Die Toten von Cork - Gerlinde Michel - E-Book

Die Toten von Cork E-Book

Gerlinde Michel

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Beschreibung

Grünes Idyll und schreckliche Verbrechen. Kriminalkommissar Markus Felchlin macht samt Familie und Freunden Urlaub in Skibbereen im Süden Irlands. Doch dort sind sie offensichtlich nicht willkommen: Jemand versucht, sie mit Drohungen und Hassbotschaften aus ihrem Ferienhaus zu vertreiben. Dann taucht ein verwahrlost wirkendes Mädchen bei ihnen auf, das niemand zu vermissen scheint. Felchlin findet heraus, dass das Kind mit seiner Mutter im Konvent Children of the Blessed Heart lebt. Die Vorkommnisse, die er dort heimlich beobachtet, versetzen seinen Ermittlerinstinkt in Alarmbereitschaft. Doch die Abgründe, die sich dann vor ihm auftun, übertreffen seine schlimmsten Erwartungen . . .

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Ähnliche


Gerlinde Michel

Die Toten von Cork

Kriminalroman

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2022 by GRAFIT in der Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, D-50667 Köln

Internet: http://www.grafit.de

E-Mail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Franziska Emons-Hausen, unter Verwendung von iStockphoto.com/levers2007

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98708-002-9

1. Auflage 2022

Gerlinde Michel wurde 1947 in Bern geboren. Nach abgeschlossenem Anglistikstudium an den Universitäten Bern und Hull (Großbritannien) arbeitete sie als Englischlehrerin, Leiterin einer internationalen Jugendaustauschorganisation und als Redakteurin einer Fachzeitschrift. Seit 2006 ist Gerlinde Michel freie Autorin. Sie hat eine erwachsene Tochter und lebt in Spiez.

www.gerlindemichel.ch

Für die Mütter und Kinder von Tuam

At Tuam

Among the hundreds of children who stare up at us from their septic tank

are James Muldoon, who died in 1927

at the age of four months. At least he would never be forced to thank

the Lord for mercies large or small. That cry to high heaven

must come from Brendan Muldoon, who died in 1943

at a mere five weeks. A teenage nun bows before an unleavened

host held up by a priest like a moon held up by an ash tree.

In 1947 the eleven month old Bridget Muldoon, a namesake of the mother

who would shortly give birth to me,

has already distinguished herself as being a bit of a bother

while Dermott Muldoon, three months old in 1950, is about to join the ranks

of my foster-sisters and foster-brothers

in that unthinkable world where a wasp may recognize

another wasp’s face

and an elephant grieve for an elephant down

at the watering place.

Paul Muldoon, October 27, 2017

Prolog

Aus der Vogelperspektive sieht dieser Abschnitt der Südküste Irlands aus wie ein Flickenteppich: Sattgrüne Rechtecke aus Weideland heben sich von den braunen Streifen der Torffelder und von olivgrünen, mit Farnen und Heidekraut überwachsenen Hügelflecken ab. Da und dort glitzert der Spiegel eines Sees oder Tümpels in der Sonne. Zur Blütezeit des Heidekrauts überzieht violetter Schimmer das Braungrün des Landstrichs, dazwischen leuchten gelbe Halden von blühendem Ginster. Einzelne Höfe und Häuser, eine Ansammlung größerer Gebäude neben einer Kirche, hie und da eine Baumgruppe oder ein Wäldchen sprenkeln das dünn besiedelte Küstengelände. Wenige Straßen schneiden mit hellem Strich Nähte durch die Landschaftsdecke; wo sie ans Meer grenzt, bricht sie zu felsgesäumten Buchten ab. Unablässig schlägt die Nordsee gegen das Steilufer.

Ein Kind, ein vielleicht elfjähriges Mädchen, rennt durch hüfthohes Farnkraut einen Hügel hinauf. Es trägt zerschlissene Jeans und einen Kapuzenpullover, der vor zahllosen Waschgängen wohl einmal königsblau leuchtete. Längst ist dem Mädchen die Kapuze von den Haaren gerutscht, sein Atem geht hart. Es schaut zurück, verfängt sich im dichten Farn und stolpert beinahe über eine Wurzel. Einmal fällt es ins Heidekraut, weil der Turnschuh auf einer rutschigen Stelle nicht greift. Es rappelt sich hoch und läuft weiter, ohne zu spüren, dass Brombeerdornen seinen Handrücken aufgeritzt haben und Blut aus der Wunde quillt.

Statt oben auf der Hügelkuppe anzuhalten und Atem zu schöpfen, läuft das Mädchen weiter, sucht einen Weg zwischen verfilztem Heidekraut, Farnknäueln und Brombeerranken dorthin, wo das Gelände zuerst sanft und danach steiler gegen einen See hinabfällt. Wieder bleibt sein Fuß im Gestrüpp hängen, es stürzt der Länge nach zu Boden. Erst als das Kind die mit feuchter Erde verschmierten Hände an den Jeans abwischt, bemerkt es die blutende Wunde auf dem Handrücken. Es leckt das Blut von der Haut, schaut zurück. Danach sucht es einen trockenen Platz und setzt sich schwer atmend ins Gras.

Zur Rechten des Mädchens, von grünen Hügeln eingefasst, weitet sich der See. Unter dem gleichförmigen Grau des Himmels wirkt der Seespiegel wie gegossenes Blei. Am Fuß des Hügels, vielleicht zwanzig Schritte tiefer, verengt sich das Gewässer und sucht als Fluss den Zugang zum Meer. Keine Brücke führt über die Strömung, die nach wenigen Metern zwischen Felsbrocken verschwindet. Auf dieser Seite ist kein Durchgang.

