Die steile Stufe - Ernst Heilborn - E-Book
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Die steile Stufe E-Book

Ernst Heilborn

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Beschreibung

Justizrat Joachim hat sich in seinem Witwerdasein eingerichtet. Während er als Anwalt noch Ehrgeiz hat, genießt er das beschauliche Leben daheim mit seiner etwas ungelenken Tochter, seiner soignierten Wirtschafterin und seinem ältlichen Bedienstetenpaar. Bis eines Tages eine noch immer attraktive, muntere und lebenskluge Witwe in sein Büro tritt, mit der er vor vielen Jahren ein Techtelmechtel hatte. Plötzlich merkt der Justizrat, dass er eigentlich immer noch jung ist … Ernst Heilborn erzählt federleicht und mit feinem Humor die Geschichte einer unverhofften zweiten Jugend im Berlin des Jahres 1910.

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Die steile Stufe

von

Ernst Heilborn

Mit einem Nachwort von Arnt Cobbers

Jaron Verlag

ERNST HEILBORN (1867–1942) war einer der wichtigsten Theater- und Literaturkritiker Berlins. Daneben schrieb er Romane und kulturgeschichtliche Betrachtungen. Wegen seines jüdischen Vaters wurden ihm ab 1933 nach und nach alle Veröffentlichungsmöglichkeiten genommen. 1942 wurde er beim Versuch, die Schweizer Grenze zu überqueren, verhaftet, er starb kurz darauf im Gefängnis.

Zu dieser Ausgabe:

Grundlage des Textes ist die 1910 im Egon Fleischel Verlag, Berlin erschienene Ausgabe. Die Rechtschreibung wurde größtenteils der heute üblichen angepasst, offensichtliche Fehler wurden verbessert, manche Eigenarten und Altertümlichkeiten aber auch beibehalten.

1. Auflage 2024

Jaron Verlag GmbH, Berlin

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Satz und Layout: Prill Partners | producing, Barcelona

Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung:Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

ISBN 978-3-95552-075-5

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Nachwort

Die Berlin-Bibliothek

I

Der Justizrat war in seinem Pyjama aus der Badestube in sein Schlafzimmer zurückgekehrt. Er reckte sich behaglich in der freudigen Erwartung dieses Berliner Sonntagmorgens. Knaus harrte bereits vor dem Toilettenspiegel seines Herrn.

»Also, lieber Knaus, Ihre Frau wird heut abend ausgehen. Keine Widerrede, sie wird. Ich erwarte Professor Penzig. Sie soll ein Theaterbillett haben.«

Knaus machte sein allerbedenklichstes Gesicht: »Mit dem Theater ist es rein gar nichts.«

»Man gibt die Jungfrau von Orleans!«

»Ja, die wird wohl gegeben … Sie meint, wenn es einmal zu einem Varieté wäre –«

»Lächerlich; alte Person und Varieté; wird sich nächstens noch auf ein Karussell setzen. – Gut denn! Sie soll ihr Billett zum Wintergarten haben. Aber um fünf ist die Küche geräumt; das bitt ich mir aus.«

Knaus wollte eben zur Pinzette greifen, ein paar graue Haare an der Schläfe seines Herrn zu beseitigen.

»Schon gut. Nicht mehr nötig. Rufen Sie mir Julie!«

Julie kam und sagte ihrem Vater mit wohleinstudiertem Knix guten Morgen. Er legte ihr die Hand auf das in der Mitte gescheitelte blonde Haar, das in zwei mageren Zöpfen herabfiel, und küsste sie auf die Stirn. Das Programm des Tages wurde entwickelt. Der Justizrat hatte zunächst eine »wichtige Besprechung«, die ihn hinderte, mit in die Kirche zu gehen. Er würde aber zur Zeit vor der Tür warten, sie abzuholen.

