Die T'or Vermächtnisse - Thomas Günter - E-Book

Die T'or Vermächtnisse E-Book

Thomas Günter

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Beschreibung

Langsam und träge schwebte das föderale Kontrollschiff durch die Trümmer der Raumstation. Wie eine Hummel, die bedächtig von Blüte zu Blüte schwirrt, bewegte es sich, nur von Manövrierfeldern angetrieben, von Bruchstück zu Bruchstück. Das Schiff sah sogar beinah so aus wie das irdische Insekt. Plump und rundlich. Mit einer auffälligen schwarz-gelben Farbcodierung versehen, die in Längsstreifen über den Rumpf des Bootes lief. Begleiten Sie sechs Spezialisten auf ihrer gefährlichen und ereignisreichen Suche nach einem Artefakt, das sie in die Vergangenheit und die Zukunft der Menschheit entführt. Die Reise bringt sie nach Südosteuropa, den Nahen Osten und Spanien, in die Sierra Nevada. Gejagt von der russischen Armee und geheimnisvollen Außerirdischen sowie deren Schergen, sind sie ihren Gegnern lange Zeit einen Schritt voraus. Doch der Abstand verringert sich immer schneller. Zur gleichen Zeit spitzt sich in der Galaxis ein Jahrtausende schwelender Konflikt zu. Die Nemesis ist erneut erwacht und streckt ihre Fühler gegen die Völker und Rassen der Milchstraße aus.

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Für meinen Vater,

der nie den Mut fand,

seinen Traum zu Leben

Für meine Frau, die mir die Kraft gibt,

meine Flügel auszubreiten

und loszufliegen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Vorwort

Lieber Leser, vielen Dank, dass Sie dieses Buch gekauft haben. Ab einem gewissen Alter ist man weder der alten noch der neuen Rechtschreibung wirklich mächtig. Wer einen Fehler findet, darf ihn gerne behalten.

Wir geloben aber Besserung.

Prolog

Die Tiefenraumradarüberwachung registrierte den kurzen Energieblitz. Aufgrund der Qualität und Positionierung spuckten die großen Rechenzentren in Harvard, am Caltech und in Pfaffenhofen eine Entfernung von neuntausend Lichtjahren aus. Die Lidar- und Sensorphalangen der Föderation verzeichneten zusätzlich eine kurzzeitige Gravitationsverschiebung.

Das Bild im betroffenen System war ein anderes. Für die Zeit eines Wimpernschlages erschien in der Nähe des Gasriesen, der die kleine rote Sonne umkreist, eine grüne Scheibe von der Größe eines kleinen Mondes. Drumherum schienen schwarze Flammen zu lodern. Sie umgaben die Erscheinung wie einen Heiligenschein. Sie zuckten und leckten, nicht so, wie ein Feuer brennt, eher mäanderten sie wie eine Welle, die langsam, gleich einer Dünung, als Band das Phantom umfloss. Indes, mit kantigen Ausläufern.

Das Grün wirkte ungesund. Fahl, als sei es von hinten beleuchtet, trübe, unwirklich.

Obwohl die Scheibe in der Tiefe keinerlei messbare Ausdehnung aufwies, besaß sie eine fast hypnotische Anziehung. Vergleichbar einem Strudel, der einen in seinen Bann zieht. Schwerfällig zwar, aber stetig.

Genauso unerwartet, wie sie auftrat, verschwand sie.

Dafür hing jetzt, vollkommen bewegungslos, ein unheimliches Objekt an der Stelle, an der vorher die kreisrunde grüne Erscheinung ihr mattes Licht ausgestrahlt hatte. Zahllose Auswüchse, wie Borsten, mehr noch Stacheln, umgaben den Körper. In alle Richtungen zeigten diese Dornen und Buckel. Ohne erkennbare Symmetrie. Es wirkte wie ein wahr gewordener Albtraum. Die Grundform erwirkte den Eindruck oval zu sein, obwohl das bei den unzähligen Ecken und Kanten nicht auszumachen war.

Kein Lebewesen im Sternensystem führte eine Beobachtung durch oder gab einen Bericht ab. Aus dem simplen Grund, dass es eines der wenigen Systeme in der Galaxis darstellte, das komplett unbewohnt war. Weder Bergbau noch Forschungsstationen existierten.

Annähernd drei Kilometer im Durchmesser, hing es nicht nur relativ, sondern absolut bewegungslos im Raum. Die Gravitation des Gasriesen, noch die der roten Sonne schienen einen Einfluss zu haben. Wäre der Weltraum mit einem Medium gefüllt, das Schall transportiert, so hätte man ein tiefes Brummen sowie ein hohes Kreischen gehört.

Nur für einen Augenblick.

Die Sensorsysteme registrierten erneut einen Impuls. Er war jedoch dem Ersten gleich. Deshalb einigte man sich darauf, dass es wohl ein Echo sei.

