Die vier Säulen eines erfüllten Lebens - Emily Esfahani Smith - E-Book

Die vier Säulen eines erfüllten Lebens E-Book

Emily Esfahani Smith

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Beschreibung

Was ist wahres Glück? Emily Esfahani Smith verdeutlicht, dass wir dem falschen Ziel hinterherjagen. Nicht Glück macht das Leben lebenswert, sondern ein tieferer Sinn. Gestützt auf Erkenntnisse der Psychologie, Philosophie und Literatur sowie Geschichten von Menschen, die ein erfülltes Leben führen, beschreibt sie die vier Säulen des Sinns: sich zugehörig fühlen, die eigene Bestimmung finden, die Welt durch Geschichten verstehen und sich als Teil eines größeren Ganzen erfahren. Ihre kluge Analyse zeigt, was im Leben wirklich zählt.

Dieses Buch erschien 2018 als Hardcover unter dem Titel »Glück allein macht keinen Sinn« im Mosaik Verlag.

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Seitenzahl: 427

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Buch

Nichts ist so erstrebenswert wie ein glückliches Leben. Doch Glück ist nicht alles. Was im Leben wirklich zählt, ist ein tiefer Sinn. Hartnäckig hält sich der Mythos, die Suche nach dem Sinn des Lebens sei etwas Esoterisches – man müsse sich in ein entlegenes Kloster begeben oder in staubigen Wälzern blättern, um hinter das große Geheimnis zu kommen. Dabei gibt es überall Quellen des Sinns, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Deshalb hat sich Emily Esfahani Smith auf Sinnsuche begeben und entschlüsselt nun anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Philosophie und Literatur sowie inspirierenden Alltagsgeschichten die vier Säulen, die ein erfülltes Leben ausmachen. Sie zeigt, wie die Verbindung zu anderen, das Finden einer Bestimmung, Geschichten über unseren Platz in der Welt und die Verbindung zu einem größeren Ganzen unserem Leben Bedeutung verleihen. Ihr kluges und schön erzähltes Buch regt zum Nachdenken an und liefert Antworten auf die Frage, was im Leben wirklich zählt.

Autorin

Emily Esfahani Smith wurde in Zürich geboren und wuchs in Montreal, Kanada, auf. Nach ihrem Studium an der Elite-Hochschule Dartmouth College machte sie ihren Master in Angewandter Positiver Psychologie an der University of Pennsylvania, wo sie unter anderem bei Martin Seligman und Paul Bloom studierte. Mittlerweile schreibt sie als Journalistin über kulturelle und psychologische Themen. Ihre Artikel erscheinen unter anderem in The Atlantic, The New Criterion, New York Times und Wall Street Journal. Emily Esfahani Smith lebt mit ihrem Mann in Washington, DC.

Emily Esfahani Smith

Die vier Säulen eineserfüllten Lebens

Was wirklich zählt

Aus dem Amerikanischen von Annika Tschöpe

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

»The Power of Meaning« bei Crown, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch ist bereits 2018 unter dem Titel »Glück allein macht keinen Sinn« im Mosaik Verlag erschienen.

Copyright © 2017 der Originalausgabe: Emily Esfahani Smith

Copyright © 2018 der deutschen Erstausgabe: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Nadine Lipp

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

KW ∙ CB

ISBN 978-3-641-25330-1V001

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine Eltern Tim und Fataneh und meinen Bruder Tristan, liebevoll T-Bear genannt: dustetun daram

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Die Suche nach dem Sinn

1. Die Sinnkrise

Hat das Leben einen Sinn?

Tolstois späte Erkenntnis

Brauchen wir den Glauben an etwas Unendliches?

Von der Freiheit, den Sinn selbst zu gestalten

Der Sinn liegt jenseits des Ichs

2. Die erste Säule: Sich zugehörig fühlen

Sehnsucht nach Gemeinschaft

Warum Zugehörigkeit lebenswichtig ist

Soziale Isolation macht krank

Wie uns Gemeinschaften durchs Leben tragen

Soziale Zurückweisung führt zu Sinnverlust

Der Sinn liegt in den anderen

3. Die zweite Säule: Die eigene Bestimmung finden

Der Weg ist das Ziel

Eine Frage der Identität

Wir sind, was wir tun

4. Die dritte Säule: Die Welt durch Geschichten verstehen

Warum Geschichten heilen

Wenn wir verstehen und einordnen, können wir wachsen

»Du musst nur den Blickwinkel ändern«

Sich die eigene Zukunft vorzustellen macht Hoffnung

Wie wir uns in fiktiven Geschichten spiegeln

5. Die vierte Säule: Sich als Teil eines größeren Ganzen erfahren

Wir sind nur Sternenstaub

Vom Ich zur Welt

Wie sich Selbstverlust auf die Psyche auswirkt

Führt Ehrfurcht zu mehr Hilfsbereitschaft?

