Die Toten sammeln sich am Wasserhahn - Eberhard Kapuste - E-Book

Die Toten sammeln sich am Wasserhahn E-Book

Eberhard Kapuste

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Beschreibung

Siegfried hätte gerne rote Haare wie sein Freund Franz. Aber auch Franz ist nicht zu beneiden, wenn ihn sein Vater wieder mal windelweich prügelt. Wie wird das wohl werden, wenn Siegfrieds eigener Vater aus der Gefangenschaft heimkehrt? In drei Tagen soll es soweit sein, aber zuerst muss Siegfrieds Mutter dafür sorgen, dass Onkeln Wilhelm verschwindet, der in letzter Zeit so oft bei ihnen übernachtet hat und immer Kaugummi und Schokolade mitbringt. Zwischen dem humanistischen Gymnasium, Indianerkämpfen und seinen eigenen Erinnerungen an Krieg und Kriegsende, beobachtet Siegfried mit dem unbestechlichen Blick des Heranwachsenden die merkwürdige Welt der Erwachsenen, in der Lebensmittel gehamstert und Mahlzeiten gestreckt werden. Eine Welt, in der das Gestern noch nicht lange her ist, obwohl auf einmal niemand ein Nazi gewesen sein will. Atmosphärisch dicht und aus der eigenen Biografie schöpfend erzählt Eberhard Kapuste von den entscheidenden drei Tagen im Leben des Jungen und vermittelt ein eindringliches Porträt einer Zeit des Dazwischen, nach Kriegsende und vor der Währungsreform.

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Seitenzahl: 286

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EBERHARD KAPUSTE

DIE TOTENSAMMELN SICHAM WASSERHAHN

VOLK VERLAG MÜNCHEN

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

© 2020 Volk Verlag München

Neumarkter Straße 23; 81673 München

Tel. 089 / 420 79 69 80; Fax: 089 / 420 79 69 86

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks sowie der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

ISBN 978-3-86222-377-0

www.volkverlag.de

Für Esther, Marc und Silke

INHALT

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

MITTWOCH

UM 14 UHR näherte sich der Vorortzug München-Herrsching dem Bahnhof Ebershofen und verlangsamte das Tempo. Gleich musste der beschrankte Bahnübergang vor dem Bahnhof auftauchen. Siegfried und Franz standen auf dem Trittbrett der Plattform des letzten Wagens. Siegfried hielt sich mit der linken Hand an einem Griff fest und spähte nach vorne. Als der Übergang unter ihnen auftauchte, sprangen sie ohne Kommando ab. Reine Routine. Man musste nur mit dem rechten Bein aufkommen, das linke blitzschnell davorsetzen und sich drei, vier Schritte vom Schwung des Landens treiben lassen.

Der Zug kam mit dem letzten Wagen nach etwa fünfzig Metern zum Halt, dort, wo der Bahnhofsvorsteher Mitterhauser mit der roten Mütze stand und für Ordnung sorgen wollte. Aussteigende Fahrgäste hatten vorne durch die Sperre den Bahnsteig zu verlassen. Auch die Schüler. Und die vom Gymnasium, die sich einbildeten, was Besseres zu sein, erst recht.

„Saubande!“, brüllte der Mitterhauser zu den beiden herüber und reckte die rechte Faust. „Kommt’s her! Los! Durch die Sperre! Saubande, elendige, ich erwisch euch alle!“

Die beiden lachten spöttisch, winkten ihm zu, zurrten ihre Schulranzen zurecht und zogen los. Was für eine Gaudi! Franz lief nach links und Siegfried nach rechts.

„Servus!“, riefen sie und lachten. Der Mitterhauser mit seinem Holzbein war ungefährlich, hatte noch nie jemanden erwischt, meinte aber, man müsse gehorchen, weil er eine Uniform trug. Ein Depp wie alle Bahner, wie all die Fahrkartenknipser und Zugschaffner, die man so leicht täuschen konnte, wenn man seine Monatskarte vergessen hatte. Einmal hatte ein Gendarm am Bahnübergang gestanden. Sie waren zu viert abgesprungen und danach wie die Hasen gerannt. Der Gendarm hatte ihnen bloß hinterhergeschaut. Mit seinem Fahrrad hätte er sie nicht über die Äcker verfolgen können.

Franz rief noch: „Ich bring das Buch heute rüber!“

„Ist recht!“, rief Siegfried zurück. Das Buch war „Das Dschungelbuch“, das er ihm geliehen hatte.

Die Schranke öffnete sich an beiden Seiten gleichzeitig, vom Bahnhof aus betrieben, nicht mehr per Handkurbel wie andernorts. Der Mitterhauser war sehr stolz auf diesen Fortschritt. Der dreirädrige Tempo-Lieferwagen vom Kastner Josef, dem Kohlen- und Kartoffelhändler, war das einzige Fahrzeug, das an der Schranke hatte warten müssen, nun setzte es sich tuckernd und stinkend in Bewegung.

Siegfried war Bahnschüler, er fuhr von Montag bis Samstag jeden Tag mit der Bahn nach Bansried aufs humanistische Gymnasium. Die Strecke war elektrifiziert, im Jahr 1947 noch eine Seltenheit. Die in den Zwanziger Jahren gebauten, robusten Elektroloks BR 132 zogen Wagen, deren Plattformen es ermöglichten, durch den gesamten Zug zu laufen. Ab und zu waren auch düstere Kastenwagen mit engen Abteilen angehängt. Da diese Wagen unbeliebt waren, hießen sie „Preußenwagons“. Aus Preußen war bekanntlich noch nie etwas Gescheites gekommen.

