Die Tochter - Maxim Biller - E-Book

Die Tochter E-Book

Maxim Biller

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Beschreibung

Provozierend, verwirrend, eindringlich: Maxim Billers erster Roman Eine Liebe in Deutschland – Maxim Billers erster, großer Roman erzählt die Geschichte von Motti, dem Israeli, der alles vergessen will, was er als junger Soldat im Libanonkrieg erlebt hat, und von Sophie, der Touristin aus Deutschland, die ihm helfen soll, in ihrer Heimat ein neues Leben zu beginnen. Doch zwischen Mottis Welt, der Welt seiner Eltern in Tel Aviv, die dem Holocaust entkamen, und Sophies deutschem Leben und deutscher Familie wächst eine Kälte, die Mottis Seele zu zerreißen droht. So flieht er in eine neue, gefährliche Liebe – die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter Nurit ... In Maxim Billers Roman wird Mottis immer verzweifeltere Suche nach dem Glück, seine Sehnsucht nach Erlösung, als eine ergreifende Leidensgeschichte erzählt, die in einem einzigen Tag im hektischen München der 90er Jahre kulminiert. In verblüffenden Wendungen wird der Leser dabei vom Autor durch das Lebenslabyrinth seines Helden getrieben und in ein berückendes Spiel von Schein und Sein verwickelt. Ein moderner Großstadtroman ist so entstanden, ein Stück aufregender schwarzer Prosa, ein ganz eigensinniger Blick auf die Gegenwart dieses Landes durch das Auge der Literatur.Die Geschichte einer verzweifelten Suche nach Erlösung – Motti, der Israeli, im München der 90er Jahre, das Drama seiner Ehe mit Sophie, seiner deutschen Frau, seine Liebe zu seiner Tochter Nurit und sein verzweifelter Kampf gegen die Gespenster seiner Vergangenheit in der israelischen Armee während des Libanonkrieges

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Seitenzahl: 644

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Maxim Biller

Die Tochter

Roman

Kurzübersicht

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> Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

WidmungMottoDie TochterDank
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Für Bettina

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»Gordweil stieß ein ersticktes Ächzen aus. Er meinte, vor Schmerz und Lust zugleich ohnmächtig zu werden. Bisher hatte noch keine Frau ihn in eine ähnliche Lage versetzt.«

David Vogel, Eine Ehe in Wien

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ALS MOTTI WIND NACH ZEHN LANGEN, bedrückenden Jahren seine Tochter Nurit wiedersah, hatte sie fast gar nichts an. Ihre dunkle Windjacke, die weiße Bluse und die Jeans lagen neben ihr auf dem großen Hotelbett, das mit einer schweren roten Decke bezogen war. Sie hatte bereits ihre Socken abgestreift und die beiden gelben Spangen aus dem Haar gelöst, so daß es nun über ihre nackten Schultern fiel und ihren hohen Brustansatz bedeckte. Während sie das orangefarbene Bikinioberteil, das vorne zusammengebunden war, vorsichtig aufzuschnüren begann, überlegte Motti kurz, ob es nicht besser wäre aufzuhören, aber dann dachte er, daß es ohnehin keine Rolle spielte, ob er weitermachte oder nicht. Ihre großen, mädchenhaften Brüste wirkten wie angeschwollen, man sah ihnen an, daß sie gerade erst gewachsen waren, und als Motti bemerkte, wie unsicher und neugierig sie selbst beim Ausziehen ihres Slips an ihnen herabsah, so als habe sie sich noch gar nicht an sie gewöhnt, steigerte das sein Hochgefühl.

Anfangs hatte er sie überhaupt nicht erkannt, er hatte einfach nur ihre Schönheit bewundert, die sorglose und gepflegte Schönheit eines Mädchens, das im Gegensatz zu den meisten andern, eher gewöhnlichen und oft leicht verwahrlosten Mädchen seiner Sonntage offenbar sehr behütet aufgewachsen war. Er hatte darum sofort versucht, sich vorzustellen, wie früher ihre Bettwäsche gerochen haben mochte – bestimmt hatte sie eine Daunendecke gehabt und ein Kissen, das so groß und weich war, daß man es sich zum Lesen bequem unter den Kopf schieben konnte –, im nächsten Moment sah er sie auch schon in ihrem unaufgeräumten Kinderzimmer auf dem Fußboden sitzen und telefonieren, er sah ihr müdes und erhitztes Gesicht, wenn sie von der Schule nach Hause kam, er sah, wie sie sich mit ihrer Mutter in einem Schmuckgeschäft tief über eine Vitrine beugte, er sah sie mit einer Freundin in einem Konzertsaal, auf den Abonnementplätzen ihrer Eltern, er sah sie nachts, nach dem Ausgehen, in der dunklen Küche vor dem offenen, hellerleuchteten Kühlschrank stehen und aus einer großen Glasflasche Milch trinken. Und genau da hatte er zum ersten Mal an diesem Vormittag an seine Tochter gedacht. Es war zunächst nur der Schatten eines Gedankens gewesen, er huschte durch seinen Kopf und verschwand sofort, aber kurz darauf tauchte er wieder auf, ohne daß Motti gewußt hätte, was er mit ihm anfangen sollte. Er wurde, obwohl noch gar nichts passiert war, sofort von einer ungewöhnlichen Erregung erfaßt, und während er sich massierte, während er sein warmes Glied in seiner Faust spürte, erwärmte sich auch sein Herz, und er blickte wie ein Verliebter in die forschenden, traurigen, abweisenden Augen des Mädchens auf dem Fernsehschirm. Im Hintergrund hörte er die Stimme des Mannes, der sie, wie alle anderen Darstellerinnen vor ihr in dem Video, zunächst aufgefordert hatte, ihm für zwanzig Mark ihre Titten zu zeigen; weil sie sich – wie verabredet – weigerte, hatte der Mann schnell auf dreißig Mark erhöht, womit sie einverstanden gewesen war, worauf von der Seite eine Hand ins Bild kam und ihr von oben die beiden Scheine zusteckte, die sie mit einem süßen, ängstlichen Lächeln entgegennahm. Dieses Lächeln hatte natürlich nicht ihm gegolten, aber Motti mußte es trotzdem erwidern, seine Mundwinkel schoben sich unwillkürlich nach oben, seine ganze Gesichtsmuskulatur entspannte sich, und ein lange vermißtes Glücksgefühl durchfuhr seine Brust. Im selben Moment war der Gedanke an Nurit, an seine kleine, stumme, geliebte Nurit, die er so lange nicht mehr gesehen hatte, wieder stärker geworden, er wurde für Sekunden so stark und übermächtig und groß, daß er sich, wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis, zwischen Motti und den Rest der Welt geschoben hatte, dann verschwand er wieder und gab erneut den Blick frei auf das Mädchen auf dem Bildschirm, und ab da war noch mehr Nähe zwischen ihm und ihr. Eine wie sie wäre gut, war Motti plötzlich durch den Kopf geschossen, dann würde alles viel einfacher sein als jetzt – dann würde jeder seiner Schritte leichter werden, die Arbeit fiele ihm nicht mehr so schwer, er würde morgens nicht mutlos in seinem Bett liegen, sondern beim Klingeln des Weckers sofort aufspringen. Vielleicht würde er sogar endlich aufhören, sich vor allem möglichen zu fürchten, vor dem unerwarteten Klingeln an seiner Wohnungstür, vor den harmlosen Rechnungen und Behördenbriefen in seinem Briefkasten, die er meistens erst Tage oder Wochen später herausnahm und öffnete, vor den ewigen Geräuschen hinter den Wänden seines Appartements. Angst wäre nur noch ein Wort für ihn, denn alles, was er tun würde, täte er immer auch für sie, dachte Motti gerührt, und die Wärme wanderte aus seiner Faust über die Lenden den Rücken hinauf bis zum Hals. Ja, und auch sie täte alles für ihn, und so hielte er es mit ihr überall aus, sogar hier, hier-hier-hier, wo es Mädchen und Frauen wie sie gar nicht gab, hier, in Sofies Totenland, das er nun sowieso hoffentlich bald verlassen würde. Wo es Mädchen und Frauen wie sie gar nicht gab? Bei diesem Satz hatte Motti gestockt, seine Hand wurde kraftlos und glitt aufs Laken. Mein Gott, wie jüdisch sie aussah, dachte er erschrocken, und noch während er sich fragte, warum es ihm nicht gleich aufgefallen war, erschrak er ein zweites Mal. Nein, das war doch nicht möglich, wehrte er sich, das war vollkommen absurd, aber da ahnte er längst, daß es so war, und er begriff nun endlich, warum ihm der Gedanke an sie all die Zeit im Kopf herumgespukt war. In dieser Sekunde hatte das Mädchen auf dem Bildschirm aufgeschaut, stumm, mit fragendem Blick, sie wollte wissen, ob sie anfangen sollte, und die unruhige Kamera ging dicht an sie heran. Ja, sie war es, es gab keinen Zweifel. Auf einmal erkannte er alles wieder bei ihr, sein eigenes schmales, ein wenig zu kleines Gesicht, die eng beieinanderstehende Augenbrauen, die zusammen mit der umschatteten langen Nase genauso wie bei ihm ein T bildeten, die hellen Lippen, die von selbst zuckten, wenn sie lächelte oder ängstlich war. Als kleines Mädchen schon hatte sie ihm so ähnlich gesehen, daß er sich manchmal, wenn er nicht mehr weiterwußte, vorstellte, er hätte sie gar nicht mit Sofie, sondern ganz allein, wie durch Zellteilung, gezeugt, nur ihre Haare waren immer anders gewesen als seine, sie waren aschblond, wie die von Sofie. Sie sind dunkel geworden, murmelte Motti, meine Tochter hat dunkles Haar, und dann hatte Nurit angefangen, langsam ihre Windjacke auszuziehen, die Bluse und die Jeans.