Wie der Tod des Egos die Angst vor dem Tod nimmt

6. Persönliches Wachstum

Wie lebt man nach dem Tod einer geliebten Person weiter?

»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«

Warum schreiben hilft, ein Trauma zu überwinden

Resilienz – eine Frage des Sinns

7. Sinnkulturen

Zur Ruhe kommen in einer materialistischen Welt

Warum positive Sinnkulturen für Jugendliche besonders wichtig sind

Auch im Ruhestand brauchen wir eine Bestimmung

Gegenseitiges Zuhören wirkt Wunder

Schlusswort

Dank

Anmerkungen

Register

Was war der Sinn des Lebens? Das war alles – eine schlichte Frage; eine, die sich mit den Jahren immer stärker aufdrängte. Die große Offenbarung war nie gekommen. Die große Offenbarung kam vielleicht nie. Stattdessen gab es kleine tägliche Wunder, Erleuchtungen, Zündhölzer, die unerwartet im Dunkeln angerissen wurden; hier war so eins.

Virginia Woolf

Vorwort

Seit Anbeginn der Menschheit stellt man sich die Frage, was das Leben lebenswert macht. Das erste große Werk der Literatur, das 4000 Jahre alte Gilgamesch-Epos1, berichtet von einem Helden, der herausfinden will, wie er leben soll, obwohl er weiß, dass er sterben muss. Und auch viele Jahrhunderte nach der ersten Erzählung von Gilgamesch wird die Antwort noch immer dringend gesucht. Die Entstehung der Philosophie, der Religion, der Naturwissenschaften, der Literatur und auch der Kunst lässt sich– zumindest zum Teil– auf zwei Fragen zurückführen: »Welchen Sinn hat unsere Existenz?« und »Wie kann ich ein erfülltes Leben führen?«.

Die erste Frage befasst sich mit großen Themen.2 Wie ist das Universum entstanden? Welchen Sinn und Zweck hat das Leben? Gibt es ein transzendentes Etwas– ein göttliches Wesen oder einen heiligen Geist–, das unserem Leben Bedeutung verleiht?

In der zweiten Frage geht es darum, in diesem Leben einen Sinn zu erkennen. Nach welchen Werten sollte ich mich richten? Welche Projekte, Beziehungen und Aktivitäten werden mir Erfüllung bringen? Welchen Weg soll ich einschlagen?

In der Vergangenheit lieferten religiöse und spirituelle Vorstellungen die Antwort auf diese Fragen. In den meisten Traditionen liegt der Sinn des Lebens in Gott oder einer ultimativen Realität, mit der sich der Suchende vereinen möchte. Ein moralischer Kodex, den es zu befolgen gilt, und Rituale wie Meditation, Fasten und Mildtätigkeit bringen den Suchenden näher zu Gott oder zur ultimativen Realität und verleihen dem täglichen Leben einen Sinn.

Natürlich ist die Religion nach wie vor für Milliarden von Menschen von großer Bedeutung. Doch in den Industrieländern ist sie längst nicht mehr so dominant wie früher.3 Zwar glauben weiterhin die meisten Menschen an Gott, und viele bezeichnen sich als religiös, doch immer weniger Menschen gehen in die Kirche, beten regelmäßig, gehören einer Gemeinde an oder betrachten die Religion als wichtigen Teil ihres Alltags.4 War die Religion einst der vorgeschriebene Weg zum Sinn des Lebens, so ist sie heute ein Weg unter vielen. Diese kulturelle Veränderung hat viele Menschen haltlos gemacht.5 Für Millionen, ob gläubig oder nicht, ist die Suche nach einem Sinn hier auf der Erde ungeheuer wichtig geworden– doch das Ziel ist ferner denn je.

Und dennoch gibt es Menschen, die für sich persönlich einen Sinn im Leben gefunden haben. Im Laufe dieses Buches werde ich Ihnen einige bemerkenswerte Persönlichkeiten vorstellen: Wir werden eine Gruppe Mittelalterfans kennenlernen, die in ihrer ganz speziellen Gemeinschaft Erfüllung finden. Wir erfahren von einer Zooleiterin, was ihrem Leben Bedeutung verleiht. Uns wird berichtet, wie ein Querschnittsgelähmter durch ein traumatisches Erlebnis seine Identität neu definierte. Und wir folgen sogar einem ehemaligen Astronauten ins Weltall, wo er seine wahre Berufung fand.

