Die unheimlichen Richter - Rudolf Egg - E-Book

Die unheimlichen Richter E-Book

Rudolf Egg

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Beschreibung

Von Kachelmann bis Breivik: Der spannende Bericht
eines Insiders über die wahre Macht der Gerichtsgutachter


Wie konnten Gutachter Gustl Mollath fälschlicherweise attestieren, gemeingefährlich zu sein, und damit die Basis dafür schaffen, dass er jahrelang weggesperrt wurde? Wie konnten sie im Fall Kachelmann zu sich widersprechenden Ergebnissen in Bezug auf den Vergewaltigungsvorwurf kommen? Was sind Prognosen zur Rückfallgefahr bei Sexualstraftätern wert? Fragen, die weit über aufflackernde Sensationslust hinausreichen. Denn sie zeugen von Verunsicherung. Gerichtsurteile, die auf solchen Gutachten basieren, können Existenzen vernichten – und potenziell jeden zum Opfer machen. Rudolf Egg, Psychologieprofessor und Gerichtsgutachter mit jahrzehntelanger Erfahrung, greift die öffentliche Debatte auf, vermittelt Innenansichten seiner Arbeit und zeigt, wie schwierig die psychologische Beurteilung von Opfern, Tätern und Zeugen oft ist. Er verdeutlicht anhand spannender Fallbeispiele, was ein Gutachter leisten kann und wo seine Grenzen liegen.

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Rudolf Egg

Die unheimlichen Richter

Wie Gutachter die Strafjustiz beeinflussen

C. Bertelsmann

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1. Auflage

© 2015 by C. Bertelsmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: buxdesign München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15807-1

www.cbertelsmann.de

Für Annette

Inhalt

Einleitung

Aussage gegen Aussage

Wer sagt die Wahrheit?

Blick in die Zukunft

Täterbehandlung ist kein Allheilmittel

Schuld und Strafe

Wege und Irrwege

Zu guter Letzt

Dank

Register

Einleitung

»Ach, Sie sind also einer von denen, die diese Kerle am Ende wieder rauslassen, weil sie angeblich eine schlimme Kindheit hatten.« So oder so ähnlich reagieren Menschen, die mir im Alltag begegnen, wenn sie erfahren, dass ich Rechtspsychologe bin und Gutachten über Straftäter schreibe. Mit dürren Worten versuche ich in solchen Situationen zu erklären, was ich tatsächlich mache und dass ich meinen Beruf trotz aller Schwierigkeiten gerne mag. »In Ihrer Haut möchte ich aber trotzdem nicht stecken«, heißt es dann manchmal mitleidig, und auf mein erstauntes »Warum?« antwortete mir etwa der Musiker Dieter Bohlen am Rande einer Fernsehsendung einmal: »Weil Sie mit so viel Bekloppten zu tun haben.«

In der Tat ist es nicht einfach, einem Laien in wenigen Sätzen nahezubringen, welche Aufgaben ein forensischer Psychologe hat, welche Fragen er wie bearbeitet und welche Position er innerhalb des Justizsystems einnimmt. Das gilt in ähnlicher Weise sicherlich auch für andere akademische Berufe, doch bestehen hinsichtlich der Kompetenz von Gerichtsgutachtern bei vielen Personen offenbar wesentlich mehr grundsätzliche Zweifel und Vorbehalte als bei anderen Professionen. Immer wieder gibt es nämlich Strafverfahren, bei denen der Eindruck entsteht, die Justiz sei einseitig und falsch von Psycho-Sachverständigen beraten worden, wie etwa in dem Prozess gegen Gustl Mollath. Oder man fühlt sich an das Sprichwort erinnert, dass zu viele Köche den Brei verderben, weil gleich mehrere Gutachter beauftragt wurden, jeder etwas anderes sagt und am Ende zwar ein Urteil gefällt wird, das aber etliche Fragen offenlässt und darum von Vielen als unbefriedigend empfunden wird. Das Misstrauen der Bürger gegenüber dem Zustandekommen eines richterlichen Urteilsspruchs und die Befürchtung, dass oft die Gutachter die eigentlichen, die heimlichen oder gar unheimlichen Richter seien, bekommt durch solche Vorfälle immer wieder neue Nahrung.

Dabei spielt vor allem die mediale Berichterstattung über Strafverfahren eine nicht geringe Rolle, wenngleich es hier sowohl positive als auch negative Effekte gibt. Einerseits können öffentliche Medien als »Vierte Gewalt« – neben Exekutive, Legislative und Judikative – eine wichtige gesellschaftliche Kontrollfunktion ausüben, indem sie auf Schwachstellen und wesentliche Mängel hinweisen und damit darauf hinwirken, dass Fehler korrigiert werden, wie dies offenbar im Fall Gustl Mollath geschehen ist. Andererseits führt eine bloße Skandalisierung von Justizvorgängen nicht automatisch zu Verbesserungen, sondern verstärkt mitunter lediglich pauschale Vorurteile oder fördert Halbwissen und Ängste. Sachliche Aufklärung über die tatsächliche Bedeutung von Gerichtsgutachten und über die »wahre Macht« von Gutachtern ist daher dringend notwendig.

Doch nicht nur aus Empörung und medial geförderter Wut über eine als undurchschaubar, ja kafkaesk erlebte Justiz erlangt das Thema viel Aufmerksamkeit, oft spielt auch die Sorge um eine mögliche persönliche Betroffenheit eine große Rolle, die Frage also, was wäre, wenn es um einen selbst ginge.