Julie versuchte Ausflüchte und behauptete, nach der Kirche eine Cousine besuchen zu müssen, die heute Geburtstag habe. Aber das half ihr nichts, und so verabschiedete sie sich möglichst schnell mit einem zweiten artigen Knix. Im Hinausgehen schnitt sie Knaus eine hämische Grimasse, die der aber durchaus nicht zu bemerken schien. Die »wichtige Besprechung« fand nachher, nachdem das Frühstück in sonntäglicher Behaglichkeit eingenommen war, die Zeitung flüchtig und verschiedene juristische Zeitschriften sehr gründlich durchgesehen waren, bei Borchardt statt und galt den Vorbereitungen zum Abend. Der Justizrat hatte sich für Argenteuiler Spargel, der in diesen Märztagen bereits sehr annehmbar war, Hammelkoteletts mit Sauce Béarnaise, Früchte und Käse entschieden und regelte seine Einkäufe danach. Knaus wurde mit dem Paket nach Hause geschickt, wobei ihm nochmals eingeschärft wurde, seine Frau nichts merken zu lassen, der Justizrat bestieg die Droschke wieder und fuhr zum »Invalidendank«, von da zur Französischen Kirche. Da die Geschäfte erst nach Schluss des Gottesdienstes geöffnet wurden, hatten Julie und Fräulein Fink bereits auf ihn warten müssen.

Fräulein Fink wurde mit der längst zur Gewohnheit gewordenen freundlichen Wendung in eine elektrische Bahn komplimentiert, der Justizrat trat den sonntagsüblichen Spaziergang mit seiner Tochter an. Er führte durch die Wilhelmstraße nach den Linden, dann durch den Tiergarten zu der in der Matthäikirchstraße just am Rondell gelegenen Wohnung des Justizrats. Bei gutem Wetter, und das traf zu Juliens Bedauern heute zu, wurde noch eine Ecke Bellevuegarten mitgenommen.

Sehr lebhaft war die Unterhaltung nicht. Sie begann mit Schulfragen und endete mit Auseinandersetzungen über die deutschen Klassiker, die der Justizrat immer wieder mit jugendlicher Begeisterung und sonderlicher Vorliebe für die Zitate las. Dazwischen aber hieß es alle Augenblicke: »Kopf hoch, Brust raus!«, »Du musst die Füße mehr auswärts setzen.«, »Ein Mädchen soll sich nicht herausfordernd umsehen.«, »Gewöhne dir endlich ab, die Arme schlenkern zu lassen!«, »Kopf hoch, immer noch höher!«

Die beiden wurden vielfach gegrüßt, denn der Justizrat war eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit. Er trug sich aufrecht, kleiner beweglicher Herr, der er war. Sein Gesicht mit den markanten Zügen, die durch Schnurrbart und Fliege nur eben schärfer hervortraten, zeigte Charakter. Das dreizehnjährige Mädchen neben ihm war durchaus nicht hübsch und schien bei aller Wohlerzogenheit der Sonne für ihr Wachstum ermangelt zu haben. Beinahe ein Kellerkind, das in der Beletage wohnte. Sie war sehr gut, doch ohne Geschmack angezogen, denn der Justizrat ließ es sich nicht nehmen, ihr ihre Kleider selber zu besorgen.

Inzwischen fand in der Küche des Justizrats eine andre Unterhaltung statt. Knaus war heimgekehrt und traf seine Ehehälfte breitbeinig sitzend an, den irdenen Napf zwischen die Knie geklemmt und mit dem Reibeisen hantierend. Die Art und Weise, wie sie das trockene Brot über die scharfe Fläche führte, dünkte ihn kein gutes Zeichen.

»Hier wäre denn das Billett«, hob er nach einer Weile an. Und den Sturm, noch bevor er ausgebrochen war, beschwörend: »Es ist fürs Varieté!«

»Varieté! Als wenn mir daran läge, meine Sonntage im Varieté zu verbringen! Und das kannst du ihm ein- für allemal sagen: Heut wird Schluss damit gemacht. Er in seinen Zimmern, ich in meiner Küche. Ich duld das nicht mehr, dass er mir über meine Töpfe und Vorräte geht.« Und da Herr Knaus klüglich schwieg: »Pack aus. Zeig, was du mitgebracht hast.« Sie setzte den Napf mit einem Ruck zur Erde und stand neben ihm: »Das will nun Spargel sein!«

»Es ist das Feinste, was es jetzt gibt!«

»Um diese Jahreszeit kauft man keinen Spargel.« Dann aber, als erbarmte es sie der vegetabilischen Kreatur: »Er darf nicht länger als fünfundzwanzig Minuten kochen. – Wer kommt?«

»Der Maler.«

»Solch ein Mann und schämt sich nicht, sich hinter den Kochherd zu stellen! Und du musst natürlich auch dabei sein.«

Das Mittagessen fiel zur Zufriedenheit des Justizrats aus, doch mochten dazu weniger die immerhin beträchtlichen Kochkenntnisse der Frau Knaus als die Aussicht auf den guten Abend beitragen. Julie und Fräulein Fink fanden unter ihren Servietten die Billetts zur »Jungfrau von Orleans«, der Justizrat erzählte, wie er zu tun pflegte, allerhand Schnurren und Anekdoten. Doch erfreute er sich keines dankbaren Publikums. Julie war noch von dem Spaziergang her verdrossen, und Fräulein Fink saß stets mit gesträubten Federn zu Tisch. Sie war die Nichte eines Oberlandesgerichtspräsidenten.