Siegfried ging zügig den Trampelpfad entlang, der parallel zum Bahngleis verlief. Zu beiden Seiten lag weites Ackerland. Nach der Getreideernte hatte er mit seinen verhornten Füßen ohne weiteres barfuß über die Stoppeln laufen können. Bloße Füße waren im Sommer, bis September, normal. Es schonte die Schuhe und war deshalb in Ebershofen bei den Kindern, auch bei den Mädchen, üblich. In Steinebach stürmten die Kinder barfuß über die spitzen Steine des Ufers in den Wörthsee, während die Erwachsenen sich jammernd zum Wasser bewegten und dabei wie die Störche ihre steifen Beine hoben und vorsichtig ins Wasser tauchten. Siegfried war noch in den ersten Wochen des Schuljahres ab und zu barfuß mit dem Zug gefahren, wie andere Kinder auch. Man konnte so sicherer als mit Schuhen auf den Puffern stehen.

Die Felder waren von kleinen Baumgruppen und Grasstreifen unterbrochen und in einiger Entfernung standen verstreut Häuser einfacher Bauart. Bis auf drei, vier Ausnahmen waren sie alle nach dem ersten Weltkrieg erbaut worden. Der alte Ortskern von Ebershofen mit Kirche, Rathaus, Schulgebäude und stattlichen Bauernhöfen war nicht zu sehen, der lag einen Kilometer entfernt jenseits des Bahnhofs. Ebershofen war ein normales, gediegenes Dorf, nichts Besonderes, aber durchaus angenehm anzuschauen. Siegfried war dort zwei Jahre lang in die Volksschule gegangen. Seit er aufs Gymnasium ging, war er nicht mehr dort gewesen.

Gut, dass Mama nichts von seinen Sprüngen aus dem Zug wusste. Sie hatte es ihm strikt verboten, ebenso das Stehen auf den Puffern und den Trittbrettern während der Fahrt. Auch wenn die Züge morgens meist rappelvoll waren und die Kinder auf den Gängen von den Erwachsenen fast erdrückt wurden und kaum Luft bekamen. Kinder hatten auch im größten Gedränge zu stehen. Sitzen kam nur in Frage, wenn ausnahmsweise alle Erwachsenen einen Platz hatten. Siegfried tat trotzdem, was Mama verboten hatte, er trotzte der Gefahr und stand gefährlich auf Puffern und Trittbrettern wie die anderen Jungen. Sie müsste ihn eigentlich verstehen, dachte er, sie kannte doch die überfüllten Züge von ihren Hamsterfahrten. Tat sie aber nicht. Kurz nach dem Krieg hatten die Leute sogar auf den Wagendächern gesessen.

Gunther, Siegfrieds jüngerer Bruder, ging in Ebershofen auf die Volksschule und fuhr deshalb selten mit dem Zug. Ein einziges Mal hatte er zu springen gewagt und war in voller Länge hingekracht. Zu Hause hatte er geheult, die Schürfwunden an seinen blanken Beinen kämen vom Fußballspielen. Die Ausrede war oberfaul gewesen. Gunther war eine unsportliche Flasche, einer, den man, wenn im Sportunterricht Fußball gespielt wurde, höchstens ins Tor stellte, damit er die anderen nicht störte.

Und Siegfrieds Vater? Was würde der sagen? Als ehemaliger Obersturmführer der Waffen-SS würde er sicher nur tun, was er für richtig hielt und sich nicht um die Meinung anderer kümmern. Und er würde sich bestimmt über seinen schneidigen Sohn freuen. Und nicht über Gunther, der immer gleich in die Hosen schiss. Übermorgen, am Freitag, würde Siegfried wissen, wie der Vater war, dann kam er nämlich ganz gewiss nach Hause, das hatte Mama gesagt.

Siegfried kannte ihn kaum. Erst war er lange Soldat und danach Kriegsgefangener gewesen. Er war nach dem Krieg in einem Lager in Sandbostel, irgendwo in Norddeutschland eingesperrt gewesen, in einem Internierungslager, wie Mama es nannte. Und jetzt saß er drei Monate Gefängnis ab, weil er in der Nazipartei und in der Waffen-SS gewesen war. Eine sogenannte Spruchkammer, vielleicht auch ein Gericht, hatte ihn dazu verdonnert. Was das allerdings genau bedeutete, war Siegfried nicht klar. Er kapierte es nicht. Dazu kam, dass Mama ihm verboten hatte, darüber mit jemandem zu reden. Papa war in Gefangenschaft, dass reichte, wenn jemand nach ihm fragte und wissen wollte, wo er sei und was mit ihm geschehen war. Das mit der Partei und der Waffen-SS ging niemanden etwas an.

Im Juli hätte Papa Urlaub auf Ehrenwort nehmen dürfen, aber er wurde krank. Stattdessen besuchte ihn Mama, nur kurz, aber sie konnte berichten, es ginge ihm gut bei den Briten.

Würde der Vater seine Kinder hauen, wenn sie etwas angestellt hatten? Vielleicht. Das taten alle Väter, auch mit dem Gürtel. Wie der Vater vom Franz, der Hohenleiter Barthel, der im Suff regelmäßig seine Frau und die Kinder verprügelte. Die Nachbarn wussten es, schritten aber nicht ein, weil man sich nicht in fremde Familienangelegenheiten einmischte und die Frau vielleicht sogar schuld daran war. Der Barthel war in russischer Gefangenschaft gewesen und wegen einer Beinverwundung frühzeitig entlassen worden. Siegfrieds Vater dagegen war in britische Gefangenschaft geraten, kurz bevor ihn die Rote Armee in Österreich in dem Lazarettzug, in dem er wegen seiner lebensgefährlichen Verwundung lag, hatte schnappen können.

