Die Sirenen des Titan - Kurt Vonnegut - E-Book
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Die Sirenen des Titan E-Book

Kurt Vonnegut

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Beschreibung

Als Winston Niles Rumfoord sein Raumschiff in ein chrono-synklastisches Infidibulum flog, wurde er in pure Energie verwandelt. Er wird nur dann wieder stofflich, wenn seine Energiewelle einen Planeten kreuzt – also materialisiert er sich alle 59 Tage in seiner Heimat Newport, Rhode Island, und das auch nur für eine Stunde. Aber immerhin weiß er jetzt alles über alles, was je geschehen ist und je geschehen wird ...

Der große Klassiker der modernen amerikanischen Science-Fiction Literatur, neu überarbeitet und mit einem Vorwort von Denis Scheck

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DASBUCH

Weil Winston Niles Rumfoord sein Raumschiff in ein chrono-synklastisches Infidibulum flog, wurde er in pure Energie verwandelt. Er wird nur dann wieder stofflich, wenn seine Energiewelle einen Planeten kreuzt. Alle 59 Tage materialisiert er sich für eine Stunde in Newport, Rhode Island. Doch dafür weiß er jetzt alles über alles, was je geschehen ist und je geschehen wird – und seine Pläne werden das Schicksal der Menschheit für immer verändern. Nur möglicherweise nicht zum besseren …

Eine feinsinnige und komplexe Satire über das, was passiert, wenn man pures Glück mit göttlicher Vorsehung verwechselt – kongenial übersetzt von Harry Rowohlt, komplett neu überarbeitet und mit einem Vorwort von Denis Scheck.

DERAUTOR

Kurt Vonnegut wurde am 11.11.1922 in Indianapolis geboren. Anfang 1943 meldete er sich freiwillig zur U. S. Army und nahm an der Ardennenoffensive teil. Er geriet im Dezember 1944 in Kriegsgefangenschaft und kam nach Dresden, wo man ihn in einem Schlachthof unterbrachte. Die Bombardierung Dresdens im Februar 1945 durch die Alliierten, bei der die Stadt weitestgehend zerstört wurde und Zehntausende Zivilisten den Tod fanden, verarbeitete Vonnegut in seinem bekanntesten Roman Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug, der sich bis heute weltweit millionenfach verkauft. Nach seiner Rückkehr in die USA arbeitete Vonnegut unter anderem als Polizeireporter und bei General Electric, ehe er sich ab 1951 ganz dem Schreiben widmete. 1952 erschien sein erster Roman, Player Piano, 1959 folgte Die Sirenen des Titan. Bis zu seinem Tod lebte und arbeitete Kurt Vonnegut in New York. Er starb am 11. April 2007 im Alter von 84 Jahren.

Harry Rowohlt (1945–2015) war Schriftsteller, Hörbuchsprecher, Kolumnist, Übersetzer und Schauspieler. Er wuchs in Hamburg auf und absolvierte zunächst eine Lehre als Verlagsbuchhändler. Von 1971 an arbeitete er als Übersetzer, Vortragskünstler, Verfasser der Kolumne »Pooh’s Corner« in der Zeit sowie als Darsteller des Penners Harry in der Serie Lindenstraße. Er wurde mehrfach für seine Übersetzungsarbeit ausgezeichnet. 2015 verstarb Harry Rowohlt im Alter von 70 Jahren.

Kurt VONNEGUT

Die SIRENEN des TITAN

Roman

Aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt

Mit einem Vorwort von Denis Scheck

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der Originalausgabe: THESIRENSOFTITAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Vollständig überarbeitete deutsche Ausgabe 03/2023

Copyright © 1959 by Kurt Vonnegut

Copyright des Vorworts © 2023 by Denis Scheck

Copyright © 2023 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Autorenfoto © Getty Images / Mickey Adair / Kontributor

Covergestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung eines Motivs von NeoLeo/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29718-3V002

www.heyne.de

VORWORT

von Denis Scheck

Klappen Sie dieses Buch sofort zu! Stellen Sie es zurück ins Regal. Legen Sie es aus der Hand. Halten Sie möglichst großen Abstand dazu. Denn dies ist eines jener raren Bücher, die Ihr Leben entscheidend und unwiderruflich zu verändern imstande sind. Wer nicht dazu bereit ist, seine Wertvorstellungen erschüttern, sein Moralempfinden auf den Kopf stellen, ja sein Leben komplett umkrempeln zu lassen, der sei vor der Lektüre von Kurt Vonneguts Die Sirenen des Titan nachdrücklich gewarnt.

Kurt Vonnegut und sein deutscher Übersetzer Harry Rowohlt sind zwei der populärsten und heißgeliebtesten Schriftsteller ihres Sprachraums. Sie sind dazu geworden, weil sie auf die Zumutungen der Welt mit Witz reagierten. Weil sie sich keinen Sand in die Augen streuen ließen. Weil sie den billigen Trost der gängigen Religionen zurückwiesen. Weil sie auch auf die Heilsversprechungen der Politik und Ideologien skeptisch reagierten. Weil sie gegen die Gebetsmühlen des Zeitgeists revoltierten und keine Wahrheiten ungeprüft zu übernehmen bereit waren. Ihre Vorbilder hießen Jonathan Swift, Voltaire und Mark Twain.

Ich hatte das Vergnügen, Harry Rowohlt und Kurt Vonnegut über Jahre persönlich zu kennen. Angesichts der Hunderte von Autorinnen und Autoren, denen ich seither begegnen durfte, verblüfft mich nach wie vor, wie sehr bei Harry Rowohlt und Kurt Vonnegut Mündlichkeit und Schriftlichkeit zusammenfielen. Beide besaßen einen unverkennbaren Sound. Beide sprechen ihre Leserinnen und Leser in ihren Texten unmittelbar an. Harry Rowohlt war auch privat ein genialer Stimmenimitator und Witzeerzähler; bei allen meinen Gesprächen mit Kurt Vonnegut beeindruckte mich am meisten die auffällige Übereinstimmung zwischen Vonneguts Art zu reden und seiner Art zu schreiben. Eine solche totale Kongruenz zwischen Gesprochenem und Geschriebenem ist mir seither nie wieder begegnet. Wie in den Kurzkapiteln seiner Romane lief fast alles, was Vonnegut erzählte, auf eine Pointe hinaus, die nicht selten im rauen, kurzatmigen Gelächter und Gehuste des Kettenrauchers unterzugehen drohte.

Ich begegnete Vonnegut zum ersten Mal in New York im Hotel Excelsior 1992; drei weitere Treffen fanden im Lauf des folgenden Jahrzehnts in seinem Haus in Manhattan auf der East 48th Street an der Fifth Avenue statt. Vonnegut war ein großer, schlanker Mann, der mit seiner dichten Lockenmähne, dem Schnurrbart und dem zerknautschten, faltenüberzogenen Gesicht aussah wie einer der schrulligen Typen auf Gemälden Norman Rockwells. Bei all meinen Besuchen brachte ich ihm eine Stange Pall Mall ohne Filter mit, die Zigarettenmarke, über die er in seinen Büchern immer wieder schrieb, das verhasst-geliebte Gift, mit dem er über fünfzig Jahre lang Selbstmord auf Raten beging. 1984 versucht Vonnegut, dessen Mutter sich im Alter von 56 Jahren am Muttertag 1944 das Leben genommen hat, ebenfalls mit einer Überdosis Tabletten, diesen Selbstmord zu beschleunigen – der erste einer Reihe von Suizidversuchen, ein gefundenes Fressen für die New Yorker Klatschpresse, ebenso wie die öffentlich zelebrierten Krisen in seiner zweiten, am 24. November 1979 geschlossenen Ehe mit der Fotografin Jill Krementz, mit der er, allen Auseinandersetzungen zum Trotz, bis zum Ende seines Lebens verheiratet bleibt. Noch sein Tod liefert Stoff für die Boulevardpresse. Vonnegut stolpert Mitte März 2007 beim Gassigehen über die Leine seines schneeweißen Malteserhündchens Flour und zieht sich auf der Treppe zu seinem Brownstonehaus eine schwere Kopfverletzung zu, an deren Folgen er vier Wochen später stirbt, ohne aus dem Koma zu erwachen. Auf derselben Treppe hatte er mir und einer Freundin einige Jahre zuvor in überraschend gut verständlichem Deutsch und mit einer hellen Baritonstimme zum Abschied deutsche Volks- und Studentenlieder vorgesungen: »Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit«, »Am Brunnen vor dem Tore«, »Die Gedanken sind frei« …