Nach der Mahlzeit zog sich der Justizrat wie stets in das Zimmer seiner verstorbenen Frau zurück, das niemand außer ihm und Knaus, der es rein zu halten hatte, betreten durfte. Man wusste nicht, was er dort tat. Vielleicht hing er dem Andenken an die Verewigte nach, vielleicht hielt er sein Mittagsschläfchen, möglicherweise mochte sich beides miteinander vereinbaren lassen. Er kam erst wieder zum Vorschein, als sich Fräulein Fink und Julie zum Theater verabschiedeten.

Dann aber wurden mit Knaus’ Hilfe die Vorbereitungen in der Küche getroffen, und zur rechten Zeit stellte sich Professor Penzig ein. »Wie geht’s, wie steht’s, was gibt es, lieber Freund?«, und er streckte dem Justizrat mit runder Bewegung beide Hände entgegen. Der antwortete bedeutsam: »Eine Sauce Béarnaise.«

Der Maler war ein sogenannter schöner Mann mit dunklem Vollbart und sehr wohlgepflegten Händen, was ihn nicht hinderte, die Eier mit großer Virtuosität aufzuschlagen und die Schalotten zu wiegen. Der Justizrat kochte den Essig ein und hielt nachher das Sieb. Das Eigelb mit dem Schalottenessig und den andern Zutaten, die nicht ohne mancherlei Diskussionen gewählt worden waren, schlugen beide Freunde abwechselnd im Wasserbade.

Das Abkochen des Spargels war Knaus, als unbeträchtlich, überwiesen worden, der Justizrat hatte eben die Hammelkoteletts auf dem Feuer, und der Maler setzte, worin er seit seiner römischen Zeit Meister war, den Salat an, als die Entreeglocke anschlug. »Hierbleiben!«, befahl der Justizrat Knaus, der im Begriff stand, seinen Spargel im Stich zu lassen. Und zu dem Maler: »Man muss sich sein bisschen Frieden erkämpfen.« Und geruhig führte er die Gabelspitze in die Koteletts und fand sie, wie sich’s gebührte, ›außen Othello, innen blutende Desdemona‹.

Man saß bei Tisch, der Monton Rothschild schimmerte im Glase, und der Justizrat erzählte Anekdoten, worin er unerschöpflich war, auch folgte der praktischen Kochübung manche eingehende theoretische Erörterung. Der Justizrat hatte soeben mit erhobener Stimme erklärt, dass er vom Sauerkraut verlange, es müsse ›kurz und doch gebunden‹ sein, als ihm auffiel, dass sein Freund stiller als sonst war. Er lief Gefahr, sich seine schöne Stirn durch eine Falte zu verunzieren.

»Nun ja, da heißt es jetzt Freilichtmalerei und immer wieder Freilichtmalerei! Publikumsfang, nichts weiter. Als ob wir nicht jederzeit unsre Staffeleien ins Freie getragen hätten! Und dann – man hat seine Qual mit diesen Modellen.«

»Sie haben ihre Mucken?«

»Sie sind ein Auswurf!« Das war so gesprochen, dass die Stimmung ernstlich hätte beeinträchtigt werden können, wäre nicht dem Justizrat ›apropos Auswurf‹ eine Geschichte eingefallen, die unwiderstehlich war.

II

Das Bureau des Justizrats Joachim befand sich in der Breiten Straße, und dahin begab er sich zur nachmittäglichen Sprechstunde zu Fuß, während zu den sonst festgesetzten Zeiten sein getreuer Droschkenkutscher bereits wartend vor dem Hause hielt. Diese eine körperliche Motion war er seiner Gesundheit schuldig; auch liebte er es, aufmerksam um sich schauend, Passanten und Auslagen musternd, stets den gleichen Weg zurückzulegen.