Die Implosion der Raumstation kam überraschend. Lautlos, schnell, komplett. Zuerst begannen die tragenden Teile im Kern, langsam zu vibrieren. Unmerklich am Anfang. Eine Tasse tanzte auf einem Tisch. Gläser zerbrachen und in der Kombüse schwappten kochende Flüssigkeiten aus den Töpfen. Konzentrisch bewegte sich die Welle durch die Station und verebbte an den Rändern. Doch die Schwingungen im Kern wurden stärker. Schließlich klangen die ersten Bauelemente in ihrer Eigenfrequenz. Dann brachen sie. Und nun raste eine Woge der Zerstörung durch den sich drehenden Kreisel. Scheiben barsten. Türen und Schotte verbogen sich erst, und wenn sie nicht aus den Verankerungen gerissen wurden, zerplatzen sie wie Nagelbomben. Personal, das sich in der Nähe aufhielt, wurde regelrecht geschreddert. Durch die Energie der Schallwellen, begannen die Körperflüssigkeiten zu sieden. Egal ob Insektoide, Hexapode oder Zweibeiner. Sie alle verbrühten von innen und platzten schließlich wie überreife Früchte. Immer schneller flogen die Erschütterungen durch die Gänge und Räume, bis der gesamte Komplex in einem glitzernden und funkelnden Regen aus unzähligen Partikeln zerstob. Dadurch, dass die Station ausschließlich ziviler Natur war, dauerte es eine geraume Weile, bis der Vorfall untersucht wurde. Das Ergebnis wurde geheim gehalten.

1

»Hmargh!«

Schweißgebadet schreckte O´Connel aus dem Schlaf. Das erste fahle Licht des Morgens schickte seine Strahlen durch die halbgeöffneten Vorhänge des Hotelzimmers. Ein Zimmer, wie sie in den letzten Wochen so viele auf ihrer Reise rund um den Globus bewohnt hatten. Immer gleich. Scheckkarte zum Öffnen und Einschalten der Beleuchtung. Bad links. Weiß gefliest.

Leise stieg O´Connel aus dem Bett, um seinen derzeitigen Kollegen nicht zu wecken. Er starrte auf seine Hände. Sie zitterten, nicht stark, aber doch so, dass er ihnen im Ernstfall möglicherweise misstraute. Bedächtig ballte er sie zu Fäusten, so als wolle er das Erbeben aus seinen Fingern herauspressen. Schleppend atmete er ein, hielt die Luft für einen Moment, und atmete dann aus. Währenddessen öffnete er sie wieder. Besser! Nur keineswegs weg. Im Bad ließ er kaltes Wasser über Hände und Unterarme laufen. Er sah im Spiegel, dass die Augen leicht gerötet waren. Die albtraumhaften Bilder verschwanden. Die schwangere Frau, die wie wahnsinnig schreiend, die Sicherungsleine riss und sich damit in eine menschliche Bombe verwandelt hatte. Die Kameraden, seine Familie, seine Freunde, die vor seinen Blicken regelrecht zerfetzt wurden. Er sah sich sogar selber, auf der Balustrade ein Stockwerk höher, in diesem Museum. Nie hatte man ihnen gesagt, warum ausgerechnet ein Museum, in dem hauptsächlich vorgeschichtliche Artefakte und Tontafeln aufbewahrt wurden. Die unheimliche Figur, die er kurz vorher im schummrigen Licht der nächtlichen Sparfunzel fünf Meter unter der Galerie gesehen hatte. Die Proportionen stimmten in keiner Weise. Obwohl sie Kopf, Rumpf, Arme und Beine hatte, schien sie nicht menschlich. Sie hatte zu der plötzlich aufgetauchten Frau etwas gesagt, nein nicht gesagt. Es klang eher wie Gesang oder eine Tonfolge. Daraufhin hatte sie auf arabisch Tod der Menschheit geschrien, an irgendetwas gerissen und war in einem Feuerball verglüht. Die Explosion hatte sein Team vollkommen unerwartet getroffen. Sie wurden durch die Druck- und Flammenwelle einfach zerfetzt. Er hatte nur überlebt, weil er sich in einem anderen Stockwerk aufgehalten hatte.

O'Connel starrte ins Waschbecken. Sah auf seinem Unterarm das Tattoo, auf das er einst so stolz war. Zwei Schwingen verbunden mit einem Schwert. Wer wagt, gewinnt stand darunter im Halbkreis. Wir haben gewagt und alles verloren. Das waren die Gedanken, die ihm in solchen Momenten fast abschätzig über seine Vergangenheit in den Sinn kamen. Niemand hat mir zugehört, keiner wollte mir glauben, was ich gesehen habe. Sie haben mich nicht für verrückt erklärt, aber in den meisten Gesichtern konnte ich es doch erkennen. Er wurde nicht unehrenhaft entlassen, jedoch legte ihm die Generalität nahe, seine Armeelaufbahn vorzeitig zu beenden. Das Geräusch war kaum wahrnehmbar. Beim Laufen des Wassers aus dem Hahn noch weniger. Trotzdem zuckte Aidan O'Connels Hand kurz in Richtung des Schulterhalfters, obwohl keiner da war. Er brauchte bei seiner momentanen Tätigkeit auch keinen.

»Alter! Wieder dieser Albtraum?«

Francis stand in der Tür.

»Such dir endlich professionelle Hilfe, das geht so nicht weiter und du gehst daran kaputt! Wenn's dich nicht stört?!«

Francis kam ins Bad und ging zum Toilettenbecken.