»Ich bin Skeptiker, kein Zyniker, ich misstraue nicht den Motiven der Menschen, sondern ihrer Intelligenz.« Diesen Satz spricht Kurt Vonnegut schon bei unserer ersten Begegnung in mein Radiomikrofon, als ich ihn um ein paar Worte zum Aussteuern des Bandgeräts bitte. Mich verblüffte, wie unvermittelt er die Ebene des Smalltalks verließ, wie übergangslos er von Banalem zu Tiefsinnigem kam. Doch dieser abrupte Wechsel zwischen E und U hatte offenbar Methode. Dieser Registerwechsel war ein früh eingeübtes Mittel zur Erzeugung von Aufmerksamkeit, mehr noch, ein ehernes Erzählprinzip Vonneguts. Daraus resultiert ein Teil der bitteren Komik seiner Romane, nicht zuletzt von Die Sirenen des Titan. Im Original veröffentlicht Kurt Vonnegut diesen Roman 1959; es ist insbesondere in den Kapiteln über die Invasionsarmee auf dem Mars sein erster Versuch, über seine traumatisierenden Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg zu schreiben.

Für Vonnegut sind Die Sirenen Titan ein Durchbruch zu der Schreibweise, die sein gesamtes folgendes Werk charakterisiert: auf zahlreichen ineinandergreifenden Erzählebenen wird eine Geschichte berichtet, deren kosmologische Dimensionen alles irdische Geschehen relativieren. Es geht um den reichsten Menschen der Welt – die Ähnlichkeiten zwischen Malachi Constant und Elon Musk werden heutige Leserinnen und Leser verblüffen –, um einen weltraumfahrenden Ostküsten-Gentleman, dessen in einem Kokon von Vorrechten und Vorurteilen gefangene Ehefrau, dessen Hund, einen Krieg zwischen zwei Welten und nicht zuletzt um einen Außerirdischen namens Salo, der in grauer Vorzeit von seinem Heimatplaneten Tralfamadore den Auftrag erhält, eine wichtige Botschaft an den Rand des Universums zu befördern. Ich wäre ein Schuft, wenn ich Ihnen über die irrwitzigen Kapriolen der Handlung des vor Ihnen liegenden Romans mehr verriete. Aber es lohnt vielleicht zu fragen, wozu Kurt Vonnegut das Alien Salo und dessen Heimatplaneten Tralfamadore braucht. Tralfamadore liefert Vonnegut den Blick von außen, eine Perspektive, die es ihm erlaubt, jedweden Glauben an eine Zielgerichtetheit der menschlichen Geschichte ad absurdum führen zu können. Es ist das gleiche erzählerische Verfahren, das der große Misanthrop Jonathan Swift in Gullivers Reisen benutzt. Diese phantastischen Elemente sind bei Vonnegut jedoch nie Selbstzweck; so utopisch oder bizarr der Handlungsrahmen anmutet, seine Geschichten sind fest im Hier und Jetzt verankert, Referenzebene ist stets die Lebenswirklichkeit von heute. Es waren in erster Linie kommerzielle und weniger ästhetische Bedenken, die Vonnegut Einspruch erheben ließen, wenn man ihn als Science-Fiction-Autor bezeichnete. Nur weil er Technik zur Kenntnis nehme, so Vonnegut in einem Essay von 1965, werde er in das Schubfach »Science-Fiction« gesteckt, und da fühle er sich eben unwohl, zumal es für manche seriöse Literaturkritiker als Pissbecken herhalten müsse.

Lohnender als die Erörterung, welchen Platz Vonnegut im Kosmos der Science-Fiction einnimmt, ist die Frage, welches die prägenden biografischen Erfahrungen sind, die er in seiner Literatur verarbeitet. Bis Ende der 50er Jahre stehen in Vonneguts Erwerbsbiografie drei kurze Zwischenspiele als Saab-Autohändler, Englischlehrer und Werbetexter. Doch die neben dem Feuersturm von Dresden prägendste Erfahrung für den Schriftsteller erwartet ihn am 15. September 1958, als sein Schwager Jim Adams bei einem Zugunglück in der Newark Bay ertrinkt und seine Schwester keine vierundzwanzig Stunden später im Krankenhaus an Brustkrebs stirbt. Das Ehepaar Adams hinterlässt vier Söhne im Alter zwischen zwei und vierzehn Jahren, die Jane und Kurt Vonnegut bei sich aufnehmen – wodurch sich die Zahl der Kinder im Haushalt der Vonneguts von einem Tag auf den anderen auf sieben erhöht. Die Verarmung seiner Familie, der Selbstmord seiner Mutter, der Feuersturm von Dresden, die Absurdität des Todes seiner Schwester und seines Schwagers – das sind die Schlüsselerlebnisse, die Vonneguts Weltanschauung prägen. Fast scheint es, als hätte Vonnegut die folgenden Jahrzehnte damit verbracht, auf der Suche nach der richtigen Kombination die Mosaiksteine seiner bisherigen Lebenserfahrung in seinen Romanen immer wieder umzuordnen und neu zu gruppieren. Fest steht, erst jetzt macht er mit der künstlerischen Umsetzung dieser Erlebnisse zum ersten Mal Ernst und beginnt, alle Vorstellungen von Kohärenz, Linearität und Teleologie zu hinterfragen, auf die die Mehrzahl seiner Zeitgenossen angewiesen sind, um sich einen Sinn in ihrem Leben vorzugaukeln.

Im Herbst 1944 war der damals zweiundzwanzigjährige Kurt Vonnegut von der Army als Gefreiter im 423. Regiment der 106. Infanteriedivision nach Übersee geschickt worden. Soldat Vonnegut erlebt in der Schnee-Eifel die größte Niederlage der amerikanischen Armee im Zweiten Weltkrieg. Die Ardennenoffensive am 16. Dezember 1944 reibt Vonneguts Einheit binnen weniger Tagen restlos auf. Hinter den deutschen Linien gerät er am 19. Dezember in Kriegsgefangenschaft. Mitte Januar wählt man Vonnegut für ein Arbeitskommando aus und schickt ihn nach Dresden, wo er zunächst Trümmergrundstücke und Schutt von den Straßen räumen muss, bis man ihn mit einigen anderen Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit in einer Fabrik heranzieht, die Malzsirup für schwangere Frauen herstellt. Vonnegut wird wegen seiner Deutschkenntnisse – er hat einiges in der Familie aufgeschnappt und auf Drängen seines Bruders Bernard gegen seinen Willen zwei Jahre Deutsch als Fremdsprache auf der Highschool belegen müssen – als Dolmetscher ausgewählt.

Dresden ist die erste europäische Großstadt, die Vonnegut zu Gesicht bekommt. Den Architektensohn beeindrucken die prächtigen Bauten und Parks ebenso wie die für einen Jungen aus Indianapolis schier unfassbare Geschichtsträchtigkeit der Musik-, Literatur- und Kunstmetropole. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 fliegen britische, kanadische und amerikanische Bomberverbände einen militärisch sinnlosen Angriff auf das mit Flüchtlingen überfüllte Dresden. Zwischen an Haken reifenden Rinderhälften im Schlachthof 5 überlebt Vonnegut das Inferno; der Name des Behelfsquartiers, in dem das aus amerikanischen Kriegsgefangenen gebildete Arbeitskommando 557 untergebracht ist, wird 25 Jahre später zum Titel von Kurt Vonneguts berühmtesten Roman: Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug.