Manche der Geschichten sind ganz alltäglich, andere außergewöhnlich. Doch während ich diese Suchenden auf ihrer Reise begleitete, stellte ich fest, dass ihre Leben bestimmte Gemeinsamkeiten aufwiesen, die eine Vermutung nahelegen, welche die Wissenschaft mittlerweile bestätigt: Die Welt ist voll von Sinnquellen, und wenn wir diese Quellen anzapfen, können wir nicht nur selbst ein erfüllteres, zufriedenstellendes Leben führen, sondern auch anderen dabei helfen. Dieses Buch wird solche Quellen des Sinns aufzeigen und erklären, wie wir sie uns zunutze machen können, um unserem Leben mehr Tiefgang zu verleihen. Dabei werden wir erfahren, welche Vorteile ein sinnerfülltes Leben mit sich bringt – für uns selbst, für unsere Schulen, Arbeitsplätze und die Gesellschaft insgesamt.

Einleitung

Die Suche nach dem Sinn

Als Teenager führte mich die Suche nach dem Sinn zur Philosophie. Die Frage, wie man ein sinnerfülltes Leben führt, war einst die zentrale Antriebskraft dieser Disziplin, in der Denker von Aristoteles bis Nietzsche ihre eigenen Vorstellungen von einem guten Leben darlegten. Am College musste ich jedoch bald erfahren, dass die akademische Philosophie dieses Thema weitestgehend ad acta gelegt hatte.1 Stattdessen befasste man sich mit esoterischen oder technischen Fragen wie der Natur des Bewusstseins oder der Computerphilosophie.

Allgemein zeigte man auf dem Campus nur wenig Interesse für die Fragen, die mich überhaupt zur Philosophie geführt hatten. Viele meiner Kommilitonen strebten in erster Linie nach beruflichem Erfolg. Von klein auf hatten sie erbittert um Auszeichnungen gekämpft, mit denen sie sich einen Platz an einem angesehenen College sichern konnten, der wiederum ein Studium an einer Eliteuniversität oder einen Job an der Wall Street versprach. Auch bei ihren Kursen und Aktivitäten an der Uni hatten sie stets im Hinterkopf, welche Ziele sich damit erreichen ließen. Zudem spezialisierten sich diese blitzgescheiten Köpfe zumeist auf einen bestimmten Bereich ihrer jeweiligen Studienfächer, sodass sie mit dem Abschluss bereits erstaunliche Fachkenntnisse vorweisen konnten. Ich lernte Leute kennen, die mühelos erläuterten, wie sich die öffentliche Gesundheitsversorgung in der Dritten Welt verbessern ließe, wie man mit statistischen Modellen Wahlergebnisse vorhersagt und wie man einen literarischen Text »zerlegt«. Allerdings hatten sie so gut wie keine Ahnung davon, was dem Leben einen Sinn verleiht oder welches größere Ziel es neben einer Menge Geld oder einem prestigeträchtigen Job noch geben könnte. Abgesehen von gelegentlichen Gesprächen im Freundeskreis gab es an der Uni kein Forum, in dem man solche Fragen erörtern oder sich damit auseinandersetzen konnte.

In den letzten Jahren ist jedoch eine interessante Entwicklung eingetreten. An unseren Universitäten befasst man sich wieder mit dem Sinn des Lebens2: Seit geraumer Zeit beschäftigt sich eine Gruppe Sozialwissenschaftler mit der Frage, was ein gutes Leben ausmacht.

Viele von ihnen sind in der sogenannten Positiven Psychologie3 tätig– einer Disziplin, die wie die Sozialwissenschaften aus der Forschungsuniversität hervorgegangen ist und sich auf empirische Studien stützt, jedoch auch auf die umfassende Tradition der Humanwissenschaften4 zurückgreift. Begründer der Positiven Psychologie5 ist Martin Seligman von der University of Pennsylvania, der nach jahrzehntelanger psychologischer Forschung zu der Überzeugung gelangt war, sein Fachbereich befinde sich in einer Krise. Zwar konnten er und seinesgleichen Depressionen, Hilflosigkeit und Angstzustände kurieren, doch ihm wurde klar, dass ein Mensch nicht zwangsläufig ein gutes Leben führt, wenn man ihn von seinen Leiden befreit. Deshalb forderte Seligman seine Kollegen im Jahr 1998 auf zu ermitteln, was das Leben zu einem erfüllten und lebenswerten macht.