Will das Mädchen weiterkommen, bleibt ihm nur der Weg in die andere Richtung, am Seeufer entlang. Der See ist nicht sehr groß und ließe sich leicht umrunden. Von seinem Sitz kann das Mädchen das obere See-Ende erkennen. Es liegt im Schatten eines Waldes, der auch das gegenüberliegende Ufer säumt. Neben dem Waldrand fällt eine Wiese in Richtung des Wassers ab, ein paar Häuser sprenkeln ihr Grün, weiße Mauern und hellrote Dächer dicht nebeneinander.

Das Mädchen kneift die Augen zusammen. Aus der Entfernung, quer über den See hinweg, erscheinen die Gebäude klein wie Spielzeughäuser. Trotzdem kann es jetzt Bewegung erkennen, ein Auto, das anhält, Menschen, die aussteigen. Eine Figur ist kleiner als die anderen, sie gleicht einer winzigen Maus, die zwischen den anderen Figuren hin und her schießt. Die Augen des Mädchens tränen wegen der Anstrengung, alles genau zu erkennen, bis die Gestalten im größten der Häuser verschwunden sind. Auch auf der Wiese unterhalb der Gebäude bewegt sich etwas. Es sind Pferde, sieht das Mädchen, ein schwarzes, ein weißes und zwei falbe. Gemächlich bewegen sie sich über die Weide, bleiben stehen und halten Distanz voneinander, pferdeförmige Flecken im grünen Gras.

Das Mädchen steht wieder auf, sein Atem hat sich beruhigt. Bevor es weiterläuft, fällt sein Blick auf den Fluss direkt unter ihm. Es erstarrt. Das Wasser, das vorher glatt und zügig in Richtung Meer geflossen ist, steht still. Unversehens wölbt sich ein dicker Wasserwulst zwischen den Ufern hoch, verharrt einen Augenblick, ein lebendiges zitterndes Wesen, und fällt lautlos wieder in sich zusammen. Und als ob es nie etwas anderes getan hätte, fließt das Wasser jetzt vom Meer in den bleifarbenen See.

Mit einem Schrei jagt das Mädchen den Hügel hinauf in die Richtung, aus der es gekommen ist. Ohne sich umzusehen und ohne auf Dornen, rutschige Stellen und Stolpersteine zu achten, rennt es über die Hügelkuppe und weiter, immer weiter. Es stürzt, rappelt sich auf und hetzt, atemlos, keuchend und so schnell es überhaupt geht, den Hügel hinunter und hoch über die nächste Kuppe.

1

Vor dem Regal mit den irischen Whiskeys merkt Markus Felchlin, dass Lukas fehlt. Chloë tänzelt neben ihm von einem Bein aufs andere und zerrt gedankenverloren den Reißverschluss ihrer Windjacke hoch und wieder hinunter. Reisende mit Rollkoffern und Schultertaschen drängen durch die Gestelle, Gruppen halten vor den Auslagen und verstopfen die Durchgänge. Bei den Parfums, Severins Hand fest in ihrer Linken, lehnt Carla am Ladentisch und lässt sich etwas zeigen. Doch Lukas’ brauner Schopf ist nirgends zu sehen.

Felchlin stellt den Kilbeggan zurück ins Regal. Während seine Augen zum zweiten Mal systematisch den Raum absuchen, läuft er in Gedanken die Route der vergangenen Minuten ab. Sie hatten den Duty-free-Bereich bereits durchquert und waren in Richtung der Gates gebummelt, als Severin rief, er müsse aufs Klo. Carla verschwand mit dem Kleinen in der nächstgelegenen Toilette, er wartete mit Lukas und Chloë vor einer Auslage mit Taschenmessern und Plüschbernhardinern. Danach erinnerte sich Carla, dass sie eigentlich geplant hatte, im Duty-free nach einem bestimmten Parfum zu suchen, Zeit dafür gebe es ja genug. Auf dem Weg zurück riss sich Severin von Carlas Hand, Chloë sauste hinterher, bis sie den Vierjährigen zu fassen bekam. Er und Carla folgten im Laufschritt. Von seinem Sohn nahm Felchlin wie selbstverständlich an, dass er ihnen folgte.

»Chloë, wir haben Lukas verloren. Ich gehe ihn suchen. Carla und Severin sind drüben bei den Parfums, du wartest bei ihnen und sagst, wir kämen gleich, okay?«

Ohne die Reaktion seiner Tochter abzuwarten, läuft Felchlin zurück in die Halle. Mit seinen vierzehn Jahren ist Lukas recht groß gewachsen und sollte in der Menge auffallen. Nach kurzem Zögern wendet sich Felchlin nach links, geht an der Bar vorbei und überprüft die Geschäfte beidseits der Halle. Die Ferien fangen ja gut an. Er hätte Lukas nicht aus den Augen lassen dürfen, im Menschengewimmel des Flughafens mit den unzähligen Ab- und Durchgängen, Hallen, Korridoren, Treppen und Liften, wo sich nur Angestellte und Vielflieger auskennen. Unruhe mischt sich in Felchlins Ärger. Beim Weiterlaufen zieht er das Smartphone aus der Hosentasche und tippt Lukas’ Nummer an. Das Mobiltelefon des Jungen steckt vorn in seinem Rucksack, daran kann sich Felchlin erinnern. Nur ist es wahrscheinlich ausgeschaltet, weil Lukas es selten benützt. Wie befürchtet läuft der Anruf ins Leere.