»Nur zu. Helfen kann ich dir aber nicht, wenn's schief geht.«

Er grinste,

»Soviel kannst du sowieso nicht heben.«

In seinem früheren Leben arbeitete Francis als Polizist in der Mordkommission von Detroit. Beinah 1,90 groß und hager. Die blonden Haare ungezähmt vom Kopf abstehend. Sehnig, aber für seine Länge eindeutig zu leicht, sah das Gesicht ständig ein wenig verhärmt aus. Nur aus seinen wasserblauen Augen strahlte immer ein kindlicher Schalk und um die Mundwinkel die meiste Zeit ein leises Lächeln, das andeutete, irgendwas Dummes fällt mir gleich ein.

»Ich habe viel Elend gesehen. Manchmal konnten wir vergessen, manchmal brauchten wir Hilfe. Niemand ist so hart. Du warst beim SAS. Ihr seid mit die härtesten Jungs. Ich möchte nicht wissen, welche Scheiße du erlebt hast. Aber bitte, wenn es dich so fertig macht, lass dir endlich helfen. Ich mag dich echt und ich habe keine Lust, wieder ein Greenhorn einzuarbeiten.«

Er lachte und schlug ab,

»Ich hau mich noch mal 'ne Runde aufs Ohr. Den Boss treffen wir erst um 10:00 Uhr.«

Ein Lächeln huschte über Aidans Gesicht.

»Ist OK, ich bin fit.«

Francis war vielleicht das, was Aidan O´Connel noch am ehesten als Freund betrachtete. Immer gut gelaunt, konnte er viele Situationen einfach durch einen netten Satz oder eine lustige Bemerkung entschärfen. Aber wenn es hart auf hart käme? Es kommt aber nicht hart auf hart, sagte er sich. Ich habe einen Beraterjob und da kommt es nicht hart auf hart.

»Ich seh' mal, ob ich in der Lobby schon einen Tee bekomme. Oder das, was die hier dafür halten.«

»Hmm«,

brummte Francis, der schon fast wieder eingeschlafen war.

»Ihr Briten und euer Tee.«

Aidan O´Connel hatte nicht die geringste Vorstellung, wie sehr er sich bei Beraterjob und nicht hart auf hart täuschen sollte. Nicht die Geringste.

2

Der Raum, in dem der Agent sich befand, war in Zwielicht getaucht. Schemenhaft erschienen ein Stuhl, ein Tisch und im Hintergrund, kaum erkennbar, eine weitere Türe.

Er stand da wie immer. Mit leicht gespreizten Beinen die Füße exakt in der Breite der Schultern positioniert, die Hände hinter dem Rücken gefaltet. Der Kopf etwas erhoben, um Überlegenheit auszudrücken, der Blick im Nirgendwo. Als schaue er durch alles hindurch, unfassbar, entsprechend seiner Programmierung.

Die Statur sportlich, trainiert, doch nicht mit Muskeln überladen. Er war einmeterachtundachtzig lang und circa fünfundachtzig Kilo schwer. So wie er da stand, erschien er auf merkwürdige Weise symmetrisch. Besonders das Gesicht. Legte man einen Spiegel in der Mitte an, so sähen beide Seiten gleich aus. Er trug leichte Kampfstiefel, eine schwarze Cargohose, ein T-Shirt. Darüber ein Kampfgeschirr mit Messerhalter, Pistolenholster, Reservemagazinen und einem Karabinerhaken vor dem Brustbein, zum Einhängen einer automatischen Waffe. In seinen, hinter dem Rücken gefalteten Händen, hing ein einfacher Sommerblouson, jedoch ein Wunderwerk an Technik. Vollgestopft mit Nah- und Fernkommunikation auf Nanobasis, die nicht irdischen Ursprungs war und jedes interstellare Abkommen verletzte. Gleichzeitig bewirkten die Fasern, dass die Jacke einem Messerstich und den Beschuss kleinerer Kaliber, auch aus geringer Entfernung, standhielten.

Die gegenüberliegende Tür öffnete sich und ein humanoides Wesen, dessen Proportionen nicht zu stimmen schienen, kam herein.

Mit schnarrender Stimme begann es ohne Umschweife.

»Agent Fowler. Die Agenten Constantin und Edward sind immer noch in der Nähe von ar-Rutbah. Dort unterstützen sie die Kämpfer auf dem Weg, der sie ins Paradies und zur Erleuchtung führen soll.«

Bei den letzten Worten hatte der ansonsten emotionslose, ja autistisch wirkende Agent, den Eindruck, als würde sein Gegenüber Sarkasmus an den Tag legen. Er wusste nicht, ob diese Wesen dazu in der Lage wären.

»Es scheint ein neuer Spieler auf dem Feld zu stehen. Wir wissen es aber nicht genau. Es fand Kommunikation in Frequenzbereichen und Kanälen statt, die von den allgemeinen irdischen abweichen. Sowohl militärisch als auch zivil. Bisher ist die Datenlage äußerst dürftig. Es reicht aus alle, die unsere Interessen vertreten und verteidigen, aufzuschrecken. Nicht nur auf der Erde. Die menschlichen Organisationen, auf die wir Einfluss nehmen können, sind informiert, mit erhöhter Wachsamkeit zu agieren. Zunächst besteht Ihre Aufgabe darin, ausschließlich zu recherchieren. Ein direktes Eingreifen ist noch nicht erwünscht, es sei denn, Sie erhalten Befehl. Der letzte Kontakt, der auffällig war, kam aus Berlin in Deutschland. Dorthin begeben Sie sich als Erstes. Zusätzliche Informationen können wir Ihnen hoffentlich geben, wenn Sie vor Ort sind. Vermasseln Sie es nicht, so wie Agent Erner!«

Grußlos drehte er sich um und verließ den Raum durch die Tür, durch die er eingetreten war. Das Licht wurde heller. Agent Fowler trat an die Wand und zog einen Datenport aus der Halterung. Er stöpselte das dünne Glasfaserkabel in den integrierten Stecker im linken Handgelenk. Unmittelbar darauf erschien vor seinen Augen das Startmenü des Informationsprogramms. Durch das Lenken des Blickes steuerte er den Menüpunkt Daten an, um es zu öffnen. Es blinkte jedoch nur eine Information auf. Keine aktuellen Daten vorhanden.

