schokoladenvilla (10322)

Die Schokoladenvilla – Goldene Jahre (10406)

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MARIA NIKOLAI

Die

Schokoladen-

villa

ZEITDESSCHICKSALS

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Copyright © 2020 Penguin Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Favoritbüro

Umschlagmotiv: Richard Jenkins

Sklep Spozywczy; NCAimages; Zach Frank;

Sundraw Photography; lindasky76; Artens/Shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-23729-5V006

www.penguin-verlag.de

Dem Wagnis der Liebe

1. Kapitel

Die Chocolaterie Bonnat in Voiron, Frankreich, Anfang Juni 1936

Verheißungsvoll floss die Schokolade über den hellen, mit Vanillecreme gefüllten Biskuit und umhüllte ihn mit einer glänzenden Schicht. Getrocknet würde sie für ein feines Knacken sorgen, sobald man in den kleinen Kuchen hineinbiss – deshalb musste sie hauchdünn sein. Und dazu perfekt aussehen, ohne Tropfen oder andere Unregelmäßigkeiten.

Mit geübten Handgriffen überzog Viktoria ein Gebäckstück nach dem anderen, beobachtete konzentriert, wie sich die Kuvertüre verteilte und die überschüssige Schokolade abtropfte. Anschließend dekorierte sie jedes der Küchlein liebevoll mit einem kleinen Zuckergitter und einer Mandel und schob sie in die Kühlung – jedes ein köstliches Unikat. Morgen früh würden sie alle ihren Platz in der Theke der Chocolaterie finden und zwischen anderen exklusiven Schokoladenträumen auf ihre Käufer warten.

Mit einem leisen Seufzen naschte sie die Schokoladenreste von ihren Fingern, wusch sich die Hände und nahm ihre Schürze ab.

Es war so weit.

»Es-tu triste?« Ihre Kollegin Colette trat neben sie ans Spülbecken. »Du wirkst so … melancholisch.«

»Oh ja«, antwortete Viktoria. »Mein letzter Tag.«

»Wir werden dich vermissen.« Colette verteilte Seife auf ihren Händen und hielt sie unter den Wasserstrahl. »Besonders Luc. Er ist übrigens schon gegangen. Habt ihr heute noch etwas vor, ihr zwei?«

»Ich habe eigentlich keine Zeit.« Viktoria zog ihre Jacke an.

Colette zwinkerte ihr wissend zu, drehte das Wasser ab und nahm sich ein Handtuch.

»Hast du dich eigentlich schon von Maître Bonnat verabschiedet, Viktoria?«, fragte sie dann. »Er ist in seinem Büro.«

»Ich weiß. Ich gehe gleich zu ihm hinein.«

»Er hält so große Stücke auf dich! Du wirst nicht leicht zu ersetzen sein.«

Viktoria nickte. Sie wusste, dass Maître Bonnat ihre Arbeit schätzte.

»Manchmal sucht man sich seine Wege nicht aus«, sagte sie matt. »Bist du nachher noch da, Colette? Oder muss ich mich jetzt schon von dir verabschieden?«

Über Colettes Gesicht zog ein Lächeln. »Verabschiede dich in Ruhe vom Maître«, meinte sie. »Ich warte hier auf dich, dann können wir gemeinsam nach Hause gehen.« Colette wohnte nicht weit von Viktoria entfernt, in der Rue Carabonneau.

»Gut. Es wird nicht allzu lange dauern.«

Viktoria verließ die Produktionsräume der Chocolaterie und machte sich auf den Weg zum Büro des Inhabers. Feine Düfte begleiteten sie über die Stufen ins Obergeschoss, in dem die Verwaltung des alteingesessenen Unternehmens untergebracht war.

Vor einer schweren Eichentür blieb sie stehen und stutzte. Sie meinte, Stimmen aus dem Inneren des Zimmers zu hören, aber sicher war sie sich nicht. Sollte sie den Maître stören, wenn er Besuch hatte?

Schließlich klopfte sie doch, wartete auf das vertraute »Entrez!« und drückte die Türklinke.

»Da ist sie!«, tönte es ihr vielstimmig entgegen.

»Viktoria!«

Ein Champagnerkorken knallte, und eh sie sich’s versah, war sie umringt von Menschen. Maître Bonnat, seine Frau, die Chocolatiers, die Verkäuferinnen, die beiden Laufburschen. Einzig Luc fehlte.

Hinter ihr kam Colette herein und lächelte breit. »Na?«, fragte sie Viktoria leise. »Freust du dich?«

Viktoria war sprachlos.

»Mademoiselle Rheinberger! Sie wirken überrascht!«, sagte Maître Bonnat und die Freude über die gelungene surprise stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Aber wir lassen Sie natürlich nicht ohne einen ordentlichen Abschied ziehen!«

»Ich … ich«, stotterte Viktoria, »ja, also, nein. Damit habe ich wirklich nicht gerechnet.«

»Umso besser!« Colette schenkte den Champagner ein. »Lass dich ein wenig feiern, meine Liebe!«

Sie drückte Viktoria ein randvolles Glas in die Hand und zog sie in die Mitte des Raumes. Maître Bonnat bat um Ruhe.

»Mademoiselle Rheinberger«, hob er dann ohne Umschweife an, »als Sie einst zu uns gekommen sind, waren Sie voller Ehrgeiz und bereit, neue Erfahrungen zu sammeln. Zwei Jahre später haben Sie sich in der Tat zu einer ausgezeichneten Chocolatière entwickelt.«

»Bravo!« Alle klatschten Beifall.

»Ihre Familie kann sich glücklich schätzen, Sie wiederzubekommen«, fuhr Maître Bonnat fort. »Und für uns waren Sie eine Bereicherung. Sie verstehen Ihr Handwerk, aber nicht nur das. Sie haben einzigartige Ideen. Eine solche Kreativität ist ein Gewinn für jeden, der mit Ihnen arbeiten darf. Wir alle«, er erfasste die Anwesenden in einer Handbewegung, »wünschen Ihnen das Beste für die neuen Aufgaben, die Sie erwarten. Auch wenn wir wissen, dass es nicht leicht werden wird.« Er räusperte sich. »Aber vor allem … sagen wir merci. Dafür, dass Sie ein Teil unserer Chocolatier-Familie gewesen sind. Und wir sind stolz, dass etwas von Ihnen bei uns bleibt – in all den Kreationen, die Sie in den letzten Jahren entwickelt haben und die wir weiterhin herstellen werden. Auf Ihr Wohl!«

Das feine Klingen der Sektkelche erfüllte den Raum.

Völlig überwältigt nippte Viktoria an ihrem Champagner. Dieser Moment fühlte sich unwirklich an.

Nach und nach verabschiedete sich einer nach dem anderen persönlich von ihr. Sie schüttelte Hände und verteilte bisous, beantwortete Fragen nach ihrer Familie und der Schokoladenfabrik in Stuttgart, versicherte, dass sie ab und zu schreiben werde.

Schließlich stand Maître Bonnat vor ihr, in der Hand ein kleines Holzkästchen. »Mademoiselle Rheinberger. Ich möchte Ihnen gerne eine Erinnerung mitgeben an Ihre Zeit hier in Voiron.«

»Oh … das wäre aber nicht nötig gewesen, Maître …«

»Ich versichere Ihnen, es ist nötig.« Maître Bonnat öffnete das Kästchen und ließ sie hineinsehen.

Auf blauem Samt lag eine Auswahl silberner Pralinengabeln mit Griffen aus Walnussholz, zehn an der Zahl. Eine jede war anders. Auf den gedrehten Schäften saßen zwei, drei oder vier Zinken, Spiralen, Ringe und sogar ein kleines Gitter. Ideal, um Konfekt und Zuckerwerk mit Kuvertüre zu überziehen und raffiniert zu dekorieren.

»Das … kann ich nicht annehmen …«, stammelte Viktoria, aber Maître Bonnat lächelte nur mild.

»Natürlich können Sie das.« Er klappte das Kästchen wieder zu und drückte es ihr fest in die Hand. »Viel Freude damit!«

Viktoria strich über das fein geschmirgelte Holz. »Danke, Maître. Ich werde es in Ehren halten.«

»Daran zweifle ich nicht. Gebrauchen Sie es häufig!« Er reichte ihr die Hand. »Aber erschaffen Sie uns damit keine allzu große Konkurrenz.«

Nun war es an Viktoria zu lächeln. »Ich werde mein Bestes geben.«

Maître Bonnat nickte. »Leben Sie wohl, Mademoiselle Rheinberger. Ich sage au revoir und nicht adieu. Es wäre schön, wenn wir Sie eines Tages wiedersehen. Hier bei uns, bei Bonnat.«

2. Kapitel

Zwei Stunden später in der Rue du Jardinet, Voiron

Das leise Klacken der Haustüre kündigte ihn an. Viktoria lauschte Lucs Schritten auf den ausgetretenen Holzstufen, lächelte wissend in sich hinein, als er stürmisch klopfte und, ohne eine Antwort abzuwarten, in ihr Zimmer fegte. »Ma belle!« Wie immer nahm er sie in die Arme, küsste sie und wirbelte sie herum, bis sie ihn atemlos darum bat, aufzuhören. Zweimal noch drehte er sich mit ihr im Kreis, bevor er sie vorsichtig auf dem Boden absetzte.

»Luc …!« Viktoria hielt sich an ihm fest, bis das Schwindelgefühl schwächer wurde. »Du warst nicht auf meiner Abschiedsfeier!« Sie wollte nicht vorwurfsvoll klingen, doch ein wenig klang ihre Enttäuschung durch.