Am Ende des Flächenbombardements steht eine unvorstellbare Zahl von Opfern – die Schätzungen reichen von mindestens 60 000 bis zu über 135 000 Toten. Fast fünfzig Jahre danach frage ich Vonnegut, wie ihn die Erfahrung des Dresdner Feuersturms verändert hat. »Damals war ich ungefähr zwanzig Jahre alt, und für mich war das bloß ein Abenteuer. Meine politische Einstellung wurde dadurch nicht verändert, und da ich von amerikanischen Freidenkern abstamme, die Atheisten waren, verlor ich auch nicht meinen Glauben an Gott. Ich hatte keinen Glauben, den ich verlieren konnte. Für mich war Dresden also ein großes Abenteuer, und nicht nur das – auch ein gewinnträchtiges Abenteuer. Nur ein Mensch auf dieser Erde hat von dem Bombenangriff auf Dresden profitiert. Kein einziger wurde auch nur eine Mikrosekunde früher aus einem Konzentrationslager entlassen, kein einziger deutscher Soldat wich von seiner Stellung zurück und verkürzte dadurch den Krieg. Nur ein Mensch hat daraus Vorteil gezogen, und dieser Mensch bin ich, ein amerikanischer Gefreiter, der dabei war. Ich habe fünf Dollar an jedem Toten verdient, indem ich ein Buch darüber geschrieben habe. Außerdem darf ich in diesem Land sagen, was ich will, richtig unverschämte Sachen über die Regierung, den Kapitalismus oder sonstwas – und das alles nur, weil man glaubt, ich hätte gelitten, als ich den Dresdner Feuersturm überlebt habe. Dabei war das für mich nur ungeheuer interessant. Und natürlich auch tragisch, natürlich auch schrecklich. Die Kriegsgefangenen mussten ins Zentrum der Stadt, man teilte uns dazu ein, die Leichen aus den Kellern zu holen. Auf diese Weise habe ich verdammt viele Leichen zu Gesicht bekommen. Später habe ich Fotos und Wochenschauen von den Wachmannschaften der Konzentrationslager gesehen, die ich für den Abschaum der Menschheit halte, wirklich furchtbare Menschen – die SS. Nach der Befreiung der Lager durch die Amerikaner, Briten oder Franzosen wurden diese Leute gezwungen, Leichen in Kalkgruben zu tragen. In alten Wochenschauen ist zu sehen, wie die SS-Leute das machen, während die Bevölkerung zusieht. Na ja, das habe ich auch gemacht.«

Vonnegut lachte schallend, als er mir dies erzählte. Dieses allzu laute Lachen war wohl die einzige ihm mögliche Reaktion auf das, was er in Dresden erlebt hat: das größte Massaker, das in Europa während des Zweiten Weltkriegs an der Zivilbevölkerung verübt wurde. Ich höre dieses Lachen auch aus der Prosa des Romans Die Sirenen des Titan in der wortmächtigen Übersetzung Harry Rowohlts. Kurt Vonnegut und Harry Rowohlt mögen tot sein. Ihr Lachen lebt.

DIE SIRENEN DES TITAN

Für Alex Vonnegut, Agent mit Sonderauftrag, in Liebe

Alle Personen, Orte und Ereignisse in diesem Buch sind real. Bestimmte Reden und Gedanken sind notwendigerweise Erfindungen des Autors. Namen wurden nicht verändert, um die Unschuldigen zu schützen, da es zur himmlischen Routine gehört, dass Gott, der Allmächtige, die Unschuldigen beschützt.

»Jede Stunde, die verstreicht, bringt das Sonnensystem dem Globularhaufen M13 im Sternbild Herkules neunundsechzigtausend Kilometer näher – und trotzdem gibt es immer noch ein paar komische Vögel, die behaupten, so etwas wie Fortschritt gebe es nicht.«

Ransom K. Fern

1

ZWISCHEN TIMBUKTU UND TIMIDE

»Ich glaube, da oben mag mich jemand.«

MALACHICONSTANT

Heutzutage weiß jeder, wie man den Sinn des Lebens in sich selbst findet.

Aber dieses Glück war der Menschheit nicht immer beschieden. Vor weniger als einem Jahrhundert hatten Männer und Frauen keinen so leichten Zugang zu den Rätselkästen in ihrem Innern.

Sie konnten nicht einmal eine der dreiundfünfzig Pforten zur Seele nennen.

Tand-und-Flitter-Religionen waren zu einem Industriezweig geworden.

Die Menschheit, die die Wahrheiten nicht kannte, die in jedem Menschenwesen liegen, blickte nach draußen – strebte immer weiter hinaus. Die Menschheit hoffte bei ihrem Drang nach draußen zu erfahren, wer bei allem, was mit der Schöpfung zu tun hat, das Sagen hat und was die Schöpfung überhaupt bedeutet.

Die Menschheit schleuderte ihre Agenten und Kundschafter immer und immer weiter hinaus. Schließlich katapultierte die Menschheit sie in den Weltraum, ins farblose, geschmacklose, gewichtlose Meer des endlosen Draußen.

Sie schleuderte sie wie Steine.

Diese unseligen Agenten fanden das vor, was bereits auf der Erde im Überfluss anzutreffen war: einen Albtraum endloser Belanglosigkeit. Die drei Schätze, die man im Weltraum, im unendlichen Draußen, heben konnte, waren: Heldengesänge ohne Inhalt, Komödien der niedrigsten Art und sinnlose Tode.

Endlich verlor dann das Draußen seine imaginären Reize.

Nur noch das Innere blieb zu entdecken.

Nur die menschliche Seele blieb terra incognita.

Das war der Anfang von Güte und Weisheit.

Wie waren die Menschen damals, in grauer Vorzeit, beschaffen, mit ihren noch unerforschten Seelen?

Folgendes ist eine wahre Geschichte, die sich im Zeitalter der Albträume zugetragen hat, und zwar etwa, mit ein paar Jahren Toleranz nach vorn oder hinten, zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Dritten Großen Depression.

Eine Menschenmenge hatte sich versammelt.

Sie hatte sich versammelt, weil eine Materialisierung stattfinden sollte. Ein Mann und sein Hund wurden erwartet. Sie sollten sich materialisieren, aus dem Nichts heraus erscheinen – wie Rauchfahnen zunächst, um dann, endlich, so materiell zu werden wie nur je ein lebendiger Mann mit einem lebendigen Hund.

Die Menschenmenge würde die Materialisierung nicht zu sehen bekommen. Die Materialisierung war eine rein private Angelegenheit und fand auf einem Privatgrundstück statt, und die Menschenmenge war ausdrücklich nicht zu diesem Augenschmaus geladen worden.

Die Materialisierung sollte, wie eine moderne, zivilisierte Hinrichtung, innerhalb hoher, nackter, bewachter Mauern stattfinden. Und die Menschenmenge, die sich außerhalb dieser Mauern zusammengefunden hatte, glich den Menschenmengen, die sich vor Mauern versammeln, hinter denen jemand erhängt wird, aufs Haar.

Die Menge wusste, dass es nichts zu sehen gab, aber ihre Mitglieder zogen Genuss aus dem Umstand, dass sie in der Nähe waren, dass sie die blanken Mauern anstarren konnten, dass sie sich vorstellen konnten, was drinnen geschah. Das Geheimnisvolle an der Materialisierung wurde, wie das Geheimnisvolle bei einer Hinrichtung, durch die Mauern noch geheimnisvoller; durch die Glasrahmen einer laterna magica aus krankhaften Fantasien wurde sie zur Pornografie – von der Menschenmenge auf die blanken Steinmauern projiziert.

Die Stadt war Newport, Rhode Island, USA, Erde, Sonnensystem, Milchstraße. Bei den Mauern handelte es sich um die Mauern des Landsitzes der Rumfoords.

Zehn Minuten vor der Materialisierung verbreiteten Vertreter der Polizei das Gerücht, die Materialisierung habe früher als gedacht stattgefunden, sei außerhalb der Mauern geschehen, und Herr und Hund könnten zwei Straßen weiter besichtigt werden. Die Menschenmenge galoppierte davon, um das Wunder an der Kreuzung zu betrachten.

Die Menge war ganz verrückt nach Wundern.