 

»Hast du schon oft gefickt?« hörte Motti jetzt den Mann sagen.

Nurit lag nackt, mit weit auseinandergespreizten Beinen, auf dem Bett. Sie nickte. »Und gefällt es dir?«

Sie schüttelte, die Lippen zu einem ironischen Lächeln zusammengepreßt, träge den Kopf.

»Aber du wichst gern, du kleine Sau. Stimmt’s?«

Jetzt nickte sie wieder, und noch bevor sie etwas sagen konnte, tauchte die Hand des Mannes abermals im Bild auf, und er legte ihr einen Fünfzigmarkschein auf den nackten Bauch.

»Ich will jetzt ganz genau sehen, wie du es dir machst«, sagte der Mann leise.

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EIGENTLICH WAR DER LIBANONKRIEG an allem schuld. Im Sommer 1982 hätte Motti bereits in London sein sollen, wo er ein paar Wochen bleiben wollte, um von dort nach Neu Delhi weiterzufliegen. Alle seine Freunde und Schulkameraden verschwanden nach der Armee für eine Weile aus dem Land, jedenfalls die, die es sich leisten konnten, und auch die ärmeren unter ihnen taten alles, um wegzukommen, und wenn sie es nur bis Zypern oder Griechenland schafften. Wer aber eine wirkliche Pause von Israel wollte, besorgte sich ein einfaches Ticket nach New York oder L.A., damit er nicht so schnell in Versuchung geriet zurückzukehren, er suchte sich dort einen Kellnerjob oder schrieb sich für einen Tai-Chi-Kurs ein. Doch so entschlossen war Motti nicht gewesen. Er wollte bald studieren, und außerdem konnte er sich, schon wegen seiner Eltern, gar nicht vorstellen, für eine wirklich lange Zeit wegzugehen. Ein paar Monate Indien und Nepal sollten genug sein, um auf andere Gedanken zu kommen und die erste Neugier auf die Welt dort draußen zu befriedigen, die für ihn bis jetzt so unerreichbar weit weg gelegen hatte hinter den Festungsmauern seiner beengenden Heimat, wo jeder jeden kannte, wo jeder über jeden alles wußte, wo jeder vom andern verlangte, daß er in diesem ewigen Krieg keinen Tag lang von der Seite seiner Leute wich. Motti war, wie fast alle seine Freunde, bis dahin noch kein einziges Mal im Ausland gewesen, und daß es ihn nach Asien zog, hatte eigentlich nur damit zu tun, daß er sich jene hunderttausend strahlenden, märchenhaften Farben einmal aus der Nähe ansehen wollte, in die, wie er oft gehört hatte, die Landschaften, Speisen und Stoffe dort getaucht waren. Doch dann, einen Monat nach seiner Entlassung aus der Armee und eine Woche vor dem Abflug, saß er wieder in seinem Panzer und donnerte auf Beirut zu. Es war sein erstes Mal, und bei jedem Schuß, den sie abfeuerten, bei jedem Rückstoß, der das tonnenschwere Gefährt wie eine leere Bierdose erzittern ließ, bei jedem gellenden, angsterfüllten Triumphschrei, den der irre gewordene Eli an seiner Kanone über ihm ausstieß, wurde Motti übel, er schwitzte und zitterte wie ein Fieberkranker. Übertroffen wurde seine Nervosität nur noch von seinem Eifer – er wußte, je besser sie kämpften, je schneller sie die Palästinenser ins Meer trieben, desto früher käme er hier wieder raus. Wie die Verrückten jagten sie die Küstenstraße hinauf, durch dieses häßliche, flache, verdorrte Land, dessen graues Meer, dessen vertrocknete Flüsse, heruntergekommene Häuser und abgefressene Bananenplantagen ihm wie eine bösartige Karikatur Israels vorkamen. Erst hinter dem Litani veränderte sich die Gegend, im Osten tauchten plötzlich Hügel auf, weiße und grüne Hügel, an deren Hängen Häuser standen, die prächtiger waren als die prächtigsten Villen von Savion, während gleichzeitig im Westen das Meer mit einem Mal wie ein riesiges grünes Seidentuch im grellen Junihimmel zu flattern begann. Irgendwann kurz vor Sidon, ihr letztes Gefecht lag bereits zwei Tage zurück, dachte Motti, sie hätten das Schlimmste nun hinter sich. Er wurde von Stunde zu Stunde ruhiger, sein Appetit kehrte zurück, und immer öfter schaute er für kurze, verträumte Augenblicke durch seinen Sehschlitz hinaus und dachte dabei lächelnd, daß er sich seine erste Auslandsreise eigentlich anders vorgestellt hatte. Aber dann kamen sie nach Al-Biah. Auch hier schien zuerst alles in Ordnung zu sein, die Schiiten, die froh waren, die PLO loszuwerden, bewarfen ihre Panzer mit Reis, sie gaben ihnen zu trinken und zu essen, und es dauerte etwas zu lange, bis Motti und die anderen bemerkten, daß die Schiiten gar keine Schiiten waren. Nachdem die Sache vorbei war, erhob sich ein deprimierender, fauliger Gestank über Al-Biah, und Muamar, dieser Hundesohn, war nur noch Matsch auf dem Pflaster seiner Heimatstadt.

Als Motti die Uniform endlich wieder ausziehen konnte, war es schon Herbst. Drei Monate waren vergangen, drei läppische Monate, aber er hatte jetzt das Gefühl, alles, was das Leben für ihn bereithielt, habe er bereits hinter sich. Nachts wurde er ständig wach, er hatte oft keinen Appetit, dann wieder aß er für zwei. Häufig kam es ihm so vor, als ob seine Arme und Hände zitterten, aber wenn er sie ansah, waren sie vollkommen ruhig. Er war ungeduldig mit seinen Eltern und schrie sie ständig an, er hielt die Wutanfälle seiner Mutter nicht mehr aus, doch die sanfte, zurückhaltende Art seines Vaters regte ihn genauso auf, beim Lesen konnte er sich nicht konzentrieren, jeden Absatz las er dreimal und wußte hinterher immer noch nicht, was er gelesen hatte, an Rosch Haschana und Jom Kippur langweilte er sich in der Synagoge wie früher, als er noch ganz klein gewesen war, und am schlimmsten fand er, daß er sich plötzlich wie alle wegen jeder Kleinigkeit mit Kellnern und Taxifahrern herumstritt. Er mußte weg, so schnell wie möglich, alles machte ihn nervös, und vor allem hielt er den ständigen Lärm nicht mehr aus. Wieso war ihm das nie vorher aufgefallen? Das ganze Land bestand aus Lärm, aus Autolärm, Flugzeuglärm, Radiolärm, alle paar Minuten ging irgendwo eine Alarmanlage an, überall dröhnten Airconditioner, die Leute schrien sich an, statt miteinander zu sprechen, sie drehten ihre Fernseher so laut, daß man sie zwei Straßen weiter hören konnte, und aus den Kindergärten kam die Musik mit solch ohrenbetäubendem, scheppernden Krach, als würde sie durch riesige Megaphone gejagt, um die Kinder schon jetzt an den Lärm zu gewöhnen, der sie ihr Leben lang terrorisieren würde.