Muss ich Angst haben, selbst einmal Opfer der Justiz zu werden, weil mich ein Gutachter für verrückt erklärt und ich dann in der Psychiatrie lande?Wie kommt es, dass im Strafprozess gegen den norwegischen Massenmörder Anders Breivik zwei Psycho-Gutachten erstellt wurden, die zu völlig verschiedenen Ergebnissen gekommen sind? Ist es so schwer, zwischen geistig gesunden und kranken Tätern zu unterscheiden?Wieso erhalten manche Schwerverbrecher von einem Gutachter eine günstige Prognose und werden bald nach der Entlassung doch wieder rückfällig?Wie zuverlässig sind sogenannte Glaubwürdigkeitsgutachten? Warum wird in Deutschland nicht einfach der Lügendetektor-Test verwendet?

Solche und ähnliche Fragen werden mir beinahe täglich gestellt. Ich habe den Eindruck, dass die gutachterliche Praxis, die normalerweise im Verborgenen stattfindet, zwar durch Presseberichte vermehrt ans Licht der Öffentlichkeit gerät, dort dann aber nicht differenziert genug diskutiert oder schlichtweg nicht verstanden wird. Außer Fachkollegen, spezialisierten Gerichtsreportern und anderen Kennern der Szene durchschaut offenbar kaum jemand die Arbeit forensischer Gutachter, die gleichwohl vehement angezweifelt und kritisiert wird.

Ich bin seit vielen Jahren Kriminalpsychologe und Gerichtsgutachter, und man erwartet von mir deshalb nicht ganz zu Unrecht, dass ich über die Beurteilung von Straftätern und Verbrechensopfern Bescheid weiß. Wenn ich gelegentlich den Medien Rede und Antwort stehe, dann bleiben für meine Auskünfte meist nur wenige Minuten Zeit. Wen wundert es, dass bei solch engen zeitlichen Vorgaben nur ein paar allgemeine Punkte angesprochen werden können und am Ende vielleicht mehr Fragen offen bleiben, als Antworten gegeben wurden?

»Schreiben Sie doch ein Buch darüber!«, empfahl mir vor einiger Zeit ein Kollege. »Dann können Sie sich zu diesen Themen viel ausführlicher äußern.«

»Fachliteratur dazu gibt es aber doch wahrlich genug«, erwiderte ich spontan.

»Aber nirgendwo wird einem Laien verständlich erklärt, wie Gutachter wirklich arbeiten, also was sie konkret tun, wenn sie bei einem Prozess zu Rate gezogen werden. Welche Rolle, welche Aufgaben, welche Möglichkeiten, aber auch welche Grenzen sie haben. Und was das für Betroffene, die Angeklagten oder Verurteilten, die Zeugen und letztlich auch für die Gesellschaft bedeutet.«

Das Argument saß. Es war eine Herausforderung. Eine Idee, die sich seitdem in meinem Kopf festsetzte und mich nicht mehr losließ. Das Ergebnis sehen Sie vor sich.

Um es gleich vorweg zu sagen: Weil ich selbst als Gutachter tätig bin, kann ich hier nicht die Position eines neutralen Außenstehenden einnehmen, also so tun, als würde ich mir quasi bei meiner eigenen Arbeit zusehen, um diese dann kritisch zu bewerten. Dennoch ist das Buch keine billige Lobrede auf Gerichtsgutachten oder Sachverständige. Es geht mir nicht darum, alle Gutachterinnen und Gutachter pauschal in Schutz zu nehmen oder zu sagen: »Fehler? WIR sind bestimmt nicht schuld. Wir machen alles richtig, ihr da draußen versteht es nur nicht.« Im Gegenteil, ich sehe in meinem Beruf viele Probleme und Ungereimtheiten, Vieles, was es zu verbessern gibt. Das soll in diesem Buch nicht verschwiegen werden.

Und noch ein zweiter wichtiger Punkt: Ich bin Rechtspsychologe, kein Psychiater. Ich habe also Psychologie studiert, nicht Medizin. Obwohl es viele Berührungspunkte dieser beiden Berufe in der praktischen Arbeit gibt, insbesondere bei der Erstellung von Gutachten für Gerichte und Justizbehörden, handelt es sich dennoch um zwei grundsätzlich verschiedene Fachgebiete. Das wird im Alltag, nicht selten auch in Reportagen und Fernsehkrimis, oft durcheinandergebracht. Deshalb hier eine kurze Erläuterung:

Die Psychiatrie ist ein Teilgebiet der Medizin; deren Spezialgebiet ist die Diagnose und Behandlung psychischer Krankheiten, etwa einer Schizophrenie oder Depression. Wenn eine solche Erkrankung für das Zustandekommen einer Straftat eine wesentliche Rolle gespielt hat oder wenn ein solcher Zusammenhang jedenfalls möglich erscheint, dann ist in der Regel die Beauftragung eines psychiatrischen Sachverständigen sinnvoll. Dieser ist mit seinen Spezialkenntnissen am ehesten in der Lage, das Ausmaß der psychischen Störungen, deren Verlauf und Behandlungsmöglichkeiten zutreffend einzuschätzen. Dies schließt freilich nicht aus, dass zur Ergänzung des psychiatrischen Gutachtens auch eine psychologische Expertise eingeholt wird.

Die Psychologie wird heute vor allem als Sozialwissenschaft verstanden. Bei der Betrachtung der Entstehung von Straftaten stehen hier insbesondere soziale und persönlichkeitsbezogene Aspekte im Vordergrund. Bei Tätern, für die nicht schwere psychische Erkrankungen, sondern primär andere Defizite, etwa eine unzureichende Bildung, eine erhöhte Reizbarkeit und Aggressivität oder auch ein labiles Bindungsverhalten, als wesentliche Faktoren für deren straffälliges Verhalten anzunehmen sind, dürften in der Regel meine Kolleginnen und Kollegen der Rechtspsychologie die richtige Wahl bei der Begutachtung der Schuldfähigkeit oder der Kriminalprognose sein. Die Analyse des abweichenden Verhaltens von Menschen, die grundsätzlich als psychisch gesund anzusehen sind, ist schließlich das Spezialgebiet der Kriminalpsychologie. In solchen Fällen könnte selbstverständlich eine psychiatrische Zusatzuntersuchung das diagnostische Bild abrunden.