Ganz ehrlich: Siegfried dachte kaum an seinen Vater und wenn, dann nannte er ihn in Gedanken nicht einmal Papa. Wie der Vater aussah und wie er im Umgang mit Menschen war, Siegfried hatte nur ein sehr verschwommenes Bild vor Augen. Er sah ihn als einen sehr großen Mann, aber das sagte wohl nichts, weil alle Väter für ihre kleinen Kinder Riesen seien, wie Opa mal gesagt hatte. Die Erinnerungen an Vaters wenige Heimaturlaube waren verblasst.

Eine Erinnerung hatte etwas mit Prügel zu tun, bei einem Spaziergang in einem Park irgendwo in Berlin. Zwei Jugendliche hatten mit einem Gewehr auf Vögel geschossen und der Vater hatte sie angeschrien, das zu unterlassen. Als sie es nicht taten, rannte er auf sie zu, entriss dem einen, der das Gewehr hielt, die Waffe und verpasste ihm mehrere Schläge auf den Hinterkopf. Ob er dabei etwas schrie, ob er das Gewehr behielt, das wusste Siegfried nicht mehr. Er war sich nur sicher, dass Vater Uniform getragen hatte und dass Mama nicht dabei war. Weil sie schimpfte, als sie nachher von dem Vorfall erfuhr.

„Wie kommst du dazu, fremde Kinder zu schlagen? Du bist hier nicht bei deinem Militär.“

„Es waren keine Kinder, sondern Fünfzehnjährige, und wir schlagen unsere Leute nicht.“

„Umso schlimmer.“

Sich auf seinen Vater zu freuen, wie Mama forderte, tat er nicht. Obwohl er stolz war, einen Offizier als Vater zu haben, war der Vater ihm im Grunde genommen wurscht. Die Familie war bisher auch gut ohne ihn ausgekommen. Mama arbeitete, Oma kochte, wenn auch nicht gut, und die drei Kinder gingen zur Schule. Dass es wenig zu essen gab und der Strom oft ausfiel, konnte der Vater sicher auch nicht ändern.

Siegfried kratzte sein linkes Bein. Es juckte. Der November war kalt. Er trug einen dicken, dunkelbraunen, von Mama gestrickten Pullover, doch seine sehnigen Beine mit den groben Knien waren bloß. Die Hose war kurz, wie bei der HJ, und die Kniestrümpfe hatte er bis zu den Knöcheln hinunter gerollt. Sie wären sowieso immer wieder nach unten gerutscht. Siegfried hatte ein rundes Gesicht unter schlampig gescheitelten braunen Haaren. Sein Freund Franz hatte feuerrote Haare. Solche hätte er auch gerne gehabt, obwohl er wusste, dass Franz deswegen gehänselt wurde. „Rote Haare, Sommersprossen, sind des Teufels Volksgenossen!“, war noch das harmloseste, was Franz zu hören bekam. Trotzdem, rote Haare zu haben, war auf jeden Fall etwas Besonderes.

Siegfrieds für seine zehn Jahre verhältnismäßig langer Körper war zu dünn. Er war bis vor Kurzem unterernährt gewesen, jetzt aber auf dem Weg der Besserung. In den letzten Monaten hatte er einige Pfunde zugelegt. Als die Schulspeisung in der vierten Volksschulklasse eingeführt wurde, war er gewogen und gemessen worden. Anfangs kamen nur besonders schlecht genährte Kinder zum Zug. Siegfried war unter ihnen gewesen.

Meist gab es Eintopf, gelegentlich mit Wursteinlage, Grieß- oder Reisbrei und ab und zu Schokolade. In den Schulferien war Siegfried wie die meisten seiner Schulkameraden mit dem Zug zur Schule gefahren und hatte das Essen in einem Kochgeschirr abgeholt oder gleich an Ort und Stelle verschlungen. Mama sprach nicht von Schulspeisung, sondern von Quäkerspeisung. Nach dem ersten Krieg, als sie ein Schulkind war, hatte das so geheißen. Quäker waren Menschen in Amerika, die Gutes taten und Kinder vor dem Verhungern bewahren wollten.

In der Volksschule nach seinem Berufswunsch gefragt, hatte er „Koch“ gesagt. Weil man da immer was zu mampfen hatte, besonders, wenn man bei den Amis in der Küche arbeitete. Wie Onkel Wilhelm, Mamas Freund. Die meisten Jungen hatten Lokomotivführer werden wollen. Von Dampfmaschinen, nicht von den langweiligen Elektrischen. Franz, sein Freund, war so einer. Am liebsten wäre es dem, wenn die Vorortzüge wieder wie früher von Dampflokomotiven gezogen würden. Dass die Züge dann langsamer führen, hielt Franz für eine gemeine Lüge.

Onkel Wilhelm, der bei den Amis in der Lagerküche arbeitete, draußen im ehemaligen Betriebsstofflager der Wehrmacht, brachte öfters was zu essen mit. Unglaublich, was die Amis alles an Schokolade, Drops, Kaugummi und Büchsen mit Fleisch und Gemüse hatten. „chewing gum“ und „corned beef“ waren die Worte, die bald jedes Kind und viele Erwachsene kannten. Siegfried kannte die Zigaretten-Marken: Lucky Strike, Chesterfield und Camel. Die Erwachsenen waren wild auf diese Zigaretten. Wenn ein Ami rauchte und die Kippe wegwarf, stürzten sich ausgewachsene Männer darauf. Mama rauchte ab und zu, Onkel Wilhelm nicht.