Mottis altes Ticket war inzwischen verfallen, aber weil er nicht länger warten wollte, nahm er den erstbesten billigen Flug, den er auf die Schnelle kriegen konnte: Arkia, Tel Aviv-Neu Delhi, mit Zwischenstopp in München. Und genau das war der Fehler gewesen. Wer, fragte er sich Jahre später, als es wegen Nurit die ersten Probleme gab, hätte wohl ein paar Monate zuvor neben ihm auf dem Flug nach London gesessen? Bestimmt nicht Sofie, und sogar wenn, hätte eine wie sie ihn da garantiert noch kaltgelassen. So nahm er aber eines Morgens Ende November neugierig neben dieser etwas dicklichen, blonden Deutschen Platz, die ihm bereits bei der Paßkontrolle aufgefallen war, weil sie bei jedem Wort, das die nervöse und überlaute Soldatin am Schalter an sie gerichtet hatte, mehr erstaunt als erschrocken zusammengezuckt war, um hinterher mit aufgerissenen Augen so leise und höflich zu antworten, wie er noch nie in seinem Leben einen Menschen sprechen gehört hatte. Später, in der Luft, betrachtete er von der Seite ihr fast weißes, konturloses Gesicht, in dem nicht einmal die israelische Sonne Spuren hinterlassen hatte und dessen einzige Besonderheit darin bestand, daß es immer dann, wenn sie sich vorbeugte oder über eine seiner Bemerkungen erschrak, ruckartig auch noch den letzten Rest an Farbe verlor. Er musterte ihre weißen Hände und Knöchel, er sah ihr über die weiße Schulter, während sie in ihrem Israelführer las, er beugte sich zu ihr herüber, um sich von ihr, die schon alles vom Hinflug kannte, im Fenster Kreta, Zagreb und die Alpen zeigen zu lassen, und lugte ihr dabei in den Pullover, weil er sehen wollte, ob ihre übergroßen, hängenden Brüste auch so schön weiß waren wie ihr Gesicht. Sonst redeten sie in den ersten Stunden ihrer Bekanntschaft nicht viel miteinander, weil Motti alle dreißig Minuten beschloß, die junge Frau neben sich so aufregend zu finden wie ein Wagenrad – aber auch, weil ihre Antworten jedesmal so karg und knapp ausfielen, daß er immer erst eine Weile überlegen mußte, was er sie als nächstes fragen könnte. Irgendwann schlief er einfach ein, und im Schlaf rutschte sein Kopf auf ihre Schulter. Als er aufwachte, saß sie steif und reglos da, den Reiseführer – der nach wie vor auf derselben Seite aufgeschlagen war – wie ein Gebetbuch in beiden Händen.

»Immer noch Massada?« sagte er auf englisch, während er sich aufsetzte.

»Ich wollte Sie nicht wecken«, erwiderte sie.

»Das haben Sie aber.«

»Oh!«

Er legte den Kopf wieder leicht auf die Seite, und als er merkte, daß ihr Haar sein Ohr kitzelte, lief ihm ein angenehmer kühler Schauer über den Rücken, und er schüttelte sich. Sie hatte wirklich »Oh« gesagt, dachte er. Und wie schön sie es gesagt hatte! Ganz leise und zart vor Schreck. Er hatte noch nie ein Mädchen »Oh« sagen gehört, jedenfalls nicht so. Die Mädchen und Frauen, die er kannte, sagten meistens »Und wenn schon!« oder »Na und!«, und sie schrien immer dabei.

»Sagen Sie es noch mal, bitte«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Was meinen Sie?«

»›Oh‹.«

»›Oh‹?«

»Ja … Genau.«

Sie blickte geradeaus, sie stierte wie er auf den Sitz vor sich, auf die Netzablage, in der die Bordzeitschrift und der Duty-free-Katalog steckten. So wie sie beide dasaßen, wäre man nicht auf die Idee gekommen, daß sie sich miteinander unterhielten.

»Oh«, sagte sie endlich, und es klang ganz anders als vorhin.

»Danke«, sagte Motti. Er rührte sich noch immer nicht, und darum konnte er nicht sehen, ob sie lächelte. »Lächeln Sie gerade?« fragte er sie.

»Nein«, antwortete sie, »eigentlich nicht.«

»Ich auch nicht.« Er sagte es, weil er nicht wußte, was er sonst sagen sollte. Dann schwiegen sie wieder, und er überlegte, worüber sie jetzt sprechen könnten. Sollte er mit ihr über Massada reden? Über Ein Gedi? Über die Wasserfälle von Banyas? Sollte er sie fragen, warum sie nach Israel gefahren war? »Sie haben mich vorhin gar nicht geweckt«, sagte er schließlich.

»Oh!« entfuhr es ihr, und es klang noch mal ganz anders, und als er dann die Hand unter ihren schweren, dicken, weißen Arm schob, sagte sie lange Zeit gar nichts mehr.

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ALS MOTTI AUF DEN WECKER SAH, war es kurz nach eins. Er hatte heute nur eine Doppelstunde, draußen, in Puchheim, bei der verrückten Frau Gerbera. Bis dahin – er mußte erst um sieben dort sein – hatte er noch viel Zeit. Er überlegte kurz, ob er im Bett bleiben sollte, um in Ruhe seine israelischen Zeitungen zu lesen, beschloß aber, die Lektüre auf später zu verschieben. Ihm war klar, was das bedeutete: Er würde die Zeitungen, wie so oft in den vergangenen Monaten, wahrscheinlich in einigen Tagen ungelesen in den Papierkorb werfen. Seit er wußte, daß alles nur noch eine Frage der Zeit war, waren sie ihm nicht mehr so wichtig, es tat ihm immer nur wegen seiner Eltern leid, die sie für ihn Woche für Woche sammelten und ihm für viel Geld per Expreß schickten. Während die Videokassette zurückspulte, stand er langsam auf und ging zum Fenster. Er wollte es aufmachen, sah vorher aber durch die schmutzigen Scheiben auf den Kurfürstenplatz herunter. Draußen war es so dunkel, als hätte der Tag noch gar nicht richtig angefangen. Es fuhren kaum Autos, an der Straßenbahnhaltestelle, die in der Woche ständig belebt war, verloren sich zwei, drei Leute, am Taxistand wartete kein einziger Wagen. Plötzlich ging an der Rufsäule der Lichtmelder an, er überzog für ein paar Augenblicke die benachbarten Häuser mit seinem weißen, flackernden Licht und erlosch wieder. Nachdem einige Sekunden vergangen waren, ging er abermals an, ein Taxi raste heran, der Fahrer sprang heraus, nahm den Auftrag entgegen und fuhr davon. Im selben Augenblick bog die Straßenbahn, von der Hohenzollernstraße kommend, mit einem lauten Knirschen um die Ecke, sie sammelte die wenigen Fahrgäste ein und entfernte sich. Obwohl es mitten am Tag war, waren beide Waggons innen beleuchtet, und während die Bahn langsam die Nordendstraße hinunterfuhr, öffnete Motti endlich das Fenster, er streckte den Kopf in die Kälte hinaus und blickte der Bahn hinterher. An hellen Tagen konnte er, so wie ich, von seiner Wohnung aus bis zu dem neuen lilafarbenen Eckhaus an der Georgenstraße sehen, heute aber verschwamm schon der Elisabethplatz in einem dämmrigen, graubraunen Zwielicht. Auch der steil aufragende Winterhimmel hatte dieselbe Färbung, nur hier und da war er von großen gelben Flecken durchsetzt.

Nachdem er gefrühstückt hatte, blieb Motti am Küchentisch sitzen. Normalerweise sprang er sofort auf, um den Tisch abzuräumen und das benutzte Geschirr abzuwaschen, doch jetzt rührte er sich nicht von der Stelle; er bewegte nur langsam den Kopf von einer Seite zur andern, ihn mal leicht hebend, mal leicht senkend, und betrachtete dabei die Wände des kleinen, dunklen Raums. Bald würden seine Eltern anrufen, dachte er, wie jeden Sonntag um diese Zeit. Er konzentrierte sich, um das Klingeln nicht zu überhören, aber alles blieb still. Plötzlich hörte er, direkt hinter der Küchenwand, ein lautes, dumpfes Rumpeln, es entfernte sich, kam näher, entfernte sich wieder. Schließlich verstummte es ganz, und im gleichen Moment ertönte aus einem der unteren Stockwerke das laute, quälende Geräusch eines Bohrers. Zuerst vernahm man ein Pfeifen, dann ein Heulen, dann ein schier endloses Brummen, das irgendwann in einem langgezogenen, allmählich abnehmenden Ton erstarb. Sekunden später, als Motti dachte, es sei vorbei, setzten alle Geräusche in derselben Reihenfolge wieder ein, und so ging es mehrere Male. Kaum war unten endlich Ruhe eingekehrt, begann wieder das Rumpeln, es war auf einmal ganz nah, so nah, als würde nebenan ein riesiger Gegenstand gegen die Wand gedrückt und gescheuert, und gleichzeitig fing in der Wohnung über Motti jemand an, mit schweren Schuhen auf- und abzumarschieren, wie auf einem Kasernenhof. Als jetzt auch noch wieder der Bohrer aufjaulte, konnte Motti nicht mehr anders und grinste. Er bemerkte sein Grinsen, worauf er, nun wieder mit ernstem Gesicht, über sich selbst den Kopf schüttelte, und da plötzlich, wie auf ein Kommando, verstummten alle Geräusche im Haus, nur irgendwo in der Ferne klingelte leise ein Telefon.