Ich werde mich in diesem Buch weitgehend darauf beschränken, ja beschränken müssen, die einzelnen Themen vorwiegend aus meiner eigenen beruflichen Perspektive, aus der Sichtweise eines Rechtspsychologen also, zu betrachten. Selbstverständlich soll dabei das Nachbarfach forensische Psychiatrie nicht gänzlich ausgeblendet werden.

Und noch eine Einschränkung gibt es: Neben den im Buch erläuterten Gutachten in Strafverfahren gibt es auch rechtspsychologische Expertisen in Zivilprozessen, insbesondere im Familienrecht. Obwohl dies ein sehr wichtiger Bereich ist, der auch in jüngster Zeit immer wieder in die öffentliche Diskussion geraten ist, werde ich mich dazu nicht äußern, weil die damit verbundenen Fragen doch zu weit weg sind von meinem derzeitigen Arbeitsgebiet.

Die Fragestellungen, die in Strafverfahren, im Strafvollzug und bei Entscheidungen über die vorzeitige Entlassung aus dem Gefängnis oder aus einer psychiatrischen Klinik an forensische Gutachter herangetragen werden, spielen in vielen Fällen eine große, manchmal sogar entscheidende Rolle. Deshalb ist es aus meiner Sicht längst überfällig, dass darüber eine offene Diskussion geführt wird. Denn die Kompetenz zu entscheiden, wann eine Aussage als glaubhaft und verwertbar gilt und wann nicht, wer als allgemeingefährlicher Täter identifiziert wird und wer nicht, liegt in der Hand einer überschaubaren Anzahl von Menschen, und die Gesellschaft sollte diese Tätigkeit, wie ich finde, dringend besser kennenlernen und durchaus kritisch betrachten.

Sie finden in diesem Buch einige der erstaunlichsten Fälle aus meiner Praxis als Gutachter, also besonders schwierige, ungewöhnliche oder eindrucksvolle Beispiele. Anhand dieser Fallgeschichten möchte ich erläutern, welche Fragen durch gerichtspsychologische Gutachten geklärt werden sollen und welche Methoden dabei zur Anwendung kommen. Ich will zudem auch zeigen, dass unsere Arbeit nicht nur vor Gericht passiert, sondern, grob gesagt, drei Zeitpunkte kennt, denen jeweils eigene Besonderheiten innewohnen:

die vorgerichtliche Begutachtung, also im Rahmen von Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft, etwa um zu klären, ob eine belastende Zeugenaussage glaubhaft ist und zur Anklage eines Beschuldigten herangezogen werden kann, die Begutachtung während des Gerichtsverfahrens und jene nach der Urteilsverkündung, im Rahmen der Vollstreckung von Strafen oder Maßregeln wie der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Dazu zählen zum Beispiel Gutachten zur Entscheidung über sogenannte »vollzugsöffnende Maßnahmen« wie stundenweise Ausgänge und die Arbeit als Freigänger. Auch die vielfach diskutierten Rückfall-Prognose-Gutachten bei Sexual- und Gewaltstraftätern gehören hierher.

Alle in diesem Buch von mir dargestellten Fälle haben sich so zugetragen wie geschildert oder ergeben sich zumindest so aus den Akten und Gesprächen. Lediglich Namen, Orte und einige unwesentliche Details wurden von mir verändert, vor allem um die beteiligten Personen und deren Umfeld zu schützen. Die dabei abgegebenen Einschätzungen und Bewertungen sind selbstverständlich nicht als endgültig oder unumstößlich zu betrachten, sondern geben lediglich meine subjektive Sicht der Dinge wieder. Andere Sichtweisen sind zweifelsohne möglich, manchmal vielleicht sogar zutreffender.

Ich will nicht verhehlen, dass ich meine Tätigkeit als Gerichtsgutachter zwar abwechslungsreich, interessant und manchmal sogar spannend finde, weil es immer wieder um neue Personen und Lebensgeschichten geht. Es gibt dabei aber auch belastende Momente, die eine besondere Herausforderung darstellen und auch einen erfahrenen Gutachter weit über den eigentlichen Auftrag hinaus beschäftigen können. Nie werde ich etwa den Fall eines siebenjährigen Mädchens vergessen, das eines Morgens im Bett mit anhören musste, wie auf dem Flur vor dem Kinderzimmer ein brutaler Mord an einer jungen Frau geschah, und das ich wenige Tage danach auf Bitten der Staatsanwaltschaft über seine Erlebnisse befragen sollte. Das Kind hatte den verzweifelten Todeskampf des Mordopfers mit angehört – die Schreie und das hilflose Trampeln auf dem Boden –, hatte sich lange im Bett verkrochen und schließlich die Polizei angerufen. Erst sehr viel später stellte sich heraus, dass der Vater des Mädchens der Täter war; er war an jenem Morgen mit seiner neuen Freundin in Streit geraten und hatte sie erstochen.

Die Begutachtung eines Kindes, das eine derartige Bluttat hautnah miterleben musste und dabei selbst massive Ängste auszuhalten hatte, erfordert großes Fingerspitzengefühl und ist für einen Gutachter eine heikle Angelegenheit. Er selbst hat eine Sachfrage zu klären – Was hat das Kind erlebt? –, gleichzeitig muss er aber das Wohl des Kindes stets fest im Blick haben und deshalb alles unterlassen, was zu einer Verstärkung der durch die Tat hervorgerufenen Traumatisierung beitragen könnte. Ein solches Abwägen zwischen dem bloßen Gutachtenauftrag und der Berücksichtigung von Gefühlen und Empfindlichkeiten findet sich auch bei anderen Fragestellungen und Personen. Die Gefahr, durch ein allzu schematisches, einheitliches Vorgehen den Blick für das Besondere eines Menschen, das Einmalige eines konkreten Falles zu verlieren, ist groß.