»Ich hatte meine Gründe.« Luc drückte sie an sich.

»Ach … und jetzt stürzt du einfach hier herein, obwohl du weißt, dass du mich nicht stören solltest«, tadelte sie ihn. »Ich muss packen.«

»Ich störe dich nicht.« Sein südfranzösischer Akzent unterstrich den Schalk, der aus seinen dunkelbraunen Augen blitzte. »Ich entführe dich!«

»Du entführst mich?« Vorsichtig löste sie sich von ihm und trat zu einem großen Reisekoffer, der aufgeklappt auf ihrem Bett lag. »Ich werde morgen abreisen und bin noch lange nicht fertig.« Sie deutete auf die Kleiderstapel, die sich auf ihrem Kanapee, den beiden Holzstühlen und dem Tisch türmten, der in der Mitte des Zimmers stand.

Seine Augen flogen über die Unordnung. »Morgen ist morgen.« Er grinste. »Heute bist du noch hier. Also?«

Viktoria seufzte. Er machte den Abschied nur noch schlimmer. »Also gut. Ich ziehe mich um. Aber nur, wenn du unten wartest.« Nach fast zwei Jahren in Voiron ging ihr die französische Sprache flüssig über die Lippen. »Und achte darauf, dass Madame Dupont dich nicht erwischt.«

Lucs Grinsen wurde breiter.

Eigentlich dürfte er nicht hier sein, denn Viktoria waren Herrenbesuche untersagt. Aber da Madame Dupont, ihre Vermieterin, schwerhörig war, hatte er wenig Mühe, sich an der Wohnungstür der alten Dame vorbei in den obersten Stock des verwinkelten Häuschens in der Rue du Jardinet zu stehlen.

»Ich bin schon unterwegs.« Er warf ihr einen Handkuss zu. »Lass mich nicht zu lange warten!«

Viktoria schüttelte den Kopf, während er bereits die Treppe hinuntereilte. Luc war eine Naturgewalt, spontan und von ungestümem Charme. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag bei Chocolat Bonnat hatte er ihr den Kopf verdreht.

Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie damals eine Pistaziencreme hatte herstellen sollen, die ihr gründlich missraten war – woraufhin Luc ihr mit ein paar hilfreichen Hinweisen beigesprungen war. Am Ende hatte sie Maître Bonnat zwei recht gelungene Pistazienpralinen anbieten können. Danach war es um sie geschehen gewesen.

Und nun?

Ihr Leben würde sich unwiderruflich ändern. Eigentlich hatte sie vorgehabt, ein weiteres Jahr bei Bonnat zu bleiben. Doch die Ereignisse der letzten Wochen hatten diese Pläne zunichte gemacht. Sie musste ihrer Mutter beistehen in dieser schweren Zeit. Der Tod ihres Vaters hatte eine grausame Lücke gerissen.

Viktoria löste den Gürtel ihres schmal geschnittenen Kleides aus hellblauer Baumwolle und zog es aus. Wie sie Luc kannte, würde es in die Natur gehen, daher schlüpfte sie in Bluse und Hosenrock und fuhr sich mit den Fingern durch ihr blondes, schulterlanges Haar, dessen natürliche Wellen die Sonne mit hellen Strähnen durchzogen hatte. Sie trug es am liebsten offen und band es nur zusammen, wenn sie arbeitete. Noch seltener frisierte sie es zu einer modischen Nackenrolle, die vielleicht hübsch aussah, ihr aber unbequem war. Schließlich zog sie ein paar Schnürschuhe an und machte sich auf den Weg nach unten.

Luc lehnte an der Hauswand neben seiner Peugeot P 107 und zog lässig an einer Zigarette. Als er Viktoria kommen sah, schnippte er den Stummel auf den Boden, setzte sich auf das Motorrad und deutete mit einer einladenden Handbewegung hinter sich: »On y va.« Er startete den Motor.

Viktoria zwängte sich zwischen ihn und einen Picknickkorb, den er auf dem Gepäckträger festgezurrt hatte. Sie umfasste seine Taille, um sich festzuhalten. »Wohin fahren wir?«

»Lass dich überraschen!« Er gab Gas.

Mit lautem Knattern brausten sie davon. Aus den Augenwinkeln sah Viktoria die dunkle Abgaswolke, die sie zurückließen. Diese hüllte eine rot getigerte Katze ein, die neugierig stehen geblieben war und den Startvorgang beobachtet hatte. Das Tier verzog sich schleunigst in den nächsten Hauseingang.

In flottem Tempo kurvte Luc durch die Gassen und Straßen der Stadt, und Viktoria ahnte bald, welchen Weg er einschlug. Eine gute Idee, an einem so schönen Spätnachmittag zum Lac de Paladru hinauszufahren, allerdings keine besonders originelle. Dort waren sie schon unzählige Male gewesen. Umso gespannter war sie darauf, was er sich wohl für diesen, ihren letzten Abend ausgedacht haben mochte.

Angeschmiegt an Lucs Rücken genoss sie die Dreiviertelstunde, die sie unterwegs waren. Er war kein großer Mann, auch kein athletischer, sondern schlank und drahtig. Sein dunkelbraunes Haar befand sich stets in lässiger Unordnung, seine Wangen waren niemals glatt rasiert. Mit seinen zwanzig Jahren war er zwar genauso alt wie sie selbst, wirkte aber älter, was vielleicht an seiner sonnengebräunten Haut lag. Und an den nachdenklichen Falten auf seiner Stirn, die eigentlich gar nicht zu ihm und seiner unbekümmerten Art passten.

Dass die Mädchen ihn mochten, hatte Viktoria hingenommen. Sie schätzte seinen Humor und seinen Sinn für die schönen Seiten des Lebens, seine Zärtlichkeit.

Wann immer die Zeit es erlaubt hatte, waren sie unterwegs gewesen, hatten die grünen Gipfel des Chartreuse-Massivs erklommen, waren über schmale Felsgrate und weiße Kalksteinrippen gewandert, hatten in den Flüssen gebadet, die sich tief in die Landschaft schnitten. Einmal hatte sie sich bei einem dieser Ausflüge den Arm gebrochen, und er blieb an ihrer Seite, bis sie versorgt war. Ein anderes Mal waren sie in einer waghalsigen, nicht enden wollenden Tour mit dem Motorrad bis ans Mittelmeer gefahren, um dort eine Nacht bei Mondschein, Baguette und Rotwein am Strand zu verbringen. Auch wenn Viktoria die Strapazen dieses Ausflugs noch tagelang nachgespürt hatte, waren jene Tage unvergesslich schön gewesen.

»Geht es dir gut, Viktoria?«, fragte er in diesem Moment über die Schulter, so als habe er gespürt, worüber sie gerade nachdachte.

»Ja. Alles bestens!« Sie versuchte, das nagende Gefühl des nahen Abschieds zu verdrängen. Morgen ist morgen, hatte er gesagt. Heute war sie noch hier.

Sie konzentrierte sich auf die Landschaft, die vorbeiflog. Felder und Weiden, Wäldchen mit Kastanien, Eichen und Buchen, die Häuser der Dörfer, durch die sie kamen. Der Fahrtwind, der in ihrem Haar spielte, war angenehm warm, so warm, wie es dieser Juni war.

Als sie das Örtchen Charavines hinter sich gelassen hatten, richtete Viktoria sich auf. Rechter Hand schimmerte das türkisblaue Wasser des Sees durch die Zweige der Bäume und Büsche, welche die Straße vom Uferbereich trennten. Schließlich bog Luc von der Straße ab, steuerte seine P 107 einige Meter über unebenes Gelände, bis er in der Nähe einer riesigen Eiche anhielt, deren Äste sich schwer über den See beugten. Mit einem dumpfen Tuckern erstarb der Motor.

Er drehte sich zu Viktoria um. »Wir sind da.«

»Ah!« Viktoria stieg ab und reckte sich, während Luc das Motorrad abstellte und den Picknickkorb vom Gepäckträger nahm. »Und jetzt machen wir hier ein Picknick?«

»Nicht hier. Komm!«

Er nahm ihre Hand und führte sie am Ufer entlang. Ihre Schuhe knirschten auf dem steinigen Untergrund, die sanften Wellen des Sees schlugen mit leisem Plätschern gegen den kurzen Abhang, der ans Wasser führte.

Schließlich sah Viktoria an einer geschützten Stelle ein Ruderboot liegen. »Wir machen eine Bootspartie?«

Luc lachte leise. »So ist es.« Er ließ ihre Hand los, ging voran zu dem hölzernen Kahn und stellte den Picknickkorb hinein. Dann drehte er sich zu Viktoria um, die inzwischen zu ihm aufgeschlossen hatte. »Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir hier waren?«

»Natürlich erinnere ich mich daran. Damals habe ich nasse Füße bekommen.«

»Das Boot war leck. Aber dieses hier sieht gut aus.«

»Hast du es selbst hergebracht?«, fragte Viktoria.

»Bringen lassen. Von einem Fischer.« Luc machte sich daran, das Boot ins Wasser zu schieben. Viktoria packte mit an und nur wenige Minuten später glitten sie hinaus auf den See.