An den Bernhardinern vorbei eilt Felchlin in die Männertoilette, ruft laut Lukas’ Namen. Niemand antwortet. Felchlins Nervosität wächst. Er verdrängt die Erinnerung an entführte oder verlorene Kinder, deren Fälle auf seinem Schreibtisch landeten und ihn manchmal wochenlang beschäftigten. Den Gedanken an ein schlechtes Omen für die Ferien verbietet er sich. Lukas ist kein hilfloses Kleinkind mehr, das sich einfach so verirrt. Doch wenn er in den nächsten Minuten nicht auftaucht, wird er ihn ausrufen lassen. Irgendwo hier muss er sich ja aufhalten. Nicht einmal der Träumer Lukas würde seinen eigenen Namen im Lautsprecher überhören.

Sein Sohn hat sich weder in die Schokoladenboutique noch in die Herrenmodenlounge verirrt, also weiter. Das letzte Geschäft vor der Treppe ist ein Kiosk mit Buchabteilung. Felchlin späht zwischen die Bücherregale, drängt sich, vorbei an Menschen mit Büchern in den Händen, durch die Reihen. Sonst so furchtlos, verspürt er auf einmal irrationale Angst. Sein Herz schlägt bis zum Hals.

Er biegt um das letzte Regal, tritt beinahe auf ein paar Füße in Turnschuhen. Vor einem Gestell mit aufgestapelten Büchern und einem Plakat, das auf eine Neuerscheinung hinweist, sitzt Lukas am Boden, ein offenes Buch vor dem Gesicht.

»Hey, Lukas, was soll das zum Teufel? Ich laufe herum und suche dich wie blöd, und du sitzt seelenruhig hier und liest! Geht’s noch?«

Eigentlich wollte Felchlin gar nicht so laut schreien. Ein paar Köpfe fahren herum, neugierige Augen starren herüber. Erschrocken schaut Lukas vom Buch auf, einen Anflug von Schuldbewusstsein im Blick. Er steht auf.

»Fuck, sorry, Paps. Aber sie haben den neusten Stephen King.«

Wie zur Entschuldigung streckt er seinem Vater den Band seines Lieblingsschriftstellers entgegen. Lukas’ Erschrecken ist echt, sieht Felchlin. Die Faust in seinem Magen öffnet sich, fast gegen seinen Willen beginnt sein Ärger zu schmelzen.

»Und was jetzt? Willst du ihn kaufen? Von mir bekommst du keinen Rappen, das ist dir wohl klar.«

Noch immer ist seine Stimme scharf, obwohl die Erleichterung seinen Unmut fast getilgt hat. Lukas dreht das Buch in den Händen. Er zögert. Dann legt er den Band zurück auf den Stapel.

»Ich weiß nicht. Der Anfang ist gar nicht so toll. Und ich kann das Buch später von Basil ausleihen, er kauft jeden King.«

Sie laufen zum Duty-free zurück. Felchlin verzichtet auf weitere Ermahnungen, er ist einfach nur noch froh, dass er Lukas gefunden hat. Laura würde ihm seine Nachsicht übel nehmen. Sie ist davon überzeugt, dass vor allem sie es ist, die die Kinder erzieht. Er sehe ihnen alles nach, mache auf guten Kumpel, der typische Schönwettervater. Die Vorwürfe sind so alt oder noch älter als ihre Scheidung, aber deswegen nicht wahrer, findet Felchlin. Bei ihm läuft das Erziehen einfach etwas anders als bei Laura. Sie explodiert regelmäßig wegen Kleinigkeiten, er bleibt ruhig und lässt sich Zeit für Erklärungen, handelt dabei nicht weniger konsequent, ist Felchlin überzeugt. Und Lukas war seit jeher ein Träumer. Noch immer, wie als kleiner Bub, kann er sich an eine Stimmung oder an einen Moment vollständig verlieren und dabei alles andere vergessen. So wie eben.

Felchlin betrachtet seinen Sohn von der Seite, wie er sich linkisch einen Weg durch die Menge bahnt, sieht sein kindliches Gesicht mit dem ersten Flaum auf der Oberlippe. Zum Gefühl der Leichtigkeit gesellt sich Vorfreude, und die soeben verspürte Anspannung macht für ihn alles noch kostbarer. Er hat zwei gut geratene und gesunde Kinder, zwei Wochen Sommerferien liegen vor ihnen. Nach den langen Monaten, in denen er die Kinder oft nur an Wochenenden zu sich nehmen konnte, mutet die gemeinsame Zeitspanne wie purer Luxus an.

Vor dem Duty-free unterhält sich Carla mit einem älteren Paar, der Mann in kariertem Hemd, die Frau mit Rollkoffer. Die untersetzte Gestalt des Mannes, das Hemd, die ausladenden Armbewegungen – es kann nur Oskar Abderhalden sein. Felchlin fasst ihn von hinten an die Schulter. Sein früherer Vorgesetzter dreht sich um und starrt ihn ungläubig an. Sein Blick wandert zurück zu Carla, er schmunzelt und begrüßt Felchlin mit einem kräftigen Händedruck. Felchlin schüttelt Ursula Abderhaldens Hand, Oski schaut in Richtung Café-Bar.

»Carla und Felchlin – das muss man feiern! Habt ihr Zeit für einen Kaffee? Unsere Einsteigezeit ist erst in einer Stunde.«

Sie finden einen freien Tisch, bestellen Cola und Buttergipfel für die Kinder, Kaffee für die Erwachsenen. Abderhalden redet nicht lange um den Brei herum.