Motti brauchte lange, bis er begriff, daß es sein eigenes Telefon war. Als er dann endlich aus der Küche stürmte, war es zu spät. Er setzte sich aufs Bett, stellte den Telefonapparat auf seine Knie und wartete. Er wußte, seine Eltern würden denken, sie hätten die falsche Nummer gewählt, so daß sie es gleich noch einmal versuchten. Tatsächlich läutete es kurz darauf wieder, doch Motti hob nicht ab, er betrachtete den alten grauen Apparat auf seinem Schoß, den außer ihm kaum noch jemand hatte, er starrte ihn an, als hätte er ihn niemals zuvor gesehen, und überlegte dabei, ob es wohl Telefone gab, bei denen man sehen konnte, daß sie klingelten. Woher, fragte er sich, wußte eigentlich ein Tauber, daß ihn jemand anrief, aber dann fiel ihm ein, daß ein Tauber ohnehin nicht telefonieren konnte. Blind müßte man sein, dachte Motti, wenn man blind war, hörte man sein Telefon klingeln und konnte es auch sonst ganz problemlos benutzen. Im nächsten Augenblick wurde ihm bewußt, wie idiotisch dieser Gedanke war, und er griff endlich nach dem Hörer. Doch gerade da wurde am anderen Ende aufgelegt, und an dem kurzen Knacken und dem flüchtigen Echo einer Fernverbindung erkannte Motti das drahtlose Telefon seiner Eltern. Sollte er sie zurückrufen? Nein, besser nicht. Meistens ging es doch sowieso um dasselbe, sie wollten wissen, ob er seine Tabletten nahm und wann er endlich nach Hause käme. Das alles konnten sie auch ein anderes Mal besprechen, er mußte jetzt endlich los, das Video zurückgeben.

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IN DEN ERSTEN JAHREN, als Nurit noch nicht da war, fuhren sie jeden Samstagnachmittag nach Harlaching hinaus. Sofies Vater, ein hochgewachsener, dünner Mann, der meistens ein weißes Hemd anhatte, ohne Krawatte, mit zugeknöpftem Kragen, erwartete sie immer schon an der Gartenpforte. »Schön, meine Liebe«, sagte er zu Sofie, und sein schiefer Mund kippte wie ein untergehendes Schiffchen auf einer Kinderzeichnung noch weiter auf die Seite. Dann küßte er sie auf die Wange, ohne sie dabei, wie es Motti schien, wirklich zu berühren. Als nächstes schüttelte er Motti kraftlos die Hand und fragte ihn, ob sein Deutsch Fortschritte mache, worauf Motti jedesmal erwiderte, es könne nur noch besser werden. Dr. Branth liebte diesen Witz, er lachte immer über ihn, das heißt, er machte, ohne das Gesicht zu verziehen, ein kurzes, prustendes Geräusch, das genauso klang, als unterdrücke jemand ein Niesen. Danach gab es eine Pause, deren Grund Motti nie begriff, keiner sagte ein Wort, obwohl jedem noch etwas auf der Zunge zu liegen schien. Sofies Vater rieb sich die Hände, Sofie lächelte unsicher, mit geweiteten Augen, und Motti sah die beiden fragend und erwartungsvoll an. Schließlich sagte der Alte: »Es ist ganz schön kalt, Kinder.« Und nach einer weiteren Pause fügte er hinzu: »Ja, dann gehen wir mal rein.«

Das Haus, eine graue, zweistöckige Villa aus den dreißiger Jahren mit kleinen, schießschartenartigen Fenstern und einer tief nach innen versetzten Eingangstür, war von allen Seiten von Bäumen umgeben, so daß es drinnen meistens dunkel war. Im ungeheizten Flur brannte immer ein kleines gelbes Lämpchen, dessen mattes Licht sich ein wenig traurig in der übergroßen Eingangshalle verlor. Die Treppe lag völlig im Dunkeln, und wenn Sofies Mutter herunterkam, um ihre Tochter und deren Mann zu begrüßen, öffnete sich oben kurz ein Lichtspalt, der schnell wieder verschwand. Man hörte Schritte, und erst einige Augenblicke später tauchte im Dämmerlicht des Flurs die aufrechte, massige Gestalt von Frau Branth auf. Im Wohnzimmer war meistens nur die große Stehlampe neben dem Sofa an, ganz selten wurden auch noch die beiden Strahler eingeschaltet, die die Bibliothek beleuchteten. Dafür standen auf dem langen Couchtisch, der immer schon gedeckt war, mehrere Kerzen, die Sofies Mutter anzündete, bevor sie in die Küche ging, um den Kaffee und den Kuchen zu holen.

Motti war schnell aufgefallen, daß Sofie ihrer Mutter niemals half und daß sie ihr auch sonst nicht – vielleicht einfach nur, um für ein paar Augenblicke mit ihr allein zu sein – in die Küche folgte. Während des ganzen Besuchs blieb sie im Sessel sitzen und stand bloß auf, um auf die Toilette zu gehen oder um sich die Hände zu waschen. Nur wenn ihre Mutter, wie immer etwas zu früh, mit dem Abräumen begann, fragte sie höflich, ob sie etwas tun könne, doch das war nie nötig. Überhaupt bewegte sich Sofie in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, wie eine Besucherin. Als Motti von ihr einmal wissen wollte, woher das kam, erschrak sie zunächst, so wie es ihre Art war, das Blut wich aus ihrem Gesicht, und schließlich sagte sie in einem freundlichen, abwesenden Ton, sie habe die Frage nicht verstanden. Motti überlegte kurz – und dann bat er sie, ihm beim nächsten Mal ihr altes Kinderzimmer zu zeigen. Das gäbe es nicht mehr, sagte sie, der Raum sei jetzt für Gäste vorgesehen. Ein paar Tage später fragte sie ihn plötzlich, ob er selbst in Ramat Gan sein Kinderzimmer behalten habe, worauf Motti sich, fast ein wenig überrascht, daran erinnerte, daß seine Eltern darin bis heute nie etwas verändert hatten. Es hingen immer noch dieselben eingerissenen Plakate an den Wänden, es standen seine alten Spiele und Baukästen in den Regalen, und das Bett war schon lange zu kurz für ihn.

Motti war wirklich gern in Harlaching. Manchmal freute er sich bereits seit dem Morgen auf den schweren Schokoladenkuchen, auf die selbstgemachte Karamelsoße und den wäßrigen deutschen Kaffee, dessen säuerlichen Nachgeschmack er noch Stunden später auf der Zunge spürte. Es gab bei Sofies Eltern aber nicht nur jedesmal dasselbe zum Essen und zum Trinken, auch sonst glich ein Nachmittag dem anderen. Man saß nie zu lange zusammen, höchstens zwei, drei Stunden, jeder hatte seinen festen Platz und seine eigene Serviette, die in einem dicken, gelben Plastikring steckte, in den man sie, sorgfältig zusammengerollt, sofort wieder hineinschieben mußte, wenn man sich den Mund abgewischt hatte. Ein anderes ungeschriebenes Gesetz lautete, daß man zwar immer um ein zweites Stück Kuchen bitten durfte und auch sollte, aber nie um ein drittes. Vom Tisch erhob man sich erst, nachdem Sofies Vater – mit einem gespielt ernsten Blick auf die mit Karamel und Schokolade verschmierten Teller – plötzlich viel zu laut sagte: »Was haben wir wieder gewütet, Kinder!«

Auch die Gespräche, zu denen es kam, folgten meistens denselben Regeln. Das heißt, am Anfang wurde fast gar nicht geredet – wenn nicht gerade jemand gebeten wurde, die Kaffeekanne oder den Teller mit dem Gebäck weiterzureichen. Lange Zeit hörte man nur das Klappern der Kuchengabeln und das zarte Klirren von Porzellan beim Abstellen einer Tasse, nur ab und zu räusperte sich der eine oder andere so leise und zurückhaltend wie jemand, der in der Kirche oder bei einem Konzert nicht stören will. Es war jedesmal so, als müßten sich zunächst alle wieder aneinander gewöhnen, wie fremde Kinder bei einer Geburtstagsfeier. Erst nach einer Weile, nachdem die Anspannung von allen vieren abgefallen war, begann man sich ernsthaft und aufmerksam zu unterhalten, und Motti mochte an diesen Gesprächen besonders, daß jeder den Satz, den er angefangen hatte, auch ungestört zu Ende bringen konnte.