»Nun kenne ich immerhin das Ziel unseres Ausflugs«, meinte Viktoria und beobachtete eine Entenmutter mit ihren fünf Küken, die in aller Ruhe an ihnen vorüberschwamm. »Aber ich habe keine Ahnung, welche Überraschung hier auf mich warten sollte. Ein Ungeheuer? So wie in Loch Ness?«

Luc lachte vielsagend, während er das Boot mit ruhigen Ruderschlägen weiter hinaustrieb, bis das helle Blaugrün der Uferzone einem tiefen Dunkelblau wich. Nicht umsonst nannten die Menschen hier den Lac de Paladru auch den Lac Bleu, den blauen See. Zahlreiche Legenden rankten sich um seine Wasser, wie die der Dame Blanche, der weißen Frau, die vor Jahrhunderten mit ihrem Geliebten auf dem See verschwand – und seither angeblich immer wieder gesehen wurde.

Verschwinden würden sie und Luc gewiss nicht, aber vielleicht zeigte er ihr eine der Stellen, an der die Dame Blanche der Überlieferung zufolge hin und wieder erschien?

»So, hier wären wir«, sagte Luc in diesem Augenblick, als habe er ihre Gedanken gelesen.

»Hier?« Viktoria sah sich um. Sie befanden sich auf halber Strecke zwischen dem Ost- und dem Westufer des langgestreckten Sees, der an dieser Stelle etwa einen Kilometer breit war.

Luc nickte und zog die Ruder ein.

»Fischen wir jetzt?«, fragte Viktoria.

»Warte es ab.« Er griff nach dem Picknickkorb und stellte ihn vor Viktoria auf die hölzernen Planken.

»Hast du darin die Köder mitgebracht?«

»Wenn du so willst.« Mit einem Mal grinste er über beide Ohren.

»Oh, nein, nein, Luc«, wiegelte Viktoria sofort ab, »du weißt, dass ich nicht …«

»Darum geht es nicht, ma belle.« Er klang ein wenig gekränkt.

»Entschuldige bitte.« Viktoria tat ihre vorschnelle Reaktion leid. »Ich wollte dir wirklich nichts … Ungehöriges unterstellen.«

»Na, ein wenig wolltest du das schon.« Er kniete sich vor den Picknickkorb und löste den Lederriemen. »Ich weiß ja, wie du über diese Dinge denkst.«

Viktoria seufzte. Die Franzosen nahmen es einfach sehr leicht mit der amour.

»Als Köder könnte man den Inhalt aber durchaus bezeichnen«, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf, hob den Deckel und holte ein rot-weiß kariertes Leinentuch heraus. »Zumindest soll er dafür sorgen, dass du mich nicht vergisst.«

Viktoria schaute neugierig in den Korb. »Lauter Gläser auf Eissäckchen?«

»Genau.« Luc breitete das Handtuch aus. Dann entnahm er dem Weidenkorb vorsichtig ein Einmachglas nach dem anderen und arrangierte sie in zwei Reihen.

»Oh! Schokolade?«

Luc nickte und öffnete das erste Glas. »Wir machen ein Schokoladenpicknick.«

Viktoria klatschte begeistert in die Hände. »Das ist eine wunderbare Idee, Luc!«

»Nicht wahr?«

»Ich verzeihe dir auf der Stelle, dass du heute Nachmittag nicht mitgefeiert hast. Du hast sicherlich einiges vorzubereiten gehabt.«

»Ein wenig.« Luc lächelte zufrieden und gab ihr ein Holzstäbchen, an dessen Ende ein Praliné aufgespießt war. »Versuch diese! Aber mit geschlossenen Augen!«

Viktoria nahm ihm das Stäbchen ab, senkte die Lider und probierte.

»Das ist ein … Pralin Sport! Ja, ganz bestimmt, es schmeckt intensiv nach gerösteten Haselnüssen.«

»Du erkennst es!«

»Natürlich!« Sie öffnete die Augen. »Ich habe es oft an Touristen verkauft, die es mit auf ihre Wandertouren genommen haben.«

»Dann das nächste.« Luc schraubte ein weiteres Glas auf und hielt es ihr hin.

Viktoria nahm eines der schokoladenüberzogenen Dreiecke und biss in die knackige Hülle. »Ein Gâteau Sphinx en miniature. Sehr lecker. Daran haben wir so lange gearbeitet, Luc.«

»Allerdings. Und sie sind wunderbar geworden.« Luc kostete selbst. »Die Eiweißfüllung ist fantastisch.«

Anschließend öffnete er die restlichen Gläser und legte jeweils eine Kostprobe auf das Tuch. »Ich habe während der letzten Wochen die besten Rezepte von Bonnat nachgearbeitet. Hier zum Beispiel.« Er griff nach einem kleinen, rechteckigen Kuchen. »Unser Plumcake – mit ordentlich Rum.« Augenzwinkernd reichte er ihn Viktoria.

»Mhmm«, murmelte sie kauend. »Mit dem Rum hast du es wirklich gut gemeint!«

Luc zwinkerte ihr zu. »Ich habe mir noch etwas … sagen wir Ungewöhnliches überlegt.« Er griff noch einmal in den Picknickkorb und holte ein Baguette, eine Flasche Champagner und ein kleines Kästchen heraus. »Weißt du, was ich am liebsten zum Frühstück esse? Ein Baguette mit Schokolade.«

Viktoria nickte begeistert. »Ein pain au chocolat, gewissermaßen. Das kenne ich von zu Hause.«

»Du kennst es?«

»Nun ja. In Stuttgart gibt es seit einigen Jahren eine Schokolade, die man aufs Brot legen kann.«

»Hergestellt von deinen Eltern?«

»Nein, von einem anderen Unternehmen.«

»Und ich dachte, ich hätte etwas ganz Neues erfunden.« Er schüttelte etwas theatralisch den Kopf. »Trotzdem präsentiere ich dir jetzt meinpain au chocolat. Es schmeckt sicherlich sehr viel besser als das eurer Konkurrenz!« Er nahm das Baguette und brach ein Stück davon ab. Dann öffnete er das kleine Metallkästchen. »Das ist eine Schokolade mit Milchpulver und Vanille. Ganz schlicht.«

»Die einfachen Dinge sind oft die besten.«

Viktoria sah zu, wie er mit geschickten Fingern eine dünne Schokoladenscheibe herausnahm und auf das Baguette legte. »Hier!«

»Danke.« Viktoria behielt das Brot in den Händen und wartete, bis er ein zweites Stück Baguette belegt hatte, auch wenn die Schokolade unter ihren Fingern sofort zu schmelzen begann.

»Natürlich«, fuhr Luc fort, »gibt es dazu – Champagner!« Er legte sein Schokoladenbaguette auf das Tuch und öffnete die Flasche.

»Das wird wunderbar harmonieren«, sagte Viktoria, »auch wenn ich heute schon Champagner getrunken habe.«

»Das ist ja schon ein paar Stunden her«, meinte Luc und stellte ihr die Flasche hin. »Allerdings habe ich nur einen Becher dabei, keine Gläser, ma belle.«

»Wir brauchen keine Gläser. Ich mag es schlicht und einfach ohnehin lieber.« Viktoria zwinkerte ihm zu, wartete, bis er eingeschenkt hatte, und nahm einen Schluck aus dem schlichten Becher. Dann biss sie in ihr pain au chocolat. »Es ist köstlich. Schlicht und raffiniert und köstlich!«

Sie genossen ihr Picknick, naschten und leerten den Champagner. Dann stand Luc auf einmal auf. Das Boot wackelte einen Moment heftig. Viktoria hielt sich an ihrer Sitzbank fest. »Was hast du vor?«

»Ich gehe baden.«

»Aber …« Ehe sie widersprechen konnte, hatte er sein Hemd über den Kopf gezogen, war aus seiner Hose gestiegen und in den See gesprungen. Viktoria kniete sich an den Rand des Kahns. »Luc!«, rief sie streng. »Wenn das ein letzter Versuch sein soll, mich davon zu überzeugen, dass ich mit dir … Luc?«

Er war verschwunden.

Auch als das Wasser an der Stelle, an der er eingetaucht war, allmählich zur Ruhe kam, war von ihm noch immer nichts zu sehen.

»Luc? Wo bist du?« Viktoria wurde unruhig, richtete sich auf und beugte sich über den Bootsrand hinaus, um die Wasseroberfläche genauer beobachten zu können. So viel Champagner hatte er doch gar nicht getrunken, als dass es gefährlich werden könnte, schwimmen zu gehen.

Sie zog ihre Schuhe aus. Sollte sie hinterherspringen?

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, schlüpfte aus ihrer Hose und ihrer Bluse. Ihre Unterwäsche behielt sie an. Dann setzte sie vorsichtig ein Bein über den Rand, dann das andere. Das Boot bekam sofort Schlagseite. Rasch ließ sie sich ins Wasser gleiten.

»Ah, ma belle!« Ehe sie sich versah, war er prustend neben ihr aufgetaucht und umfing sie mit beiden Armen.

»Oh, Luc!« Viktoria versuchte, sich ihm zu entwinden. »Ich bin kein Köder!«

»Schade. Aber ein wenig schwimmen wirst du ja trotzdem können. Schließlich sind bei euch in Deutschland bald die Olympischen Spiele!«

Sie befreite sich, machte einige kräftige Schwimmzüge und drehte sich zu ihm um. »Natürlich kann ich schwimmen! Sogar ganz hervorragend, dazu brauche ich nicht einmal einen Lehrmeister!« Sie spritzte ihm Wasser ins Gesicht. »Und auch keine Olympischen Spiele!«

»Na warte!« Er kraulte zu ihr hin, während Viktoria versuchte, sich hinter das Boot zu retten, das neben ihnen dümpelte.

So jagten sie einander durchs Wasser, lachten und schäkerten und Viktoria genoss diese vertraute Verspieltheit, auch wenn ihre Umarmungen wehmütig waren und die Küsse nach Abschied schmeckten.