Bei der Begutachtung von Angeklagten oder Verurteilten gehe ich zudem davon aus, dass es trotz verschiedener kriminologischer Fallgruppen den »typischen Verbrecher« nicht gibt; jeder Fall, jeder Mensch ist darum neu zu betrachten. Als Gutachter habe ich es immer wieder erlebt, dass ich Personen vor mir hatte, deren Tat ganz und gar nicht zu ihrem bisherigen Leben zu passen schien, sodass deren kriminelle Handlungen völlig fremd und unerklärlich wirkten. Offenbar können auch schwere und schwerste Gewalttaten von an sich unauffälligen, ja eigentlich harmlosen Menschen verübt werden, zum Beispiel dann, wenn diese in scheinbar ausweglose Situationen geraten, die sie buchstäblich überfordern.

Die populäre These, dass praktisch jeder zum Mörder werden kann, halte ich zwar für überzogen. Richtig ist jedoch nach meiner Erfahrung, dass niemand wissen kann, ob er einmal mit einem Sachverhalt konfrontiert wird, der ihn an die Grenzen seiner psychischen Kraft und Handlungskontrolle bringt. Im Kapitel »Blick in die Zukunft« stelle ich dazu das Beispiel eines Mannes vor, der eigentlich nur seiner Tochter zu Hilfe eilen wollte und dennoch fast einen Menschen getötet hätte.

Wie ermittelt man in solchen Fällen die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls, einer neuen Straftat? Ich kann nur für mich sprechen, aber ich versuche stets, mich nach dem Grundsatz zu richten, einen Menschen immer ganzheitlich zu beurteilen, also sein ganzes bisheriges Leben zu betrachten und ihn nicht lediglich auf seine Straftaten zu reduzieren.

Gelegentlich werde ich mich bei meinen Ausführungen auch auf prominente (und vor allem problematische) Fälle beziehen, die durch die Medien bekannt geworden sind. Ich bin kein Gerichtsreporter, und an Verhandlungen, bei denen ich nicht als Sachverständiger geladen bin, nehme ich so gut wie nie teil. Die öffentliche Wahrnehmung solcher Fälle und die gesellschaftliche Bedeutung und Beurteilung von Gerichtsgutachten spüre ich jedoch auch bei meiner eigenen Arbeit, die ich nach dem Gesetz »unparteiisch und nach bestem Wissen und Gewissen« (§ 79 StPO) zu leisten habe. Deshalb werde ich die Frage, ob und inwieweit man als Gutachter auch informellen Zwängen ausgesetzt ist, die mit allgemeinen kriminalpolitischen Debatten oder mit besonders stark medial skandalisierten Fällen zusammenhängen, offen ansprechen. Dasselbe gilt für die Frage einer möglichen direkten Beeinflussung durch Verfahrensbeteiligte.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich mich denn bei meinen Gutachten schon einmal gewaltig geirrt habe, also ob zum Beispiel jemand aufgrund einer von mir erstellten günstigen Prognose entlassen wurde, der dann aber doch erneut Straftaten beging. Oder ob jemand wegen meiner Expertise zu Unrecht oder zu schwer verurteilt wurde und später doch noch seine Unschuld bewiesen werde konnte. Eine vielleicht peinliche, aber sicherlich wichtige und durchaus berechtigte Frage, denn nicht zuletzt seit Gustl Mollaths Freilassung sind Zweifel an der Qualität und Kompetenz psychiatrisch-psychologischer Gutachten auch in einer breiten Öffentlichkeit aufgekommen. Die Sensibilität für dieses Thema scheint mir wichtig und wird wohl auch andauern.

Wie in jedem Beruf gibt es gewiss auch bei Gerichtsgutachten immer wieder Fehler und Irrtümer; ich kann mich da keinesfalls ausschließen. Um meine eigenen Schwächen zu erkennen, ist es freilich nötig, dass ich weiß, wie ein Gerichtsverfahren ausgegangen ist und welche Folgen meine Empfehlungen hatten. Dies aber ist nicht die Regel. Wenn ich einmal ein Gutachten abgeschlossen habe, dann gibt es kein automatisches Feedback über die weitere Umsetzung und die folgenden Schritte. Dazu muss ich schon gezielt nachfragen. Erst recht weiß ich zumeist nichts darüber, was aus einer Person, über die ich vor etlichen Jahren ein Gutachten geschrieben habe, längerfristig geworden ist. Wenn es sich also nicht um einen besonders gravierenden Fall handelt, über den später auch in den Medien berichtet wird, oder der mir anderweitig zugetragen wurde, dann sind mir bestimmte nachträgliche Erkenntnisse weitgehend nicht vergönnt. Auf die Frage, wie man trotz dieser lückenhaften Rückmeldung und Erfolgskontrolle versuchen kann, die Qualität der gutachterlichen Arbeit zu verbessern, werde ich an verschiedenen Stellen in diesem Buch eingehen.

Wer nicht von vornherein davon überzeugt ist, immer alles richtig oder jedenfalls besser zu machen als andere, für den ist der kritische Erfahrungsaustausch mit Kollegen besonders wichtig. Dabei fällt es erfahrungsgemäß leichter, Fehler anderer zu kritisieren als über eigene Schwächen zu sprechen. Denn auch für Gutachter gilt offenbar das Bibelwort, dass der Splitter im fremden Auge leichter zu sehen ist als der Balken im eigenen. Von einer kritischen Darstellung kriminalpsychologischer Aufgaben und Tätigkeiten wird man allerdings mit Recht erwarten dürfen, dass nicht nur – wenn überhaupt – skeptisch auf andere geblickt wird, sondern dass auch eigene Irrtümer offen angesprochen werden, jedenfalls solche, die man erkannt hat und aus denen man seine Schlüsse gezogen hat. Auch über solche Lehrstunden meiner Berufspraxis werde ich berichten.