Ans Ziel gelangt und von dem eifrigen Pförtner untertänig begrüßt, ließ er die breite Vordertreppe rechts liegen und stieg eine steile ächzende Hinterstiege langsam und bedächtig hinan. Sie führte direkt in sein Arbeitszimmer, zu dem er den Schlüssel stets bei sich hatte. So umging er die Schar der bereits ungeduldig Wartenden und konnte, ungesehen wie Harun al Raschid, ganz nach Belieben auftauchen und verschwinden.

Ein Schlag auf die Schreibtischklingel, und Herr Kruse, der Bureauvorsteher, trat ein. Er berichtete kurz und sachlich über die Einläufe, und inzwischen ging der Justizrat, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab, jetzt das entscheidende Wort, jetzt einen Gesetzesparagraphen, dann wieder eine Reichsgerichtsentscheidung einwerfend; was sogleich notiert wurde. Joachim besaß ein sehr treues Gedächtnis und irrte selten; seine eigentliche Begabung aber bestand in unmittelbarer Erfassung des Wesentlichen.

Die laufenden Geschäfte waren beendet, aber Herr Kruse blieb. In seiner steifen und beamtenmäßigen Haltung war eine nervöse Unruhe, nur gewahrte Justizrat Joachim, der noch immer seinen Gang durchs Zimmer fortsetzte, von dem allen nichts. Schließlich traf Herrn Kruse doch ein forschender und verwunderter Blick und zwang zum Sprechen.

»Wenn es möglich wäre, Herr Justizrat, mir eine Gehaltsaufbesserung zu gewähren … ich beabsichtige mich … nämlich wieder zu verheiraten.«

Der Justizrat warf sich in seinen Schreibtischstuhl, vor dem er eben stand, als hätte ihn der Schlag getroffen. Dann: »Die doppelte Gehaltszulage, wenn Sie nicht heiraten, Kruse.«

Joachim stand bereits wieder neben seinem Schreibtisch, klein und beweglich, wie er war, und hatte beide Fäuste auf die Platte gestemmt: »Wie lange arbeiten wir jetzt zusammen, Kruse? Fünfzehn Jahre. Wie alt sind Sie? Ich denke nahe an die Fünfzig. In den fünfzehn Jahren, die Sie bei mir waren, sind vielleicht tausend Ehescheidungssachen durch Ihre Hände gegangen, und Sie kommen und sagen: Ich möchte mich wieder verheiraten.

Sehen Sie, Kruse, ich bin vierzig Jahre.« Der Justizrat nahm es mit der Zahl nicht ganz genau. »Und nun nehmen Sie an, Sie fänden eines schönen Morgens auf Ihrem Kaffeetisch meine Verlobungsanzeige. Was würden Sie sagen? Der alte Herr ist verrückt geworden, wäre Ihr erstes Wort. Und Sie hätten recht! Sie hätten durchaus recht, Kruse. Ja, schämen Sie sich denn nicht im Andenken an Ihre verstorbene Frau? Eine so brave, tüchtige und solide Dame. Und soll ich Ihnen noch etwas sagen? Ein Mann über vierzig wählt immer die Unrechte. Ganz einfach, ihm fehlt der Instinkt der Jugend. Ich will Ihnen einen Rat geben: Anstatt nächsten Sonntag zu Ihrer Braut zu gehen, setzen Sie sich hier still ins Bureau und lesen Sie in unsern Ehescheidungsakten. Das wird Ihnen gut tun; das wird Ihr stürmisches Blut abkühlen.«

»Es ist nicht das, Herr Justizrat. Ich habe die Rechte gefunden. Das Mädchen, das zu mir passt, auch für meine alten Tage.«

Justizrat Joachim sah ihn verwundert an, nahm seinen Gang durchs Zimmer wieder auf, blieb plötzlich vor ihm stehen und legte ihm beide Hände auf die Schultern. »Also werden Sie glücklich, Kruse, so glücklich, wie Sie es zu werden verdienen! Wegen des Gehalts reden wir noch. Und nun lassen Sie eintreten.«

Im Sprechzimmer waren, wie üblich, Nummern verteilt, aber auf den ersten, der vorgelassen wurde, hatte diese Ordnungsmaßregel keine Anwendung gefunden. Es war der Direktor einer Aktiengesellschaft, und Justizrat Joachim hatte mit ihm lange und ausführlich zu verhandeln. Ein großer Teil der Sprechstunde ging darauf hin.

Nummer vierzehn war ein Mann mit geläufiger Zunge. Sein Bruder saß in Untersuchungshaft, des betrügerischen Bankrotts beschuldigt. Der Justizrat sollte die Verteidigung übernehmen.