Onkel Wilhelm war kein richtiger Onkel, aber die Kinder mussten ihn so nennen. Er schlief ab und zu bei der Familie. Wo, das wusste Siegfried nicht, vermutlich in der kleinen Kammer. Und dann aß er beim kargen Frühstück mit. Gertrud, Siegfrieds kleine Schwester mochte ihn nicht, seit er einmal eine gut schmeckende Wurst mitgebracht hatte, die sich als Pferdewurst herausstellte. „Ich hasse dich!“, hatte sie heulend gebrüllt. „Du hast das arme Pferd geschlachtet. Du bist ja so gemein!“

Der siebzehnjährige Ludwig Gerber hatte Siegfried mal gefragt, was der Onkel denn so mache.

„Wie meinst du das?“

„Na ja, was er halt macht. Bleibt er noch lange bei euch, auch wenn dein Papa zurückkommt?“

„Ich versteh dich nicht.“

„Wirst schon noch dahinterkommen. Gibt sicher ein Spektakel.“

„Hä?“

„Ist schon gut.“

Siegfried ärgerte sich, weil der Ludwig so blöd gegrinst hatte. Er kapierte nicht, was der ihm hatte sagen wollen, aber er vergaß die Sache.

Auf dem Bahngleis kam Siegfried eine Gestalt entgegen. Das war der alte Rosegger, ein pensionierter Bahnbeamter, der immer auf dem Gleis lief. Das war sein Vorrecht, meinte er. Einen ausgelutschten Virginiastumpen im Mund, einen dicken Spazierstock schwingend, marschierte er in Knickerbockern auf den Schwellen, ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit hängendem Schnauzbart. Er hatte die Fahrzeiten der Züge im Kopf, sodass ihm nichts passieren konnte. Er hielt sich für sehr schlau. Als er an Siegfried vorbeischritt, musterte er ihn scharf. Siegfried überlegte einen Augenblick, ob er, um ihn zu ärgern, „Sellerie!“ rufen sollte, ließ es aber sein. Der Alte hätte dann losgebrüllt. Aber ohne die Kameraden machte das keinen Spaß.

Manchmal baute sich Siegfried mit anderen Kindern an Roseggers Gartenzaun auf und dann schrien sie im Chor „Sellerie, Sellerie!“ und jedes Mal kam der Rosegger herausgerannt und tobte, er würde die Polizei rufen, er würde sein Gewehr holen, er würde sie der Schule melden. Niemand wusste, was das mit dem „Sellerie“ auf sich hatte, woher das Wort kam und warum es Rosegger zur Weißglut brachte. Der alte Trottel fiel jedes Mal darauf herein. Mama schimpfte, wenn sie es mitbekam, sie sollten den alten Mann in Ruhe lassen, er habe halt nicht alle Tassen im Schrank, aber das hätten heutzutage viele.

Siegfried verließ den Trampelpfad und bog ab auf den Sandweg in Richtung der acht Einfamilienhäuser, die hufeisenförmig vor einem Wald standen und von denen eines seine Familie bewohnte. Davor passierte er ein großes, zweistöckiges Haus, das von hohen Fichten umgeben war. Dort wohnte der blinde Mann mit dem verbrannten Gesicht, den ein Blindenhund zum Bahnhof führte. Er war Masseur in München. Und die Frau Professor, eine alte, bunt geschminkte Frau, die in gebückter Haltung und laut summend zum Einkaufen ging, ohne irgendjemanden zu beachten. Sie wurde „Frau Professor“ genannt. Vielleicht, weil sie es war, oder weil sie mit einem Professor verheiratet gewesen war. Die Frau vom Doktor Fahling, dem einzigen Arzt in Ebershofen, wurde auch „Frau Doktor“ genannt, obwohl sie keine war. Das wäre in Bayern so üblich, erklärte Mama, als sie Gunther wegen einer blöden Bemerkung zurechtwies.

„Das ist eine Jüdin“, hatte der neun Jahre alte Gunther behauptet, als das Gespräch auf die Frau kam.

„Woher hast du das? Wer hat das gesagt?“, schnappte Mama.

„Halt so, weiß nicht. Was ist denn eine Jüdin?“ Gunther duckte sich wie üblich weg.

„Ich will so einen Schmarrn nicht hören. Das ist eine alte Frau, basta. Nur weil sie sonderbar ist, ist sie noch lange keine Jüdin. Wenn du noch einmal nachplapperst, was irgendein Idiot behauptet, lernst du mich kennen.“

Mama reagierte heftig, wenn Schlechtes oder Blödsinn über Juden gesagt wurde. Sie war in Nürnberg mit Jüdinnen befreundet gewesen und als die Nazis an die Macht kamen, hatten sie Mama deshalb bei der Sparkasse rausgeschmissen, sie und ihre Schwester Liesl. Als die beiden einmal darüber redeten und Siegfried es zufällig mitbekam, konnte er sich darauf keinen Reim machen. Auch Opa schimpfte über die Nazis. Es seien Dreckskerle gewesen, aber zum Glück habe sie der Teufel geholt.

Oma hatte Mama einmal angegiftet: „Ausgerechnet du hast in Berlin einen Nazi geheiratet. Einen Nazi, der noch dazu Offizier bei der Waffen-SS wurde!“

„Wo halt die Liebe hinfällt“, hatte Mama pampig erwidert.

Erwachsene und ihre Sachen waren oft schwierig zu verstehen.

Der Herr Reitinger wohnte auch im Haus hinter den Fichten. Mit seiner Familie, einer Frau und fünf Kindern. Er war Major gewesen und hatte einen Granatsplitter im Kopf, der wanderte und vielleicht bald herauskam. Siegfried wusste das von der ältesten Tochter. Reitinger, ein kleiner drahtiger Mann mit auffallend großen Ohren, ging immer sehr schnell, schien immer irgendwohin zu hetzen. Wenn er Siegfried begegnete, rief er „Was macht die Schule? Halt die Ohren steif!“ oder „Du lernst fürs Leben, nicht für die Schule. Halt dich ran!“ und eilte weiter. Einmal hatte er den letzten Spruch auf lateinisch gebrüllt. Nachbarssohn Ingo, der dabei war, hatte den Reitinger zwar verstanden, aber nicht noch einmal zitieren können. Als vor einigen Wochen der Vortrag in der Schule über die Verbrechen im Konzentrationslager Buchenwald Siegfried völlig verunsichert hatte, war er von Mama zum Reitinger geschickt worden. Der Major sollte ihm erklären, was damals im Krieg passiert war, der konnte das sicher besser als sie.