Die Sozialwissenschaft folgte seinem Ruf, doch viele Wissenschaftler gelangten zu einem sehr naheliegenden und offenbar leicht zu messenden Ergebnis: Glück. Manche Forscher befassten sich mit den Vorzügen des Glücklichseins, andere mit den Ursachen.6 Wiederum andere untersuchten, wie wir erreichen können, im Alltag häufiger glücklich zu sein. Obwohl sich die Positive Psychologie eigentlich ganz allgemein mit einem guten Leben befassen wollte, wurde sie in der Öffentlichkeit schon bald als empirische Glücksforschung wahrgenommen. Gegen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre wurden jedes Jahr mehrere Hundert Studien zum Thema Glücklichsein veröffentlicht; bis 2014 wurden es über 10 000 pro Jahr.7

Die Psychologie erlebte eine spannende Veränderung, auf die die Öffentlichkeit bereitwillig ansprang. Alle wichtigen Medien berichteten über die neuen Forschungsergebnisse8, die schon bald zu Geld gemacht wurden: Unternehmen gründeten Start-ups und programmierten Apps, über die jedermann von den neuen Erkenntnissen profitieren konnte. Eine Flut von Stars, Persönlichkeitstrainern und Motivationsrednern predigte von der Bedeutung des Glücks. Laut Psychology Today9 erschien im Jahr 2000 die überschaubare Anzahl von 50 Büchern zum Thema Glück, 2008 war diese Zahl auf 4000 in die Höhe geschossen. Auch Google-Anfragen lassen erkennen, dass sich das Interesse am Thema Glück seit Mitte der 2000er-Jahre10 verdreifacht hat. In ihrem Bestseller The Secret–Das Geheimnis aus dem Jahr 2006 schreibt die Autorin Rhonda Byrne: »Um alles zu bekommen, was Sie sich vom Leben erhoffen, müssen Sie lediglich glücklich SEIN und sich glücklich FÜHLEN!«11

Dieser Glückswahn birgt jedoch ein Problem: Er kann sein Versprechen nicht einlösen. Obwohl die Glücksindustrie weiterhin floriert, sind wir als Gesellschaft insgesamt unzufriedener als je zuvor.12 Die Sozialwissenschaft hat ein trauriges Paradoxon entdeckt– die Suche nach dem Glück macht unglücklich.13

Wer sich mit der humanistischen Tradition auskennt, dürfte davon nicht überrascht sein. Philosophen bezweifeln seit Langem, dass Glück für sich allein einen hohen Wert hat. »Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Narr14«, schrieb der Philosoph John Stuart Mill im 19. Jahrhundert. Dazu ergänzt der Harvard-Philosoph Robert Nozick: »Obgleich es vielleicht das Allerbeste ist, ein zufriedener Sokrates zu sein, der sowohl Glück als auch Tiefgang hat, würden wir zugunsten des Tiefgangs auf etwas Glück verzichten.«15

Nozick sah das Glück durchaus skeptisch. Seinen Standpunkt verdeutlichte er mit einem Gedankenexperiment. Man solle sich nur einmal vorstellen, so Nozick, man könne in einem Tank leben, der einen »alles erleben lässt, was man möchte«. Das erinnert an den Film Matrix: »Fantastische Neuropsychologen lassen Sie durch Stimulation Ihres Gehirns denken und fühlen, dass Sie einen tollen Roman schreiben, eine neue Freundschaft schließen oder ein interessantes Buch lesen. Dabei würden Sie die ganze Zeit über in einem Tank schweben, während Ihr Gehirn an Elektroden angeschlossen ist.« Dann fragt er weiter: »Würden Sie sich ein Leben lang an diese Maschine anschließen und alle Erfahrungen in Ihrem Leben vorprogrammieren lassen?«

Wäre Glücklichsein wirklich das ultimative Ziel im Leben, würden sich die meisten Menschen für das Glück im Tank entscheiden. Das Leben wäre dort ganz leicht, ohne jegliche Rückschläge, Trauer oder Verluste. Man würde sich immer gut oder auch wichtig fühlen. Ab und an könnte man den Tank verlassen und sich neue Erfahrungen einprogrammieren. Wer sich nicht zu einer Entscheidung durchringen kann oder die Vorstellung von einem Leben im Tank unbehaglich findet, sollte alle Bedenken fallen lassen. Nozick fragt: »Was ist schon das kurze Unbehagen im Vergleich zu einem Leben voller Glückseligkeit (wenn Sie sich dafür entscheiden) und wieso ist Ihnen überhaupt unbehaglich zumute, wenn das doch die beste Entscheidung ist?«

Wenn Sie tatsächlich im Tank leben und rund um die Uhr glücklich sind, führen Sie dann ein gutes Leben? Ist das das Leben, das Sie sich für sich selbst oder Ihre Kinder wünschen? Wenn wir – wie die meisten Menschen– Glück für das Allerwichtigste im Leben halten, dann müsste das Leben in einem solchen Tank doch all unsere Wünsche erfüllen.16