Im Übrigen sollten Gerichtsgutachten aber nicht als in Stein gemeißelte letzte Wahrheiten angesehen werden, sondern lediglich als Momentaufnahmen mit zeitlich, örtlich und inhaltlich begrenzten Stellungnahmen. So können etwa Sachverhalte, die zum Zeitpunkt einer Gutachtenerstellung nicht oder noch nicht bekannt waren, eine einmal getroffene Beurteilung im Nachhinein massiv verändern. Von einem Fehler zu Lasten des Gutachters lässt sich in solchen Fällen schwerlich sprechen, wenn diese Informationen unzweifelhaft nicht oder jedenfalls noch nicht verfügbar waren. Etwas anderes gilt selbstverständlich für die Bewertung von bekannten Tatsachen, die falsch gewichtet wurden. Auch das werde ich anhand verschiedener Beispiele erläutern.

Ich werde also im Folgenden wesentliche Inhalte meiner Arbeit als Gutachter, denkwürdige Begegnungen und Erlebnisse vor Gericht so anschaulich und lebhaft wie möglich darstellen. Außerdem hoffe ich, dass die einzelnen Kapitel und die dort dargestellten Fallbeispiele Ihnen zu neuen Innenansichten und Einsichten verhelfen. Seien Sie neugierig auf die Beantwortung folgender Fragen:

Welche Aufgabe hat ein Gerichtspsychologe? Wer wählt Gutachter aus und wer prüft deren Kompetenz und Integrität?Wie groß ist das Risiko für einen Gutachter, sich zu irren? Wird er dann bestraft?Kann man als Betroffener einen Gutachter ablehnen und einen anderen wählen?Sind Gutachten nach Aktenlage sinnvoll und zulässig?Welche Nähe, welche Distanz sollen/dürfen Gerichtsgutachter zu den von ihnen beurteilten Personen haben?Wie mächtig sind Gutachter im Hinblick auf die Urteilsfindung bei Gericht wirklich? Sind sie heimliche oder gar unheimliche Richter?Muss man Sorge haben, dass man einmal unschuldig in die Hände von Gutachtern gerät, dass dann eine falsche Diagnose gestellt wird und dass man deshalb für immer weggesperrt wird?Welchen Einfluss hat die öffentliche Diskussion über ein Strafverfahren auf das Verhalten und die Entscheidung von Gutachtern?Wie kann es sein, dass zwei Gutachter zu völlig verschiedenen Ergebnissen kommen?Zwischen Wahrheit und Lüge: Wann ist eine Zeugenaussage glaubhaft und wie sicher lässt sich dies feststellen?Gibt es bei Zeugen falsche, also lediglich eingebildete oder suggerierte Erinnerungen? Wird er es wieder tun? Wie bestimmt man die Gefährlichkeit eines Täters? Kann man das sicher vorhersagen oder ist alles nur Kaffeesatzleserei?Wie kann es geschehen, dass ein verurteilter Sexualverbrecher eine günstige Prognose bekommt und bald nach seiner Entlassung doch wieder rückfällig wird?Wie erkennt man als Gutachter, ob sich ein Proband lediglich verstellt, um eine günstige Beurteilung zu erhalten?Wie kann ein Laie die Qualität eines forensischen Gutachtens beurteilen?

Doch nun genug der Vorreden. Die Reise in die Welt der Gerichtspsychologie kann beginnen.

Aussage gegen Aussage

Ein kurzer Prozess

Das Telefon klingelte am späten Nachmittag. Ein mir unbekannter Rechtsanwalt meldete sich: »Ich vertrete einen Angeklagten in einem Berufungsverfahren und wollte Sie fragen, ob Sie bereit wären, eine Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit einer Belastungszeugin zu schreiben. Ich habe vor einiger Zeit ein Interview von Ihnen gelesen, das mir sehr gefallen hat.«

Mir war nicht klar, welches Interview er meinte, ich hakte aber nicht nach, sondern nahm es als netten Versuch, mich als Gutachter zu gewinnen: »Wie Sie offenbar schon wissen, bin ich Rechtspsychologe, und die Begutachtung von Zeugenaussagen zählt zu meinem Arbeitsgebiet. Allerdings habe ich mit Gutachtenaufträgen von Anwälten nicht immer die besten Erfahrungen gemacht; nicht mit den Auftraggebern selbst, sondern damit, wie ich im Prozess als Sachverständiger wahrgenommen werde. Es ist mir daher lieber, wenn ich vom Gericht als Gutachter bestimmt werde.«

»Kein Problem, das kann ich ja in der Verhandlung beantragen«, hieß es prompt. »Zunächst bräuchte ich aber Ihre grundsätzliche Bereitschaft. Hätten Sie denn Zeit und Interesse?« Um die Sache abzukürzen, schlug ich dem Anwalt vor, mir zunächst ein paar Unterlagen zu schicken, damit ich mir ein erstes Bild machen könnte. So leicht ließ sich mein Anrufer aber nicht abschütteln. Er wollte mir gleich die kompletten Ermittlungsakten, das Urteil der ersten Instanz und die Begründung seiner Berufung zusenden. Es handelte sich um den Vorwurf einer Vergewaltigung, die sich vor zwei Jahren in der Wohnung der Zeugin ereignet haben sollte. Bei der ersten Verhandlung hatte der nun involvierte Anwalt den Angeklagten noch gar nicht vertreten, und es hatte damals auch kein Gutachten gegeben. »Das Urteil allein würde mir fürs Erste schon genügen«, wandte ich ein. Doch zwei Tage später brachte mir die Post ein umfangreiches Aktenpaket. Aus dem Urteil erschloss sich mir eine ziemlich komplizierte Geschichte zwischen Nachbarn, Arbeitskollegen und Eheleuten. Der Verlauf stellte sich danach wie folgt dar.