Im September hatte es an der Schule eine Feier zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gegeben, gerade als Siegfried in die erste Klasse des Bansrieder humanistischen Gymnasiums gekommen war. Die gesamte Schule wanderte klassenweise zu einem Kinosaal. Was dort geschehen würde, wusste Siegfried nicht, auch seine Kameraden nicht.

Ein Schülerquartett spielte irgendein langweiliges Stück und dann trat der Rex an das auf der Bühne stehende Pult. Der Oberstudiendirektor Hinrich war ein dicklicher Mann mit gewaltigem Kopf, einer unordentlichen Mähne und einer riesigen, schlampig gebundenen Fliege am Hals. Er sprach ruhig und sanft vom alten Goethe, der mit einem Bekannten vor langer Zeit in der Nähe einer Stadt namens Weimar spazieren gegangen war und dabei wunderbare Gedanken gehabt hatte. Keiner der Schulkameraden kannte diesen Goethe und von Weimar hatten sie auch noch nicht gehört.

Und dann brach es wie ein Gewitter auf die Schüler herein, aus heiterem Himmel, ohne Vorankündigung, mit unglaublicher Wucht. Ohne Übergang tobte der Rex los: Er brüllte, zeterte, gestikulierte, grimassierte ohne Pause, ohne auch nur einmal leiser zu werden. Das war ein Sturm, dem die Schüler nicht gewachsen waren, schon gar nicht die Zehnjährigen. Wie Schläge auf den Kopf und in die Magengrube. Eine Brüllorgie, die sie bannte, sie in die Sitze zwang, sie benommen und hilflos machte. Sie hörten, aber sie verstanden nichts, sie fühlten sich schuldig, ohne zu wissen weshalb. Neben Siegfried bekam ein Schüler einen Weinkrampf.

Siegfried hörte aus dem Gebrüll nur heraus, dass dort, wo dieser alte Goethe schöne Stunden verlebt hatte, ein Lager gestanden hatte. Ein großes Lager mit elenden Baracken, in denen viele halb verhungerte Menschen dahinvegetierten, die geprügelt, gedemütigt, erschlagen, gehängt und erschossen wurden und dass da Verbrecher gewesen waren, die quälten, folterten, blutig schlugen, wahllos erschossen, hängten, erdrosselten und sich dabei freuten und lachten und dafür nicht bestraft wurden, wenn sie zum Beispiel einen Priester zwangen, die Messe mit Jauche zu vollziehen. Eine Schande für Deutschland, eine Schande für alle Deutschen.

Die Kinder wollten nur noch, dass dieses Toben aufhörte, dass sie erlöst würden. Als der Rex endlich seine Tirade beendete, war es zuerst totenstill, dann standen in den ersten Reihen die Lehrer auf und klatschten und die „Soldaten“ schlossen sich an. „Die Soldaten“, das waren ältere Schüler, die schon Soldaten gewesen waren und das Abitur nachholten. Benommen fragte sich Siegfried, warum die da vorne klatschten. Er verstand nicht, was es da zu applaudieren gab.

Siegfried war verstört nach Hause gekommen und als Mama wissen wollte, was denn los sei, rückte er nur zögernd mit der Sprache heraus. Da wusste sie nicht, wie sie reagieren sollte und schickte ihn zum Reitinger. Der konnte sicher mehr aus Siegfried herausbekommen und dann einiges zurechtrücken. Und das tat der Major dann auch mit Eifer.

Ja, diese Verbrechen habe es in Buchenwald und anderswo gegeben, sagte der Reitinger, und die Verbrecher waren leider zumeist Deutsche gewesen. Aber der überwältigende Teil der Deutschen habe sich im Krieg anständig verhalten und die Wehrmacht ganz besonders. Die deutschen Soldaten dürften ein gutes Gewissen haben, sie hätten ihre Pflicht erfüllt und tapfer und ehrenvoll gekämpft. Das würden auch die ehemaligen Feinde anerkennen. Dass es so war, dafür lege er seine Hand ins Feuer, da könne Siegfried ganz beruhigt sein. Leute, die das Gegenteil behaupteten – und solche gebe es leider – seien Lügner.

Der Reitinger wurde in seinem Eifer so laut, dass es sogar seine Frau im Nebenzimmer störte, eine Frau, die im Gegensatz zu ihrem Mann immer ruhig blieb, nie schnell ging und immer freundlich nach dem Befinden fragte. Sie trug einen altmodischen Haarknoten am Hinterkopf, einen Dutt, und trug sehr lange Kleider.