»Hat Ihnen mein Bureauvorsteher nicht gesagt, dass ich niemals verteidige?«

»Freilich, natürlich, aber …« Es folgte ein begeisterter Lobgesang auf den Justizrat und seine einzigartige Stellung in der Anwaltschaft. Der Herr mit der geläufigen Zunge deutete an, dass die Familie bereit sei, Opfer zu bringen.

»Herr, ich verteidige nicht.«

»Herr Justizrat, mein Bruder ist unschuldig.« Die Rechte des Besuchers streckte sich aus, bereit, sich für die brüderliche Unschuld ins Feuer zu legen.

»Freut mich. Freut mich von Herzen für Ihren Herrn Bruder. Sie wissen, wir haben sehr talentvolle Verteidiger. Es kann Ihnen da gar nicht fehlen.« Und der Justizrat schlug auf die Klingel.

Nummer fünfzehn: Frau Doris Ehlert.

»Bitte Platz zu nehmen, gnädige Frau.«

Sie war in einer Testamentsangelegenheit gekommen. Ihr Mann hatte kurz vor seinem Ableben in Widerspruch zu einer bei dem deutschen Gericht deponierten Verfügung ein Testament in England hinterlegt. Darin vermachte er einer Operettendiva, mit der er die letzte Zeit zusammengelebt hatte, sein gesamtes Vermögen. Die erste Instanz hatte bereits zu ihren, der rechtmäßigen Ehefrau Ungunsten entschieden.

Justizrat Joachim beobachtete die neue Klientin unwillkürlich, während sie vor ihm saß, ihm all das auseinanderzusetzen. Es war etwas sehr Wechselndes in ihren Augen. Das leicht gefärbte, goldbronzene Haar drängte unter ihrer Witwenkapotte hervor. Er musste irgendwo ein Bild gesehen haben, das ihr ähnelte.

Ja, viel Hoffnung konnte er ihr nicht machen, jedenfalls nicht, bevor er die Akten eingesehen hatte. Fragen, in die das internationale Recht hineinspielte, waren nie kurzerhand zu entscheiden.

»Gibt es denn überhaupt ein Recht in England? Man hat mir gesagt, es bestände da gar kein geschriebenes Gesetz.«

»Sie scheinen eine schlechte Meinung von dem perfiden Albion zu haben.«

»Durchaus nicht. Ich liebe Land und Leute und Tennis und Afternoontea. Sogar das Shopping der Engländerinnen fand ich immer unterhaltsam. Ich habe längere Zeit drüben gelebt.«

»Ich glaubte Sie zu verstehen, Ihr Herr Gemahl habe Sie in Deutschland zurückgelassen, während er sich mit der – Dame in London aufhielt?«

»Gewiss. Ich sprach von meiner Mädchenzeit. Das ist lange her.« Und da er zu dem ›lange‹ gutmütig zu lächeln schien: »Nun, wie Sie wollen. Es war im Jahre 87.«

»87 – halt! gewiss, das war das Jahr, in dem auch ich zum ersten Mal drüben gewesen bin. Was nun Ihren Prozess betrifft, so möchte ich Sie bitten … jaja, im Jahre 87 … verzeihen Sie eine Frage, die gewiss nicht hierher gehört: Haben Sie einmal ein brennendes Schiff gesehen?«

Sie lachte. »Aber gewiss; damals in London.«

»Ganz recht, im Hafen von London. Aber das ist ja nur natürlich. Jeder, der damals in London war, hat es gesehen.«

In ihren Augen schien plötzlich eine Veränderung vor sich zu gehen, und wie stets, wenn sie erregt war, wechselten sie rasch die Farbe. Sie legte ihren Schirm auf den Schreibtisch, beugte sich darüber und stellte ein förmliches Verhör mit dem Justizrat an: »Sie wohnten in einem Boardinghouse? – dicht bei dem Britischen Museum? Das Boardinghouse wurde von zwei alten Damen gehalten, von denen die eine eine Perücke trug?« Und nachdem er all diese Fragen mit einem ›Ja‹ beantwortet hatte: »Also das sind Sie!«

»Ja, das bin ich, oder was von mir übrig geblieben ist.«

»Und Sie erinnern sich meiner?«

»Irgendetwas mutete mich gleich vertraut an.«

»Nun ja, Ruine …«

Der Justizrat räusperte sich, wie er immer tat, wenn er sentimental wurde: »Es waren schöne Tage …«