»Ursula, du erinnerst dich – Markus Felchlin, mein bester Mann im Revier, und Carla Zenruffinen, meine beste Polizistin, zu den guten alten Zeiten. Schade, das ist vorbei, jedenfalls für mich. Seid ihr zwei jetzt zusammen – oder darf man das nicht wissen?«

Carla lacht, fasst die hennaroten Haare im Nacken zusammen und schaut von Abderhalden zu Felchlin. Seit sie nicht mehr bei der Kantonspolizei arbeite, sähen sie sich nur selten, hie und da ein Feierabendbier, mehr nicht. Beim letzten Treffen habe sie ihn nach seinen Ferienplänen gefragt. Zwei Wochen mit den Kindern in einem Haus in Irland, hörte sie. Eigentlich wollten Felchlins Schwester und Nichte mitkommen, doch wegen eines Beinbruchs der Nichte mussten sie absagen. Was denn Carla vorhabe?

»Und ich sage zu Markus: Irland? Dort wollte ich schon lange mal hin. Könntest du dir vorstellen, dass Severin und ich statt deiner Verwandten mitkommen?«

Sie hebt Severins angegessenen Buttergipfel vom Boden auf.

»Was er für ein Gesicht machte, verrate ich nicht. Wie ihr seht, konnte er es sich vorstellen. Und wie die Dinge in zwei Wochen aussehen, erzählen wir dir später. Oder auch nicht.«

Alle lachen, Abderhalden schmunzelt, Ursula Abderhalden rettet das schief stehende Glas aus Severins Hand und stellt es auf den Tisch.

»Du und Katrin, ist das vorbei?«

Als Abderhalden noch Chef der Kriminalabteilung war, tauschte man wenig Privates aus. Doch für die Grundfakten im Leben seines Teams interessierte er sich immer, nebst gutem Essen, dem FC Zürich und den Montecristos, seinen Lieblingszigarren.

»Seit gut einem Jahr. Alles wurde zu kompliziert.«

Oski sieht aus, als wolle er eine Frage nachschieben. Er brummt etwas von Bernerinnen und Zürchern, schweigt wieder und zuckt mit den Schultern. Die Erwachsenen rühren im Espresso, beißen in die übrig gebliebenen Buttergipfel und fangen nach einer Pause an, über ihre Ferienpläne zu sprechen. Felchlin schildert, wie er auf das Haus in Irland kam, Lukas schießt mit dem Smartphone ein Foto von allen. Chloë leckt Blätterteigbrösel von ihren Fingern und schiebt sich neben Felchlin auf die Armlehne.

»Paps, wann gehen wir endlich zum Flieger?«

Felchlin schaut auf die Uhr und nickt. Die Konsumation gehe auf ihn, insistiert Abderhalden und ruft nach der Bedienung. Schließlich stehen alle, schlüpfen in die Rucksackriemen und wünschen sich gegenseitig schöne Ferien.

2

Rascher als Lukas hat Chloë den Fensterplatz ergattert, ihr Bruder blättert ergeben im Flugmagazin und bleibt bei einem Bericht über Vulkanismus im Mittelmeer hängen. In der Reihe vor Felchlin und den Kindern sitzen Carla und Severin. Nach dem unvermeidlichen Klobesuch hat der Kleine die Funktion des Klapptischs entdeckt; unermüdlich senkt er die Tischplatte und klappt sie wieder nach oben. Als der Servicewagen bei ihnen anhält, wünscht Felchlin ein Bier zum Sandwich, die Kinder eine Cola. Zufrieden kauen sie ihre Brote. Felchlin beobachtet, wie Carlas kupfriger Haarbüschel über der Rückenlehne auftaucht und wieder verschwindet. Langsam trinkt er sein Bier. Die Vibrationen des Flugzeugs wirken auf ihn wie ein Entspannungsbad.

Felchlin spürt die Müdigkeit, vor allem im Kopf. Die letzten Wochen waren anstrengend, selbst für einen erfahrenen Polizisten wie ihn. Im Mai der Fall des mexikanischen Drogenrings, später ein wüster Raubmord, zu allem Überfluss der Hackerangriff auf ihre Datenbank. Der wird sie noch lange beschäftigen. Und alles neben dem täglichen Grundrauschen auf der Wache. Dazu gefühlte hundert Wochenenden im Bereitschaftsdienst, von den durchwachten Nächten im Einsatz ganz zu schweigen. Wegen der Sparpolitik nie genug Leute im Dienst. Andreas Siebers Ferien in Griechenland waren wohlverdient, aber kamen zur falschen Zeit, genauso wie Florim Rexhajs drittes Kind und sein unbezahlter Vaterschaftsurlaub. Oder war es das vierte Kind? Felchlin kann sich nicht erinnern. Und alles ohne Carla Zenruffinen. Natürlich versteht er, dass Polizeiarbeit mit einem Kind und ohne Partner auf Dauer unmöglich ist. Irgendwann blieb Carla keine Wahl, sie musste kündigen und eine Teilzeitstelle mit geordneten Arbeitsstunden suchen. Trotzdem. Sie fehlt grausam.

Er beißt ins Sandwich, spült mit Bier nach. Und jetzt sitzen wir im selben Flieger nach Cork, denkt er, und vor mir hüpft ihr Haarschopf auf und ab. Abderhalden hat nicht grundlos gestaunt. Es ist eine Ferienreise mit viel Unberechenbarem: zwei Wochen Dauerpräsenz der Kinder, eine abgelegene Gegend in Irland mit unsicherer Wetterprognose und als Begleitung Carla mit ihrem kleinen Sohn.