Irgendwann drehte sie sich auf den Rücken und schloss die Augen. Luc schwamm ganz nah zu ihr hin. »Viktoria …«

»Nicht, Luc. Sprich nicht weiter.«

»Wir haben nur noch diese Nacht.«

Sie veränderte ihre Lage, so, dass sie sich an seiner Schulter festhalten konnte. »Ich … fühle mich nicht bereit.«

Er küsste sie lange und innig. Dann sah er sie an. »Auch wenn du als Wassernixe unwiderstehlich bist, lasse ich dir jetzt fünf Minuten Vorsprung, um dich anzuziehen. Sonst kann ich dir nicht versprechen, dass ich mich weiterhin beherrsche.« Damit hob er sie ein Stück aus dem Wasser, damit sie den Rand des Bootes fassen konnte.

Viktoria zog sich hinein, entledigte sich schnell ihrer nassen Wäsche und zog Hose und Bluse an. Während sie das Wasser notdürftig aus ihren Haaren drückte, schwang sich auch Luc zurück in den Kahn, wobei dieser erneut bedenklich wackelte.

Viktoria sah taktvoll zur Seite, während er sich anzog. Zumindest versuchte sie es – bis die Neugierde sie doch einen verstohlenen Blick riskieren ließ. Sie kam zu dem Schluss, dass sie verstand, warum Mädchenherzen höherschlugen, wenn es um Luc ging. Doch ihre Liebesgeschichte würde morgen enden, wenn sie den Zug nach Deutschland bestieg.

Als Luc schließlich die Reste ihres Picknicks verstaute, die Ruder ins Wasser tauchte und das Boot gemächlich in Richtung Ufer zurücklenkte, ließ Viktoria ihren Blick über die gekräuselte Seeoberfläche und die schwarzgrünen Gestade hinweg zum Himmel wandern.

Der Abend war der Nacht gewichen, die Sonne hinter den Hügeln im Westen versunken. Vereinzelt waren bereits die ersten Sterne zu erkennen. Ein letzter, rotorangefarbener Schimmer erhellte noch den Horizont und machte ihr bewusst, dass mit diesem Tag etwas unwiederbringlich vergangen war – so, wie alles im Leben verging.

Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich.

Wie würde es werden in Stuttgart – ohne ihren Vater? Sie konnte sich ihr Zuhause, die Schokoladenvilla, einfach nicht ohne ihn vorstellen – genauso wenig wie die Schokoladenfabrik. Würden sie es überhaupt schaffen ohne ihn?

»Woran denkst du?« Lucs Stimme drang sanft in ihre Gedanken.

Viktoria seufzte. »An die Vergänglichkeit.«

Luc nickte mitfühlend. Er hatte ihr beigestanden, als sie Mitte April die Nachricht von Victors schwerer Lungenentzündung erreicht hatte und nur zwei Wochen später die von seinem Tod. Er hatte sie nach Grenoble gefahren zum Bahnhof, als sie zur Beerdigung heimgefahren war, und eine Woche später wieder abgeholt. Er war dabei gewesen, als sie Maître Bonnat mitgeteilt hatte, dass sie nach Stuttgart zurückkehren müsse.

»Weißt du, Viktoria«, meinte er und hielt einen Moment mit dem Rudern inne. »Auch mein Vater ist tot. Er war Fischer und ist eines Tages nicht mehr zurückgekehrt. Damals war ich zwölf Jahre alt. Ich weiß, wie du dich fühlst.«

Viktoria war überrascht. Bisher hatte er kaum über seine Familie oder seine Herkunft gesprochen, sie wusste nur, dass er in Marseille geboren worden war. »Ich sage dir das nicht, um dein Mitleid zu bekommen«, fuhr er fort. »Ich möchte dir nur sagen … das Leben geht nicht immer den geraden Weg. Manchmal erkennen wir erst später, dass aus schweren Zeiten auch etwas Gutes erwächst.«

»Ich kann überhaupt nichts Gutes im Tod meines Vaters erkennen«, meinte Viktoria leise. »Gar nichts.«

»So habe ich es auch nicht gemeint. Es wird niemals gut sein, dass er gestorben ist. Aber manche Wendungen im Leben können Neues ermöglichen … ach, das ist schwer zu erklären.« Er machte eine Pause. »Ich wäre Fischer geworden, so wie mein Vater. Ich hätte mich vermutlich niemals gefragt, ob es einen anderen Beruf für mich gibt, einen, der mir mehr Freude macht und mich mehr erfüllt, als der des Fischers. Dabei habe ich den Fischgeruch schon als Kind kaum ertragen.«

Viktoria schwieg. Es fiel ihr schwer, den Trost, den er ihr mit seiner Geschichte spenden wollte, zu erfassen.

»Natürlich bin ich auch heute noch traurig, wenn ich an ihn denke«, gestand Luc. »Meine Mutter hatte es schwer, sie musste vier Kinder durchbringen und besaß kaum genug für das tägliche Essen. Aber auch für sie hat sich eine Tür geöffnet. Inzwischen besitzt sie eine eigene Schneiderei, zusammen mit meinem ältesten Bruder und meinen Schwestern. Verstehst du, was ich meine? Gib dir Zeit, Viktoria.«

Viktoria fiel keine passende Erwiderung ein. Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Das Boot schaukelte leicht. Mit Einbruch der Dunkelheit war der See unruhiger geworden.

»Darf ich rudern?«, fragte Viktoria unvermittelt.

»Wenn du willst … natürlich.«

Sie tauschten die Plätze.

Auch wenn es anstrengend war, tat die gleichmäßige Bewegung gut. Luc dirigierte sie mit gedämpfter Stimme in Richtung Ufer. Mit jedem Schlag ging es Viktoria besser und ein Stück der Leichtigkeit dieses Abends kehrte zurück. Er hatte recht. Es würde weitergehen. Irgendwie.

»Gut gemacht«, meinte Luc, als der Kies unter dem Kiel knirschte. Sie stiegen aus und zogen den Kahn an Land.

»Nun ja, ein Boot zu rudern ist keine allzu schwere Aufgabe«, erwiderte Viktoria. »Aber trotzdem danke für deine Anerkennung.«

»Du hast mir immerhin eine angenehme Rückfahrt bereitet«, meinte er. »Es hätte durchaus sein können, dass du das Boot zum Kentern bringst.«

»Niemals«, entgegnete Viktoria. »Ich bin schon als Kind auf dem Bodensee gerudert. Wir waren fast jedes Jahr ein paar Tage im Sommer dort.«

Er lachte. »Das merkt man, Mademoiselle Rheinberger. Du hast einen wunderbar weichen Schlag beim Rudern.«

Viktoria gab ihm einen leichten Klaps auf den Oberarm. »Und du bist frech, Luc. Aber da du dir einen so wunderbaren Abend für mich ausgedacht hast, verzeihe ich dir.«

»Das habe ich gern gemacht.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Viktoria … auch wenn du zurück in Deutschland bist – ich bin immer für dich da.«

»Das ist tröstlich zu wissen.« Müde lehnte sich Viktoria gegen den hölzernen Bootsrand.

»Man hört so viel Ungutes von dort.«

Viktoria fiel keine Antwort ein. Sie war selbst unsicher, was sie in Stuttgart erwarten würde.

»Nun ja.« Er blies den Rauch in die Luft. »Du wirst das alles schon schaffen, ma belle.«

»Ich hoffe es.«

»Und wenn es dir nicht gut geht, dann schreibst du oder rufst an. Ich werde zur Stelle sein.«

Nun entschlüpfte Viktoria doch ein Lachen. »Ich rufe dann ›Hilfe!‹ ins Telefon.«

»Zum Beispiel. Oder einfach chocolat«, scherzte er.

»Chocolat – warum nicht?« Noch einmal lachte sie leise. »Luc, komm schnell, chocolaaaat!«

»Ich werde zur Stelle sein«, betonte er noch einmal, und auch wenn er damit auf ihren Scherz einging, vernahm sie die Ernsthaftigkeit hinter dieser Floskel.

Seine Zigarettenspitze glühte im Dunkel auf, als er daran zog.

Viktoria hielt einen Moment inne, dann stieß sie sich vom Boot ab. »Ich denke, wir sollten zurückfahren. Ich muss ja noch packen.«

Er ließ den Stummel wie gewohnt auf den Boden fallen und nahm ihre Hand. »Natürlich. Und denk daran, Viktoria: Vor sechs Wochen bist du nach Hause gefahren, um zu trauern. Morgen fährst du nach Hause, um neu zu beginnen!«

3. Kapitel

Stuttgart, die Schokoladenfabrik Rothmann, zwei Tage später

Es war alles so vertraut. Das breite Treppenhaus, die große Doppeltür, hinter der die Büroräume lagen, das Klappern der Schreibmaschinen, das ans Ohr drang, sobald man diese öffnete und eintrat. Der Geruch nach Papier, Akten und Farbband, die ruhige Konzentration, die im Raum lag, die gedämpfte Unterhaltung der Schreibfräulein. All das kannte Viktoria seit ihrer Kindheit. Sie schloss leise die Tür hinter sich.

»Guten Morgen, Fräulein Rheinberger!« Eine Frau von etwa dreißig Jahren kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Ich bin Lydia Rosental.«

Viktoria erwiderte den Händedruck. »Guten Morgen!« Sie wusste, dass Lydia Rosental das Schreibbüro leitete, seit Frau Fischer voriges Jahr in den Ruhestand gegangen war. Ihre Mutter hatte gestern Abend über den Wechsel gesprochen.