Am hinteren Ende der Menschenmenge befand sich eine Frau, die dreihundert Pfund wog. Sie hatte einen Kropf, einen Liebesapfel und ein blasses, sechs Jahre altes kleines Mädchen. Sie hatte das Mädchen an der Hand und zerrte es mal hier-, mal dorthin, wie einen Ball am Gummiband. »Wanda June«, sagte sie, »wenn du dich nicht anständig benimmst, nehme ich dich nie wieder auf eine Materialisierung mit.«

Die Materialisierungen geschahen nun schon seit neun Jahren, alle neunundfünfzig Tage eine. Die gelehrtesten und vertrauenswürdigsten Männer der Welt hatten gebrochenen Herzens um das Privileg gebettelt, eine Materialisierung sehen zu dürfen. Sie konnten ihren Wunsch in noch so schöne Worte kleiden: Man beschied sie kühl und abschlägig. Der abschlägige Bescheid war immer der gleiche, von Mrs. Rumfoords Privatsekretär handgeschrieben.

Mrs. Winston Niles Rumfoord hat mich beauftragt, Ihnen mitzuteilen, dass es ihr unmöglich ist, die von Ihnen erbetene Einladung auszusprechen. Sie rechnet dabei auf Ihr Verständnis: Dass das Phänomen, das Sie zu betrachten wünschen, eine tragische Familienangelegenheit ist, kaum dazu geeignet, den prüfenden Blicken Außenstehender unterzogen zu werden, sei ihre Neugier so nobel motiviert, wie sie wolle.

Mrs. Rumfoord und ihr Stab beantworteten keine der Zehntausende von Fragen, die man ihnen im Zusammenhang mit den Materialisierungen stellte. Mrs. Rumfoord hatte das Gefühl, dass sie der Welt nur wenig schuldig blieb, wenn sie ihr Informationen vorenthielt. Sie entledigte sich dieser unberechenbar winzigen Pflicht, indem sie jeweils alle vierundzwanzig Stunden nach jeder Materialisierung einen kleinen Bericht veröffentlichte. Ihr Bericht war nie mehr als hundert Worte lang. Er wurde von ihrem Butler in einem Schaukasten ausgehängt, welcher an der Mauer des Landsitzes neben dem einzigen Eingang befestigt war.

Der einzige Zutritt zum Landsitz war eine Alice-im-Wunderland-Tür in der Westmauer. Die Tür hatte eine Höhe von hundertfünfunddreißig Zentimetern. Sie war aus Eisen und durch ein schweres, solides Vorhängeschloss der Firma Yale gesichert.

Die großen Portale des Landsitzes waren zugemauert.

Die Berichte im Schaukasten waren durchweg karg und verdrießlich abgefasst. Die Information, die sie zum Inhalt hatten, konnte nur dazu angetan sein, jeden, der einen Funken Neugier besaß, traurig zu stimmen. Sie gaben den genauen Zeitpunkt an, zu dem Mrs. Rumfoords Gatte Winston und sein Hund Kazak sich materialisierten, sowie den genauen Zeitpunkt, zu dem sie sich dematerialisierten. Der Gesundheitszustand von Mann und Hund wurde ausnahmslos als »gut« bezeichnet. Die Berichte gaben zu verstehen, dass Mrs. Rumfoords Gatte Vergangenheit und Zukunft deutlich sehen konnte, jedoch gaben sie keinerlei Beispiele dafür an, dass je ein Blick in die eine wie die andere Richtung stattgefunden hatte.

Nun war die Menge vom Landsitz fortgelockt worden, damit eine Mietlimousine unbehelligt vor der kleinen Eisentür in der Westmauer vorfahren konnte. Ein schlanker Mann in der Kleidung eines edwardianischen Stutzers entstieg dem Wagenfond und zeigte dem Polizisten, der die Tür bewachte, ein Stück Papier. Er hatte sich mit einer dunklen Brille und einem falschen Bart verkleidet.

Der Polizist nickte, und der Mann schloss die Tür mit einem Schlüssel auf, den er aus seiner Tasche gezogen hatte. Geduckt schlüpfte er hinein und warf die Tür laut hinter sich zu.

Die Limousine glitt davon.

Vorsicht, bissiger Hund!, warnte ein Schild über der kleinen Eisentür. Die Feuer des sommerlichen Sonnenuntergangs flackerten in den scharfen Klingen und spitzen Nadeln der Glasscherben, die, in Zement eingelassen, den Mauerrand säumten.

Der Mann, der sich soeben Zutritt verschafft hatte, war der erste Mensch, der je von Mrs. Rumfoord zu einer Materialisierung eingeladen worden war. Er war kein großer Wissenschaftler. Er war noch nicht einmal sehr gebildet. Er war nach dem ersten Semester von der Universität von Virginia geflogen. Er war Malachi Constant aus Hollywood, Kalifornien, der reichste Amerikaner – und ein berüchtigter Schwerenöter.

Vorsicht, bissiger Hund!, hatte auf dem Schild draußen über der kleinen Eisentür gestanden. Aber innerhalb der Mauer gab es nur das Skelett eines Hundes. Es trug ein grausam aussehendes Stachelhalsband, das an die Mauer gekettet war. Es war das Skelett eines sehr großen Hundes – eines Mastiff. Seine langen Zähne waren gefletscht. Sein Schädel formte zusammen mit dem Unterkiefer ein arglistig gebautes, unschuldig funktionierendes Modell einer Maschine zum Zerfetzen von Fleisch. Seine Kiefer schlossen sich so: Klack. Hier waren die glänzenden Augen gewesen, dort die feinen Ohren, dort die argwöhnischen Nüstern, dort das Gehirn des Fleischfressers. Seine Muskeln waren hier und hier befestigt gewesen, hatten die Zähne zusammengebracht, sodass sie sich in Fleisch gruben: Klack.

Das Skelett war symbolisch – ein Requisit, über das man sich unterhalten kann, von einer Frau aufgestellt, die sich fast nie mit jemandem unterhielt. Kein Hund war hier auf seinem Posten an der Mauer gestorben. Mrs. Rumfoord hatte die Knochen bei einem Tierarzt gekauft, hatte sie bleichen, polieren und mit Drähten zusammenbauen lassen. Das Skelett war einer von Mrs. Rumfoords vielen bitteren und dunklen Kommentaren zu den schlimmen Streichen, die ihr die Zeit und ihr Gatte gespielt hatten.

Mrs. Winston Niles Rumfoord hatte siebzehn Millionen Dollar. Mrs. Winston Niles Rumfoord hatte die höchste gesellschaftliche Stellung inne, die man in den Vereinigten Staaten von Amerika erreichen konnte. Mrs. Winston Niles Rumfoord war gesund und hübsch und noch dazu begabt.

Ihre Begabung lag auf dem Gebiet der Dichtkunst. Sie hatte anonym ein schmales Bändchen mit Gedichten veröffentlicht. Es hieß Zwischen Timbuktu und timide. Es war mit einigem Beifall aufgenommen worden.

Der Titel beruhte auf dem Umstand, dass sich alle Wörter zwischen Timbuktu und timide in sehr kleinen Lexika auf time, die Zeit, beziehen.

Doch obwohl Mrs. Rumfoord mit weltlichen Glücksgütern gesegnet war – sie tat trotzdem verstörte Dinge, kettete ein Hundeskelett an eine Mauer, ließ die großen Tore ihres Landsitzes zumauern, ließ die berühmten prunkvollen Gärten zu Neu-England-Dschungel verkommen.

Die Moral: Geld, Status, Gesundheit, Schönheit und Talent sind nicht alles.

Malachi Constant, der reichste Amerikaner, schloss die Alice-im-Wunderland-Tür hinter sich zu. Er hängte seine dunkle Brille und seinen falschen Bart an den Efeu an der Mauer. Er ging munter am Skelett des Hundes vorüber, wobei er auf seine solarbetriebene Uhr blickte. In sieben Minuten würde sich ein lebendiger Mastiff namens Kazak materialisieren und über das Gelände streifen.