Beim Gedanken an Carla spürt Felchlin wieder Unsicherheit. Mit ihrem Wesen hat das wenig zu tun. Carlas unkomplizierte Art wischt Bedenken und Hürden beiseite wie Staub, ihr Lachen ebnet die meisten Hindernisse ein. Chloë und Lukas kannten Carla kaum, trotzdem waren sie sofort einverstanden, als Felchlin sie um ihre Meinung zu gemeinsamen Ferien bat. Es ist seine Schwäche für Carla, die ihn nervös macht. Es begann am Tag, als Carla in sein Team eintrat, und blieb ihr nicht lange verborgen. Sie ging mit der Situation souverän um. Nie wurde es unangenehm oder peinlich, nicht einmal, als er nach der Scheidung von Laura versuchsweise Carlas Nähe suchte. Damals ließ sie keinen Zweifel daran, dass sie ihn mochte, aber sich nicht binden wollte. Weder an ihn noch an einen der häufig wechselnden Männer, mit denen sie verkehrte. Aus solcher Bindungslosigkeit entstand Severin. Obwohl Carla katholisch ist und aus einer konservativen Walliser Familie stammt.

Es erstaunte Felchlin nicht wirklich, dass seine Schwäche für Carla eine andere Beziehung überdauerte. Unbemerkt begleitete sie die Jahre mit Katrin wie ein unterirdischer Fluss, der sich nach der Trennung einen Weg zurück ins Bewusste bahnte. Vor einem Jahr war das. So lange schon. Und so kurz. Darüber gesprochen hat er mit niemandem.

Er trinkt die letzten Schlucke Bier und stülpt den Plastikbecher über die Dose. Die Kinder sind weiterhin bei friedfertiger Laune, Lukas darf aus dem Flugzeugfenster schauen, Severin ist eingeschlafen.

Felchlin streckt die Beine, kippt die Sitzlehne nach hinten und schließt für ein paar Minuten die Augen. Bis er ein leises Kribbeln spürt, das weit unten im Rücken beginnt, die Wirbelsäule hoch in den Nacken steigt und in einem Kräuseln auf der Kopfhaut ausläuft. Ein Energieschub strömt durch seinen Körper. Das Abenteuer Irland kann beginnen. Er freut sich darauf. Auf Streifzüge der Küste entlang. Auf frischen Meerfisch direkt vom Markt am Hafen. Auf ungestörte Spieleabende mit den Kindern. Aufs Schwimmen im nahe gelegenen See. Auf stundenlange Lektüre am Torffeuer. Auf Entdeckungsfahrten in die Umgebung. Auf Gespräche im Pub mit Einheimischen. Auf Gespräche mit Carla. Darauf, den vierjährigen Severin kennenzulernen. Vielleicht kann er im Städtchen ein Saxofon mieten und kommt wieder mal zum Üben. Er freut sich auf Blödeleien mit Chloë und Lukas. Auf Irish Whiskey. Auf viel ungestörten Schlaf. Auf mehr von Carla. Auf alles.

Sie überfliegen die Küste Frankreichs. Die Sonne scheint in die Flugzeugkabine, unter ihnen glitzert der Ärmelkanal im Mittagslicht.

3

Der Autoverkehr ist dicht und schnell, fast niemand hält sich an die Höchstgeschwindigkeit. Mehrmals werden sie waghalsig überholt, obwohl Felchlin meint, so langsam fahre er nun auch wieder nicht, trotz ungewohntem Linksverkehr. Als er beim Flughafen auf der linken Straßenseite losfuhr, kreischte Chloë wie ein Justin-Bieber-Fan. Später gewöhnten sich die Kinder an das Kribbeln im Bauch, wenn sie in verkehrter Richtung durch einen Kreisel fuhren oder in die falsche Straßenseite einbogen.

Unterwegs stoppt Felchlin den Ford Transit in einer Parkbucht, weil Severin pinkeln muss. Ein gleichmäßig grauer Himmel hängt über der Insel, es ist windstill und für einen Sommertag eher kühl. Die Kinder nutzen die Gelegenheit, auf dem Parkplatz herumzutollen und den Hund eines Ehepaars zu tätscheln, der ebenfalls Gassi geht. Chloë beugt sich über den Zaun, ein paar Schafe drängeln blökend herbei und wollen gestreichelt sein. Das Geschrei des Mädchens schreckt die anderen auf. Aufgeregt zeigt Chloë unter einen Busch und hält sich die Nase zu. Wenige Meter entfernt liegt ein totes Schaf im Gras, die Läufe steif von sich gestreckt, das Fell fahl und schmutzig, anstelle der Augen starren leere Höhlen. Dem grausigen Anblick und Aasgeruch zum Trotz sind die Kinder kaum wegzubringen.

»Bestimmt war das Tier alt und krank und darf jetzt im Schafhimmel grasen«, versucht Carla die jüngeren zu beruhigen. Erst nach einer Weile können sie weiterfahren.

Bei der Abzweigung in Richtung Skibbereen verlässt Felchlin die N 71 und fährt zum Einkaufen ins Zentrum der Kleinstadt. Der Parkplatz des Ladenzentrums ist belebt, Frauen mit Kleinkindern und Ehepaare in Windjacken schieben Einkaufswagen zu ihren Autos, offene Kofferräume schlucken gefüllte Papiersäcke. Beim Eingang wartet eine Gruppe dunkelhäutiger Männer. Severin muss schon wieder aufs Klo. Während Carla mit den großen Kindern den Lebensmitteleinkauf erledigt, nimmt Felchlin Severins Hand. Zusammen suchen sie die Männertoilette und steigen ins Untergeschoss.