»Sie möchten gewiss zu Ihrer Frau Mutter, Fräulein Rheinberger. Im Augenblick ist sie in der Produktion unterwegs, sie sollte aber gleich wiederkommen. Darf ich Ihnen so lange die Mitarbeiterinnen hier im Büro vorstellen?«

Auf Viktoria wirkte die Situation zunächst befremdlich. Die meisten der Schreibfräulein kannte sie schon, und ihnen nun offiziell vorgestellt zu werden, erschien ihr überflüssig. Aber Fräulein Rosental war bereits zum ersten Tisch gegangen und begann, ihr die Namen der Mädchen und die jeweiligen Aufgaben zu beschreiben. Dabei merkte Viktoria, dass Fräulein Rosental diese Vorgehensweise ganz bewusst wählte, um Viktorias neue Stellung im Unternehmen hervorzuheben. Von nun war sie nicht mehr die Tochter des Firmeninhabers, sondern Vorgesetzte. Die Mädchen schienen diesen Wechsel zu akzeptieren, grüßten höflich und erläuterten ihr Arbeitsgebiet.

Viktoria hörte zu, erkundigte sich nach dem Befinden der Mitarbeiterinnen und bot an, für Fragen jederzeit ein offenes Ohr zu haben.

Sie waren eben am vorletzten Schreibpult angelangt, als Viktorias Mutter in die Büroräume zurückkehrte.

»Vicky! Du bist nicht zu Hause?« Sie eilte zu ihrer Tochter. »Ich hatte dir doch gesagt, dass du dir die ersten Tage Zeit nehmen sollst, um dich von der Reise zu erholen.«

»Es ist schon gut, Mama«, erwiderte Viktoria. »Ich habe mich oben in Degerloch gelangweilt. Und in der Stadt wollte ich mich auch nicht herumtreiben. Mir ist es lieber, wenn ich etwas tun kann. Und Arbeit gibt es vermutlich genug.«

»Das schon.« Judith Rheinberger strich fahrig eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Knoten gelöst hatte. Diese Geste zeugte von großer Erschöpfung. Das schöne Gesicht von Viktorias Mutter war blass, nahezu fahl, unter den Augen lagen ungewohnte Schatten. Unzählige graue Strähnen durchzogen ihr blondes Haar, viel mehr als noch vor wenigen Wochen. Die tiefe Trauer über den Verlust ihres geliebten Mannes war ihr deutlich anzusehen.

»Am besten, wir fangen gleich an«, fuhr Viktoria fort. »Ich habe mich bisher ja eher mit der Herstellung von Schokolade befasst als mit kaufmännischen Dingen. Du wirst mir also viel beibringen müssen.«

»Gewiss.« Judiths Blick verlor sich einen Augenblick in der Ferne. Dann sah sie Viktoria an und legte eine Hand auf ihren Arm. »Die Schokoladenfabrik ist das Erbe deines Vaters und deines Großvaters. Beide wären stolz, wenn sie sehen könnten, dass du in ihre Fußstapfen trittst. Komm, wir gehen ins Büro. Und … danke, Fräulein Rosental, dass Sie Viktoria so freundlich empfangen haben.« Sie nickte der jungen Frau zu.

»Gerne.« Fräulein Rosental wies auf einen Stapel Mappen auf ihrem Schreibtisch. »Ich komme dann später zu Ihnen. Es gibt einige Außenstände und zwei Angebote, die wir besprechen sollten.«

»Gut. In etwa einer Stunde. Bis dahin möchte ich mit meiner Tochter ungestört sein.« Judith ging weiter und schloss die Tür des Büros auf, das sie jahrzehntelang mit ihrem Mann geteilt hatte.

»Selbstverständlich.« Lydia Rosental sah ihr kurz hinterher, dann richtete sie ihren Blick noch einmal auf Viktoria. »Es ist wirklich gut, dass Sie jetzt hier sind, Fräulein Rheinberger.« Die Inständigkeit, die in ihrer Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Sie wurde hier gebraucht. Mehr als sie geahnt hatte.

Unvermittelt kamen ihr Lucs Worte in den Sinn: Morgen fährst du nach Hause, um neu zu beginnen. Genauso war es. Ein neuer Anfang, auch wenn es schwerfiel. Und ein großer Teil der Kraft hierfür musste von ihr selbst kommen, damit ihrer Mutter Zeit blieb, die Geschehnisse der letzten Wochen zu verarbeiten und neuen Lebensmut zu schöpfen.

»Kommst du, Vicky?« Judith klang ungewohnt ungeduldig.

»Natürlich«, antwortete Viktoria und folgte ihrer Mutter in das abgetrennte Büro, das im Gegensatz zu früher mit zwei großen Glasscheiben ausgestattet war, die eine Sichtverbindung zum Schreibsaal herstellten.

»Machst du bitte die Türe zu?« Judith nahm hinter dem großen Schreibtisch Platz, der einst Wilhelm Rothmann und nach dessen Tod Victor Rheinberger gehört hatte. Ein wenig verloren wirkte sie dort, doch sie schien ihn sich bereits zu eigen gemacht zu haben. Mit sicherer Hand sortierte sie einige Unterlagen, legte einen Aktenordner zur Seite und zog dann eine Mappe heraus, die randvoll mit Papieren war.

Während Judith diese aufschlug, schloss Viktoria die Tür, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Ihr Blick fiel auf die silberne Schreibgarnitur ihres Vaters mit den eingravierten Initialen V und R. Sein Brieföffner lag daneben, ebenso wie eine Stiftablage aus Marmor, die sie und ihr Bruder Martin ihm vor Jahren zum Geburtstag geschenkt hatten. Es schien, als habe er seinen Platz nur für einen kurzen Moment verlassen und kehrte gleich zurück.

»Ich hätte dir wirklich noch einige Zeit bei Bonnat gegönnt, Vicky«, drang die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken. »Ich weiß, wie gut es dir dort gefallen hat. Aber …«, Judith blätterte in den Unterlagen, sie schien etwas Bestimmtes zu suchen, »… hier herrscht noch ein großes Durcheinander.«

»Ich weiß.« Viktoria nickte. »Und dass ich nach Hause gekommen bin, ist doch selbstverständlich. Mein Platz ist jetzt hier bei dir. Gemeinsam werden wir das schaffen.«

»Es kommt sehr viel Arbeit auf uns zu.« Judith hielt einen Moment inne. »Zunächst müssen wir einige rechtliche Dinge regeln, auch wenn dein Vater und ich vorgesorgt hatten für den Fall, dass einer von uns stirbt.« Sie legte die Papiere ab. »Gott sei Dank läuft die Produktion weiter«, fuhr sie fort, »auch wenn wir Stockungen bei den Kakaolieferungen haben. Aber ich denke, das sind übliche Vorgänge in einer Situation wie der unseren und vorübergehend. Die Auftragslage ist rückläufig, aber noch nicht besorgniserregend. Zudem werden Kunden wie Lieferanten in absehbarer Zeit mit Sicherheit versuchen, andere Konditionen durchzusetzen.«

»Tatsächlich?«, fragte Viktoria überrascht. »Warum sollten sie …«

»Heil Hitler!« Eine männliche Stimme drang überlaut durch die geschlossene Tür bis zu ihnen herein. Viktoria wandte sofort den Kopf und sah durch das Bürofenster einen kleinen, untersetzten Mann in brauner Uniform im Schreibsaal stehen. Er hatte den ausgestreckten Arm zum Gruß erhoben, so wie es derzeit in Deutschland üblich war. Die Schreibmädchen waren geschlossen aufgestanden und reckten ebenfalls ihre Arme in die Höhe. Fräulein Rosental allerdings deutete die Geste nur an. Ein kurzer Wortwechsel zwischen ihr und dem Besucher, dann marschierte der Mann strammen Schrittes auf die Bürotür zu und riss sie auf. »Heil Hitler!«, rief er noch einmal, schlug hart die Hacken seiner Stiefel zusammen und ließ seinen Arm erneut nach oben schnellen. Die hellbraune Uniform mit den roten Abzeichen und der goldenen Litze am Kragen unterstrich seinen Auftritt. »Frau Rheinberger, ich muss Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen.«

Er sprach abgehackt, so als erteilte er einen militärischen Befehl. Viktoria hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Das Gebrüll war schrecklich.

Judith war aufgestanden, hatte eine undefinierbare Geste mit dem rechten Arm gemacht und etwas Unverständliches vor sich hin gemurmelt. »Guten Tag, Herr Weber«, sagte sie kühl. »Was kann ich für Sie tun?«

Viktoria fand es unhöflich, dass er sich nicht vorstellte. Auch wenn er ihre Mutter kannte, so war er für sie selbst doch ein Fremder.

»Diese Angelegenheit sollten wir unter vier Augen besprechen, Frau Rheinberger«, erwiderte Weber. Er zückte eine Aktentasche, die er in der linken Hand gehalten hatte, durchschritt unaufgefordert den Raum und legte sie mit einer energischen Bewegung auf den Besprechungstisch in der hinteren Ecke des Büros.

»Das ist Viktoria Rheinberger, meine Tochter, Herr Weber«, sagte Judith ruhig und deutete auf Viktoria. »Sie arbeitet seit heute ebenfalls in der Leitung der Schokoladenfabrik. Deshalb wird sie Ihr Anliegen genauso aufmerksam anhören wie ich.«

Er hüstelte. »Wenn es sein muss.« Er drehte sich kurz um und nickte Viktoria beiläufig zu. »Kurt Weber mein Name, Ortsgruppenleiter.«

»Guten Tag«, sagte Viktoria distanziert, stand auf und ging ebenfalls zum Besprechungstisch hinüber.