Er entfernte das Datenkabel und ging ebenfalls fort.

3

Pünktlich um 10:00 Uhr trafen Aidan und Francis in der Vertretung »Der Organisation« ein. Sie hätten ein Taxi genommen, aber O’Connel wollte lieber laufen. Die Sonne schien noch nicht heiß vom Himmel an diesem Frühsommermorgen in Hamburg. Ein frischer Wind ging und brachte den Duft der Nordsee in die Hansestadt.

Aidan mochte den Geruch. Es erinnerte ihn an seine Kindheit zu Hause in Cornwall. Wenn er und seine Freunde durch die Straßen und Gassen von St. Mawes, mit ihrem beinah mediterran anmutenden Charme, rannten.

Ihr Weg führte sie über den Jungfernstieg der Binnenalster. Hier aß Francis ein Fischbrötchen.

»Andere Länder, anderes Fast Food.«

Presste er, kaum verständlich, mit vollem Mund heraus. Natürlich fielen dabei Zwiebelringe auf Sakko und Krawatte.

»Der Boss kennt dich nicht anders.«

Aidan war amüsiert.

»Vielleicht haben sie dich genau deswegen angestellt.«

»Nein bestimmt nicht«,

antwortete Francis lachend. Den weiteren Weg über den Rathausmarkt, in Richtung der altehrwürdigen Speicherstadt, gingen sie schweigend nebeneinander. Zu dieser Tageszeit war es erstaunlich ruhig. Der Berufsverkehr hatte abgeebbt, die Geschäfte und Boutiquen waren noch geschlossen. Viele Hanseaten saßen beim Frühstück oder bereiteten sich auf das Tagesgeschäft vor.

O'Connel hing seinen Gedanken nach. Es war nicht das erste Mal, dass er für die Organisation andere Länder bereiste. Noch nie gaben sich seine Arbeitgeber aber so geheimnisvoll wie jetzt.

Bisher bestand seine Aufgabe meist in der Bewertung von Bewegungsprofilen sowie der möglichen taktischen und strategischen Bedeutung. Francis schwieg. Hauptsächlich aus dem Grund, dass eine feine Gräte des Herings zwischen zwei Zähnen im Oberkiefer feststeckte.

Ihr Ziel war Block P an der Kannengießer Brücke.

Ebenso wie an den sonstigen Büros, gab es auch hier kein Schild, geschweige denn eine Klingel.

Ohne die Architektur dieses Wahrzeichen Hamburgs zu würdigen, gingen sie hinein.

Sie stiegen die Industrietreppe bis in den dritten Stock. Aidan war verwundert, wie zielsicher Francis voranging, und fragte sich, ob er möglicherweise eine ganz andere Rolle innerhalb »Der Organisation« spielte, als er vorgab. Sie traten durch eine unscheinbare Türe und gelangten in einen großen Vorraum. Das Zimmer besaß zwei weitere Zugänge. Außer einer etwa einen Meter hohen und verstaubten Plastikpflanze war der Raum leer.

Francis betrat durch die linke Tür ein Büro, das genauso spartanisch eingerichtet war wie das Entree. Drei Klappstühle standen herum.

Der Blick durch die, an die Decke reichenden, Fenster war fast romantisch. Man konnte die schmalen Hafenbecken überblicken, die die langen Reihen der roten Backsteingebäude umspülten. Aidan sah vor seinem geistigen Auge die pittoresken Szenen, die sich vor annähernd fünfhundert Jahren hier abgespielt haben mussten. Das Be- und Entladen der Handelsschiffe. Das Palaver der Käufer und Verkäufer, erkennbar durch die, wie eine Uniform anmutenden, Mützen und Hüte. Gesichter aus allen vier Ecken, der damals bekannten Welt und ein babylonisches Sprachgewirr.

Er seufzte hörbar. Unvermittelt stand eine dritte Person vor ihnen. Ihr Vorgesetzter Mr. Smith. O’Connel staunte. Einmal, dass ein so hoher Vertreter »Der Organisation« hier in Hamburg weilte, und weiter, dass Francis sich nicht wunderte.

»Guten Tag meine Herren. Bitte nehmen Sie Platz.«

Trotz der ausgesuchten Höflichkeit strahlte er ein überbordendes Selbstbewusstsein aus.

»Ich darf davon ausgehen, dass die Herren bereits für Ihr leibliches Wohl gesorgt haben?«

Die Frage war rhetorisch, in Anbetracht der Flecken auf Francis Jacke.