»Kazak beißt«, hatte Mrs. Rumfoord in ihrer Einladung geschrieben, »seien Sie also bitte pünktlich.«

Darüber lächelte Constant – über die Ermahnung, pünktlich zu sein. Pünktlich sein hieß als Punkt existieren, hieß dies genauso wie es hieß, dass man irgendwo rechtzeitig eintraf. Constant existierte als Punkt; er konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn man in irgendeiner anderen Art und Weise existierte.

Das war etwas, das er noch herausfinden sollte: Wie es war, wenn man in anderer Art und Weise existierte. Mrs. Rumfoords Gatte existierte auf ganz andere Art und Weise.

Winston Niles Rumfoord war mit seinem privaten Raumschiff genau ins Herz eines auf keiner Karte verzeichneten chrono-synklastischen Infundibulums zwei Tagesreisen vom Mars entfernt geraten. Nur sein Hund hatte ihn dabei begleitet. Jetzt existierten Winston Miles Rumfoord und sein Hund Kazak als Wellen-Phänomene, offensichtlich pulsierten sie in einer verzerrten Spirale, deren Ursprung in der Sonne lag und die auf dem Beteigeuze endete.

Die Erde war im Begriff, diese Spirale zu kreuzen.

Fast jede kurzgefasste Erklärung der chrono-synklastischen Infundibula wird bei der Fachwelt auf Ablehnung stoßen. Sei dem nun, wie ihm wolle, die beste kurzgefasste Erklärung stammt wahrscheinlich von Dr. Cyril Hall, und sie steht in der vierzehnten Auflage des Buches Konversationslexikon für Kinder. Von Wundern und Sachen zum Selbermachen. Der Artikel wird hier mit freundlicher Genehmigung des Verlages in voller Länge wiedergegeben:

CHRONO-SYNKLASTISCHEINFUNDIBULA – Stell Dir vor, dass Dein Vati der klügste Mann ist, der jemals auf Erden gelebt hat, und dass er alles weiß, was man überhaupt nur wissen kann, und er hat mit allem immer recht und er kann auch beweisen, warum er immer recht hat. Und nun stell Dir ein anderes Kind auf einer schönen Welt vor, die Millionen Lichtjahre entfernt ist, und das Kind hat einen Vati, der der klügste Mann auf dieser schönen Welt ist, die so weit weg ist. Und er ist genauso klug wie Dein Vati, und er hat immer recht, genau wie Dein Vati. Beide Vatis sind klug, und beide Vatis haben immer recht.

Doch wenn sie sich jemals träfen, würden sie schrecklichen Streit miteinander bekommen, weil sie niemals derselben Meinung wären. Nun kannst du natürlich sagen, dass Dein Vati recht hat und der Vati von dem anderen Kind unrecht, aber das Universum ist schrecklich groß. Und im Universum ist genug Platz für schrecklich viele Leute, die immer recht haben und doch nicht einer Meinung sind.

Der Grund dafür, dass beide Vatis recht haben können und trotzdem furchtbaren Streit miteinander bekommen, ist der, dass es so viele verschiedene Arten gibt, wie man recht haben kann. Es gibt allerdings Stellen im Universum, wo jeder Vati einigermaßen verstehen könnte, wovon der andere Vati überhaupt spricht. An diesen Stellen passen alle verschiedenen Wahrheiten so hübsch zueinander wie die Einzelteile der Solaruhr Deines Vatis. Wir nennen diese Stellen chrono-synklastische Infundibula.

Das Sonnensystem scheint voller chrono-synklastischer Infundibula zu sein. Es gibt ein ganz großes, von dem wir wissen, dass es sich am liebsten zwischen Erde und Mars aufhält. Von diesem Infundibulum wissen wir, weil ein Erdenmensch und sein Erdenhund einen Zusammenstoß damit hatten.

Du denkst vielleicht, es müsste Spaß machen, zu einem chrono-synklastischen Infundibulum zu fliegen und all die verschiedenen Arten zu sehen, wie man recht haben kann, aber das ist leider sehr gefährlich. Der arme Mann und sein armer Hund sind jetzt überallhin zerstreut, nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit.

Chrono (Kroh-no) heißt Zeit. Synklastisch (Sün-klass-tisch) heißt nach jeder Richtung zur selben Seite gekrümmt, wie die Schale einer Apfelsine. Infundibulum (In-fun-di-bu-lum) ist das, was die alten Römer wie Julius Cäsar und Nero einen Trichter nannten. Wenn Du nicht weißt, was ein Trichter ist, lass Dir von Deiner Mutti einen zeigen.

Der Schlüssel zur Alice-im-Wunderland-Tür hatte der Einladung beigelegen. Malachi Constant ließ den Schlüssel in seine pelzbesetzte Hosentasche gleiten und folgte dem einzigen Pfad, der sich vor ihm auftat. Er schritt in tiefstem Schatten dahin, aber die flachen Strahlen des Sonnenuntergangs erfüllten die Baumwipfel mit einem Licht wie auf den Gemälden von Maxfield Parrish.

Im Weitergehen spielte Constant mit seiner Einladung herum, da er an jeder Wegbiegung mit einem Wachtposten rechnete. Die Tinte auf der Einladung war lila. Mrs. Rumfoord war erst vierunddreißig, aber sie schrieb wie eine alte Frau, in einer verschlungenen, widerspenstigen Handschrift. Offensichtlich verabscheute sie Constant, den sie noch nie gesehen hatte. Die Einladung strahlte, milde ausgedrückt, einen gewissen Widerwillen aus, als sei sie auf ein benutztes Taschentuch geschrieben worden.

»Während der letzten Materialisierung meines Gatten«, hatte sie in der Einladung geschrieben, »bestand er darauf, dass Sie bei der nächsten anwesend sind. Es gelang mir nicht, ihn davon abzubringen, trotz der vielen offenkundigen Nachteile. Er besteht darauf, Sie gut zu kennen, da er Sie auf dem Titan getroffen habe, welcher, wie man mir zu verstehen gab, ein Mond des Planeten Saturn ist.«

Es gab kaum einen Satz in der Einladung, in dem nicht das Verb »bestehen (auf)« vorkam. Mrs. Rumfoords Gatte hatte darauf bestanden, dass sie etwas tue, was sich ganz und gar nicht mit ihrem eigenen Urteil in Einklang bringen ließ, und sie bestand nun ihrerseits darauf, dass Malachi Constant sich, so gut er eben könne, ganz und gar als der Gentleman betrage, der er nicht war.

Malachi Constant war noch nie auf dem Titan gewesen. Er war, soweit er wusste, noch nie außerhalb der Gashülle seines Heimatplaneten, der Erde, gewesen. Offenbar sollte er jetzt eines anderen belehrt werden.

Der Weg war verschlungen und die Sicht schlecht. Constant folgte einem feuchten grünen Pfad von der Breite eines Rasenmähers, und in der Tat war der Pfad die Spur, die ein Rasenmäher hinterlassen hatte. Zu beiden Seiten des Pfads erhoben sich die grünen Mauern des Dschungels, zu dem der Garten geworden war.

Die Fährte des Rasenmähers führte um einen trockenen Springbrunnen herum. Der Mensch, der den Rasenmäher bediente, war an dieser Stelle kreativ geworden und hatte eine Weggabelung gemäht. Constant konnte sich aussuchen, auf welcher Seite er lieber am Brunnen vorbeigehen wollte. Constant blieb stehen und blickte hinauf. Der Brunnen selbst war überaus fantasievoll. Viele Steinschalen mit abnehmendem Durchmesser formten einen Konus. Die Schalen waren wie Krägen um eine dreizehn Meter hohe zylindrische Achse angeordnet.

Einer Eingebung folgend, wählte Constant keinen der beiden Pfade, sondern kletterte auf den Brunnen. Er erklomm Schale für Schale, um, oben angelangt, sehen zu können, woher er gekommen war und wohin er zu gehen hatte.