Der Besucher kniff die Augen zusammen.

»Nehmen Sie Platz, Herr Weber.« Judith wirkte unruhig, blieb aber an ihrem Platz stehen.

»Frau Rheinberger.« Kurt Weber setzte sich, ohne dass ihm ein Platz angeboten worden wäre, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine dünne Mappe. »Mit dem Tod Ihres Ehegatten, den ich im Übrigen sehr geschätzt habe, ist die Schokoladenfabrik Rothmann ihrer Führung beraubt.«

»Keineswegs!«, widersprach Judith sofort und Viktoria hörte ein Beben in ihrer Stimme. »Das Unternehmen wird unverändert weitergeführt.«

»Nun«, entgegnete Kurt Weber. »Das sehe ich anders.«

»Wie bitte?« Viktoria hatte sich eigentlich vorgenommen, ihren Mund zu halten, konnte sich aber nicht beherrschen.

Weber ignorierte sie. »Kommen Sie, Frau Rheinberger«, sagte er stattdessen und nahm Judith ins Visier. »Es ist doch offensichtlich, dass es keine männliche Nachfolge in Ihrem Hause gibt. Meinen Erkenntnissen zufolge lebt Ihr Bruder Karl Rothmann in Berlin, Ihr Bruder Anton führt eine Klavierfabrik hier in Stuttgart. Und Ihr Sohn Martin Rheinberger hält sich derzeit wohl in Ihrem Hause auf, ist aber Pianist und von daher nicht an einer Mitarbeit interessiert.«

»Da haben Sie sich aber genauestens informiert«, konterte Judith und nur Viktoria hörte den Sarkasmus. »Deshalb wird Ihnen nicht entgangen sein, dass es durchaus eine Nachfolge gibt, und zwar eine weibliche.«

»Frau Rheinberger.« Weber zeigte ein nachsichtiges Lächeln. »Die Zeiten haben sich geändert und das wissen Sie. Unserem Führer sei Dank.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es gab ein paar Jahre in der jüngeren Vergangenheit, in denen die Weibsbilder sich … sagen wir so, versucht haben, sich wie Männer aufzuführen. Aber diese Unsitten werden nun nicht mehr geduldet.«

»Was möchten Sie denn damit sa…«, setzte Viktoria an, aber ihre Mutter unterbrach sie. »Ich wüsste nicht, weshalb es nicht im Sinne des Führers sein sollte, dass eine so erfolgreiche Fabrik wie diese von Menschen fortgeführt wird, die das Unternehmen kennen und jahrelange Erfahrung mitbringen. Letztlich tragen wir damit zum Wohl des Volkes bei. Und darum geht es doch, oder etwa nicht?«

»Werte Frau Rheinberger«, entgegnete Weber milde. »Es geht hier nicht um Kenntnisse oder Ähnliches. Es geht um die natürliche Bestimmung. Und die liegt für die anständige Frau nun einmal darin, ihrem Mann ein gutes Heim zu schaffen, dem Führer Kinder zu gebären und in der rechten Gesinnung zu erziehen. Insbesondere wenn ich Ihre Frau Tochter betrachte«, er scharrte mit einem Fuß, sah Viktoria aber nicht an, »lässt sich die Richtigkeit dieser Aussage nachvollziehen. Und ohnehin: Im Januar vorigen Jahres wurde noch einmal öffentlich bekannt gemacht, dass junge Mädchen sich gründlich und ausschließlich auf ihr Leben als Hausfrau und Mutter vorbereiten sollen. Damit dienen sie Führer und Vaterland.«

»Herr Ortsgruppenleiter«, sagte Judith bestimmt, »ich denke, dass wir dieses Gespräch beenden können. Meine Tochter und ich werden diese Fabrik weiterführen. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen.«

»Sehen Sie, Frau Rheinberger. Hier sitzen Sie einem Irrtum auf.« Er legte mehrere Papiere heraus, die wie eine komplizierte Vertragsschrift aussahen.

»Gemäß der im Deutschen Reich herrschenden Grundhaltung hinsichtlich der Aufgaben von Mann und Frau ist es unsere Aufgabe, diese Haltung im Interesse der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft umzusetzen«, referierte er weiter. »Das mag Ihnen auf den ersten Blick vielleicht … unangemessen erscheinen. Mit der Zeit werden Sie aber erkennen, ja dankbar sein, dass wir Ihnen die Augen geöffnet haben … für den rechten Weg.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.« Judiths Ton wurde härter. Sie kam nun doch an den Besprechungstisch und setzte sich. »Wollen Sie uns aus unserer Fabrik vertreiben?«

»Ach, Frau Rheinberger.« Webers Stimme wurde weich. »Doch nicht vertreiben. Ich mache Ihnen einen … Vorschlag.« Er schob die Unterlagen zu Judith hin, sodass sie sie lesen konnte. »Vor Ihnen liegt ein äußerst gutes Angebot. Die Firma Adler-Schokoladenwerke sucht nach Möglichkeiten, ihre Produktion zu erweitern. Sie kennen die Adler-Schokoladenwerke?«

»Der Hersteller ist doch noch nicht lange auf dem Markt«, entgegnete Judith. Viktoria fiel der abwertende Unterton ihrer Mutter auf.

»Nein, Frau Rheinberger, hier irren Sie sich«, meinte Weber süffisant. »Adler ist aus einem Traditionsbetrieb hervorgegangen, führt diesen nun unter neuem Namen fort. Aber unabhängig davon …« Er nestelte an den Papieren. »… ist Adler mit Scho-Ko-Kola überaus erfolgreich!« Nun hob Weber die Stimme, sprach wieder mit militärischer Strenge, abgehackt und überlaut. »Und wird künftig von besonderer Wichtigkeit sein!«

»Das ist schön und gut, Herr Weber«, hielt Judith dagegen, »doch ich habe nicht vor, den Adler-Schokoladenwerken Teile meines Unternehmens abzutreten.«

»Niemand spricht von Unternehmensteilen. Die Adler-Schokoladenwerke machen Ihnen das einmalige Angebot, Ihre Firma für einen mehr als angemessenen Preis zu übernehmen.« Weber inszenierte eine Kunstpause und beobachtete Judiths Reaktion.

Viktoria spürte Wut in sich aufsteigen. Die feine Falte auf der Stirn ihrer Mutter zeigte, dass es Judith ähnlich ging.

»Nein.« Judiths Antwort kam klar und deutlich. »Wir verkaufen nicht.«

»Wie bitte?« Weber wirkte irritiert.

»Ich sagte, wir verkaufen nicht.« Judith erhob sich. »Ich denke, damit ist unser Gespräch beendet, Herr Ortsgruppenleiter. Wer auch immer Sie mit diesem absurden Angebot beauftragt hat, er sollte sich keine Hoffnungen machen, unser Unternehmen zu akquirieren. Rothmann Schokolade ist und bleibt in der Hand der Familie.« Sie stand auf, ging zur Tür und legte die Hand auf die Klinke. »Guten Tag.«

Weber sah von Judith zu ihr und wieder zu Judith. Sein Gesichtsausdruck wechselte von ungläubig zu empört. »Frau Rheinberger!« Er stand ruckartig auf, sodass sein Stuhl mit lautem Poltern umfiel. Seinen Fauxpas ignorierend, sammelte er seine Unterlagen ein. »Sie lehnen gerade Ihre Zukunft ab.«

»Das denke ich nicht.«

»Wir haben … andere Möglichkeiten.« Mit hochrotem Kopf packte er alles in seine Tasche zurück. »Ich gehe davon aus, dass Sie sich besinnen werden, sobald Sie über meinen Vorschlag ein wenig gründlicher nachgedacht haben. Der Tod Ihres Mannes hat Ihnen verständlicherweise zugesetzt, sodass Sie die Tragweite dieser Entscheidung noch gar nicht ermessen. Ich gebe Ihnen vier Wochen Zeit, die Sache zu überdenken.«

»Meine Entscheidung wird auch in vier Wochen nicht anders aussehen.« Viktoria sah, wie die Hand ihrer Mutter auf der Türklinke zitterte.

»Adler bietet Ihnen ein kleines Vermögen. Schlagen Sie ein, solange Ihnen diese Hand gereicht wird.«

Während er die wenigen Schritte zur Tür ging, klemmte er sich umständlich die Aktentasche unter den linken Arm, sodass er die Rechte für das unvermeidliche »Heil Hitler!« frei hatte. Viktoria würde sich niemals an diesen grotesken Gruß gewöhnen.

Judith öffnete die Tür.

Alle Augen folgten ihm, als er zackigen Schrittes an den Reihen der Schreibfräulein entlang zum Ausgang des Bürotrakts marschierte.

Viktoria hörte ihre Mutter aufatmen, als sich die schwere Doppeltür endlich hinter ihm geschlossen hatte. Zugleich bemerkte sie, wie Lydia Rosental durch die Glasscheibe zu ihnen hereinsah. In ihrem Blick lag blanke Angst.

»Das alles scheint mir eine Posse zu sein, Mama.« Viktoria hatte das Gefühl, als löse sich die helle und heitere Welt, wie sie sie bisher kannte, auf und mache einer neuen, düsteren Wirklichkeit Platz.