Manfred I., 37 Jahre alt, verheiratet, Familienvater, wurde beschuldigt, eine Bekannte und frühere Nachbarin, die 30 Jahre alte Anna S., bei einem abendlichen Besuch in deren Wohnung vergewaltigt zu haben, nachdem sich deren Ehemann Peter S., 38 Jahre, der vorher noch mit beiden gemütlich gegessen und wohl auch, ebenso wie sein Besucher Manfred I., reichlich Alkohol getrunken hatte, ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Es war spät geworden, und er sagte, er sei müde.

Nach der Tat soll Frau S. laut schreiend in das eheliche Schlafzimmer gestürmt sein und über heftige Leibschmerzen geklagt haben. Der schlaftrunkene Ehemann rief daraufhin den Notarzt, der Frau S. nach kurzer Untersuchung in die Notaufnahme eines nahe gelegenen Krankenhauses einwies. Manfred I. hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Wohnung ohne weiteres Gespräch verlassen.

Die Ursache der diffusen Bauchschmerzen von Frau S. konnte in dieser Nacht durch verschiedene Untersuchungen in der Klinik nicht ermittelt werden. Von einer Vergewaltigung erzählte Anna S. den Ärzten anscheinend nichts. Als man ihr zur weiteren Abklärung der Schmerzen eine gynäkologische Untersuchung vorschlug, verweigerte sie diese und entließ sich auf eigene Verantwortung am nächsten Vormittag aus dem Krankenhaus. Auch gegenüber ihrem Ehemann erwähnte sie nach ihrer Rückkehr nichts mehr von der angeblichen nächtlichen Gewalttat.

Gut zwei Wochen später besuchte Manfred I. erneut das Ehepaar S., diesmal aber am Tag und in Begleitung seiner Ehefrau Carola, 36 Jahre, in deren Firma sowohl er als auch der Mann von Anna S. beschäftigt waren. Arbeitsaufträge waren zu besprechen, doch rasch kam es zum Streit. Carola I. bezichtigte dabei Frau S., bereits seit längerer Zeit ein Verhältnis mit ihrem Ehemann zu haben, was Anna S. offenbar heftig bestritt, während Manfred I. gesagt haben soll, dass er sich von ihr wegen ihrer knappen Bekleidung herausgefordert gefühlt habe. Es folgte ein hitziger Schlagabtausch zwischen allen Beteiligten, bei dem Anna S. schließlich einwarf, dass Manfred sie an jenem Abend vergewaltigt habe. Er sollte sich entschuldigen. Laut schimpfend verließ dieser daraufhin die Wohnung.

Nun ging es Schlag auf Schlag. Peter S. betrank sich am darauffolgenden Tag alleine in seiner Wohnung, packte ein Dekorationsschwert und rief bei der Polizei an. Er teilte mit, dass er auf dem Weg zu jenem Mann sei, der versucht habe, seine Frau zu vergewaltigen, um ihm den Kopf abzuschlagen. Dort angekommen traf er jedoch nicht seinen Arbeitskollegen Manfred I., sondern zwei Polizeibeamte, die ihn in Gewahrsam nahmen. Anna S. erfuhr erfuhr erst auf der Polizeistation, dass ihr Ehemann als Grund für seine geplante Schwertattacke besagte Vergewaltigung genannt hatte. Daraufhin gab sie den Bericht über die Ereignisse an jenem Abend zu Protokoll, der zur Grundlage für die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft wurde.

Bei der Polizei und vor Gericht bestritt Manfred I. alle Vorwürfe und berichtete von einem längeren außerehelichen Liebesverhältnis zu Anna, das an diesem Abend im Streit – aber ohne Vergewaltigung – zu Ende gegangen sei. Offenbar verwickelte er sich dabei jedoch mehrfach in Widersprüche, sodass ihm das Gericht keinerlei Glauben schenkte. Er wurde daraufhin von dem Schöffengericht, bestehend aus einem Vorsitzenden und zwei Schöffen, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen hatte der Anwalt mit Erfolg Berufung eingelegt, deshalb jetzt dieser neue Prozess.

Die damalige erste Hauptverhandlung – von der Verlesung der Anklageschrift über die Beweisaufnahme und die Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage bis hin zur Urteilsverkündung – fand an einem einzigen Tag statt. Ein kurzer Prozess also. Dabei stand Aussage gegen Aussage. Sachbeweise, etwa Verletzungsspuren, gab es anscheinend keine. Gutachter wurden nicht gehört. Wenn man bedenkt, wie viel Aufwand das Landgericht Mannheim in einem nahezu zeitgleich geführten Prozess bei einem ähnlich gelagerten Fall betrieben hatte, um die Vorwürfe der Radiomoderatorin Claudia D. gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann aufzuklären – immerhin beanspruchte jenes Verfahren 44 Verhandlungstage, verteilt auf neun Monate, und es traten insgesamt zehn Sachverständige auf –, dann stellt sich die Frage, ob vor dem Gesetz wirklich alle gleich sind beziehungsweise ob Gerichte in Abhängigkeit von der Prominenz eines Angeklagten oder der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit eines Falles mit zweierlei Maß messen.