Theoretisch schon. Und dennoch würden die meisten Menschen ein Leben im Glückstank ablehnen. Wieso nur? Laut Nozick schreckt uns ein solches Leben ab, weil das Glück, das wir dort empfänden, leer und nicht verdient wäre– es wäre nicht echt.17 Man mag sich im Tank glücklich fühlen, aber man hat keinen echten Grund, glücklich zu sein. Man mag sich gut fühlen, aber das Leben ist nicht wirklich gut. Ein Mensch, der »im Tank schwimmt«, so Nozick, ist »ein undefiniertes Etwas«. Er hat keine Identität und verliert jedes Bewusstsein für einen tieferen Sinn. Darüber hinaus, erläutert Nozick, widmen wir uns vielen Projekten und Zielen nicht etwa deshalb, weil sie uns glücklich machen, sondern weil wir davon überzeugt sind, dass ihnen ein bestimmter Wert innewohnt. »Uns kommt es nicht nur darauf an, welche Gefühle in uns geweckt werden«, so Nozicks Schlussfolgerung, »Glücklichsein ist nicht das Wichtigste im Leben.«

»Glücklichsein ist nicht das Wichtigste im Leben.«

Vor seinem Tod im Jahr 2002 hatte Nozick mit Martin Seligman und anderen an der Definition der Ziele und der Vision der Positiven Psychologie gearbeitet. Da sie schon früh erkannten, dass die auf Glück ausgerichtete Forschung großen Anklang finden und von den Medien dankbar aufgenommen werden würde, wollten sie eine Entwicklung zur »Glücksforschung« gezielt vermeiden. Vielmehr wollten die Forscher wissenschaftlich beleuchten, wie der Mensch ein erfülltes, zufriedenstellendes Leben führen kann. Und mit genau dieser Frage haben sich in den letzten Jahren immer mehr Wissenschaftler befasst. Auf der Suche nach dem, was das Leben lebenswert macht, hat man über das bloße Glück hinausgeschaut und dabei vor allen Dingen festgestellt, dass es einen Unterschied zwischen einem glücklichen und einem erfüllten Leben gibt.18

Dieser Unterschied ist in der Philosophie nicht neu – dort kennt man seit Tausenden von Jahren zwei Wege zu einem guten Leben.19 Der erste ist hedonia oder das, was wir in der Tradition von Sigmund Freud gemeinhin als Glück bezeichnen.20Die Menschen, so schreibt Freud, »streben nach dem Glück, sie wollen glücklich werden und bleiben«– und dieses »Lustprinzip«, wie er es nennt, ist es, was für die meisten Menschen »den Lebenszweck setzt«. Für den altgriechischen Philosophen Aristipp, einen Schüler des Sokrates, war das Streben nach hedonia der Schlüssel zu einem guten Leben. »Die Kunst zu leben«, schrieb Aristipp, »liegt darin, die an uns vorüberziehenden Freuden zu ergreifen. Die größten Freuden sind nicht die geistigen, und moralisch sind sie auch nicht immer.«21

Etliche Jahrzehnte später vertrat Epikur eine ähnliche Auffassung, indem er argumentierte, ein gutes Leben sei im Genuss zu finden– und Genuss war für ihn ein Zustand ohne körperliche und geistige Beeinträchtigungen, wie zum Beispiel Ängste. Im Mittelalter verlor diese Vorstellung an Bedeutung, wurde jedoch durch Jeremy Bentham, den Begründer des Utilitarismus, im 18. Jahrhundert wieder populärer. Für Bentham war das Streben nach Genuss unsere zentrale Antriebskraft. »Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Kräfte gestellt, Schmerz und Freude«, lautet ein bekanntes Zitat von ihm. »Sie lenken uns in allem, was wir tun, sagen und denken.«22

In dieser Tradition definieren viele moderne Psychologen Glück als positiven geistigen und emotionalen Zustand. Zur Beurteilung des Glücksempfindens sollen Testpersonen bei sozialwissenschaftlichen Studien beispielsweise oft angeben23, wie häufig sie positive Gefühle verspüren wie Stolz, Begeisterung und Achtsamkeit im Vergleich zu negativen wie Angst, Unruhe und Scham. Je größer der Anteil an positiven Gefühlen, desto glücklicher ist die Person.

Dabei sind unsere Gefühle natürlich nicht von Dauer. Zudem sind sie längst nicht alles– das hat das Gedankenexperiment von Nozick gezeigt. Wir mögen vergnügt ein Boulevardblatt lesen, während uns die Betreuung eines kranken Angehörigen belastet– allgemein sind wir uns jedoch einig, dass Letzteres erheblich bedeutsamer ist. Wir fühlen uns bei dieser Tätigkeit zwar nicht unmittelbar gut, doch wenn wir uns davor drückten, würden wir diese Entscheidung später bereuen. Mit anderen Worten: Diese Tätigkeit lohnt sich, weil sie sinnvoll ist.

Sinn ist der andere Weg zu einem guten Leben.