»Es ist keine Posse, Vicky.« Mit einem tiefen Seufzen fuhr Judith sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das ist bitterer Ernst.«

4. Kapitel

Die SS Manhattan, Cherbourg, Mitte Juli 1936

Langsam schob sich das Dampfschiff in Richtung offene See. Zahlreiche Möwen gaben dem großen Oceanliner Geleit, während er die innere Reede des Hafens von Cherbourg hinter sich ließ. Ihr Kreischen verwob sich mit dem Tuten des Horns und den Tönen der Schiffskapelle zu einem eindringlichen Abschiedskonzert. Es war kurz nach Mittag.

Andrew Miller lehnte an der Reling und beobachtete, wie die belebten Hafenanlagen allmählich kleiner wurden. Er hatte sich einen Drink mit an Deck genommen und setzte das Glas an die Lippen, während sein Blick vom Kai zu einem der Schlepperboote wanderte, die sie zur äußeren Reede eskortierten. Der Manhattan Cocktail schmeckte nach Vermouth und Whiskey und rann mit einem angenehmen Brennen durch seine Kehle. Aus dem Rumpf der SS Manhattan drang das dumpfe Stampfen der Maschinen bis zu ihm auf das Deck der ersten Klasse herauf.

Unwillkürlich kamen ihm die Bilder des ersten Auslaufens vor fünf Tagen in den Sinn: Die Unmengen begeisterter Menschen, die sich in den Straßen und Parks New Jerseys und New Yorks, am Hafen der amerikanischen Metropole und entlang der Piers versammelt hatten, um einen Blick auf das Schiff der United States Lines und vor allem die Olympiamannschaft an Bord zu erhaschen – ein Meer amerikanischer Fähnchen, geschwenkt von unzähligen Händen. Die Feuerwehrboote, die die bewimpelte und beflaggte SS Manhattan begleitet, die vielen Schiffssirenen, die ihnen ihren Gruß auf den Weg nach Hamburg mitgegeben hatten. Die jungen Sportler, die überwältigt gewesen waren von all der Aufmerksamkeit.

Andrew hatte eine solche Euphorie bisher noch nicht erlebt – und sie wirkte nach. Nicht nur bei den mehr als dreihundert Olympioniken, auch bei ihm und den übrigen Reisenden. Selbst die kühle Luft, die ihnen der Atlantik auf hoher See um die Ohren geblasen hatte, hatte die Sportbegeisterung nicht bremsen können, und während sie die Wasser in Richtung Europa durchpflügten, hatten sich die Sportler intensiv mit ihren Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele in Berlin beschäftigt.

Andrew, der die Tage auf See genutzt hatte, um seine bevorstehende, schwierige Mission in Deutschland vorzubereiten, hatte die außergewöhnliche Atmosphäre an Bord genossen. Denn bei seinen Spaziergängen an Deck waren sie ihm immer wieder begegnet – die Schwimmer und die Ringer, die Gewichtheber und die Leichtathleten, junge Männer und Frauen, von denen viele vor der größten Chance ihres Lebens standen. Er hatte sie angefeuert und ihre Disziplin bewundert, so wie die anderen Passagiere auch. Das Olympiafieber hatte sich über den ganzen Ozeanriesen ausgebreitet. Alle waren davon überzeugt, dass das amerikanische Team bravourös abschneiden würde.

Mittlerweile passierte die SS Manhattan die äußere Reede. Die Schlepperboote drehten ab und entließen das Dampfschiff in die blaugrauen Wasser des Ärmelkanals. Bald würde die Silhouette der französischen Hafenstadt verschwunden sein und sich für einen Tag noch einmal die Ruhe des Meeres über die Decks legen, bevor sie in Hamburg anlegten.

Gedankenverloren schwenkte Andrew das Glas mit der rötlich braunen Flüssigkeit, nahm noch einen Schluck und wollte sich gerade auf den Weg in den Rauchersalon machen, als ihn jemand von der Seite anrempelte. Der Stoß war derart heftig, dass er stolperte. Um nicht zu fallen, griff er nach der Reling – und ließ dabei sein Glas fallen, das mit einem hellen Klirren in tausend Stücke zersprang.

»Oh!« Eine weibliche Stimme drang an sein Ohr. »Es tut mit aufrichtig leid, Sir!«

Andrew richtete sich auf. Eine Frau im dunklen Sportdress stand neben ihm und sah erschrocken auf die feinen Scherben auf dem Boden, zwischen denen die letzten Tropfen des Manhattan Cocktails zerrannen.

»Ist schon gut.« Eigentlich hatte ihm ein Fluch auf den Lippen gelegen, aber das ehrliche Bedauern, das er in den grünbraunen Augen seines Gegenübers las, ließ ihn seine Verärgerung sofort vergessen. »Ich lasse es gleich aufräumen.«

»Wie ungeschickt von mir«, meinte die junge Frau. »Ich war etwas … in Gedanken.«

Andrews Blick fiel auf den Schriftzug auf ihrem Pullover: USA. Ganz offensichtlich gehörte sie zum amerikanischen Olympiateam. »In Gedanken bereits in Berlin?«, fragte er daher schmunzelnd, während er einem der Stewards ein Zeichen gab.

Sie lachte. »So könnte man es nennen, ja.«

Der Schiffssteward hatte Andrews Geste bemerkt und war sofort zur Stelle. »Was darf ich für Sie …?« Er unterbrach seine höfliche Frage, als er das Malheur erkannte. »Ich werde sofort veranlassen, dass die Scherben beseitigt werden, Sir«, versicherte er.

»Danke.« Andrew nickte ihm zu und bot der jungen Frau den Arm. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Auf den Schrecken hin, sozusagen.«

Sie lächelte ihn breit an: »Aber gerne.«

Andrew warf dem Steward einen letzten entschuldigenden Blick zu und führte die hübsche Unbekannte in den Rauchersalon, der jetzt, am frühen Nachmittag, nahezu leer war. Er orderte zwei Manhattan Cocktails und reichte einen davon der Sportlerin.

»Cheers!« Er hob das Glas. »Auf dass Sie in Berlin siegen werden, Miss …?«

»Mrs. Eleanor Jarrett.« Sie prostete hastig zurück und stürzte den Cocktail hinunter. »Nennen Sie mich einfach Eleanor.«

»Wie Sie wünschen – Eleanor.« Andrew sah sie verblüfft an. Für eine verheiratete Frau legte sie eine ungewöhnliche Offenheit an den Tag. »Sie kommen aus New York?«

»Ja. Brooklyn.« Eleanor betrachtete ihr leeres Glas.

»Ah, Brooklyn.« Er musterte ihre ebenmäßigen Gesichtszüge, die sich für einen Augenblick durch das verglaste Fenster hinaus auf das Meer richteten. »Ich lebe in Greenwich Village.«

»Ich liebe Greenwich Village.« Ihr Blick wanderte zu ihm.

»Ja. Es lebt sich entspannt dort.« Er nahm einen Schluck. »Und nun starten Sie für unser Land in Berlin?«

»Nun ja …«

»Sind Sie Leichtathletin?«

Sie schüttelte leicht den Kopf. »Nein. Ich schwimme.«

»Ah … und …«

Noch bevor er eine weitere Frage formulieren konnte, unterbrach sie ihn rasch. »Und was führt Sie nach Deutschland? Auch der Sport?«

»Nein, Geschäfte«, antwortete Andrew.

»Ah, Geschäfte.« Sie schien nicht näher interessiert. Stattdessen richtete sie sich ein wenig auf. »Haben Sie denn vor, die Spiele zu besuchen?«

»Bisher nicht. Aber um Sie siegen zu sehen, würde ich es eventuell einrichten …«

»Ich werde nicht siegen in Berlin.« Ein Schatten zog über ihr Gesicht, aber ihre Stimme klang fest.

»Wer sollte das verhindern? Ist die Konkurrenz so stark?«

»Ich werde gar nicht antreten.«

Nun war es an Andrew, das Glas in einem raschen Zug zu leeren. »Sie treten nicht an?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich wurde suspendiert. Heute Morgen.«

»Wie bitte? Suspendiert?«, fragte Andrew ungläubig. »Das tut mir leid.«

»Mir auch. Offenbar kann Brundage auf meine Medaillen verzichten.«

»Avery Brundage?«

»Ja. Der Präsident des Leichtathletikverbandes. Er ist ein … Schwein.«

»Ist er Ihnen zu nahe getreten?« Andrew wusste nicht viel über den Funktionär.

»Nicht auf diese Weise.« Eleanors Gesichtsausdruck wurde hart. »Er denkt, dass ich für das Team nicht mehr tragbar bin. Nur weil ich mich letzte Nacht vergnügt habe. Ich soll volltrunken gewesen sein. So ein Unsinn.« Sie hielt Andrew ihr leeres Glas hin. »Würden Sie mir bitte noch einen besorgen?«

»Selbstverständlich.« Andrew holte zwei weitere Manhattan Cocktails, froh über die kurze Unterbrechung. Die Unterhaltung wurde anstrengend.

»Wissen Sie, Mr. …«, setzte sie an, als er wieder bei ihr war.