»Wir können also sofort beginnen.«

Er löste seine Uhr, eine futuristisch anmutende Smart Watch, vom linken Handgelenk und berührte ein oder zwei Symbole auf dem Display. Zwischen ihnen leuchtete ein Hologramm auf. Aidan und Francis staunten. Egal, aus welcher Position man darauf schaute, für den Betrachter stellte es sich immer ideal dar. Zunächst wurden nur ein Ordnerverzeichnis und eine Art von Explorer dargestellt.

Mr. Smith bewegte sich in das Bild und mittels Winkbewegungen der Hände öffnete oder verschob er Dateien und Ordner. Die Darstellung war beeindruckend scharf und klar. Er hatte das Passende gefunden.

»Das ist Jonas Koehler, Mr. O’Connel Wohnhaft in Berlin. Für unser Projekt ist der von beträchtlicher Bedeutung, obwohl er es nicht weiß. Durch das Verfassen eines Artikels in einer wissenschaftlichen Zeitschrift hat er Strukturen, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, aufgeschreckt. Aus diesem Grund wird dem bedauernswerten jungen Mann momentan erheblich auf die Füße getreten.«

Das Programm zeigte ein Bild, das O’Connel ungläubig die Augen aufreißen ließ. Nebenbei bemerkte er, dass Francis nach wie vor erstaunlich entspannt war.

»Das ist doch Quatsch?«

Mehr belustigt als entsetzt blickte er, als ehemaliger Leutnant der SAS, von Mr. Smith zu Francis Shoemaker und wieder zurück.

»Keineswegs, Mr. O’Connel«

Etwas indigniert fuhr er nun fort.

»Die Überlegungen dieses begabten, jungen Mathematikers treffen voll und ganz zu. Nur ist er sich darüber nicht im Klaren. Er hat nur ein paar Berechnungen angestellt. Ein formidables kleines Programm entwickelt, dessen Algorithmen Beweise fanden, dass die Fotos der NASA im World Wide Web, die sie mit sehr viel Mühe verschlüsselten, manipuliert sind. Weiterhin errechnete er Sternenkonstellationen, die darlegen, dass die Bauten in Südamerika und Angkor Wat nur hilflose Kopien von Kindern sind. Und nicht wie von der archäologischen Zunft behauptet, großartige Darstellungen des Universums enthalten. Ausschließlich das Plateau von Gizeh hat einen realen Bezug. Es stellt nämlich die Position der Erde im Verhältnis zu Merkur und Venus dar. Im Übrigen befinden sich auf dem Mars, wie Sie bereits gesehen haben, ebenfalls Pyramiden, die die gleiche Konstellation wie jene in Ägypten aufweisen. Mit dem Unterschied, dass es sich dort, auf dem Roten Planeten, um vier Bauwerke handelt. Dadurch wird die Position des Mars, im Verhältnis zu den übrigen Drei, dargestellt. Das Ganze ist auch sehr viel älter, als man es Ihnen glauben machen möchte. Die Funktion ist so simpel wie genial. Verglichen mit der heutigen Zeit, ist es nichts anderes, als ein überdimensionaler Leuchtturm. Voilà. Nun, sehen Sie Mr. O’Connel, die Auftraggeber dieser Organisation, für die wir drei hier tätig sind, sind der festen Überzeugung, dass dieses Wissen geschützt werden muss. Nicht nur das. Sie glauben, dass es verbreitet gehört, da es möglicherweise einmal, nicht nur für das Schicksal der Erde, von Bedeutung sein wird.«

Und dann erklärte Mr. Smith einem skeptischen Aidan O’Connel in groben Zügen, wer er, »Die Organisation« und diese geheimnisvollen Auftraggeber tatsächlich seien.

»Es ist von immenser Tragweite Mr. O’Connel«,

Er sagt gerne immens, dachte Aidan bei sich. Mit einem Seitenblick zu Francis bemerkte er, dass dieser gelangweilt schien.

Er weiß das alles schon, schoss es ihm durch den Kopf.

»Dass Sie sich darüber klar sind«,

Schloss Mr. Smith seine Ausführung.

»Dass wir nur eine unbedeutende Gruppierung darstellen. Mit dieser Aktion geben wir uns das erste Mal die Blöße, dass es uns gibt. Es existieren Mächte und Strömungen die, sobald sie uns gewahr werden, mit jedem, verstehen Sie, mit jedem Mittel versuchen werden, uns aufzuhalten. Aus diesem Grund brauchen wir eben solche Mitarbeiter wie Sie, Militär, die auch mit heiklen Situationen zurechtkommen.«

Für einen Moment schien es, als huschte eine dunkle Wolke über das ewig gleichmütige Gesicht von Mr. Smith.

»Und vielleicht wird auch Ihr Albtraum …«

Da war es bereits wieder verschwunden.

»Alles Weitere, was Sie momentan wissen müssen, haben wir Ihnen auf den Datenträger der Uhr gespielt.«

Er überreichte ihm eine ebensolche Uhr, wie er selbst sie trug.

»Vor der Tür steht ein Fahrzeug für Sie. Dieses erstaunliche Gerät dient ebenfalls als Schlüssel, um den Wagen zu starten. Sie fahren jetzt nach Berlin und nehmen, dort angekommen, Kontakt zu Jonas Koehler auf.«

»Mach's gut, Alter. Wir sehen uns bald.«

Francis klopfte ihm auf die Schulter.