Sinn ist der andere Weg zu einem guten Leben24 und lässt sich am besten verstehen, wenn wir uns das Konzept der eudaimonia, altgriechisch für »Gedeihen des Menschen«, verdeutlichen, das auf den griechischen Philosophen Aristoteles25 zurückgeht. Da sich eudaimonia mit »Glückseligkeit«26 übersetzen lässt, schreibt man Aristoteles häufig die Auffassung zu, Glückseligkeit sei das höchste Gut und oberste Ziel im Leben. Dabei äußerte sich Aristoteles in Wirklichkeit ziemlich kritisch27 über Menschen, die nur nach Vergnügen und »dem Genussleben« streben. Er bezeichnete sie als »sklavisch« und »vulgär«, denn er argumentiert, der Wohlfühlweg zu einem guten Leben, den seiner Ansicht nach die »meisten Menschen« einschlagen, sei eher für Tiere geeignet denn für Menschen.

Eudaimonia ist für Aristoteles kein flüchtiges angenehmes Gefühl, sondern vielmehr eine Tätigkeit. Wer ein Leben der eudaimonia führt, so Aristoteles, muss seine besten moralischen und intellektuellen Eigenschaften kultivieren und seine Fähigkeiten optimal einsetzen.28 Ein solches Leben ist aktiv, ein Leben, in dem man seinem Beruf nachgeht und einen Beitrag zur Gesellschaft leistet, sich in die Gemeinschaft einbringt und vor allen Dingen sein Potenzial ausschöpft, statt die eigenen Talente zu verschleudern.

Diese Unterscheidung des Aristoteles haben etliche Psychologen aufgegriffen.29 Definiert man hedonia als »sich gut fühlen«30, so argumentieren sie, dann bedeutet eudaimonia »gut sein und Gutes tun«31– beziehungsweise das »Bestreben, die eigenen Fähigkeiten optimal zu nutzen und weiterzuentwickeln«32, und zwar in einer Weise, die den eigenen »grundlegenden Prinzipien« entspricht. Drei Forscher drücken es so aus: »Je unmittelbarer ein Mensch darauf abzielt, größtmöglichen Genuss zu empfinden und Schmerzen zu vermeiden, desto wahrscheinlicher ist es, dass er stattdessen ein Leben ohne Tiefgang, Sinn und Gemeinschaftsgefühl führt.«33 Wer jedoch nach einem Sinn strebt, führt letztlich ein erfüllteres– und glücklicheres– Leben.

Natürlich lässt sich das Sinnempfinden kaum im Labor messen. In der Psychologie geht man jedoch davon aus, dass ein Mensch sein Leben dann als sinnvoll beurteilt, wenn drei Bedingungen erfüllt sind: Das Leben ist bedeutungsvoll und lohnend, weil es Teil von etwas Größerem ist; es hat einen Sinn; es gibt eine Bestimmung im Leben.34 Einige Sozialwissenschaftler vertreten die Auffassung35, dass Glück und Sinn ein und dasselbe sind, doch Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass ein bedeutungsvolles Leben nicht einfach mit einem glücklichen Leben gleichgesetzt werden kann.36 Eine Studie aus dem Jahr 2013 zeigte den Unterschied auf: Unter der Leitung von Roy Baumeister von der Florida State University37 befragte ein Forscherteam fast 400Amerikaner im Alter zwischen 18 und 78Jahren, ob sie glücklich seien und ob sie meinten, ihr Leben habe einen Sinn. Die Sozialwissenschaftler werteten die Antworten unter Berücksichtigung von Faktoren wie Stressbelastung, Umgang mit Geld und Familienverhältnisse aus. Dabei stellten sie fest, dass ein sinnvolles und ein glückliches Leben sich zwar in einigen Bereichen überschneiden38 und zum Teil auch gegenseitig bedingen, jedoch »einige grundsätzlich unterschiedliche Wurzeln« aufweisen.

Baumeister und sein Team fanden heraus, dass das glückliche Leben ein einfaches ist, ein Leben, in dem wir uns die meiste Zeit über gut fühlen und nur wenig Stress oder Sorgen empfinden. Zudem geht es meist mit guter körperlicher Gesundheit und der Möglichkeit einher, alles kaufen zu können, was man braucht und möchte. So weit, so erwartungsgemäß. Überraschend war jedoch, dass das Streben nach Glück selbstsüchtig macht– die betreffenden Menschen waren keine »Geber«, sondern »Nehmer«.