In dem gelb gekachelten Raum riecht es nach Urin und Erbrochenem. Der Abfalleimer quillt über von zerknülltem Papier, Plastiksäcken und leeren Bierflaschen. Ohne die Tür hinter sich zu verriegeln, schiebt Felchlin den kleinen Jungen in eine Kabine. Breitbeinig stellt sich Severin vor die verschmutzte Schüssel und interessiert sich danach brennend für die Spülmechanik. Um ihn nach drei erfolgreichen Spülvorgängen abzulenken, schlägt Felchlin vor, sie könnten sich mal die irischen Wasserhähne ansehen und dazu die Hände waschen.

»Nice little laddie«, meint ein rotgesichtiger Ire mit einem Blick auf Severin und nickt Felchlin anerkennend zu. Das irische Englisch brockt rau und für Felchlins Ohren ungewohnt aus dem Mund des Mannes, das Wort »nice« klingt wie »nois«. Felchlin nickt und fischt in einem Behälter vergeblich nach einem Papierhandtuch.

»Was hat der Mann gesagt?«, will Severin wissen.

»Dass du ein kleiner Lausbub bist. Wie kommt er bloß darauf, hm? Und jetzt schauen wir nach, was die anderen eingekauft haben.«

Im Bereich zwischen den Kassen und dem Ausgang riecht es wesentlich angenehmer als im Untergrund. Severin macht sich an den abgestellten Einkaufswagen zu schaffen. Felchlin hat Mühe, den Jungen nicht aus den Augen zu verlieren, bis Carla und die Kinder mit einem Wagen voller Lebensmittel auftauchen. Chloë schnuppert an den Baguettes in ihrem Arm, Lukas trägt eine Angelrute vor sich her wie ein Nummerngirl seine Nummer.

»Von meinem Geld«, kommt er Felchlins Frage zuvor, »schließlich sind wir jetzt am Meer.«

»Billigware, und dann noch im Ausverkauf«, flüstert Carla beim Hinausgehen, »ich habe nicht einmal versucht, es ihm auszureden. Und wie war dein Ausflug mit Severin?«

»Ich bekam das Gefühl, dein Sohn interessiert sich mehr für die sanitären Installationen, als dass er wirklich muss.«

»Gut beobachtet. Fremde Klos sind momentan eine seiner Obsessionen«, grinst Carla und wuschelt Severins Haar.

Soll er Carla erzählen, dass ihn ein Ire für Severins Vater hielt? Nach kurzem Überlegen entscheidet sich Felchlin dagegen. Irgendwie passt es nicht in diesen unfreundlichen Hinterhof voller Autos und fremder Menschen.

Wenige Meilen hinter Skibbereen biegt eine einspurige Straße in Richtung Meer ab. Sie durchqueren einen lichten Wald aus Eichen und Buchen, fahren über eine schmale Brücke und sehen danach zu ihrer Linken eine Wasserfläche. Ein baumloser, mit Heidekraut und Farn überwachsener Hügelzug begrenzt das jenseitige Ufer des Gewässers.

»Das muss unser See sein«, sagt Felchlin, »das heißt, wir sind fast am Ziel!«

Nach einer kurzen Strecke durch den Wald hält er vor einem mannshohen Tor, das auf der linken Straßenseite in die ebenso hohe Mauer eingelassen ist. Genau so steht es in der Beschreibung: wenige Meter nach dem Wald ein hölzernes Tor, dahinter liegt das Anwesen. Dort warte Mrs McCann auf sie. Zu sehen ist niemand.

Felchlin steigt aus, rüttelt an der Klinke. Das Tor ist verschlossen, die festgefügten Torflügel geben keinen Millimeter nach. Er klimmt sich auf die Mauer hoch und sieht einen Kiesplatz, umgeben von Hortensienbüschen und Rasen, dahinter ein zweigeschossiges Wohnhaus und angrenzend mehrere kleinere Gebäude, alle weiß getüncht und mit rotbraunen Ziegeln gedeckt. Unterhalb der Häuser fällt eine Wiese in Richtung des Sees ab, gesäumt von einer Allee aus hohen Laubbäumen. Ein leichter Wind bewegt die Baumkronen, außer dem Rauschen des Windes ist nichts zu hören. Das Anwesen ist menschenleer. Weit und breit ist kein anderes Gehöft zu sehen.

Felchlin springt von der Mauer und besieht sich noch einmal das Tor. Zwischen Mauer und Tor klafft eine schmale Lücke; ein Kind könnte sich zur Not durchzwängen, aber kein Erwachsener. Carla und die Kinder sind ausgestiegen und lugen durch die Lücke.

»Jetzt fehlt nur noch Mrs McCann mit dem Schlüssel«, sagt Felchlin, »eigentlich sollte sie hier sein. Drei Uhr, haben wir verabredet, jetzt ist es halb vier. Sie muss jeden Moment eintreffen.«

Die Kinder haben Hunger, Carla bricht ein Baguette in Stücke und reißt eine Tafel Schokolade auf. Eine Flasche Eistee macht die Runde. Alle stehen neben dem Transit und kauen. Lukas hat die Angelrute aus der Verpackung geschält und testet die Rolle, Chloë schürft sich beim Versuch, auf die Mauer zu klettern, weiße Flecken in die Jeans. Sie probiert, sich durch die Lücke neben dem Tor zu zwängen, aber Felchlin ruft sie zurück. Maulend setzt sie sich an den Straßenrand, ihr sei langweilig.