»Ich weiß nicht, ob ich dich beneiden soll, ich fürchte, das ist erst der Anfang einer langen und schwierigen Reise.«

»Mr. Shoemaker, für Sie habe ich eine andere Aufgabe. Folgen Sie mir bitte.«

»Ja, Sir.«

Nuschelte dieser,

»Ich komme. Scheiß Gräte.«

Er versuchte sie, nach wie vor aus seinen Zähnen zu klauben. Dann fiel die Tür ins Schloss und Aidan war alleine.

»WOW!«

Sagte er laut in den leeren Raum. Er nahm Platz und betrachtete zunächst die Uhr oder was immer es darstellte. Sie sah ganz normal aus und zeigte nur die Uhrzeit an, 10:45 Uhr. Später nicht? Wunderte er sich.

Ich habe das Gefühl, dass gerade Jahrhunderte an mir vorbeigerauscht sind.

Sein Wissen und seine christliche Erziehung waren, in den letzten fünfundvierzig Minuten, ad absurdum geführt worden.

»Auf der anderen Seite, wenn das alles stimmt, würde es sehr viel erklären.«

Er atmete hörbar, dann verließ auch er die Räume. Ging die drei Stockwerke herunter und trat hinaus, in den nach wie vor sonnigen Vormittag in Hamburg.

Auf der Straße stand ein schwarzer Mercedes ohne Kennzeichen. Als er sich im näherte, piepte die neue Uhr einmal. Die Blinker des dunklen Wagens leuchteten zweimal kurz auf, ganz so, als antworteten sie. Er öffnete die Tür und nahm auf dem Fahrersitz Platz.

Bis hierher alles normal, dachte er. Dann startete das Fahrzeug den Motor und rollte los.

»Das mache ich doch lieber selber«,

Sagte O’Connel und ergriff das Lenkrad.

»Mit einem Auto reden.«

Er schüttelte den Kopf. Fuhr aus Hamburg heraus auf die A24 Richtung Berlin, wo sich sein neuer Auftrag befand. Überzeugen und Mitnehmen eines jungen Mannes, der ein ausgemachter Verschwörungstheoretiker ist.

4

Langsam und träge schwebte das föderale Kontrollschiff durch die Trümmer der Raumstation. Wie eine Hummel, die bedächtig von Blüte zu Blüte schwirrt, bewegte es sich, nur von Manövrierfeldern angetrieben von Bruchstück zu Bruchstück. Das Schiff sah sogar beinah so aus wie das irdische Insekt. Plump und rundlich. Mit einer auffälligen schwarz- gelben Farbcodierung versehen, die in Längsstreifen über den Rumpf des Bootes lief. Backbord und Steuerbord zwei ausgebreitete Sensorphalangen. Sechs permanente Landestützen und noch einmal zwei unpaarige Greifarme. Innen herrschte Verwirrung. Die vier Personen, die an Bord verweilten, stimmten überein, dass das, wofür sie beauftragt wurden, erheblich ihre Kompetenzen überschritt. Weder waren sie sensormäßig für diesen Auftrag ausgerüstet, noch ausreichend ausgebildet, um eine solche Ermittlung durchzuführen. Normalerweise bestand ihr Aufgabenfeld darin, Andockunfälle auf Raumstationen aufzuklären, Wartungen an unbemannten Tiefenraumfrachtern vorzunehmen oder als Reparaturtrupp ihre Pflicht zu erfüllen. Aber nicht das hier. Die meisten, nein eigentlich alle Messwerte, die sie aufzeichneten, ergaben keinen Sinn. Nachdem sie die ersten Meldungen abgesetzt hatten, warteten sie. In der Hoffnung, dass ihre Vorgesetzten sie abzögen und ein Forscherteam schickten, das besser geeignet wäre, den Vorfall zu untersuchen. Zur allgemeinen Verwunderung wurde ihnen jedoch mitgeteilt, dass sie weiter, so gut es ginge, Daten und Material einsammeln und katalogisieren sollten. Eine Ablösung sei vorläufig nicht in sicht. Da eine entsprechende Heuer in Aussicht gestellt wurde, machten sie sich, im Rahmen der eingeschränkten Möglichkeiten, an die Arbeit.

Dass zwei von ihnen Mensch-Alien Hybride waren, interessierte die eingespielte Truppe nicht. Die Arbeiter der föderalen Weltraumüberwachung stellten einen bunt zusammengewürfelten Haufen unterschiedlichster Spezies dar. Ressentiments gegenüber Andersartigen oder gar Rassismus waren fremd. Im Gegensatz zu den lokalen Systemverwaltungen der einzelnen Planeten in der Föderation. Daher gingen sie sehr entspannt miteinander um. Die Enge des Kontrollschiffs schränkte sie nicht ein.

Entsetzen machte sich breit, als nicht nur plötzlich alle Energiesensoranzeigen in den roten Bereich schossen, sondern auch der Annäherungsalarm losplärrte. Dessen Anzeige stellte etwas von den Ausmaßen einer kleinen Raumstation dar, allerdings schien das unmöglich. Da erkannten sie, während sie aus den seitlichen Sichtluken blickten, einen riesigen Kampfkreuzer. Die Vier hatten diesen Typ Kriegsschiff bereits gesehen, wenn sie draußen einsam in ausreichendem Abstand zu orbitalen Dockstationen auf Reede lagen. Diese Kreuzer waren enorm groß. Sie beherbergten mehrere Geschwader Kampfflieger, konnten viele tausend Soldaten befördern und durch ihre schiere Feuerkraft einen kleinen Mond pulverisieren.