Die Lektüre des Urteils ließ auf ein komplexes Geflecht von Auseinandersetzungen zwischen Bekannten, Kollegen, Ehemännern und Ehefrauen schließen. Möglicherweise spielten auch außereheliche Beziehungen eine Rolle. All das konnte für die Aufklärung dieses Falles von Bedeutung sein. Eine gründlichere Prüfung, als es die erste Instanz versucht hatte, erschien mir deshalb außerordentlich sinnvoll. Dabei wollte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten als Gerichtspsychologe mithelfen. Ich sagte dem Anwalt des Angeklagten also meine Mitarbeit zu.

Drei Monate später saß ich als »präsenter Sachverständiger« im kleinen Gerichtssaal 102 des Landgerichts. Wenige Minuten nach 9 Uhr betrat die Kleine Strafkammer, ein Berufsrichter als Vorsitzender und zwei Schöffen – ein Rentner und ein Zimmermann –, den Saal. Alle erhoben sich.

Kein Deal, aber ein Gutachtenauftrag

Nach Feststellung der anwesenden Personen und nach Verlesung einiger Ausschnitte aus dem erstinstanzlichen Urteil sah es so aus, als könnte alles ganz schnell gehen. Der Vorsitzende hielt eine Art Vorrede. Er erklärte, dass er in letzter Zeit auch in zwei anderen Verfahren mit dem Thema Vergewaltigung befasst war. Im ersten Fall habe dies zu einem Freispruch geführt, im zweiten Fall sei eine Freiheitsstrafe verhängt worden. Ein Geständnis des Angeklagten, so der Richter, könnte für den weiteren Verlauf eine erhebliche Zeit- und Aufwandsersparnis bedeuten, weil man dann auf die Aussagen verschiedener Zeugen verzichten könnte. Der Prozess käme also viel rascher zum Abschluss. Zudem gab er zu bedenken, dass sich die Kammer in einem solchen Fall auch vorstellen könnte, lediglich eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusprechen. Voraussetzung für dieses Verfahren sei allerdings das Einverständnis aller Beteiligten.

Ich war einigermaßen überrascht. Derartige Absprachen oder »Deals« sind als »Verständigung im Strafverfahren« inzwischen auch bei deutschen Strafprozessen nicht unüblich, wenngleich sie oft heftig kritisiert werden, weil sie bei Gegnern als Systembruch gelten. Leitbild des deutschen Strafprozesses sei schließlich die Suche nach der sogenannten materiellen Wahrheit, und dies, so argumentieren Kritiker, könne nicht in das Belieben der Verfahrensbeteiligten gestellt werden. Gleichwohl wurde 2009 mit § 257c StPO eine Vorschrift geschaffen, die solche Absprachen verbindlich regeln soll. Danach darf etwa der Schuldspruch selbst nicht Gegenstand einer Verständigung sein, und das Vorliegen eines Geständnisses wird vorausgesetzt. So war es auch hier.

Nach einer kurzen Unterbrechung erklärte der Verteidiger, dass sein Mandant mit der vorgeschlagenen Absprache einverstanden sei, allerdings nur, sofern das Urteil dann »BGH-sicher« sei. Das Risiko einer Revision durch die Staatsanwaltschaft wollte er nicht eingehen. Auch der Anwalt von Frau S., der Nebenklagevertreter, erhob keine Bedenken. Nur die Staatsanwältin blieb in der Sache hart. Sie lehnte das Angebot ab. Eine Bewährungsstrafe im Vorfeld zu vereinbaren sei nicht sachgerecht, sagte sie und bestand deshalb auf einer Fortsetzung der Verhandlung wie vorgesehen. Kein Deal also.

Der Verteidiger erklärte daraufhin, dass sein Mandant, der Angeklagte Manfred I., von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen werde. Anschließend beantragte der Verteidiger die Einsetzung eines Sachverständigen – gemeint war ich – zur Begutachtung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin Anna S. Eine ausführliche Begründung seines Antrags folgte und wurde anschließend in Schriftform an das Gericht und an die Staatsanwältin verteilt.

Schließlich verkündete der Vorsitzende, dass dem Antrag der Verteidigung stattgegeben werde. Ich als Psychologe war also jetzt offiziell als Gerichtssachverständiger eingesetzt und nicht mehr nur Zuhörer. Zusätzlich wurde ein Psychiater damit beauftragt, mögliche gesundheitliche Einschränkungen der Aussagefähigkeit der Nebenklägerin zu prüfen. Man wollte anscheinend ganz sichergehen. Der nächste Sitzungstermin wurde in zwei Wochen anberaumt, als Hauptpunkt war die Vernehmung von Anna S. vorgesehen.

Mein Gespräch mit ihr wollte ich unbedingt vorher führen und wandte mich deshalb noch im Sitzungssaal an sie und ihren Anwalt. Üblicherweise führe ich psychologische Gespräche, sogenannte Explorationen, bei der Begutachtung von Zeugen in meinem Büro oder in einem Raum des jeweiligen Gerichtsgebäudes. Letzteres war anscheinend hier nicht möglich, und eine Reise zu mir nach Wiesbaden schien Frau S. zu umständlich und zu teuer. Sie bot mir deshalb an, sie in ihrer Wohnung zu besuchen. Ich zögerte zunächst, denn der vermeintliche »Tatort« schien mir wenig geeignet für ein Gespräch, das für die Zeugin emotional belastend sein könnte und deshalb Ruhe und Distanz benötigte. Doch Frau S. hatte sich inzwischen von ihrem Mann getrennt und war in eine andere Wohnung umgezogen. Unter diesen Umständen stimmte ich zu.