Meistens ging es um Sofie und ihre Schwierigkeiten mit ihren Professoren, von denen sie sich als Studentin ständig benachteiligt fühlte. Obwohl ihre Mutter fand, daß sie viel zu empfindlich war und übertriebene Forderungen stellte, hielt sie ihr das nie vor, sie sagte nur, Sofie solle sich weniger aufregen und ihre Kraft für die wirklich wichtigen Dinge sparen. Dr. Branth dagegen ergriff die Partei seiner Tochter, er sagte, auch die alten Männer müßten sich langsam daran gewöhnen, daß die Zeiten sich geändert hätten, die Menschen sähen heute die Herausforderungen ganz anderswo als früher, das fange mit der Sorge um die Natur an und ende nun mal bei der Gleichstellung der Frau. Motti wurde natürlich auch nach seiner Meinung gefragt, und obwohl er wie Frau Branth dachte, gab er Sofie und ihrem Vater recht.

War dieses Thema beendet, kam man regelmäßig auf seinen Jeansladen in der Ledererstraße zu sprechen.

»Es kann nur noch besser werden!« sagte Motti, wenn er von Sofies Vater gefragt wurde, wie es im Geschäft gehe, doch diesmal lachte Dr. Branth nicht, sein Kinn rutschte, als würde es von seinem schiefen Mund mit hinabgezogen, nach unten, er stierte für zwei, drei endlose Sekunden durch Motti hindurch und dann sagte er, nun wieder mit geschärftem Blick: »Du mußt es nur sagen, wenn du Hilfe brauchst.«

Motti bekam, wie immer in diesem Moment, vor Verlegenheit keinen Ton heraus.

»Du kannst jederzeit SOS funken«, wiederholte Dr. Branth.

»Aber ja, natürlich«, sagte Frau Branth, »jeder kann einmal geschäftlich in Schwierigkeiten geraten, auch jemand wie du.« Sie lächelte Motti dabei aus ihrem männlich wirkenden, wuchtigen Gesicht verschmitzt an, und er erwiderte ihr Lächeln. Hinterher begannen sie über die allgemeine wirtschaftliche Lage zu sprechen, und wenn Motti dann sagte, die Leute würden immer mehr fordern und immer weniger geben wollen, waren alle seiner Meinung.

»Das kennst du ja von zu Hause ganz anders, Mordechai«, sagte Dr. Branth schließlich, »bei euch sind es alle gewöhnt, an einem Strang zu ziehen – nicht so wie bei uns.« Und noch bevor Motti darauf etwas entgegnen konnte, fügte er hinzu: »Wie haltet ihr das bloß aus? Diese endlose Folge von Kämpfen muß doch jeden zugrunde richten, auch den Stärksten …«

In diesem Moment passierte mit Motti regelmäßig die gleiche merkwürdige Sache, er sackte weg, für ein paar Sekunden, er hörte auf zu denken, zu hören und zu sehen, und wenn er wieder zu sich kam, sagte Sofies Vater gerade: »Die Nacht über dem Kanal war taghell, meine Lieben …« Frau Branth öffnete und schloß mit einem fast unhörbaren Schmatzen den Mund, aber er ließ sich davon nicht beirren, er lehnte sich zu Motti herüber und stieß ihm prustend den Ellbogen in die Seite, in seinem sonst so starren Gesicht erschien für Augenblicke das fratzenhafte Grinsen einer afrikanischen Maske, dann verschwand es wieder, für immer, als wäre es nie dagewesen, und er fuhr dramatisch fort: »Gekämpft wurde Mann gegen Mann, versteht ihr? Es war so wie früher, als man noch auf Pferden saß und mit aufgesetzter Lanze auf den Gegner zugaloppierte. Ja. Es war nur viel lauter, es war ein Lärm, den ihr euch einfach nicht vorstellen könnt, und zu jedem Knall und jeder Explosion gab es ein Licht, es gab kleine weiße Punkte, die sich wie auf einer Perlenschnur aufgezogen in die Maschinen über einem bohrten, und es gab große rote, lodernde Lichter der Abgeschossenen in der Tiefe, Lichter der Hölle, sage ich immer, das könnt ihr euch gar nicht vorstellen – «

»Aber Heinrich«, unterbrach ihn seine Frau an dieser Stelle wie immer ganz leise, und sie wich dabei zurück, als sei sie über sich selbst erschrocken. »Heinrich, ich glaube, unser Mordechai kann sich das alles auch sehr genau vorstellen …«

Um Dr. Branths weiße Nase bildete sich ein dunkelroter Kreis, er breitete sich in Sekundenschnelle über sein ganzes Gesicht aus und löste sich ebenso plötzlich wieder in nichts auf. »Natürlich«, sagte er, »natürlich, natürlich. Ich meine aber noch etwas anderes – ich meine die Gedanken. In dieser Nacht über dem Kanal dachte ich, das ist doch nicht mehr auszuhalten, das macht einen kaputt, und wenn man bis ans Ende der Tage siegt … Du hast solche Anwandlungen nie gehabt, Mordechai?« sagte er, und da war es also endlich, Mottis Stichwort.

So begann Motti dann vom Libanon zu erzählen, von der Eroberung Beiruts und den schweren Tagen nach Sabra und Schatila, er redete lange und ernst, und obwohl es Dinge gab, über die er dabei nicht sprach, Dinge, die er nie vergessen würde, wußte er genau, daß er sie, wenn überhaupt, nur hier erzählen könnte, in dieser stillen, dunklen Villa irgendwo am Stadtrand von München. Beim Reden betrachtete er immer wieder die halb heruntergebrannten Kerzen, und am Ende blickte er erschrocken hoch, zu den Fenstern, die sich allmählich in dem beginnenden Abend dunkel zu verfärben begannen. Ein schwerer schwarzer Ast drückte sich von außen gegen die Fensterscheiben, und in seinen zart raschelnden Blättern reflektierte das spärliche Wohnzimmerlicht.

Später, in der Straßenbahn, auf dem Weg nach Hause, fragte Motti Sofie, warum sie nicht endlich ihren Eltern erzählte, daß sie übergetreten sei, das würden sie bestimmt verstehen, aber er bekam keine Antwort.

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DIE SACHE MIT DEN VIDEOS hatte erst vor ein paar Monaten angefangen. Eine von seinen Schülerinnen hatte Motti auf die Idee gebracht, und seitdem lieh er sich regelmäßig jede Woche einen Film aus, obwohl er sich hinterher immer wieder schwor, es sein zu lassen. Die junge Frau – sie hieß Susanne, aber Motti taufte sie gleich beim ersten Mal um in Schoschana – war ihm von der verrückten Frau Gerbera empfohlen worden, die sie von einem Treffen der Puchheimer DIG kannte. Schon in der dritten oder vierten Stunde hatte sie, während er ihr die Geschichte von Purim erzählte, mit dem Handrücken sein Knie berührt, leicht, wie ohne Absicht, aber kurz darauf hatte er die Hand wieder gespürt, diesmal auf seiner Schulter. Als sie ihm dann – er wollte gerade erklären, wie es Esther gelungen war, Haman zu überlisten – mit einer fast herablassenden Selbstverständlichkeit über die Schläfe strich, griff er so grob und wütend an ihre Brust, daß sie vor Schmerz aufstöhnte, und während er sich fragte, warum sie alle nur so verrückt sein mußten, schob er ihren Rock hoch und krallte sich mit den Fingern in ihre Unterhose. Aber Schoschana war, im Vergleich zu seinen anderen Schülerinnen, eher normal, wie sich in den nächsten Stunden herausstellen sollte, sie interessierte sich in Wahrheit weder für die Juden noch für die Deutsch-Israelische Gesellschaft, ihr Theologiestudium war ihr ziemlich egal, und konvertieren wollte sie schon gar nicht. Sie trafen sich noch ein paarmal, meistens bei ihr, wenn ihr Mann, ein fast zwanzig Jahre älterer Politikdozent, gerade an der Universität war. Schoschana, deren stämmiger Hintern und weiße Arme Motti jedesmal wehmütig machten, mußte sich als erste ausziehen. Sie durfte Motti nicht küssen, und wenn er sich dann, nachdem er sie ein paar Minuten angeschaut hatte, über sie beugte, machte sie mit der bereitliegenden Fernbedienung den Videorecorder an, damit sie nicht zu lange brauchte. Hinterher gab sie Motti sofort das Geld – zweihundert Mark für eine Doppelstunde –, und er ging, noch bevor sie sich wieder angezogen hatte. Als sie ihm dann eines Tages mit kalter, ängstlicher Stimme auf den Anrufbeantworter sagte, sie habe es sich anders überlegt, sie wolle mit dem Unterricht aufhören und er brauche nicht mehr zu kommen, stiegen ihm zwei kleine Tränen der Wut in die Augen, aber das spielte nicht wirklich eine Rolle, weil ihm im gleichen Moment einfiel, daß er gar nicht mehr wußte, wie sie eigentlich ausgesehen hatte.