Ein solcher Leviathan hatte sich vor wenigen Augenblicken, kaum einhundert Meter entfernt, direkt aus dem Hyperraum neben ihnen materialisiert. Ehe die vier armen Figuren realisierten, was wirklich geschah, öffnete sich eine winzige Luke im Rumpf des Kriegsschiffes. Das helle Quadrat war schwer zu erkennen bei all den Waffen und Antennen, mit denen der Kreuzer gespickt war. Ihr Kontrollschiff steuerte unverzüglich darauf zu, ohne dass sie in der Lage gewesen wären, den Kurs selbstständig zu manipulieren. Nach nicht einmal einer Minute verschwand das winzige Boot im Lichtquadrat. Lautlos schloss das stark gepanzerte Schott. Sie waren in einem Hangar gelandet. Nachdem der Druckausgleich abgeschlossen war, füllte der Raum sich mit finster dreinblickenden Soldaten der interstellaren föderalen Eingreiftruppe. Alle bis an die Zähne bewaffnet.

5

In 20 Minuten war seine Rechnerzeit abgelaufen. Steve Mitchell starrte auf die Bildschirme vor ihm. Klein, Nickelbrille, kaum anständiger Bartwuchs. Er stellte den Prototyp und die Karikatur des eigenbrötlerischen Wissenschaftlers dar.

Inständig hoffte er, dass das gewünschte Ergebnis rechtzeitig zustande käme. Wie so oft, hatte er an den Großrechnern des MIT Zeit gebucht. Er hoffte, mit den von ihm entwickelten Algorithmen, Zusammenhänge in weltpolitischen Ereignissen zu finden, wo vordergründig keine auftraten. Die Verwaltung erlaubte ihm seine Exkurse zwar nicht offiziell, aber sie verschloss die Augen.

Denn die physikalischen Antworten, die der »verschrobene Steve«, wie er hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, präsentierte, machten es mehr als wett. Außerdem beschränkte er sich größtenteils auf Wochenenden und Feiertage.

In diesen Perioden lag das mächtige Elektronengehirn sowieso die meiste Zeit brach.

Noch fünfzehn Minuten.

Das Smartphone empfing eine kurze Textnachricht von einem unbekannten Absender.

Es geht los.

Er löschte die Nachricht. Stand auf und ging. Kein Ausloggen. Nicht einmal die Bildschirme stellte er aus.

Auf dem klapprigen Mofa fuhr er die hundert Meter über den Campus des MIT zu seiner Wohnung.

Dort angekommen schaltete er den eigenen kleinen Großrechner an und wartete, dass er hochfuhr. Er kopierte alle, für ihn wichtigen, Daten, auf eine portable, sechs Terabyte Festplatte.

Während der Übertragung packte er die notwendigsten Dinge, Zahnbürste, Unterwäsche zum Wechseln und zwei oder drei Habseligkeiten zusammen.

Nachdem der Computer fertig war, startete er ein Programm, dass die Software und alle Daten irreversibel zerstörte. Steve verließ seine Wohnung, ohne zurückzuschauen.

Vor der Haustür wartete ein Van mit abgedunkelten Scheiben. Er stieg ein und das Fahrzeug setzte sich unmittelbar in Bewegung. Der Kleinbus fuhr zum Boston Logan International Airport direkt auf einen abgelegenen Teil des Flugfeldes.

Steve betrat die wartende Privatmaschine »Der Organisation«. Er nahm in einem der bequemen Ledersessel Platz und verband sofort die Festplatte mit dem dort stehenden Laptop.

»Sir, Sie müssen sich anschnallen. Wir starten.«

Er ignorierte die brünette Flugbegleiterin.

»Sir, bitte schnallen Sie sich an.«

»Mmh.«

Er brummte nur und bearbeitete die Tastatur, in der Hoffnung nicht weiter gestört zu werden.

»Nun gut, wenn Sie es nicht anders wollen!«

Beherzt griff die Stewardess zu den Gurten des Sitzes und schnallte ihn fest.

»Sollten Sie etwas wünschen, melden Sie sich einfach.«

Bemerkte sie schnippisch.

Er registrierte nicht einmal, wie sie abhoben, so vertieft war er in das, was auf dem kleinen, leuchtenden Display stand.

Hoch über dem Atlantik flog die Gulfstream Richtung London in die hereinbrechende Nacht.

6

Jorge Garcia Gonzalves saß im Zentrum von Buenos Aires in einem kleinen Café. Für den Spätherbst war es an einem Vormittag Ende Mai ungewöhnlich warm. Der große Corona Sonnenschirm spendete Schatten. Das Brioche auf dem Teller vor ihm war halb gegessen.