»Glück ohne Sinn«, so schreiben die Forscher, »entspricht einem relativ seichten, egozentrischen oder gar selbstsüchtigen Leben, in dem alles gut läuft, Bedürfnisse und Wünsche rasch befriedigt und schwierige oder anstrengende Verwicklungen vermieden werden.«

In den Ergebnissen der Studie ist der Mensch in einem sinnerfüllten Leben ein »Geber«, und dieses Leben ist von Verbundenheit mit und Engagement für etwas charakterisiert, das über das eigene Ich hinausgeht. Typische Merkmale eines sinnerfüllteren Lebens sind beispielsweise Geschenke für andere, die Betreuung von Kindern oder auch Diskussionen– nach Ansicht der Forscher zeigt dies, dass die Betreffenden bestimmte Überzeugungen und Ideale haben, für die sie zu kämpfen bereit sind. Das erfordert Engagement für etwas Größeres, sodass ein sinnerfülltes Leben mehr Sorgen, Stress und Ängste mit sich bringt als ein glückliches Leben. Das Leben mit Kindern beispielsweise wird generell als sinnerfüllt empfunden, ist jedoch bekanntermaßen weniger unbeschwert; dies traf auch auf die Eltern in dieser Studie zu.

Sinn und Glück können sich gelegentlich widersprechen.

Mit anderen Worten: Sinn und Glück können sich gelegentlich widersprechen.39 Die Forschung hat jedoch festgestellt, dass sinnvolle Unterfangen im Laufe der Zeit eine tiefere Form des Wohlbefindens hervorrufen können. So lautete die Schlussfolgerung einer Studie aus dem Jahr 2010, die Veronika Huta von der University of Ottawa und Richard Ryan von der University of Rochester durchführten.40 Sie ließen eine Gruppe Studenten über einen Zeitraum von zehn Tagen entweder nach Sinn oder nach Glück streben; dazu sollten sie täglich mindestens eine Sache tun, die eudaimonia oder hedonia förderte. Nach jedem Tag berichteten die Studienteilnehmer den Forschern, was sie getan hatten. Häufige Antworten der Sinn-Gruppe lauteten, sie hätten einem Freund verziehen, für das Studium gelernt, über die eigenen Wertvorstellungen nachgedacht oder einen anderen Menschen unterstützt oder getröstet. Die Studenten in der Glück-Gruppe dagegen hatten lange ausgeschlafen, Spiele gespielt, eingekauft oder Süßigkeiten gegessen.

Nach Abschluss der Studie sollten die Teilnehmer beschreiben, wie sich das Erlebte auf ihr Befinden ausgewirkt hatte. Dabei stellten die Forscher fest, dass die Studenten in der Glück-Gruppe unmittelbar nach der Studie mehr positive und weniger negative Gefühle erlebt hatten. Drei Monate später war das Stimmungshoch jedoch verflogen. Die zweite Studentengruppe – diejenigen, die sich auf den Sinn konzentriert hatten – war zwar direkt nach dem Experiment nicht so glücklich gewesen, hatte ihr Leben jedoch als sinnvoller empfunden. Drei Monate später bot sich dagegen ein anderes Bild. Die Studenten, die nach Sinn gestrebt hatten, fühlten sich nach eigener Aussage »erfüllter«, »inspiriert« und »als Teil von etwas Größerem«. Zudem gaben sie an, seltener schlecht gelaunt zu sein. Langfristig hatte die Suche nach Sinn also tatsächlich die psychologische Gesundheit gefördert.

Das hätte den Philosophen John Stuart Mill nicht überrascht.41»Glücklich sind nur die«, so schrieb er, »die nach etwas anderem als ihrer eigenen Glückseligkeit streben, nach dem Glück anderer, nach der Verbesserung der Menschheit oder auch nach einer Kunst oder einer Beschäftigung, die nicht als Mittel zum Zweck, sondern als Ideal gilt. Wer so auf etwas anderes abzielt, findet beiläufig zum Glück.«

»Glücklich sind nur die, die nach etwas anderem als ihrer eigenen Glückseligkeit streben.«

John Stuart Mill

Psychologen wie Baumeister und Huta gehören einer wachsenden neuen Bewegung an, die dazu beiträgt, dass sich unsere Vorstellung von einem guten Leben grundlegend wandelt. Ihre Arbeit zeigt, dass die Suche nach einem Sinn weitaus mehr Erfüllung verspricht als das Streben nach persönlichem Glück, und verrät, wie sich dieser Sinn im Leben finden lässt.42 Mit ihren Studien wollen sie große Fragen beantworten: Muss jeder Mensch für sich selbst einen Sinn finden, oder gibt es bestimmte universelle Sinnquellen, aus denen wir alle schöpfen können? Wieso wird das eigene Leben in bestimmten Kulturen und Gemeinschaften häufiger als sinnvoll empfunden als in anderen? Wie wirkt sich ein sinnerfülltes Leben auf unsere Gesundheit aus? Wie erkennen wir im Angesicht des Todes einen Sinn– beziehungsweise ist das überhaupt möglich?