Um Severin am Ausreißen zu hindern, hebt ihn Carla auf die Mauer und hält seine Beine fest.

»Pferde, Pferde!«, schreit der Kleine und stürzt sich zurück in die Arme seiner Mutter.

Tatsächlich hören sie von jenseits der Mauer leises Schnauben. Chloë schnellt hoch. Wie viele Pferde, will sie wissen. Severin zeigt strahlend vier Finger.

In scharfem Tempo nähert sich ein Auto, verlangsamt brüsk seine Fahrt.

»Endlich«, ruft Lukas.

Alle schauen dem Wagen entgegen. Doch als der dunkelblaue Ford im Schritttempo an ihnen vorüberfährt, sehen sie keine Frau, sondern einen Mann in Lederjacke, der sie unfreundlich durch das offene Fenster anstarrt. Das Auto ist älteren Datums, die Karosserie an einigen Stellen von Rost zerfressen. Der Mann beschleunigt wieder, fährt nach dem Haus den Hügel hoch und verschwindet zwischen den Bäumen.

»Komischer Kerl, was hatte der? Ruf mal diese Missis an, Markus«, schlägt Carla vor. »Wir wollen nicht ewig warten.«

Wenige Minuten später taucht ein roter Kleinwagen von der Hügelseite her auf und parkt hinter dem Ford Transit. Eine dunkelblonde Frau in Windjacke und Hosen kommt auf sie zu. Sie spricht schnell, ein melodiöses Englisch mit irischer Färbung, sie entschuldigt sich wortreich. Ihr Hund sei wegen einer Katze ausgebüxt, mindestens eine halbe Stunde sei vergangen, bis sie ihn wieder einfangen konnte. Ob sie gut gereist seien. Sie sperrt das doppelflügelige Tor auf und bittet Lukas, ihr beim Aufstoßen zu helfen. Felchlin fährt hinein und hält auf dem gekiesten Platz, die Kinder rennen hinterher. Wie ein wild gewordenes Kaninchen saust Severin von einem zum anderen. Chloë klettert auf den Zaun, der das Anwesen von der Pferdewiese trennt, und versucht, die Tiere mit Rufen und Schnalzen näher zu locken.

Mrs McCann stößt die Torflügel zu, sperrt die Eingangstür des Hauses auf und führt sie als Erstes durch alle Zimmer. Seit über achtzig Jahren gehöre das Anwesen den Kavanaghs, einer wohlhabenden Familie aus Cork, die es regelmäßig als Sommerresidenz benutzt habe, erklärt sie. Nach dem Tod des alten Mr Kavanagh sei das Haus während etlicher Jahre unbewohnt geblieben. Dann habe es der jüngste Sohn Tom übernommen und rundum auffrischen lassen. Einige Monate im Jahr wolle er es vermieten und zeitweise selbst hier wohnen. Felchlin und seine Familie seien seit Langem die ersten Bewohner.

Das Wohnzimmer ist mit kissenbestückten Sofas, Lehnstühlen, Beistelltischchen und Ständerlampen mit Stoffschirmen überstellt, Büchervitrinen reihen sich an den Wänden, davor steht ein Globus, der sich von innen erleuchten lässt. Den Kaminsims füllen Familienfotos und Porzellannippes. Drei hohe, von bodenlangen Vorhängen gerahmte Fenster geben den Blick zum See frei. Ein TV-Bildschirm steht in einer Ecke, über den Boden verteilt liegen gemusterte Teppiche, in deren Flor die Füße versinken.

»Das ideale Spielzimmer für Severin«, meint Carla und zieht den Kleinen aus dem Bann des illuminierten Globus in die danebenliegende Küche, geräumig und modern eingerichtet. Der Holztisch wartet auf viele Gäste, ebenso die Schränke voller Geschirr und Gläser.

Sie steigen ins Obergeschoss und besichtigen die Schlafzimmer und das Bad. Carla und Felchlin verteilen die Zimmer. Felchlin wählt für sich ein kleines, nach Westen blickendes Einzelzimmer, seine Kinder und Carla mit Severin bekommen je eines der gegen Süden und den See gelegenen Zimmer.

Alle sind zufrieden, schleppen Koffer und Taschen die Treppe hoch.

Von Mrs McCann lässt sich Felchlin zeigen, wo sie Liegestühle, Gartenmöbel, einen Grill und Rasenspiele finden.

»Wenn Sie dem Weg die Allee hinunter und weiter in Richtung See folgen, kommen Sie bei der Ruine einer Kapelle vorbei. Drinnen sehen Sie Mr Kavanaghs Grab. Ein Ort mit viel Stimmung, finde ich.«

Sie geht ein paar Schritte hinter die Nebengebäude. »Sehen Sie das Tor am Ende der Hecke? Von dort führt ein Fußweg auf die Naturstraße zum Meer hinunter.«

»Und wem gehören die Pferde?«, will Felchlin wissen. Ein schwarzes, ein weißes und zwei falbe Pferde weiden in der Nähe des Zaunes.

Alte Tiere seien es, die jemand hierherbringe und sie eines natürlichen Todes sterben lasse, sagt Mrs McCann. »Wer der Besitzer ist, weiß ich nicht. Ich wohne eine Autostunde weg und kenne außer Tom Kavanagh niemanden hier.«

Wenig später wünscht sie erholsame Ferien, verabschiedet sich mit vergnügtem Winken und zieht das Tor hinter sich zu.