Gedankenverloren saß er angelehnt auf dem Bistrostuhl. Überall machten sich die Auswirkungen der Wirtschaftskrise bemerkbar. Zwar herrschte rege Betriebsamkeit auf den Straßen der Hauptstadt, jedoch verschwanden die kleinen Geschäfte und Bars in immer kürzerer Zeit. Die Fenster verklebt und Schilder an den Türen. Sie priesen die Immobilien zur Vermietung. Doch die Argentinier hatten im Moment kein Geld um das Leben zu genießen. Geschäftsleute mit ihren Aktenkoffern, Smartphones und Tageszeitungen unter dem Arm strebten hektisch den nächsten Termin entgegen. Aber die Sohlen waren abgelaufen. Rassige Frauen in Designerkostümen, knallroten Lippen und Fingernägeln, stolzierten durch die Straßen. Wenn man jedoch genau hinsah, dann erkannte man, das Kostüm war aus der vorherigen oder gar vorletzten Saison. Der Nagellack war nicht perfekt, sondern an der einen oder anderen Stelle abgeplatzt. Und am Ansatz der Haare konnte man erkennen, wie lange die letzte Färbung zurücklag. Außerdem waren die Mähnen häufig grau durchsetzt.

Jorge seufzte. Für ihn war die Krise von Vorteil. Ständig nahm die Zahl der Aufträge für Reparaturen zu. Und er reparierte alles. Autos, Computer, Waschmaschinen, Föhne. Die Bevölkerung konnte es sich meist nicht mehr leisten, Alltagsgegenstände neu zu kaufen. Reparieren war billiger und bei ihm sowieso.

Durch seine Familie war er Teilhaber an mehreren großen Rinderzuchten. Das Exportgeschäft mit argentinischen Steaks brummte. Sein Vater sähe ihn lieber auf der Hazienda, doch akzeptierte er, dass bei Jorge eine Kuh am besten, gebraten, auf dem Teller aufgehoben ist. Seine Talente lagen im Verstehen von mechanischen und elektronischen Bauteilen. Er brauchte nicht nachrechnen, warum eine Schraube dieses oder jenes Maß haben musste. Er wusste es einfach so. Deshalb hatte er auch früh das Ingenieurstudium abgebrochen und eine Werkstatt am Rand des Zentrums von Buenos Aires eröffnet. Und es gab nichts, was er nicht reparieren oder modifizieren konnte.

Durch Zufall war »Die Organisation« auf ihn aufmerksam geworden. Die Empfehlung durch einen seiner ehemaligen Professoren war es, die Mr. Smith in die kleine Manufaktur geführt hatte. Auch die so weit entwickelte Technik bedurfte von Zeit zu Zeit der Wartung. Da es jedoch nicht immer möglich war, Material auf die Erde zu schmuggeln, mussten die Mitarbeiter und Konstrukteure oftmals improvisieren. Und hierin war er, Jorge Garcia Gonzalves, weltweit einer der Besten. Schließlich konnte er fast fühlen, was einer Maschine fehlt.

Er hob seine Hand in Richtung des Obers, bedeutete ihm mit einer Geste, dass er noch einen Kaffee wünschte.

»Si, Señor«.

Die Uhr zeigte ihm, dass noch Zeit sei.

Mr. Smith verspätet sich nie, dachte er bei sich, sein Spiegelbild im Fenster betrachtend. Ihm fiel auf, dass er sich nicht einmal das Gesicht abgewischt hatte.

Ich sehe aus, wie ein kleiner, dicker, ölverschmierter Antonio Banderas.

Er musste lachen bei dieser Vorstellung. Ein großer blonder Gringo lächelte ihm über das spiegelnde Fenster zu. Setzte sich, nahm eine Sonnenbrille heraus und schlug die Zeitung auf. Bei einer Maschine hätte sich Jorge über die Sinnlosigkeit einer solchen Handlungsweise gewundert. Aber bei einem Menschen fiel ihm das nicht weiter auf.

Plötzlich, wie eine Erscheinung, stand eine junge Frau vor ihm. Groß, schlank und sportlich. Lange, blonde Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden. Bekleidet mit einem leichten Sommerkleid. Mit der Sonne im Rücken konnte er die Konturen ihres Körpers erahnen. Nach oben blickend, schaute er ihr in die Augen. Erstaunlich grüne Augen.

»Feuer?«

»?«

»Ich fragte, ob Sie eventuell Feuer für mich haben?«

Strahlend lächelte sie ihn an.

»Ja.«

So knapp seine Antwort ausfiel, so eingeschränkt war auch die Bewegung. Lustlos schnippte er sein Feuerzeug über den kleinen Tisch in ihre Richtung.

»Wiedersehen macht Freude!«

»Danke.«

Gab sie in bezauberndem Tonfall zurück.

Mehr als ein,

»Hm.«

Kam jedoch nicht über seine Lippen. Was für ein Klappergestell dachte er bei sich. Warum kommt mit einer solchen Frage, nicht mal eine hübsche Frau zu mir. Pralle Rundungen, kohlrabenschwarzes Haar, leuchtend rote Lippen, Augen wie zwei glühende Kohlen. Vor seinen Geist zeichnete sich das Bild seiner Traumfrau ab. Er seufzte. Nicht dass beinahe alle seine Verhältnisse so aussahen. Und wo es eine gibt, da gibt es viele. Mit Sämtlichen hatte er herrliche Streitereien, wild, mit zerschmissenem Geschirr und Kratz- und Beißspuren. Er schmunzelte selig und nahm nicht einmal mehr wahr, dass die junge Frau versuchte, ihm sein Feuerzeug zurückzugeben.