Meistens versteckte Motti die Videos hinter einer Zeitung. Obwohl er fast niemanden in seinem Haus kannte, wollte er kein Risiko eingehen. Darum legte er sich vorsichtshalber auch immer eine Antwort zurecht, für den Fall, daß vielleicht doch jemand auf die auffällige weiße Plastikschachtel mit dem Namen der Videothek unter seinem Arm aufmerksam wurde und ihn fragte, was das für ein Film sei, den er sich ausgeliehen habe. Es war fast jedesmal ein anderer Titel, für den er sich entschied. Heute war seine Wahl auf Cabaret gefallen. Es war lange her, daß er diesen Film gesehen hatte, aber er konnte sich noch gut an die dunkle Stimmung erinnern, die darin herrschte. Auch die gedämpften Farben, mit denen der Kameramann die Gesichter der Schauspieler gezeichnet hatte, waren ihm noch absolut gegenwärtig, und so würde er im Notfall überzeugend lügen können. Aber natürlich hielt ihn auch diesmal wieder keiner an, und er verließ ohne Probleme das Haus.

Draußen war es noch dunkler und kälter, als er gedacht hatte. Der Westwind, der sich wie immer über dem weiten und ungeschützten Kasernengelände an der Schweren-Reiter-Straße gesammelt hatte, blies von dort wie von einem großen, unruhigen Meer nach Schwabing hinein, in jede Straße, in jeden Hof und jede offene Garageneinfahrt. Er roch salzig, aber vielleicht bildete Motti sich das auch nur ein. Während er sich nun langsam vom Kurfürstenplatz die menschenleere Hohenzollernstraße hinaufkämpfte, die kalte, schneidende Luft in jeder Falte seiner Kleider, während er abwechselnd nach unten blickte, auf seine schwarzen Schuhe und das graugesprenkelte Pflaster, dann wieder nach vorne, zum Nordbad, wo über dem neuen Stadtarchiv die Wolken wie große graue und braune Pferde hintereinander herjagten, erinnerte er sich an den warmen, salzigsüßen Geruch des Meers zu Hause. Er dachte daran, daß dieser Geruch schon bald wieder für ihn so selbstverständlich sein würde, wie er es früher gewesen war, und dabei preßte er die Kassette und die Zeitung selbstvergessen mit beiden Händen gegen seine Brust.

Er hatte Nurit nur einmal nach Israel mitgenommen, kurz bevor sie sie ihm weggenommen hatten. Sie waren an Pessach nach Tel Aviv gefahren, für zwei Wochen, und weil Sofie darauf bestanden hatte, wohnten sie nicht in Ramat Gan, sondern in der Nähe des Strands, in dem schrecklichen Hotel Basel an der überlauten, Tag und Nacht befahrenen Hayarkon-Straße, wo ich auch schon einmal ein paar Nächte verbracht habe. Dort stand er oft, wenn Sofie mal wieder unterwegs war, mit Nurit nach dem Baden auf dem Balkon, sie hatten zusammen geduscht, Nurit wollte dem Meer noch Gute Nacht sagen, und während sie hinausblickte, zu den weißschäumenden Wellen und dem braunen Sand, betrachtete er von hinten ihren Nacken, in dem sich wie immer, wenn er ihr Haar hochgesteckt hatte, eine kleine, aschblonde Locke kräuselte. Er schaute ihren dunklen Rücken an, die schmalen Arme und Beine, den weißen Po, und schließlich nahm er sie in seine Arme und trug sie ins Bett. Er küßte sie, und sie küßte ihn, und dann rollte sie sich an seinen Bauch, und sie schliefen, bis Sofie von einem ihrer Termine zurückkam.

In der Videothek, deren weißes, unruhiges Neonlicht ihn jedesmal an ein Krankenhaus erinnerte, stellte sich Motti gleich in die Schlange. Er sah geduldig der jungen Frau hinter dem Schalter zu, wie sie die Leute vor ihm bediente. Sie war nicht unfreundlich, sah aber auch nie jemanden an, wenn sie einen ausgeliehenen Film entgegennahm oder einen neuen auf den grauen, abgegriffenen Resopaltresen legte. Es waren fast nur junge Männer da, sie trugen ausgewaschene Jeans und braune oder schwarze Lederjacken, und die meisten von ihnen schienen, genauso wie er, keine Deutschen zu sein. Er fühlte sich trotzdem nicht wohl unter ihnen, obwohl sie ihm so ähnlich sahen mit ihren schwarzen Haaren, braunen Augen und unrasierten Gesichtern. Sie waren scheu und abweisend, keiner redete mit dem andern, und die argwöhnische Beklommenheit, die sie umgab, hatte überhaupt nichts Südländisches an sich. Der Junge direkt vor ihm etwa, der die ganze Zeit auf den Boden blickte oder zur Tür, so als hätte er Angst, daß ihn hier jemand erwischen könnte – in seinem eigentlich schönen, offenen Gesicht hatte sich der grimmige Schatten eines Menschen eingenistet, der nur darum grimmig ist, weil die andern es auch sind. Als er dran kam, verzog er säuerlich lächelnd den Mund und legte, ohne ein Wort zu sagen, die gelbe Verleihmarke auf den Tresen. Die junge Frau nahm die Marke und ging ins Lager, und als sie mit der von ihm gewünschten Kassette zurückkam, steckte sie sie in eine der weißen Plastikschachteln, die zu Dutzenden hinter ihr im Regal standen. Sie schob seine Mitgliedskarte durchs Lesegerät, legte ihm den Ausleihvertrag hin und einen Kugelschreiber mit abgebrochenem Klipp, und erst jetzt blickte sie ihn zum ersten Mal für den Bruchteil einer Sekunde an und sagte: »Hier unterschreiben!« Er verzog wieder, wie schon vorhin, den Mund zu diesem Lächeln, von dem man nicht wissen konnte, ob es wirklich ein Lächeln war oder der Ausdruck von Widerwillen, und Motti sah genau, daß es, auch nachdem der Junge sich umgedreht hatte und davongegangen war, aus seinem Gesicht nicht verschwand.

»Ich hab’ nicht ewig Zeit«, hörte Motti die Frau sagen, während er ihm noch hinterherblickte. »Ja, natürlich«, sagte Motti, »Entschuldigung.« Er gab ihr Nurits Film und das Geld, und er wollte schon gehen, als ihm etwas einfiel. »Welche Nummer?« sagte er. »Wie, welche Nummer?« erwiderte die Frau. »Welche Nummer hat der Film, den ich gerade zurückgegeben habe?« »Willst du ihn noch mal?« »Nein, ich will nur die Nummer wissen.« Sie sah ihn böse an, dann sah sie genauso böse auf den Bildschirm ihres Computers und sagte ihm die Nummer. Ohne sich zu bedanken, drehte Motti sich um und ging ganz nach hinten, in den allerletzten Raum, wo die Teenagerfilme standen. Er fand Nurits Video nicht gleich, er mußte langsam die hohen, endlosen Reihen mit den ausgestellten Filmen abschreiten, um die richtige Zahl nicht zu verpassen. Dabei las er automatisch die unsinnigen Filmtitel mit und betrachtete die Bilder auf den leeren Hüllen. Am Anfang, als er noch nicht so oft hierhergekommen war, war er immer sehr aufgeregt gewesen, wenn er das alles sah. Er hatte oft eine Erektion bekommen, manchmal ging auch sein Atem ganz schnell, oder es sammelte sich Speichel in seinem Mund, den er dann überrascht hinunterschluckte. Inzwischen hatte er sich aber daran gewöhnt, Bilder von Menschen zu sehen, die miteinander fickten, Bilder von nackten Männern, die selbstherrlich die Arme in die Hüften stemmten, während sie sich einen blasen ließen, Bilder von Frauen und Mädchen, die dabei demütig nach oben schauten, Bilder von übernatürlich großen, operierten Titten, deren Gewebe an den Seiten von verräterischen Dehnungsstreifen durchzogen war, Bilder von großen, wunden, geweiteten Arschlöchern, von ausrasierten Mösen, von spermabedeckten Lippen, Wangen und Haaren. Nichts konnte ihn noch überraschen, dachte Motti, und darum verstand er selbst nicht genau, warum er trotzdem immer wieder hierher zurückkam, warum er trotzdem jedesmal von neuem so lange und genau die Fotos auf den Hüllen miteinander verglich, bis er sich endlich für einen Film entschied, die danebenhängende gelbe Marke verstohlen abnahm und damit zum Ausleihschalter vorging. Er war, das begriff er nun plötzlich, dabei nie auf der Suche nach der besonderen Stellung oder Perversion, sondern nach einem Gesicht, das ihm gefiel, in das er sich für einen Sonntagnachmittag verlieben konnte, und es mußte natürlich ein warmherziges, dunkles, schwesterliches Gesicht sein. Genau darum also hatte er sich gestern auch für Nurits Video entschieden – für dieses Video, auf dessen Umschlag ein Mädchen zu sehen gewesen war, dessen schmale Wangen, feine dunkle Nase und prinzessinnenhafte, schwere Locken so überhaupt nicht zu diesem nackten, weit geöffneten Körper zu gehören schienen, den sie der Kamera entgegenstreckte. Dieses Bild wollte er jetzt unbedingt noch einmal sehen, ja, und er wollte, weil er gestern nicht darauf geachtet hatte, zur Sicherheit überprüfen, ob denn auch wirklich neben dem Foto ihr Name stand, der Name, der auch der seine war.