»Schöne, dumme Tage.«

»Wir fuhren einmal nach Tottenham.«

»Und nahmen ein Ruderboot.«

»Großer Gott, ja, wenn man jung ist!«

Sie war aufgestanden. »Man bleibt immer jung! Oder nur wir Frauen? Wir Frauen bleiben immer jung! Aber sagen Sie mir, warum Sie damals so plötzlich abgereist sind und ganz ohne Abschied?«

»Nach einer Unterredung mit Ihrem Herrn Vater, die nicht ernst zu nehmen war und die ich natürlich sehr ernst nahm.«

»Lieber Herr Justizrat, jetzt müssen Sie mir meinen Prozess gewinnen! Denken Sie nur daran, was für mich auf dem Spiel steht! Oder möchten Sie Ihre alte Jugendfreundin als Stütze der Hausfrau oder als Zimmervermieterin wiedersehen?«

»Ihr Herr Vater lebt nicht mehr? Und Ihre Frau Mutter auch nicht? So stehen Sie also ganz allein in der Welt?«

»So allein, wie Sie mich da sehen.«

»Und haben Schweres durchgemacht?«

»Es scheint so.«

»Aber sagen Sie mir, warum haben Sie diesen Herrn Ehlert genommen?«

»Man lernt die Männer immer erst kennen, wenn man mit ihnen verheiratet ist.«

»Wirklich? Und doch ist mir, indem ich zurückdenke, als hätten wir beide uns ganz gut gekannt.«

»Doch auch nur flüchtig.« Sie sagte das lachend.

»Warum?«

»Das lehrt der Ausgang unsres kleinen Romans.«

»Ja, wenn Sie so wollen, gewiss. Aber nun hören Sie! Sind Sie eine vernünftige Frau?«

»Bisweilen.«

»Machen Sie mir die Freude, nächsten Sonntag bei mir zu essen! Man hat sich getroffen – es wäre schade, so ganz ohne Gruß aneinander vorüberzugehen. Allerdings – ich bin Witwer.«

»Also darum die Frage nach meiner Vernunft?«

»Nein, jetzt missverstehen Sie mich wirklich …«

»Schon gut, ich komme. Ich muss Ihnen ja den Hof machen, damit Sie sich meines Prozesses annehmen.«

»Tun Sie das wirklich!« Die Klingel ertönte. »Nummer sechzehn.«

III

Am nächsten Sonntagmorgen wurde Frau Knaus vor den Justizrat beschieden. Gegen seine Gewohnheit, denn er vertraute ihr gemeinhin, ging er das gesamte Mittagessen mit ihr durch und wiederholte eindringlich die Anforderungen, die an eine wohlbereitete Suppe, den Braten, die Saucen zu stellen seien. »Die Küchentür zuhalten!«, rief er ihr noch nach, als sie bereits entlassen war. Sodann kam die Reihe an Julie. Sie sollte artig und zuvorkommend gegen den Gast sein; nicht ungefragt sprechen, aber auch keinen maulfaulen Eindruck machen. »Ein Mädchen, das nicht hübsch ist, muss den äußeren Reiz durch doppelte Anmut des Wesens zu ersetzen suchen.«

Er hätte das vielleicht besser nicht gesagt. Jedenfalls war der Erfolg der, dass Julie hinter seinem Rücken dem armen und gänzlich unschuldigen Knaus ihre allerschändlichste Grimasse schnitt. Der stand breitschultrig da und blickte krampfhaft aus dem Fenster.

Der erwartete Mittagsbesuch stellte sich unpünktlich ein, was den Justizrat im Hinblick auf das Essen noch nervöser machte, als er ohnedies war. Endlich schlug die Glocke an, Frau Doris Ehlert kam und überreichte ihm einen vollen Tuff duftender Veilchen. Sie müsse ihm halt den Hof machen. Seine Nervosität und Verlegenheit aber wurden dadurch noch erhöht. Fräulein Fink hatte die Blumen in eine Vase zu stellen.