Nun stand er ganz oben, in der kleinsten Schale des Barockbrunnens, in den Ruinen von Vogelnestern. Malachi Constant ließ den Blick über den Landsitz und über einen Teil von Newport und die Narragansett Bay schweifen. Er hielt seine Armbanduhr ins Sonnenlicht, ließ sie das Elixier in sich hineintrinken, das für Solaruhren so grundlegend war wie Geld für den Erdenmenschen.

Die erfrischende Meeresbrise zauste Constants blauschwarzes Haar. Er war ein wohlgebauter Mann – ein leichtes Schwergewicht mit sonnengebräunter Haut, mit den Lippen eines Poeten, mit sanften braunen Augen in den schattigen Höhlen eines Cro-Magnon-Stirnwulstes. Er war einunddreißig.

Er war drei Milliarden Dollar wert, davon war vieles ererbt.

Sein Name bedeutete »standhafter Bote«.

Er war Spekulant, vorwiegend in Wertpapieren.

Während der Depressionen, die bei ihm stets auf die Einnahme von Alkohol, Drogen und Frauen folgten, sehnte sich Constant nur nach einem: nach einer einzigen Botschaft, die genügend Würde und Gewicht besäße, dass sie es verdiente, von ihm demütig von einem Punkt zum anderen befördert zu werden.

Das Motto unter dem Wappen, das Constant für sich entworfen hatte, besagte schlicht: »Der Bote wartet«.

Was Constant dabei vermutlich vorschwebte, war eine erstklassige Botschaft von Gott an jemanden von vergleichbarer Vornehmheit.

Wieder sah Constant auf seine Solaruhr. Ihm blieben zwei Minuten, um hinunterzuklettern und das Haus zu erreichen – zwei Minuten, bevor Kazak sich materialisierte und nach Fremden suchte, die er beißen konnte. Constant lachte in sich hinein, als er sich vorstellte, wie entzückt Mrs. Rumfoord wäre, wenn der vulgäre Parvenü Mr. Constant aus Hollywood während seines gesamten Besuchs wie eine gescheuchte Katze auf dem Brunnen ausharren müsste, von einem Rassehund bedroht. Mrs. Rumfoord ließe vielleicht sogar den Brunnen anstellen.

Es war möglich, dass sie Constant beobachtete. Vom Brunnen bis zum Herrenhaus war es eine Minute zu Fuß, und der in den Dschungel gemähte Fußweg war dreimal so breit wie der Pfad.

Das Herrenhaus der Rumfoords war aus Marmor, eine vergrößerte Reproduktion der Banketthalle im Whitehall-Palast zu London. Das Herrenhaus war, wie die meisten wirklich großen Herrenhäuser in Newport, in der Seitenlinie mit Postämtern und Bundesgerichtshofsgebäuden im ganzen Land verwandt.

Das Herrenhaus der Rumfoords war ein auf vergnügliche Weise eindrucksvoller Ausdruck des Konzepts: Man ist ja schließlich nicht irgendwer. Es war sicher einer der großartigsten Versuche zum Thema Dauerhaftigkeit seit der Großen Pyramide von Khufu. In gewisser Weise war es sogar ein besserer Versuch zum Thema Unvergänglichkeit als die Große Pyramide, denn die Große Pyramide verjüngte sich ins Nichts, während sie dem Himmel zustrebte. Beim Herrenhaus der Rumfoords dagegen wurde nichts kleiner, wenn es sich dem Himmel näherte. Es hätte, auf den Kopf gestellt, genauso ausgesehen.

Die Dauerhaftigkeit und Unvergänglichkeit des Herrenhauses standen natürlich in ironischem Kontrast zu der Tatsache, dass der einstmalige Herr des Hauses, außer für eine Stunde alle neunundfünfzig Tage, nicht mehr Substanz hatte als ein Mondstrahl.

Constant kletterte den Brunnen hinunter, indem er auf die Ränder von Schalen stetig zunehmender Größe trat. Als er den Erdboden erreichte, war er von dem heftigen Wunsch erfüllt, den Brunnen einmal in Betrieb zu sehen. Er dachte an die Menge dort draußen, dachte, dass auch sie ihre Freude an dem in Betrieb genommenen Springbrunnen haben würde. Die Menschenmenge wäre gefesselt – zu sehen, wie die klitzekleine Schale an der niedelnadelscharfen Spitze in die nächste winzige Schale überlief … und die winzige Schale in die nächste kleine Schale … und die nächste kleine Schale in die nächste Schale … und so weiter und weiter und noch weiter, eine Rhapsodie des Übersprudelns, und jede Schale sang ihr eigenes frohes Wasserlied. Und unter all diesen Schalen war das Höllenmaul bereits geöffnet, ein wahrer Urian von Brunnenbecken, knochentrocken und von einem Durst beseelt, der nicht zu löschen war … und der wartete, wartete und wartete, wartete auf den ersten süßen Tropfen.

Die Vorstellung, dass der Springbrunnen floss, faszinierte Constant. Der Springbrunnen ähnelte stark einer Halluzination; und Halluzinationen, für gewöhnlich durch Drogen bedingt, waren alles, was Constant noch erstaunen und unterhalten konnte.

Die Zeit verging schnell. Constant bewegte sich nicht.

Irgendwo auf dem Gelände bellte ein Mastiff. Das Bellen klang wie die Schläge eines Schlegels auf einem großen Bronze-Gong.

Constant erwachte aus der Kontemplation, in die er angesichts des Springbrunnens versunken war. Das Bellen konnte nur das Gebell von Kazak, dem Weltraumhund, sein. Kazak war materialisiert. Kazak witterte das Blut eines Parvenü.

Constant bewältigte die Strecke, die noch zwischen ihm und dem Haus lag, im Sprint.

Ein uralter Butler, mit Kniehosen angetan, öffnete die Tür für Malachi Constant aus Hollywood. Der Butler weinte vor Freude. Er deutete auf ein Zimmer, das Constant nicht sehen konnte. Der Butler versuchte zu beschreiben, was ihn so glück- und tränenselig machte. Er konnte nicht sprechen. Sein Unterkiefer schien gelähmt, und alles, was er Constant sagen konnte, war: »Putt putt – putt putt putt.«

Der Fußboden des Foyers war ein Mosaik, und es zeigte die Zeichen des Tierkreises, die eine goldene Sonne umtänzelten.

Winston Niles Rumfoord, der sich eben erst, vor einer Minute, materialisiert hatte, kam ins Foyer und stand auf der Sonne. Er war viel größer und schwerer als Malachi Constant – und er war die erste Person, die Malachi Constant jemals daran erinnerte, dass es tatsächlich jemanden geben mochte, der ihm, Malachi Constant, überlegen sein könnte. Winston Niles Rumfoord streckte seine weiche Hand aus, begrüßte Constant wie ein alter Vertrauter einen alten Vertrauten, wobei er seinen Gruß fast sang, und zwar in einem zwischen den Stimmritzen vor lauter Knacklauten untergehenden Tenor, wie ihn der selige Groto noch beherrscht hatte.

»Freut und ehrt mich, freut und ehrt mich, freut und ehrt mich, Mr. Constant«, sagte Rumfoord. »Wie schön, dass Sie kommmmmmmmmen konnten.«

»Ganz meinerseits«, sagte Constant.

»Es heißt, Sie seien der glücklichste Mensch, der je gelebt hat.«

»Das hieße, es ein wenig übertreiben«, sagte Constant.

»Sie wollen aber doch nicht abstreiten, dass Sie zumindest in finanzieller Hinsicht ein fantastisches Glück gehabt haben?«, sagte Rumfoord.

Constant schüttelte den Kopf. »Nein. Das könnte man schwerlich abstreiten«, sagte er.

»Und worauf führen Sie dieses wunderbare Glück zurück?«, fragte Rumfoord.

Constant zuckte mit den Schultern. »Wer weiß?«, sagte er. »Ich glaube, da oben mag mich jemand.«

Rumfoord blickte zur Zimmerdecke empor. »Ein reizvoller Gedanke: Jemand da oben mag Sie.«

Constant, der während des ganzen Gesprächs Rumfoords Hand geschüttelt hatte, dachte plötzlich an seine eigene Hand, und sie kam ihm klein vor, wie eine Pfote.