Als er den Film endlich gefunden hatte, ging er mit dem Gesicht ganz nah ans Regal heran. Ja, klar, das war sie, sein Mädchen, seine Buba, sein Herz. Sie blickte ihn mit diesem fragenden, zugleich distanzierten und lockenden Blick an, den man offenbar ihnen allen beibrachte, doch je länger er in ihre Augen hineinsah, desto mehr entdeckte er hinter ihrer professionellen Ergebenheit noch etwas anderes, etwas sehr Privates und Vertrautes. Rechts neben ihr, über dem kleingeschriebenen Namen des Regisseurs, stand ein einziger Name, in großen, knallgelben Lettern – JessyJazz. Für eine kurze, viel zu kurze Sekunde kannte Mottis Erleichterung keine Grenzen. Alles ist in Ordnung, jubelte er, alles ist gut – aber dann begriff er auch schon, daß es ein Pseudonym war, was sonst, und er begann am ganzen Körper zu zittern. Ob Sofie wußte, was Nurit trieb, fragte er sich wütend, ob sie, diese gleichgültige Kuh, zumindest dagegen war oder ob sie einfach nur sagte, es ist deine Sache, Tochter, tu, was du nicht lassen kannst? Ohne nach links oder rechts zu schauen, riß Motti die bunte leere Hülle aus dem Regal, schob sie sich unter den Mantel und stürmte hinaus.

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ES WAR WIEDER HERBST GEWORDEN. Er saß in der Türkenstraße auf einer der grauen eckigen Betonparkbänke gegenüber vom Türkendolch, wo sich sonst die Trinker und Fixer des Viertels trafen, und zählte seine Jahre mit ihr. Er hatte noch nie zuvor hier gesessen, aber heute war keiner da, der ihn stören würde, und das hätte ihm jetzt auch nichts ausgemacht, er hatte sich vorhin, als plötzlich dieses unglaubliche Glücksgefühl in ihm aufgestiegen war, sofort irgendwo hinsetzen und kurz davon ausruhen müssen, so überwältigend, so kraftraubend war es gewesen: Zuerst hatte es ihn hochgerissen, dann war er, wie von einer großen, müden Hand langsam in die Tiefe gedrückt worden, und so war es ein paarmal hin und her gegangen. Nachdem er sich dann endlich auf die Parkbank gerettet hatte, die Einkaufstüten links und rechts neben sich auf dem Boden verstreut, hatte er noch eine ganze Weile nach Atem gerungen.

Nein, er wußte nicht, wie viele Jahre es bereits waren, zumindest nicht in diesem Moment. Die Wochen und Monate mit ihr verstrichen, als wäre sein Leben gar nicht sein eigenes, und das war sicher das beste, was ihm hatte passieren können. Jeder Tag war wie der andere – egal, ob es am Morgen draußen hell oder dunkel war. Sie standen immer zur selben Zeit auf, sie gingen sonntags regelmäßig im Englischen Garten spazieren, bei jedem Wetter, bei jeder Jahreszeit, sie aßen um punkt acht Abendbrot, genau zur Tagesschau, und sie gingen zweimal in der Woche zum Hochschulsport ins Agnes-Gymnasium. Dort rannten sie jeden Montag und jeden Donnerstag zusammen mit hundert anderen jungen Leuten eine Stunde lang im Kreis, sie warfen sich Medizinbälle zu – er hatte noch nie vorher etwas so Merkwürdiges wie einen Medizinball gesehen –, sie machten Liegestütze und Sit-Ups und kletterten an Seilen hoch. Daß dabei keiner mit dem anderen redete, verstand Motti zuerst gar nicht – man hörte meist nur die atemlosen Kommandos der kleinen strengen Sportstudentin in dem weinroten Jogginganzug, die den Kurs leitete, oder das Hecheln von jemandem, der dicht hinter einem lief. Und wenn sich dann doch einmal zwei während einer der leichteren Übungen mit leisen, gedämpften Stimmen miteinander unterhielten, wurden sie von der Trainerin gebeten, sich, wie sie sagte, auf später zu vertagen. In der Umkleidekabine, die sich zu Mottis Verwunderung die Männer und die Frauen teilten, war es ebenfalls immer sehr still, man hörte nur selten jemanden guten Tag sagen, obwohl sich viele, die hierher kamen, schon seit Monaten und Jahren kannten. Jeder zog sich mit gesenktem Kopf und scheuem Blick schnell um und ging in die Turnhalle, wo er schweigend, die Arme vor der Brust verschränkt oder mit dem Rücken unsicher gegen eine Sprossenwand gelehnt, darauf wartete, daß es losging. Auch hinterher, beim Duschen, waren alle sehr ruhig und mit sich selbst beschäftigt, und Motti hatte das Gefühl, er sei der einzige Mann, der, aus den Augenwinkeln heraus, die Frauen dabei beobachtete, wie sie sich wuschen und abtrockneten. Irgendwann hörte er auf damit – vielleicht wegen seines schlechten Gewissens gegenüber Sofie, noch eher aber, weil es ihn einfach nicht mehr interessierte. Lieber stand er jetzt minutenlang mit geschlossenen Augen unter der Dusche, der immer etwas zu heiße, scharfe Strahl prasselte gegen seinen Hals und seinen Rücken, und er dachte daran, wie beruhigend es war, hier zu sein, nackt und schutzlos unter diesen stillen, wildfremden Menschen, die alle nichts von ihm wollten.

 

Als Motti auf die Uhr sah, war es kurz vor halb sieben. Er hatte nicht mehr viel Zeit, er mußte noch die Kartoffeln aufsetzen und die Küche machen, bevor sie weggingen, und den Salat wollte er vorher auch vorbereiten, weil er nach dem Sport immer viel zu müde war zum Kochen, vor allem, seit er jeden Tag im Laden stand. Er griff nach den Einkaufstüten und spannte die Beine an, um aufzustehen, aber dann ließ er sich wieder zurücksinken. Er stellte die Tüten neben sich auf der Bank ab und beschloß, noch ein paar Minuten sitzen zu bleiben. Sie würde sowieso nichts sagen, wenn er sich verspätete. Und sollte sie ihn so traurig und erschrocken ansehen, wie sie es meistens tat, wenn etwas anders lief, als sie es wollte, würde er diesmal einfach wegschauen. Er nickte kurz und knapp, wie jemand, der eben einen mutigen, wichtigen Entschluß gefaßt hat, lächelte versonnen und sah dann die Türkenstraße herunter, die in dem milchigen, feuchtkalten Abendlicht mit ihren vielen freundlich leuchtenden Schaufenstern und den überall in zweiter Reihe parkenden Autos noch enger und dörflicher wirkte als sonst. Mein Gott, wie sehr liebte er den Herbst in Deutschland! Am meisten liebte er es, wenn von einem Tag auf den nächsten die heiße Sommerluft von einem einzigen großen Gewitter für immer fortgetragen wurde, wenn die Straßen und Häuser über Nacht abkühlten und die Luft plötzlich ganz anders roch als noch am Tag zuvor. In Israel kam der Herbst viel unauffälliger, schleichender über das Land, die Tage blieben noch bis in den November hinein heiß, nur abends brauchte man manchmal einen Pullover. Auch das Meer begann sich nur langsam zu verfärben, es wurde grau, fast braun, dann wieder war es tagelang sommerlich grün, allein in den Schaumkronen, die dann immer häufiger vom kühlenden Scharkiawind über die Wellen gejagt wurden, schwammen ab und zu abgebrochene Zweige, Tang und der Dreck der zu Ende gehenden Badesaison. Aber wer nicht darauf achtete, dem fiel die Veränderung gar nicht auf, der bemerkte nicht, wie sich das Meer allmählich für die neue Jahreszeit rüstete.