Das Gespräch bei Tisch ließ sich insofern leidlich an, als es Justizrat Joachim gleichsam von Berufs wegen verstand, Konversation zu machen. Als seine Frau noch lebte, genossen die Gesellschaften in seinem Hause nicht nur der exquisiten Bewirtung halber, sondern auch um des jovialen Hausherrn willen eines besonderen Rufes. Er rechtfertigte den auch heute. Nur wer ihn genauer kannte, mochte gewahren, dass in dieser leichten, übersprudelnden Art diesmal etwas Gezwungenes lag; was sich übrigens mehr und mehr verlor in dem Maße, als sich Frau Knaus des in sie gesetzten Vertrauens würdig erzeigte. Frau Doris aber empfand das alles instinktiv. Sie kam sich wie ein Waldvogel vor, der in den Käfig eines gefangenen Zeisigs zu Gast geladen ist.

Zudem spielte die Unterhaltung im Grunde nur zwischen ihnen beiden. Fräulein Fink kehrte die Oberlandesgerichtspräsidentennichte hervor und schwieg würdevoll. Julie tat den Mund nur auf, wenn sie gefragt wurde, dann aber war ein unausstehlicher Ton in ihrer Antwort.

Frau Doris wandte sich an Fräulein Fink, sie in das Gespräch hineinzuziehen. Der sonntägliche Kirchenbesuch war erwähnt worden.

»Welchem Prediger geben Sie den Vorzug?«

»Ich gehe nicht um eines Predigers willen in die Kirche.«

Frau Doris hatte gemeint, Fräulein Fink ihre Kirchlichkeit von der Stirn ablesen zu können. Die abweisende Antwort bestärkte sie nur in ihrer Ansicht. Aber sie täuschte sich. Insgeheim und ohne sich in ihren Berufsinteressen dadurch irgendwie beeinträchtigen zu lassen, gehörte Fräulein Fink zu den »fortgeschrittenen« Frauen.

Und nun erfuhr Frau Doris, was nur höchst unerfahrenen oder höchst gewandten Personen, die ein Missverständnis ihrerseits für ausgeschlossen erachten, mit unterlaufen kann: Sie hielt an dem Gesprächsstoff fest. Sie war der Überzeugung, schließlich doch auf sprudelndes Wasser zu stoßen, schlüge sie nur oft und kräftig genug an diesen Felsen. Aber Fräulein Fink blieb steinern.

»Julie, geh einmal in mein Zimmer und sieh zu, ob du die Zeitung von gestern Abend findest. Ich will den Damen etwas daraus mitteilen«, sagte Justizrat Joachim.

Kaum hatte Julie das Zimmer verlassen, als er die Geschichte jenes Pastors erzählte, der über den Gang der beiden Jünger nach Emmaus zu predigen hatte. Andere Anekdoten folgten. Fräulein Finks Benehmen war ihm ärgerlich gewesen, und es reizte ihn, ihre Standhaftigkeit auf die Probe zu stellen. Auch er war von ihrer Kirchlichkeit überzeugt.

Fräulein Fink hielt sich bewunderungswürdig. Sie trug eine gesellschaftlich gemäßigte Entrüstung zur Schau, die ihr umso besser zu Gesicht stand, je weniger sie ihren wahren Empfindungen entsprach.

Julie kehrte endlich zurück, hatte die Zeitung nicht gefunden, vielmehr an der Tür gehorcht, wurde aber auch so zu Gnaden wieder aufgenommen. Die Stimmung des Justizrats hatte sich inzwischen wesentlich gehoben, er erglühte an seinen eigenen Kohlen, auch hatte sich Frau Knaus diesmal selber übertroffen. Der Auflauf war mit geradezu burschikoser brauner Mütze erschienen, die Chaudeausauce hatte den erforderlichen »zäh-weichen« Fluss, und der Justizrat wartete, wie ihm schien mit gutem Recht, auf ein Wort der Anerkennung. Da das nicht erfolgte, brachte er das Gespräch selbst auf seinen Küchenminister und über diesem Umwege auf sein Lieblingsthema, was Fräulein Fink insofern Frau Doris etwas näher führte, als sie zum mindesten durch ihren Schulternausdruck zu verstehen geben durfte, dass Gespräche über das Essen beim Essen ihrer unmaßgeblichen Meinung nach ungehörig seien.