»Miller. Aber sagen Sie doch Andrew zu mir.« Er wollte gern an die Leichtigkeit anknüpfen, mit der ihr Gespräch begonnen hatte. Doch bevor er etwas sagen konnte, redete Eleanor weiter: »Ich passe einfach nicht in Brundages Weltbild, als eine Frau, die in Nightclubs auftritt und eigenes Geld verdient.« Sie seufzte, eher wütend als resigniert. »Aber ich werde nicht zurück nach Amerika reisen, kaum, dass wir in Hamburg angelegt haben. Auch wenn er sich das so vorstellt.«

»Er möchte Sie zurückschicken?«

»Oh ja. Als Konsequenz meines Fehlverhaltens.« Abscheu trat in ihr Gesicht. »Er behandelt uns Sportler wie Kinder. Dazu hat er kein Recht. Zumal ich …«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, »… bereits olympisches Gold gewonnen habe.«

Jetzt dämmerte Andrew etwas. »Aber natürlich! In Los Angeles vor vier Jahren, nicht wahr?« Er erinnerte sich an die Schlagzeilen. »Als Eleanor Holm.«

Sie nickte. »Über einhundert Meter Rückenschwimmen.« Stolz und Wehmut lagen in ihrer Stimme. »Und gewiss war ich nicht deshalb erfolgreich, weil ich mir den Spaß im Leben versage.« Sie kippte auch den zweiten Cocktail schwungvoll hinunter, so, als wolle sie das Gesagte damit bestätigen. »Außerdem«, meinte sie und zeigte herausfordernd mit ihrem Glas auf das Seine, »darf man inzwischen wieder überall einen Drink zu sich nehmen. Auf dem Deck eines Ozeandampfers genauso wie in einem guten Restaurant. Also kann ein wenig Alkohol nicht schaden.«

Sie wirkte nun übertrieben gut gelaunt.

Ihre ständigen Stimmungswechsel ließen ihn argwöhnen, dass sie es letzte Nacht womöglich doch etwas übertrieben hatte – von den beiden Manhattans ganz abgesehen, die sie soeben zügig ausgetrunken hatte. Er räusperte sich. »Sie meinen …«

»Genau. Die Pro-hi-bi-tion.« Sie betonte jede einzelne Silbe. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine strenge Falte. »Da meinte man auch, den Menschen den Alkohol verbieten zu müssen. Und was war das Ergebnis? Die Leute haben weitergetrunken, und die, die ihnen den Alkohol besorgt haben, haben bestens daran verdient.«

Damit hatte sie allerdings recht.

»Und genauso verlogen ist es doch auch im Sport«, erklärte sie weiter. »Brundage ist ein arroganter Pinkel. Zu seinem Sportclub in Chicago haben weder Juden noch Schwarze Zutritt. Auch uns Frauen sieht er nicht gern, bei Olympia schon gar nicht. Eigentlich passt er gut zu diesem Menschen da im Deutschen Reich, diesem … ach, ich habe den Namen vergessen.«

»Adolf Hitler?«

»Ja, ich glaube, so heißt er. Aber das ist ja auch nicht so wichtig.« Sie machte eine wedelnde Handbewegung, so, als verscheuche sie eine lästige Fliege.

»Ich halte Rassegesetze, wie es sie in Deutschland inzwischen gibt, für durchaus gefährlich«, entgegnete Andrew. »Da wird viel Hass geschürt. Das kennen wir in Amerika aus eigener Erfahrung.«

»Mag sein«, erwiderte sie. »Wir werden ja mit eigenen Augen sehen, wie es wirklich ist. Zum Glück hat Brundage den Boykott der Spiele verhindert. Das ist übrigens das Einzige, was ich ihm zugutehalte. Es wäre doch schade gewesen, wenn wir nicht nach Berlin hätten reisen dürfen, nur wegen der Politik.«

»Erwägen musste man einen Boykott in jedem Fall«, wandte Andrew ein. »Aber ich denke, dass die Teilnahme an den Spielen richtig ist. Vielleicht hilft der Sport den Nationen, sich zu verständigen. Über alle Grenzen hinweg. Ein Kräftemessen auf friedliche Art, sozusagen.«

»In Berlin werden wir der Welt vor allen Dingen zeigen, dass wir zu den Besten gehören! Deshalb reise ich auch nicht zurück.« Eleanor klang fast ein wenig trotzig.

»Gibt es denn eine Möglichkeit für Sie, weiterhin im Team zu bleiben? Als Betreuung oder in einer anderen Funktion?«

»Nun«, meinte sie vielsagend. »Ich habe bereits ein Angebot bekommen und werde als Berichterstatterin für die Associated Press dabei sein. Und nun …« Sie machte eine Kunstpause. »… würde ich gerne ein wenig an Deck spazieren gehen, Andrew. Begleiten Sie mich?«

»Natürlich.« Obwohl er innerlich im Begriff war, sich von ihr zu verabschieden, beeilte sich Andrew, ihr das Glas abzunehmen und wegzustellen. Dann bot er ihr noch einmal seinen Arm.

Gemeinsam traten sie aus dem Rauchersalon hinaus an Deck und flanierten zur Heckseite des Schiffes. In den Liegestühlen aus Korbgeflecht, an denen sie vorbeikamen, hatten es sich einige Passagiere der ersten Klasse gemütlich gemacht. Manche lasen ein Buch oder die Zeitung, andere rauchten, ruhten oder unterhielten sich leise.

»Mrs. Jarrett!«

Eleanors Kopf fuhr herum und Andrew folgte ihrer Bewegung. Hinter ihnen kamen raschen Schrittes zwei Männer gegangen. Einer von ihnen trug einen Fotoapparat. Andrew erkannte in ihnen zwei der mitreisenden Journalisten. Die beiden hoben grüßend ihre Hüte. »Wie schön, Sie wieder hier oben zu sehen, Mrs. Jarrett! Wir befürchteten schon, auf Ihre Gesellschaft verzichten zu müssen«, sagte der Fotograf, ohne Andrew zu begrüßen oder sich vorzustellen.

Eleanor lachte und ließ Andrews Arm los. »Aber, Gentlemen, das ist doch keine Frage. Nichts kann mich davon abhalten, das Oberdeck zu genießen.«

»Auch Mr. Brundage nicht?«, fragte der Fotograf provozierend und Eleanor lachte. »Nein. Niemand.«

»Außerdem sind Sie ja jetzt eine von uns«, meinte der andere und ließ seinen Blick zufrieden auf Eleanor ruhen. Dann sah er Andrew an: »Sie ist unglaublich, nicht wahr? Wir sind froh, sie überzeugt zu haben, die Games als Journalistin zu begleiten. Jemand, der selbst Goldmedaillen gewonnen hat, wird ganz anders kommentieren! Unser Publikum wird begeistert sein!«

»Wie wär’s, Mrs. Jarrett? Spielen Sie eine Runde mit uns?« Der Fotograf machte eine einladende Handbewegung in Richtung der Salons.

»Wenn Sie ein Gläschen Champagner zu den Würfeln stellen, dann sehr gerne.« Eleanor warf ihr dunkles, lockiges Haar in den Nacken. Die Geste wirkte ebenso kokett wie herausfordernd. Sie wandte sich an Andrew. »Was ist mit Ihnen? Spielen Sie mit?«

»Heute nicht, Eleanor. Aber danke für die Einladung.«

»Haben Sie Angst, dass Sie verlieren könnten?«

»Gegen eine Frau wie Sie? Auf jeden Fall habe ich Angst!«

Die beiden Männer goutierten seinen Konter mit einem anerkennenden Lachen.

»Gentlemen – Eleanor. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Nachmittag. Möge der Beste gewinnen.«

Andrew zwinkerte Eleanor zu, die sich von den beiden Männern in die Mitte nehmen ließ und mit ihnen davonzog. »Haben Sie noch eine gute Reise, Andrew!«, rief sie ihm rasch über die Schulter hinweg zu. Ihre nächste Bemerkung war allerdings schon nicht mehr an ihn gerichtet.

Andrew rieb sich nachdenklich die Stirn und begab sich dann in seine Kabine. Eleanor Jarrett war eine attraktive Frau, die den Männern zweifelsohne reihenweise den Kopf verdrehte. Ihm aber wäre sie zu kapriziös, auch wenn er selbst erst neunundzwanzig Jahre alt war. Von der Tatsache, dass sie verheiratet war, einmal ganz abgesehen.

Er schloss seine Kabine auf, ließ sich ein Eiswasser bringen, setzte sich dann an den kleinen Tisch und konzentrierte sich auf seine Unterlagen.

Das Leben war nicht besonders gut gewesen zu ihm und vor allem zu seiner Firma. Immense Verluste hatten das letzte Geschäftsjahr gekennzeichnet, mehrere Großkunden hatten kurz hintereinander ihre Bestellungen storniert und selbst auf Nachfrage keine Gründe dafür genannt. Neue, lukrative Aufträge blieben aus. Die kleinen Bestellungen, die hin und wieder eingingen, reichten bei Weitem nicht aus, um den Betrieb wieder in die Gewinnzone zu bringen, zumal seine Firma obendrein noch immer mit den Folgen der Great Depression zu kämpfen hatte. Deshalb gab es nur einen Weg für ihn – und der führte nach Stuttgart.

5. Kapitel

Die Villa Rothmann in Degerloch, eine Woche später, am frühen Abend

Der feine Kies der geschwungenen Auffahrt knirschte unter ihren Füßen. Als das herrschaftliche Haus in ihr Blickfeld kam, verlangsamte Mathilda ihren Schritt, stellte den Koffer ab und strich sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht, die immer wieder dem ungeliebten Regiment ihrer Haarklammern entkam. Einen Augenblick lang hielt sie inne und ließ ihren Blick über die hellgelbe Fassade, die weiß abgesetzten, hohen Fenster und die Säulen gleiten, die das Portal flankierten.

Nahezu drei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen. Äußerlich erschien das Anwesen so vertraut, als wären nur wenige Wochen vergangen. Doch das Wissen um Victors Tod warf einen schmerzenden Schatten auf ihre Rückkehr. Er war wie ein Vater für sie gewesen. Wie würde es ohne ihn sein?