Die Innenfläche von Rumfoords Hand war schwielig, aber nicht verhornt wie die Hand eines Mannes, der all sein Lebtag zu einem einzigen Handwerk verdammt war. Die Schwielen waren vollkommen glatt, durch die tausend frohen Mühen einer Klasse entstanden, die sich aktivem Müßiggang hingab.

Einen Augenblick lang vergaß Constant, dass der Mann, dessen Hand er schüttelte, einfach nur ein Aspekt, nur ein Schwingungsknoten des Wellenphänomens war, das sich den ganzen Weg von der Sonne bis zum Beteigeuze erstreckte. Der Händedruck erinnerte Constant an das, was er da eigentlich berührte, denn seine Hand kribbelte: Er hatte einen leichten, aber unmissverständlichen Stromstoß empfangen.

Constant hatte sich durch den Ton von Mrs. Rumfoords Einladung zur Materialisierung nicht einschüchtern lassen und fühlte sich nun ganz und gar nicht minderwertig. Constant war ein Mann, und Mrs. Rumfoord war eine Frau, und Constant stellte sich vor, er verfüge, sofern er die Gelegenheit dazu erhielt, durchaus über die Mittel, seine über jeden Zweifel erhabene Überlegenheit unter Beweis zu stellen.

Winston Niles Rumfoord dagegen war etwas ganz anderes – moralisch, räumlich, gesellschaftlich, sexuell und elektrisch. Lächeln und Händedruck von Winston Niles Rumfoord bauten die hohe Meinung, die Constant von sich hatte, so tüchtig und zupackend ab wie Schausteller, die ein Riesenrad zerlegen.

Constant, der Gott seine Botendienste angeboten hatte, geriet angesichts der sehr gemessenen Größe, die Rumfoord ausstrahlte, in Panik. Constant suchte in seinem Gedächtnis nach Beweisen eigener Größe in der Vergangenheit. Er durchstöberte es wie ein Dieb, der den Inhalt einer fremden Brieftasche überprüft. Constant fand ein Gedächtnis vor, das zum Bersten mit den zerknitterten, überentwickelten Schnappschüssen all der Frauen, die er gehabt hatte, vollgestopft war, mit lächerlichen Dokumenten, die ihn als Eigentümer noch lächerlicherer Unternehmen auswiesen, mit Zeugnissen, die ihm Tugenden und Stärken bescheinigten, die nur von drei Milliarden Dollar kommen konnten. Sogar eine Silbermedaille am roten Band gab es; sie war Constant dafür verliehen worden, dass er im Katzensprung Zweiter geworden war, und zwar bei einem internen Ausscheidungskampf an der Universität von Virginia.

Rumfoords Lächeln wollte und wollte nicht weichen.

Um im Bild mit dem Dieb zu bleiben, der eine fremde Brieftasche durchstöbert: Constant trennte die Säume seines Gedächtnisses auf – immer in der Hoffnung, ein Geheimfach mit etwas Wertvollem zu finden. Es gab kein Geheimfach, nichts von Wert. Alles, was Constant geblieben war, waren die Hüllen seines Gedächtnisses, nicht miteinander vernähte, schlaffe Fetzen.

Der steinalte Butler sah Rumfoord bewundernd an und wirkte dabei so kriecherisch und verzerrt wie eine hässliche alte Frau, die für ein Madonnenbildnis Modell steht. »Der HE-err«, blökte er. »Der junge Herr.«

»Ich kann Ihre Gedanken lesen, wissen Sie«, sagte Rumfoord.

»Wirklich?«, sagte Constant ergeben.

»Nichts wäre leichter«, sagte Rumfoord. Seine Augen funkelten. »Sie sind gar nicht mal so übel, wissen Sie«, sagte er, »besonders, wenn Sie vergessen, wer Sie sind.« Er berührte Constant leicht am Arm. Es war die Geste eines Politikers – eine vulgäre, öffentliche Geste seitens eines Mannes, der privat, unter seinesgleichen, vor Schmerz zurückgezuckt wäre, bevor er jemanden berührt hätte.

»Wenn es für Sie, in diesem Stadium unserer Bekanntschaft, wirklich so wichtig ist, sich mir gegenüber überlegen zu fühlen«, sagte er gönnerhaft zu Constant, »denken Sie einfach daran: Sie können sich fortpflanzen, ich kann das nicht.«

Nun kehrte er Constant seinen breiten Rücken zu und führte ihn durch eine Anzahl sehr großer Räume.

In einem blieb er stehen und drängte Constant, er möge ein großes Ölgemälde bewundern, welches ein kleines Mädchen zeigte, das die Zügel eines rundum weißen Ponys hielt. Das kleine Mädchen trug ein weißes Häubchen, ein weißes, gestärktes Kleidchen, weiße Handschühchen, weiße Söckchen und weiße Schühchen.

Sie war das sauberste, unterkühlteste kleine Mädchen, das Malachi Constant je gesehen hatte. Auf ihrem Gesicht lag ein seltsamer Ausdruck, und Constant entschied, dass sie ängstlich darum bemüht war, auch nicht im Mindesten schmutzig zu werden.

»Schönes Bild«, sagte Constant.

»Es wäre doch wirklich furchtbar, wenn sie in eine Pfütze fiele«, sagte Rumfoord.

Constant lächelte unsicher.

»Meine Frau als Kind«, sagte Rumfoord abrupt, ging voran und geleitete den Gast aus dem Raum.

Er ging durch einen rückwärtigen Flur und in ein winziges Zimmer, kaum größer als eine große Besenkammer. Es war drei Meter lang, zwei Meter breit, und die Zimmerdecke war, wie in den übrigen Räumen des Herrenhauses, sieben Meter hoch. Das Zimmer war wie ein Kamin. Darin standen zwei große Ohrensessel.

»Ein architektonischer Unfall …«, sagte Rumfoord, schloss die Tür und betrachtete die Zimmerdecke über sich.

»Verzeihung?«, sagte Constant.

»Dieses Zimmer«, sagte Rumfoord. Mit seiner schlaffen rechten Hand beschrieb er das magische Zeichen für Wendeltreppe. »Es war eins der wenigen Dinge im Leben, die ich mir als Junge wirklich von ganzem Herzen gewünscht habe: dieses kleine Zimmer.«

Er nickte Regalen zu, an der Fensterseite, zwei Meter hoch. Die Regale waren wunderbar gearbeitet. Über den Regalen war eine Planke aus Treibholz, auf die mit blauer Farbe geschrieben war: SKIPSMUSEUM.

Das Museum von Skip war ein Museum für sterbliche Überreste – für Endoskelette und Exoskelette, für Muschelschalen, Korallen, Knochen, Knorpel und Mollusken, der Klasse der Käferschnecken zugehörig –, Überreste und Residuen lang dahingegangener Seelen. Die allermeisten Exemplare waren von der Art, wie sie ein Kind – wahrscheinlich Skip – leicht an den Stränden und in den Wäldern von Newport finden konnte. Einige waren offensichtlich teure Geschenke, die man einem Kind mitbringt, das ein gesteigertes Interesse für Biologie an den Tag legt.

Inmitten dieser Geschenke dominierte das vollständige Skelett eines erwachsenen männlichen Menschen.

Außerdem gab es noch den leeren Panzer eines Gürteltiers, einen ausgestopften Dodo sowie das lange, spiralförmige Nasenhorn eines Narwals, von Skip launig auf einem Schildchen als »Horn eines Einhorns« bezeichnet.

»Wer ist Skip?«, fragte Constant.

»Ich bin Skip«, antwortete Rumfoord. »Ich war Skip.«

»Das wusste ich nicht«, sagte Constant.

»Natürlich nur in der Familie«, sagte Rumfoord.

»Mhm«, machte Constant.

Rumfoord ließ sich auf einem der Ohrensessel nieder und gab Constant zu verstehen, er möge auf dem anderen Platz nehmen.

»Engel können das auch nicht, wussten Sie das?«, sagte Rumfoord.

»Was können sie nicht?«, fragte Constant.