Da öffnete sie vorsichtig die Tür: „Kurt, was ist denn los?“, fragte sie. „Echauffiere dich nicht so. Bleibe ruhig. Du verschreckst ja den armen Siegfried. Er versteht kein einziges Wort, wenn du so auf ihm herumhämmerst.“

Danach sagte Mama zu Siegfried, sie hätte sich den Besuch bei Herrn Reitinger etwas anders vorgestellt: „Ich hätte mir das allerdings denken sollen. Er ist zwar kein Nazi, aber ein alter Komisskopf, der natürlich die Wehrmacht reinwäscht. Nächstes Jahr gehst du auf jeden Fall nicht zu dieser Gedenkfeier. Dann bleibst du zu Hause. So eine Veranstaltung muss dein Rektor anders aufziehen, wenn er was erreichen will. Auch wenn er selbst zu den Verfolgten gehört hat. Zehnjährige Kinder so zu erschrecken, unerhört!“

Siegfried erreichte die Riederstraße, die an den acht hufeisenförmig angeordneten Häusern vorbeiführte, und bog in den Fichtenweg ein, an dessen Ende das Haus stand, in dem seine Familie wohnte. Die Häuser waren in den Dreißigerjahren gebaute schlichte Einfamilienhäuser mit einfachen Satteldächern. Jetzt war jedes Haus mindestens von zwei Parteien belegt, oft von „Zuagroastn“, die die Gemeindeverwaltung eingewiesen hatte. Sie machten die Bayern zur Minderheit. Was denen ziemlich stank.

Vorne im Eckhaus wohnten die Englerts. Sie trug immer einen Hut mit einem durchsichtigen Schleier vor dem Gesicht und schwarze Handschuhe. Und er hatte nur ein Bein, aber nicht vom Krieg, sondern von einem Lkw-Unfall. Er hatte auf der Ladefläche gesessen, um schwarz organisierte Mehlsäcke zu bewachen. In einer Kurve war die alte, von einem Holzvergaser angetriebene Karre umgekippt und hatte ihn begraben. Der Verlust seines Beins habe ihn jedoch vor einer Gefängnisstrafe bewahrt, meinte Onkel Wilhelm.

Seine Behinderung schien Englert nicht aufs Gemüt geschlagen zu haben. Er war ständig am Quatschen und hatte für jede Situation einen Spruch parat. „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts“, „Das ist mir ein innerer Reichsparteitag.“ Oder einmal, als es im Winter um die Eispfützen auf der Riederstraße ging, begann er mit „Wie schon unser Führer so richtig sagte …“ Sonst sagte er nie „Führer“, sondern immer „Adolf, der Tausendjährige.“

Im nächsten Haus wohnte die Familie Anders. Der Mann, ein ehemaliger Korpsstudent mit Schmissen im Gesicht, trug stets einen verbeulten Hut und bunte Hosenträger, die ihm ständig von den schmalen Schultern rutschten. Er tanzte auf allen Hochzeiten, wie er grinsend von sich sagte. Ein „Hansdampf in allen Gassen“, wie Mama es ausdrückte. Er reparierte Öfen, dolmetschte trotz lächerlicher Englischkenntnisse, versuchte sich in Immobilien, handelte schwarz mit allem, was Gewinn versprach, von Zigaretten über Kinderroller bis zum schwarz, in einem Hinterhof gebrannten Fusel. In München auf dem Schwarzen Markt war er einmal erwischt und eingebuchtet worden. Drei Tage lang.

Siegfried sah ihm manchmal beim Schlachten von Hasen und Hühnern zu. Auch das beherrschte Anders. Und dass er dabei nicht nur seine Hände, sondern gelegentlich auch seine Kleidung mit Blut beschmierte, störte ihn anscheinend nicht. Beim Hasenschlachten war Siegfried allerdings nur zweimal dabei. Es war ihm unangenehm, zu sehen, wie Anders das tote Tier mit den Hinterläufen an eine Holzwand nagelte und ihm dann das Fell vom blutigen Körper zog. Das Töten der Hühner fand er lustig, wenn sie ohne ihren abgehacktem Kopf noch einige Meter im Garten herum sausten.

Anders Ingo. Dem zwölfjährigen Sohn von Anders war das alles peinlich. Er machte gerne auf vornehm und gab vor, sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen als den Geschäften seines stets zu lauten Vaters. Ingo half seinem Alten selten und drückte sich, wo er konnte. Als Anders für drei Tage einen alten DKW Zweitakter vor dem Garten stehen hatte und der nicht ansprang, weigerte sich Ingo, beim Anschieben zu helfen, und gab erst nach zwei Ohrfeigen nach. Allerdings auch dann ohne Erfolg. Erst einem Kfz-Mechaniker gelang es, gegen eine Schachtel Zigaretten den Wagen flottzumachen. Wahrscheinlich aber nur für einige Kilometer, wie Onkel Wilhelm vermutete.

Mama hatte eine gute Meinung von Anders. Man konnte gegen ihn sagen, was man wollte, wenn man Rat und Tat brauchte, konnte man sich immer an ihn wenden.

Siegfried wusste wenig von dem, womit sich die Leute in der Siedlung über Wasser hielten. Manches, was er mitbekam, schien wahr zu sein, Anderes nicht. Geklaut wurde wohl nicht, außer Holz im nahen Wald, aber es wurde betrogen, geschwindelt, illegal organisiert und schwarz gehandelt – es sei denn, man war zu doof dazu oder man war wie die uralte, Gott gefällige Frau Matroschka. Eine große Frau, die ging, als habe sie einen Ladestock verschluckt, und die alles missbilligte, was um sie herum geschah. Dazu brauchte sie nur wenige Worte: „Sowas macht man nicht“ und „Unrecht Gut gedeihet nicht“ oder auch „Der liebe Gott sieht alles.“ Frau Matroschka sei aus Ostpreußen, sagte Mama, doch wo das war, das sagte Mama nicht.

Siegfried wusste immerhin, dass die Familie Radow gute Geschäfte mit den Amis machte und sogar mit ihnen feierte. Angeblich hatte die vollbusige Frau Luise Radow sogar einmal fast nackt auf dem Tisch getanzt. Was aber Nachbar Anders Mama gegenüber zu völligem Blödsinn erklärte. Reiner Neid sei das, sagte er, mit diesem Quatsch wolle man den erfolgreichen Radows nur einen schlechten Ruf verpassen. Es wohnten halt zu viele Spießer in der Nachbarschaft. Ein Wort, das Siegfried zum ersten Mal hörte und nichts damit anzufangen wusste.