Exploration im Wohnzimmer

Zum vereinbarten Zeitpunkt fand ich mich bei Anna S. ein. Sie wohnte im Erdgeschoss eines schlichten Mietshauses – keine besonders teure Gegend, aber wohl auch kein »sozialer Brennpunkt«. Mir fiel auf, dass Anna S., die im Gerichtssaal etwas scheu und unsicher gewirkt und oft nur zu Boden geblickt hatte, in ihren eigenen vier Wänden recht souverän agierte.

Zu Beginn bedankte ich mich bei ihr, dass sie sich Zeit für dieses Gespräch – bewusst vermied ich den Begriff Vernehmung – genommen hatte. Dann erläuterte ich ihr kurz meine Rolle als Gerichtspsychologe und sagte, dass ich dem Gericht bei der Aufklärung der Tatsachen in diesem Verfahren helfen soll. Ich sei also weder ein Ankläger noch ein Verteidiger, aber auch kein Therapeut mit Schweigepflicht, da ich die mir mitgeteilten Inhalte in mein Gutachten aufnehmen und in der Verhandlung vortragen würde. Ich bat sie darum, wahrheitsgemäße Angaben zu machen. Sie müsse nicht auf jede meiner Fragen antworten, und wenn sie etwas nicht mehr genau wisse, dann dürfe sie dies ruhig sagen. Was sie mir aber sage, solle der Wahrheit entsprechen. Frau S. nickte zustimmend und war auch damit einverstanden, dass ich das Gespräch mit einem Diktiergerät aufnahm. Nur so ist es für mich möglich, die Aussage zu den behaupteten Geschehnissen exakt zu protokollieren.

Natürlich fragte ich sie nicht sofort nach der fraglichen Nacht und auch nicht nach Manni, so nannte sie Manfred I., sondern bat sie, mir zunächst etwas über sich und ihr bisheriges Leben zu berichten. Dabei machte ich keinerlei Vorgaben, kein Frage-und-Antwort-Interview, sondern überließ ihr die Wahl der angesprochenen Themen. Ohne Zögern begann sie zu erzählen: »Ich bin 30 Jahre alt und als Kind bei meiner Großmutter auf dem Land aufgewachsen. Das war eine sehr schöne Zeit. Meine Mutter war bei meiner Geburt erst 14 Jahre alt, meinen Vater habe ich selten gesehen. Es gab viel Streit zwischen seiner und meiner Familie.« Ich erfuhr weiter, dass sie nach der Schule keine Ausbildung machen konnte, sondern auf dem Hof mithelfen musste. Mit 17 Jahren lernte sie Thomas kennen, ihren ersten festen Freund, ein Jahr später zog sie zu ihm – endlich weg vom Hof, der von ihrem Onkel geführt wurde. »Eine Heirat kam aber nicht infrage, weil mein Onkel ihn nicht mochte. Ein Zugereister, der nichts hat, sagte er immer. Der ist nichts für dich. Da war meine Oma leider schon tot, und wir beide hatten nicht genug Geld für eine Hochzeit.«

Als sich Thomas ein paar Jahre später in eine andere Frau verliebte, war die Beziehung zu Anna von einem Tag auf den anderen zu Ende. »Ich habe einige Zeit gebraucht, um das zu verstehen, aber ich wollte ja niemandem im Wege stehen. Er hat mir gesagt, dass er sie liebt, und gegen Liebe kann man doch nichts machen, oder?« Nun musste sie sich eine eigene kleine Wohnung nehmen. »Eigentlich nur ein Zimmer mit Kochnische und einem kleinen Bad. Viel konnte ich mir ja nicht leisten.« Nach wie vor ohne Ausbildung, jobbte sie mal hier und mal da. Von einem neuen Partner wollte sie zunächst nichts wissen. »Dann habe ich Peter kennengelernt, ganz zufällig, beim Kaffeetrinken im Einkaufszentrum. Er hat mich gefragt, ob ich ihm Kleingeld wechseln kann, und er war ganz locker drauf. Er war mir von Anfang an sympathisch.« Die beiden kamen ins Gespräch und tauschten am Ende die Handynummern aus; ein paar Tage später hatten sie ihr erstes Date. »Im Jahr danach haben wir geheiratet, das ist jetzt sechs Jahre her.«

Auch Peter S. war ein Gelegenheitsjobber. Er hatte zwei Ausbildungen begonnen, aber keine abgeschlossen. Dass er die zweite Lehrstelle als Kfz-Mechaniker wegen einer Haftstrafe verloren hatte, erfuhr Anna S. erst später. Mit Kumpels war er nachts in die Werkstatt seines Meisters eingebrochen, um Werkzeuge zu klauen. »Es war natürlich gut, dass in dem Mietshaus gleich unter uns ein Ehepaar wohnte, das einen Handwerksbetrieb hatte. Wir verstanden uns zunächst prima, und als sie Peter dort eine Stelle anboten, schien alles wie am Schnürchen zu laufen.« Spontan kam Anna S. nun auf Manfred und Carola I. zu sprechen, und dieses Thema bestimmte den weiteren Verlauf.

»Am Anfang lief alles normal. Die Männer arbeiteten zusammen; ab und zu gingen wir beide auf einen Kaffee nach unten oder sie besuchten uns.« Sehr bald aber fühlte sich Anna S. an den Rand gedrängt, vor allem von Frau I. »Carola wurde immer frecher und mischte sich in unser Privatleben ein. Sie kam zu jeder beliebigen Zeit zu uns und verdrehte meinem Mann den Kopf. Ich habe Peter darauf angesprochen, doch er hat alles abgestritten.« Das belastete natürlich ihre Ehe, zugleich änderte sich aber auch der Kontakt von Anna S. zu Manfred I. »Der hat mir oft erzählt, welchen Stress er mit Carola hat. Er hat sich richtig bei mir ausgeweint. Bei denen hat es ja ständig gekriselt, weil sie ihn immer fix und fertig gemacht hat.«

ENDE DER LESEPROBE