»Willst du dich nicht wie immer nach Tisch in Mamas Zimmer zurückziehen, Papa?«

Julie hatte ihre wohlüberlegte Bosheit mit denkbar treuherzigstem Ausdruck und wie selbstverständlich vorgebracht; das aber steigerte nur die Wirkung ihrer Worte. Eine allgemeine Verlegenheit griff Platz. Fräulein Fink hüstelte, der Justizrat versicherte, keinerlei Bedürfnis nach dem üblichen ›Nachmittagsschläfchen‹ zu spüren. Frau Doris gelang es, die Situation einigermaßen zu retten, indem sie ein Gesellschaftsspiel vorschlug. Man einigte sich auf ›Hammer und Glocke‹. Fräulein Fink bekam das ›Wirtshaus‹, das sie mit dem Anstand einer Königin im Exil führte, Frau Doris neckte und ließ sich necken und zeigte darin zum ersten Mal die heitere Liebenswürdigkeit ihrer Natur. Julie gewann und war doch Kind genug, darüber alles andre zu vergessen.

So wurde die Zeit bis zum Kaffee hingebracht, danach verabschiedete sich Frau Doris. Sie sah sehr reizend aus, als sie mit dem wechselnden Spiel in ihren Augen und der ihr eigenen, vornübergebeugten Haltung der noch immer sehr schlanken Figur dem Justizrat die Rechte zum Handkuss bot.

Sie hatte kaum das Haus verlassen, als Julie zu einer Philippika vor den Vater beschieden wurde. Je ungreifbarer ihre Verbrechen waren, desto mehr ereiferte er sich. Alles war an ihr auszusetzen, und wenn sie nicht ganz anders würde, müsse man sie in eine Pension schicken (was übrigens seit langem Juliens sehnlichster Wunsch war). Sie stand da, das ausdrucksarme blonde Köpfchen zur Erde gesenkt, das eine Zopfende im Munde, und erwiderte kein Wort.

Fräulein Fink, die der Szene beiwohnte, nahm sich nachher des Kindes sehr gegen ihre Gewohnheit an, erzielte damit aber nur, dass in der nun folgenden Unterredung mit ihr allein die Temperatur bedenklich sank. Justizrat Joachim war Kavalier genug, seiner Hausdame gegenüber den gesellschaftlichen Ton unter allen Umständen zu wahren; es trat aber bei solchen Gelegenheiten ein unangenehm ironischer Klang in seine Stimme.

Er hatte für den Abend eine Verabredung mit seinem Freunde, dem Maler Penzig, eingehalten, Fräulein Fink saß allein in ihrem Zimmer und las in einem französischen Roman, einigermaßen erotischen Inhalts. Julie war bereits vor einer Stunde oder länger zu Bett gebracht worden. Fräulein Fink war, als schlüge ein leises Weinen an ihr Ohr. Sie achtete nicht darauf, aber die Laute kehrten wieder, wurden leidenschaftlicher und gingen in ein krampfhaftes Schluchzen über. So stand sie endlich auf und trat an Juliens Bett. Das Kind klammerte sich mit plötzlicher Zärtlichkeit an sie. Derartiges war noch niemals vorgekommen.

Fräulein Fink war keineswegs gefühlsarm, aber sie gehörte zu denen, die schlechterdings nicht wissen, wie sie sich den Empfindungen andrer gegenüber verhalten sollen. Sie machte sich deshalb mit hastig-altjüngferlicher Bewegung los und sagte: »Du musst jetzt schlafen.« Um ihr das zu erleichtern, brachte sie ihr ein Glas Zuckerwasser.

Julie hing durchaus nicht mit sonderlicher Zärtlichkeit an ihrem Vater. An niemandem hing sie. Aber sie hatte das Gefühl, dass der Vater ihr gehöre. Und ihr selber unbewusst, hatte sie die instinktive Furcht angewandelt, diese fremde Person könnte ihn ihr rauben.

Sie trank das Zuckerwasser und schlief ein. Fräulein Fink kehrte in ihr Zimmer zurück, doch nahm sie die Lektüre des Romans nicht wieder auf.

IV

Es gibt Menschen, die unter einem Unstern geboren sind, und Fräulein Fink gehörte dazu an bevorzugter Stelle, wusste das auch selber. Sie wählte demgemäß den denkbar ungeeignetsten Augenblick, dem Justizrat gegenüber Klage zu führen, dass ihr Juliens Befinden seit einigen Tagen durchaus nicht gefallen wolle. Das Kind sei aufgeregt, gerate ohne jeden Anlass aus einer Stimmung in die andre und habe, wie er sich überzeugen könne, Ringe unter den Augen.

Der Justizrat war dabei stumm, als befände er sich in seinem Bureau, auf und ab gegangen. Mit einem »Schicken Sie sie zum Arzt!« war die Fink entlassen worden.