Siegfried hatte mitbekommen, dass der stets korrekt auftretende Tierarzt Bader, der selbst zum Holzhacken eine Krawatte trug, wegen illegalen Handels mit Zement gefasst und eingesperrt worden war. Und dass der biedere und überaus fromme Hotelier Himlich, ein kleiner, spitznasiger Mann, dem man nur Gutes zutraute, schwedische Gardinen kennengelernt hatte, weil er mit geschmuggeltem Alkohol bewirtete. Aber so richtig interessierte sich Siegfried für das alles nicht. Sollten die Erwachsenen doch sehen, wo sie blieben. Der Nachbar Anders kannte ein dazu passendes Gedicht:

Wer heut sein Leben liebt, der schiebt,

wem Ehrlichkeit im Blute rauscht, der tauscht,

wem beide Wege sind bebaut, der klaut,

wer alles ehrlich sich erwirbt, der stirbt!

Siegfried hielt insgesamt nicht viel von den Männern, die in der kleinen Siedlung wohnten. Bis auf den Tierarzt Bader, war keiner wie Papa Soldat gewesen. Bader hatte sich vor allem um die Pferde kümmern müssen. „Die Wehrmacht war mehr ‚hot‘ als ‚mot‘, aber das wollte man in den hohen Stäben ja nicht wahrhaben. Von wegen voll motorisierte Armee“, hatte er einmal gesagt, aber das hatte Siegfried nicht verstanden.

In Siegfrieds Augen waren alle anderen Drückeberger und Schlappschwänze. Aber sie schienen zumindest manierlich zu sein und würden sicherlich nicht ihre Frauen und Kinder prügeln, wie es der Vater vom Franz, der Hohenleiter Barthel, tat, ohne dass ihn jemand daran hinderte.

Hohenleiter war Schuster und hatte drei Kinder. Im Krieg hatte seine Frau zusammen mit ihrer verwitweten Mutter Holzsandalen produziert, um damit einigermaßen über die Runden zu kommen. Seit der Mann wegen seiner Verwundung früher als andere aus der russischen Gefangenschaft entlassen worden und zurückgekommen war, hatte es allerdings keinen Familienfrieden mehr gegeben. Franz erzählte Siegfried nur wenig von dem, was bei ihm zu Hause geschah, aber es schien schlimm zu sein. Alkohol, Streit, Schläge, Beschimpfungen, Schulden, nur ab und zu eine kurze Ruhepause. Warum das so war, das verriet der Franz nicht. Vielleicht wusste er es auch nicht.

Mama fuhr einmal im Monat zum Hamstern: In überfüllten Zügen in die Umgebung von München, wo sie einige Bauern kannte, bei denen es ab und zu etwas zu holen gab. Da sie gut reden und auch schauspielern konnte, hatte sie immer Erfolg. Mama tauschte Eier, Butter und Obst gegen Seife und Kerzen, die ihr Schwager Peter, der Mann ihrer Schwester Liesl, beschafft hatte. Wenn sie Glück hatte, brachte sie auch mal einen Schinken mit nach Hause, den ihr dann Nachbar Anders immer vergeblich gegen Kaffee abhandeln wollte. Sie sei eine tolle Geschäftsfrau, schmeichelte er ihr, aber das half ihm auch nicht.

Einmal hatte sie Siegfried mitgenommen. In einem Dorf sollte er Äpfel sammeln, während sie in einem Bauernhof zu tauschen versuchte. Vielleicht hatte sie gemeint, er solle Fallobst sammeln. Doch das hatte sie nicht gesagt und so tat es Siegfried auch nicht. Er pflückte die Äpfel vom Baum, wurde von der Dorfjugend entdeckt, die ihn als „Drecksau aus der Stadt“ und „elendigen Dieb, einen elendigen“ beschimpfte und mit Stöcken bewaffnet auf ihn losging. Ein Junge schoss sogar mit einer Steinschleuder, traf aber nicht. Siegfried flüchtete um das Dorf herum zu dem Bauernhof, in dem er Mama vermutete, fand sie aber nicht. Mama war auch bereits auf der Suche nach ihm. „Das war wohl nichts“, war ihr einziger Kommentar, als er schließlich keuchend vor ihr stand.

Im letzten Haus auf der rechten Seite des Fichtenweges, dem mit der Nummer 4, wohnte Siegfrieds Familie. Gegenüber lag eine Gärtnerei, die der Reichsbahn gehörte. Ein riesiges Areal mit einer Unzahl von Beeten und endlosen Reihen von Pflanzen, Sträuchern und Obstbäumen der verschiedensten Art. In einiger Distanz waren langgestreckte Gewächshäuser zu erkennen. Ein älterer Junge, der in der Nähe wohnte, hatte Siegfried erzählt, dass die Gärtnerei im Krieg, als die Lebensmittel rar zu werden begannen, oft ausgeplündert wurde und man deshalb einen Wachschutz installiert hatte. Aber ohne Erfolg. Das Anwesen war zu groß und die Diebe zu raffiniert und zu rücksichtslos.

Dazu kam, dass viele Ostarbeiterinnen als Hilfen eingesetzt waren. Sie waren in einer Scheune untergebracht und wurden schlecht ernährt. Völliger Blödsinn, denn dadurch waren auch sie zum Klauen gezwungen. Allerdings waren, wenn sie beim Gemüse- oder Obst stehlen erwischt wurden, die Folgen weitaus bitterer als für die deutschen Täter.