»Sich fortpflanzen«, sagte Rumfoord. Er bot Constant eine Zigarette an, nahm sich ebenfalls eine und stopfte sie in eine lange, beinerne Zigarettenspitze. »Es tut mir leid, dass meine Frau sich nicht in der Lage sah, herunterzukommen und Sie zu begrüßen«, sagte er. »Sie will nicht die Begegnung mit Ihnen vermeiden … Ich bin es, den sie schneidet.«

»Sie?«, sagte Constant.

»Richtig«, sagte Rumfoord. »Sie hat mich seit meiner ersten Materialisierung nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Er kicherte reuig. »Einmal war genug.«

»Tut … tut mir leid«, sagte Constant, »aber das verstehe ich nicht.«

»Sie mochte meine Wahrsagerei nicht«, sagte Rumfoord. »Das Wenige, was ich ihr über ihre Zukunft sagte, hat sie sehr aufgeregt. Mehr möchte sie jetzt nicht mehr hören.« Er lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück und atmete tief ein. »Ich sage Ihnen, Mr. Constant«, sagte er leutselig, »es ist ein undankbares Geschäft, wenn man den Leuten erzählt, dass sie in einem sehr, sehr harten Universum leben.«

»Sie schrieb, Sie hätten ihr aufgetragen, mich einzuladen«, sagte Constant.

»Der Butler hat ihr die Nachricht überbracht«, sagte Rumfoord. »Ich forderte sie förmlich dazu heraus, Sie einzuladen, sonst hätte sie es nicht getan. Sie sollten sich vielleicht Folgendes merken: Die einzige Methode, sie zu etwas zu bringen, ist, ihr zu sagen, dass sie nicht den Mut dazu hat. Natürlich ist das keine unfehlbare Technik. Ich könnte ihr jetzt eine Nachricht schicken, in der steht, dass sie nicht den Mut hat, der Zukunft ins Auge zu blicken, und sie würde mir eine Nachricht schicken, in der steht, dass ich recht habe.«

»Sie … Sie können wirklich in die Zukunft sehen?«, fragte Constant. Seine Gesichtshaut spannte sich, fühlte sich ausgedörrt an. Seine Handflächen schwitzten.

»Wenn man es pünkt-lich ausdrücken will, ja«, sagte Rumfoord. »Als ich mit meinem Raumschiff in das chrono-synklastische Infundibulum geriet, wurde mir schlagartig klar, dass alles, was je gewesen ist, immer sein wird, und dass alles, was je sein wird, immer gewesen ist.« Wieder schmunzelte er. »Wenn man das weiß, verliert das Wahrsagen seinen Glanz … Es wird dann das Einfachste, Offensichtlichste, was man sich vorstellen kann.«

»Sie haben Ihrer Frau alles gesagt, was ihr passieren wird?«, fragte Constant. Es war eine beiläufige Frage. Constant interessierte sich nicht dafür, was mit Rumfoords Frau geschehen würde. Er war auf Neuigkeiten erpicht, die ihn selbst betrafen. Es war Zurückhaltung, die ihn nach Rumfoords Frau fragen ließ.

»Nun … Nicht alles«, sagte Rumfoord. »Sie wollte nicht, dass ich ihr alles sage. Das Wenige, das ich ihr sagte, verdarb ihr den Appetit auf noch mehr.«

»Ich … Ich verstehe«, sagte Constant, der nichts verstand.

»Ja«, sagte Rumfoord heiter. »Ich sagte ihr, dass Sie sie auf dem Mars heiraten würden.« Er zuckte mit den Schultern. »Es wird keine richtige Ehe sein«, fuhr er fort. »Eher eine Körung durch die Marsmenschen … Wie bei Nutzvieh.«

Winston Niles Rumfoord war Mitglied der einzig echten amerikanischen Klasse. Echt war die Klasse, weil ihre Abgrenzungen seit mindestens zwei Jahrhunderten klar definiert waren, und zwar für jeden, der ein Auge für Definitionen hat. Aus Rumfoords kleiner Klasse stammte ein Zehntel der Präsidenten von Amerika, ein Viertel seiner Entdecker, ein Drittel seiner Gouverneure an der Ostküste, die Hälfte seiner hauptberuflichen Ornithologen, drei Viertel seiner großen Sportsegler sowie praktisch jeder Amerikaner, der jemals mit Geld gegen die Defizite der Großen Oper vorgegangen war. Das Eigentümliche an dieser Klasse war das Fehlen von Schwindlern, mit Ausnahme politischer Schwindler wohlgemerkt. Der politische Schwindel war ein Mittel, zu Amt und Würden zu gelangen, und wurde nie auf das Privatleben ausgedehnt. Hatten sie es einmal zu Amt und Würden gebracht, entwickelten die Mitglieder der einzig echten Klasse nahezu ausnahmslos ein ungeheures Verantwortungsbewusstsein.

Wenn Rumfoord die Marsmenschen beschuldigte, sie züchteten Menschen, so, als wären Menschen nicht besser als Nutzvieh, dann beschuldigte er sie eben dessen, was seine Klasse immer getan hatte. Die Stärke seiner Klasse beruhte in einem gewissen Ausmaß auf dem sicheren Umgang mit Geld – aber in weit größerem Umfang gründete sie sich auf Ehen, die zynisch im Hinblick auf Art und Weise der zu erwartenden Kinder geschlossen wurden.

Gesunde, charmante, kluge Kinder waren das Zuchtziel.

Die kompetenteste – wenn auch humorloseste – Analyse von Rumfoords Klasse ist zweifelsfrei Die amerikanischen Philosophenkönige von Waltham Kittredge. Kittredge bewies, dass die Klasse in Wahrheit eine Familie war, deren entfernte Zweige durch die Vermittlung von Heiraten unter Geschwisterkindern säuberlich zu einem Kern von Blutsverwandtschaft zurückgebunden wurden. Rumfoord und seine Gattin waren zum Beispiel Vettern dritten Grades, und sie verabscheuten einander herzlich.

Und das Diagramm, das Kittredge von Rumfoords Klasse angefertigt hatte, ähnelte nichts anderem so sehr wie dem harten, kugeligen Seemannsknoten, der unter dem Namen »Affenfaust« bekannt ist.

Waltham Kittredge leistete sich in Die amerikanischen Philosophenkönige einige arge Schnitzer, indem er versuchte, die Atmosphäre von Rumfoords Klasse in Worte zu übersetzen. Ganz der College-Professor, der er war, strebte Kittredge nach großen Worten und prägte, wenn er keine gefunden hatte, unübersetzbare neue.

Vom gesamten Jargon, den Kittredge geschaffen hat, ist einem einzigen Terminus der Weg in die gesprochene Sprache gelungen: un-neurotische Courage.

Es war natürlich diese Sorte Courage, die Winston Niles Rumfoord in den Weltraum hinaustrieb. Es war reiner Mut – nicht nur frei von Gier nach Ruhm und Geld, sondern frei von allen Trieben, die auch nur entfernt mit Unpassendem oder Wirrem zu tun haben.

Übrigens gibt es zwei kräftige, gebräuchliche Wörter, die, jedes für sich, recht hübsch anstelle des Jargons von Kittredge gepasst hätten: »Stil« und »Schneid«.

Als Rumfoord sich als erster Mensch ein privates Raumschiff anschaffte und dafür achtundfünfzig Millionen Dollar hinlegte – das war Stil.

Als die Regierungen der Erde wegen der chrono-synklastischen Infundibula die gesamte Raumforschung einstellten und Rumfoord ankündigte, er werde zum Mars reisen – das war Stil.

Als Rumfoord ankündigte, er werde einen ausgesprochen riesenhaften Hund mitnehmen, als wäre ein Raumschiff nicht mehr als ein hochgezüchteter Sportwagen, als wäre eine Reise zum Mars nur wenig mehr als ein kleiner Ausflug auf dem Connecticut Turnpike – das war Stil.

Als völlig ungewiss war, was passieren würde, wenn sich ein Raumschiff in ein chrono-synklastisches Infundibulum begab und Rumfoord direkten Kurs ins Zentrum eines solchen nahm – das war Schneid.