Was war mit ihnen beiden gestern abend nur los gewesen? Und warum hatten sie hinterher nicht darüber gesprochen? Er selbst hatte eigentlich nichts falsch gemacht, im Gegenteil, er war früher als sonst aus dem Geschäft nach Hause gekommen, er hatte zur Feier des Tages geduscht und sich ein zweites Mal rasiert, er hatte das Bett bezogen und war überall mit dem Staubsauger durchgegangen. Er hatte in der Küche die Tischdecke ausgetauscht, eine Vase mit drei Rosen – oder waren es vier gewesen? – auf ihren Schreibtisch gestellt, und dann hatte er, weil er wußte, wie unangenehm sie es fand, wenn die Wohnung nicht ordentlich gelüftet war, in allen Zimmern die Fenster aufgemacht und sich in der Kleiderkammer verkrochen, damit er von dem Durchzug keine Erkältung bekam. Und während er dort auf dem umgedrehten Plastikeimer hockte, begann er, obwohl es längst keinen Sinn mehr hatte, einen neuen Brief an Eli zu schreiben. Dabei mußte er, wie schon beim letzten Mal, nach ein paar Zeilen sofort wieder an den Iraker denken, der während ihrer Grundausbildung immer in diesem riesigen, klappernden Metallsessel oben auf dem Panzer gesessen hatte, er thronte darin über ihnen, inmitten der ewigen Staub- und Sandwolke, die der Tank aufwirbelte, wie ein stiller, allwissender Herrscher, und gab, während sie durch den Negev preschten, kein Wort, keinen Laut von sich. Er machte sich ruhig und unangestrengt seine Notizen, und erst hinterher, bei der Besprechung im Camp, schrie er sie an, seine feinen schwarzen Haare waren so verschwitzt, daß die rötlichbraune Kopfhaut darunter grell durchschimmerte, seine Augen waren gelb vor Wut, aber sein Körper blieb ohne jede Regung. Motti wollte gerade, wie schon so oft, zurückbrüllen, als jetzt plötzlich Sofie vor ihm stand. »Masal tov, alles Gute zum Jahrestag!« sagte Motti, das heißt, er sagte es nicht, er schrie es heraus, derart laut und gereizt, als ginge es immer noch darum, sich mit dem Iraker anzulegen. Aber dann wiederholte er denselben Satz noch einmal sanft und friedlich, wie es sich gehörte, er sprang hoch, er ließ den Stift und den Block auf den Boden fallen und umarmte Sofie, nur war es da bereits zu spät. Sie stand wie versteinert da, ihr großer schwerer Körper war so steif vor Widerwillen, als hätten sie einander nie zuvor berührt. Doch Motti gab nicht auf, er umfaßte sie immer wieder von neuem mit seinen zu kurzen Armen und preßte sich an sie, bis sie endlich seine Umarmung schwach erwiderte. »Sollen wir heute abend etwas spielen?« sagte er nach einer Weile leise, und sie nickte. Dabei bohrte sie ihr Kinn in seine Schulter, worauf er vor Schmerz kurz zurückwich und Luft durch die zusammengepreßten Zähne einsog. Dann war es wieder gut, aber so gut auch wieder nicht, sonst hätte er sie nicht im nächsten Moment gefragt, ob sie nicht vielleicht doch lieber ausgehen sollten. »Wir waren schon so lange nicht mehr unter Leuten«, sagte er. Gleichzeitig fiel ihm ein, daß er gar nicht wußte, wohin sie hätten gehen können, und er schwieg erneut. So etwas wie das Pinguin oder die Chess Bar kannte er hier gar nicht, obwohl es das sicherlich gab, er sah oft genug junge Leute in Schwabing, an deren farbenfroher, genau überlegter Art, sich zu kleiden er erkannte, daß sie nachts tanzen gingen. Trotzdem konnte er es sich bei ihnen gar nicht richtig vorstellen, so grimmig blickten sie immer vor sich hin, wenn sie ihm auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit auf der Leopoldstraße entgegenmarschierten, und daß prinzipiell immer er ausweichen mußte, wollte er von ihnen nicht angerempelt werden, machte es ihm auch nicht gerade leichter, in ihnen große Tänzer oder überhaupt Menschen mit besonderem Körpergefühl zu erkennen. »Ich weiß nicht«, sagte Sofie. Sie löste sich aus seiner Umklammerung, indem sie ihren Oberkörper so langsam und vorsichtig zurückzog, als ob Motti eingeschlafen wäre und sie ihn nicht wecken dürfte. »Wir könnten doch Rommé spielen. Oder Backgammon. Genau, Backgammon! Ich bau’ schon mal das Brett auf«, sagte sie fröhlich. Sie drehte sich um und ging, ohne seine Antwort abzuwarten, ins Wohnzimmer. Motti sah ihr kopfschüttelnd hinterher, aber als sie sich plötzlich nach ihm umwandte, streng, fragend, unsicher, hielt er mitten in der Bewegung inne, er lächelte ihr aufmunternd zu, worauf sie schnell weiterlief, und das Lächeln hing, als gehörte es gar nicht zu ihm, noch eine ganze Weile in seinem Gesicht, es brannte wie eine Ohrfeige … Den Rest des Abends verbrachten sie dann über dem Backgammonbrett, sie spielten ein ganzes Turnier. Zuerst führte Sofie, danach kurz er, aber am Ende ließ er sie wie immer gewinnen, und je mehr sie sich über ihre Siege freute, je öfter dieser feine Schimmer der Verlegenheit nach seinen mißlungenen Würfen und Zügen auf ihren Wangen aufleuchtete, desto sicherer fühlte er sich wieder mit ihr. Er war zwar noch immer nicht ganz bei sich, aber so weit weg befand er sich nicht mehr, um nicht zu bemerken, wie glücklich es ihn machte, sie glücklich zu machen, und als sie später im Bett lagen, jeder auf seiner Seite, ohne sich zu berühren und doch schon einander viel näher als noch vorhin, da dachte er erleichtert, daß man gar nicht über alles reden mußte, so wie Ima und Aba und die andern es ständig taten. Ja, man konnte Dinge auch übergehen. Hatte man sie nämlich erst ausgesprochen, wurden sie zum Problem, verschwieg man sie aber, gingen sie meistens verloren, so wie ein Regenschirm, den man irgendwo stehenläßt und an den man sich nie wieder erinnert. Er schloß die Augen, und er sah nun Sofies leuchtend grünes Letzte-Hilfe-Täschchen vor sich, wie sie es selbst nannte. Seit Jahren, seit sie von zu Hause ausgezogen war, bewahrte sie es in dem alten blauen Medizinschrank im Badezimmer auf. Es kam ihm jetzt so vor, als sei es viel größer, gefährlicher und mit noch mehr Schlaftabletten vollgestopft als sonst, aber er dachte trotzdem, damit wird es, wenn ich nichts sage, irgendwann genauso sein wie mit dem Regenschirm, und dann – nicht mehr wach, noch nicht schlafend – stützte er sich im Bett auf, er öffnete die Augen und murmelte mit abwesender Stimme in die Dunkelheit hinein: »Du kannst doch nicht immer nur sagen: Notfalls mache ich Schluß!« Aber zum Glück hatte sie darauf nichts erwidert, und so ließ er sich wieder zurückfallen und schlief wie ein Stein ein.

 

Also noch mal: Wie viele Jahre waren es? Er hatte wirklich keine Ahnung, und es war ihm auch völlig egal, viel lieber hätte er jetzt gewußt, warum ihm diese Frage gar nicht mehr aus dem Kopf ging. Er machte die Beine lang und streckte die Arme von sich, und da bemerkte er erst, wie kalt ihm inzwischen war. Er hatte offenbar schon die ganze Zeit mit zusammengezogenen Schultern und fest gegeneinander gepreßten Knien dagesessen, und auch das Kinn hatte er tief auf die Brust heruntergedrückt, damit die Kälte nicht von oben in seine Jacke eindrang. Er sollte jetzt wirklich nach Hause gehen, dachte er, aber dann dachte er, nein-nein-nein, solange er hier saß, war ihm das herrliche Glücksgefühl von vorhin noch ganz nah. Im gleichen Augenblick tauchte vor den Leuchtkästen des Türkendolchs eine kleine, schwarze, in einen viel zu dicken Ledermantel eingemummte, nach Abfall und Alkohol stinkende Gestalt auf. Sie schob langsam ein Fahrrad vor sich her, an dessen Lenkern mehr als ein halbes Dutzend zum Bersten gefüllter Plastiktüten hing, und als die Gestalt ihre schleppenden, müden Schritte verlangsamte, schließlich stehenblieb, zu Motti herübersah und leise ein paar unverständliche Sätze vor sich hinmurmelte, als sie dann gleich wieder schwankend weiterging, erneut kurz verharrte und sich abermals nach ihm umblickte – da flehte er, sie oder er oder was immer es war, solle gar nicht erst auf die Idee kommen, sich zu ihm zu setzen, es solle bloß verschwinden von hier, es solle ihn in Ruhe lassen, denn er mußte noch ein wenig allein sein, ganz allein.