Die Frauen, man nannte sie abfällig „Russenweiber“, versuchten dennoch, sich ihre Lebensfreude zu bewahren und waren fast ständig am Singen, auch wenn die Vorarbeiter noch so grimmig guckten. Als im Winter ein Lkw, der sie zu einem Außeneinsatz bringen sollte, auf der vereisten Riederstraße wegrutschte und im Straßengraben landete, sollten sie ihn wieder rausschieben. Sie benahmen sich, als sei das für sie die reinste Gaudi und stellten sich dabei so ungeschickt an, dass ein Kranwagen kommen musste. Der traf immerhin nach drei Stunden ein.

Das erzählte der Junge, der das alles angeblich beobachtet hatte, und meinte, es sei den Russinnen verhältnismäßig gut gegangen, anderswo seien russische Kriegsgefangene zu Abertausenden verreckt, aber das würde man heutzutage nicht gerne hören.

„Verreckt?“, entfuhr es Siegfried.

„Halt verhungert, erschöpft, erschlagen. Was weiß ich.“

„Ja? Warum?“

„War halt so. Frag nicht so blöd.“

„Und wie ist es jetzt?“, wollte Siegfried noch wissen.

„Es gibt keinen Wachschutz mehr und es wird noch mehr geklaut“, lautete die lapidare Antwort.

Am Rand der Gärtnerei standen vor dem Drahtzaun herbstlich braune Hagebuttenbüsche. Die Kinder aßen die roten Schalen der Früchte, auch wenn sie nicht besonders schmeckten. Der Samen war ein tolles Juckpulver. Es schnell und unerwartet von hinten jemandem in den Nacken zu schieben war ein beliebtes Spiel. Vor allem mit den Mädchen. Aber auch Gunther, Siegfrieds kleiner Bruder, war ein gern ausgesuchtes Opfer.

Das Haus Nummer 4, in dem die Familie wohnte, bestand aus einem Erdgeschoss und einem Obergeschoss, mit jeweils einer Küche, einem Bad, zwei Zimmern und einer kleinen Kammer. Der Dachboden war nicht ausgebaut.

Unten lebten die Witzlaffs, die Hauseigentümer. Sie würden morgen, am Donnerstag, nach Grünwald bei München in eine geerbte Villa umziehen. Niemand kannte bislang die neuen Mieter, die ihre Wohnung übernehmen sollten. Die beiden Kinder der Frau Witzlaff waren bereits in Grünwald. Nur sie und ihr Schwiegervater waren noch da, einen Ehemann gab es nicht, er hatte vor Jahren Selbstmord begangen. Siegfried hasste den Schwiegervater, den alten Friedrich Witzlaff mit seinen blassen blauen Augen und den winzigen, stechenden Pupillen und den schrumpeligen Augenlidern. Für ihn war das der Blick eines hungrigen Geiers. Zu diesem Eindruck trug auch der vor- und zurückruckende Oberkörper bei, wenn er beim Essen einen Bissen hinunterschlang. Siegfried hatte in einem Bildband mit Tieren Geier gesehen, die aus einem toten Tier Fleischstücke herausrissen. So einer war der alte Witzlaff. Er hatte Siegfried einmal eine Ohrfeige gegeben, weil er zu Gunther, der ein Lied im Rundfunk gehört hatte und es laut im Garten sang, gesagt hatte, er solle sofort mit dieser Scheiße aufhören. Nach der Ohrfeige hatte der Alte gebrüllt, Siegfried gehöre zur Strafe der Mund mit Seife ausgewaschen. So ein Depp!

Im Garten vor dem Haus standen Büsche und eine hohe Tanne, der hinter dem Haus angelegte Gemüsegarten war nicht zu sehen. Im Frühjahr und im Sommer ernteten die Bewohner, was die Beete mal großzügig, mal sparsam hergaben: Tomaten, Bohnen, Erbsen, Erdbeeren, Johannisbeeren, Salat, Blumenkohl und Kartoffeln. Einmal sogar Tabak, aber der taugte nichts, nicht mal Opa hatte den geraucht. Opa, der alles inhalierte, selbst den übelsten Knaster. Eines machten die Witzlaffs und Mama allerdings nicht: Sie düngten nicht mit Jauche, mit Odel, wie es die Nachbarn taten. Die pure Scheiße kübelweise zwischen die Pflanzen schütten – nein, das dann doch nicht!

Wenn Siegfried im schönsten Spiel war, rief Mama mitleidslos zum Unkrautzupfen. Als Erwachsener würde Siegfried nie einen Gemüsegarten anlegen, lieber würde er verhungern. Notfalls würde er, wenn es nichts zu kaufen gab, Obst und Gemüse klauen. Ab und zu taten das die Kinder drüben in der Reichsbahn-Gärtnerei, mit guter Deckung zwischen den Reihen der Johannisbeerbüsche. Aber das war kein richtiges Klauen. Kinder durften das, nur erwischen lassen sollten sie sich nicht.

Und dann war da noch das Kaninchen Fridolin. Einmal hatten sie sich eines gehalten, in einer Holzkiste mit einem Fenster aus Draht. Die sechsjährige Gertrud hatte die Fütterung übernehmen sollen, war aber nicht zuverlässig genug, und so musste Siegfried das übernehmen. Das Tier gedieh prächtig, doch als es, von Nachbar Anders geschlachtet, an einem Sonntagmittag auf den Tisch kam, war keines der Kinder in der Lage etwas zu essen. Das Kaninchen war zum Familienmitglied geworden. Siegfried weigerte sich von vornherein, Gunther versuchte einen Happen und spuckte ihn wieder aus und Gertrud heulte los und beruhigte sich erst, als abgeräumt war. Mama und Wilhelm war es unbehaglich, aber sie aßen. Nie mehr würde von der Familie ein Tier gehalten werden, das geschlachtet werden sollte.