Bevor Felchlin ins Haus geht, um seine Sachen auszupacken, bleibt er auf dem Vorplatz stehen. Die Stimmen der Kinder dringen gedämpft aus dem Obergeschoss, sonst ist es bis auf gelegentliches Vogelgezeter in den Bäumen still. Die Pferde haben sich vom Zaun entfernt, weiter unten ruht der See. Seine Oberfläche sieht jetzt dunkel aus, fast schwarz. Wie hellgraue Seide spannt sich der Himmel über die Landschaft. Es ist windstill und eher kühl, aber nicht unangenehm.

Felchlin spürt, wie die Ruhe der Landschaft auf ihn übergeht. So hat er sich das vorgestellt: ein gut eingerichtetes Haus mit Auslauf, einsam gelegen, in der Nähe ein See und die Meeresküste, eine unbekannte Gegend mit kleinen Ortschaften, auf deren Entdeckung er sich freut. Nichts Spektakuläres, keine Großstadt, keine atemraubende Bergwelt, kein lärmiges Festival mit lärmigen Menschen. Und keine Arbeit, keine Anspannung. Zeit für die Kinder, für Carla. Für sich. Er fährt sich mit den Händen durch die Haare, atmet die frische Luft ein. Er fühlt sich gut. Die Ferien können beginnen.

Vor dem Abendessen ziehen Felchlin und Lukas die Laufschuhe an und joggen die Straße entlang bis zum oberen Ende des Sees und auf den nächsten Hügel. Grüne Hügelketten mit Heckenmustern dehnen sich bis an den Horizont, die Wolkendecke hat sich gelockert und lässt ein paar Sonnenstrahlen durch. Auf dem Rückweg, sie haben schon fast das Tor des Anwesens erreicht, kommen ihnen in raschem Tempo zwei Autos entgegen, ein grauer Pick-up und, mit einigem Abstand, der dunkelblaue Ford.

4

Beim Erwachen am nächsten Morgen stellt Felchlin fest, dass er seit Monaten nicht mehr so gut geschlafen hat. Kein Telefon zur Unzeit – die Regel während der Bereitschaftsdienste –, kein jähes Erwachen in Erwartung eines Anrufs, nichts als Stille und gegen Morgen Vogelgezwitscher, als er für kurze Augenblicke aus dem Schlaf auftauchte. Er dreht sich auf den Rücken, faltet die Hände unter dem Kopf. Muntere Stimmen dringen durch das offene Fenster, er schaut auf die Uhr. Fast halb neun. Seit Ewigkeiten ist er nicht mehr so spät aufgestanden. Der Tag ist sonnig, kleine Wolken segeln über den Himmel. Den Geräuschen nach zu schließen, ist es warm genug, um draußen zu frühstücken.

Kurze Zeit später steht Felchlin unrasiert und in Shorts und T-Shirt vor dem gedeckten Tisch. Nur Severin fehlt.

»Vorhin war er noch da und hat Kieselsteine ins Gras geworfen«, sagt Chloë, »auch wenn ich es ihm verboten habe. Ich suche ihn.«

Sie verschwindet im Wohnhaus. Carla schenkt sich und Felchlin Kaffee ein. Felchlin registriert, welche Energie von Carlas Bewegungen ausgeht und wie unbeschwert das Lachen klingt, mit dem sie wenig später Severin in die Arme nimmt. »Da bist du ja, du Lausbub!«

Der Kleine kam aus dem Haus gesaust, Chloë hinterher. Atemlos berichtet das Mädchen, Severin habe das Klo unter der Treppe halb unter Wasser gesetzt, das Spülwasser fließe nicht mehr ab. Als Felchlin nachschaut, ist die Kloschüssel bis zum Rand mit Wasser gefüllt, auf dem gekachelten Fußboden dehnt sich eine Pfütze. Er wartet eine Minute, das Wasser im Klosett senkt sich nicht. Felchlin wischt den Fußboden mit einem Handtuch trocken. Beim Frühstückstisch beteuern alle, sie hätten nichts in die Schüssel geworfen und das Klo bis jetzt gar nicht benutzt.

»Mir ist aufgefallen, dass der Ablauf in der Küche seltsam blubbert, er klingt wie ein Männerchor aus lauter Gurglern«, ergänzt Carla und bestreicht ein Stück Toast mit Orangenmarmelade.

»Da ist bei der Renovierung wohl etwas schiefgegangen. Ich informiere Mrs McCann oder Kavanagh. Und das Klo sperren wir vorläufig besser ab«, beschließt Felchlin mit einem Blick zu Severin.

Bei Toast, Milch und Schüsseln voll weich gewordener Cornflakes diskutieren sie Pläne für den Tag. Die Kinder wollen im See schwimmen gehen. So könne er gleich die Angelrute testen, meint Lukas.

Haha, zum Testen brauche er Würmer, feixt Chloë, wo er die denn herzaubern wolle.

»Unter den Büschen finden wir sicher ein paar Regenwürmer«, gibt Lukas zurück.

Severin nickt begeistert.

Eine Schar Mauersegler pfeilt mit durchdringendem Geschrei um die Hausecke und saust den Hügel hoch, sodass alle die Köpfe heben und ihnen nachschauen. Und wie als Krönung der Idylle tauchen drei Pferde auf und hängen ihre Köpfe über den Zaun. Chloë läuft hin und krault ihre Mähnen.