In dieser Forschung spiegelt sich eine Veränderung, die sich in unserer Kultur allgemein feststellen lässt. Im ganzen Land, ja, auf der ganzen Welt nehmen Lehrende, Wirtschaftsgrößen, Ärzte, Politiker und ganz normale Menschen allmählich Abschied vom Evangelium des Glücks und wenden sich der Suche nach einem Sinn zu. Mit solchen Menschen nahm ich Kontakt auf, als ich mich eingehender mit der psychologischen Forschung befasste.

Meine Gespräche mit Forschern und die Geschichten von Menschen, die Sinn suchten und fanden, erinnerten mich immer wieder an die Sufis, die mich überhaupt erst in diese Richtung gelenkt hatten.

Jeden Donnerstag und Sonntag kam abends eine Gruppe Suchender in einem großen Raum meines Elternhauses mitten in Montreal zusammen, das als Sufi-Versammlungsstätte diente. Sufismus ist die mystische Strömung des Islam, und meine Familie gehörte dem Sufi-Orden Nimatullahi an, der im 14. Jahrhundert in Iran entstand und heutzutage auf der ganzen Welt Versammlungsstätten betreibt. Zweimal pro Woche saßen die Darwische43 – die Ordensmitglieder – auf dem Boden und meditierten mehrere Stunden lang. Mit geschlossenen Augen, das Kinn auf die Brust gesenkt, wiederholten sie bei traditioneller iranischer Sufi-Musik stumm einen Namen oder eine Eigenschaft Gottes.

Als Kind fand ich das Leben im Sufi-Versammlungshaus bezaubernd. Unsere Wände zierten Plastiken mit arabischen Schriftzeichen, die mein Vater aus Holz schnitzte. Ständig wurde Tee aufgebrüht, sodass stets der Duft von Bergamotte in der Luft lag. Nach der Meditation tranken die Sufis den Tee, den meine Mutter mit Datteln oder iranischen Süßigkeiten aus Rosenwasser, Safran, Kardamom und Honig anbot. Manchmal übernahm auch ich das Servieren und kniete dann mit dem Tablett voller Gläser, Untertassen und Würfelzucker vorsichtig vor jedem Darwisch nieder.

Die Darwische tauchten gerne einen Zuckerwürfel in den Tee, steckten ihn dann in den Mund und sogen das heiße Getränk durch das Zuckerstückchen. Sie sangen oft Gedichte der Sufi-Weisen und Heiligen aus dem Mittelalter, zum Beispiel von Rumi44: »Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt, weint alle Welt bei meinen Tönen mit«, oder von Attar45: »Da die Liebe in deiner Seele gesprochen hat«, schreibt er über den Suchenden, »lass das Selbst fahren, diesen Strudel, der unser Leben vernichtet.« Auch saßen sie gerne schweigend beieinander, genossen die Gemeinschaft und waren in stiller Andacht bei Gott.

Den Darwischen galt der Sufismus als »Pfad der Liebe«.46 Wer diesen Pfad einschlug, war auf dem Weg zu Gott, dem Geliebten, der verlangt, das Selbst aufzugeben und ständig und ohne Unterlass an Gott zu denken und ihn zu lieben. Gott zu lieben und zu ehren bedeutete für die Sufis, die gesamte Schöpfung und alle Menschen, die Teil dieser Schöpfung sind, zu lieben und zu ehren. Mohabbat oder Barmherzigkeit ist ein zentrales Element ihres Glaubens.

Als wir in unser neues Heim in Montreal einzogen, kamen Sufis aus ganz Nordamerika für mehrere Tage, um meinen Eltern dabei zu helfen, das Stadthaus, das früher eine Rechtsanwaltskanzlei beherbergt hatte, für die regelmäßigen Meditationstreffen majlis umzubauen. Einmal klopfte ein Obdachloser, der auf etwas zu essen und ein Nachtlager hoffte, an unsere Tür und wurde freundlich hereingebeten. Und als mein Vater den Schal eines anderen Darwischs bewunderte, schenkte der Darwisch meinem Vater diesen Schal nur zu gerne. (Danach äußerte man sich in meiner Familie nur noch äußerst vorsichtig über das Eigentum anderer Menschen!)

Zu besonderen Anlässen, zum Beispiel, wenn ein Scheich zu Besuch war oder ein neuer Darwisch in den Orden aufgenommen wurde, übernachteten Sufis aus Kanada und den USA mehrere Tage lang im Versammlungshaus; sie schliefen auf dünnen Matten im Meditationsraum oder in der Bibliothek – im Grunde überall, wo ein freies Fleckchen zu finden war. Nachts war lautes Schnarchen zu hören, tagsüber hieß es vor dem Badezimmer Schlange stehen, doch das schien niemanden zu stören. Die Darwische waren voller Freude und Wärme. An solchen Wochenenden wurde viele Stunden meditiert, doch man spielte auch traditionelle Sufi-Musik auf persischen Instrumenten wie der daf, einer Rahmentrommel, oder dem Saiteninstrument tar und sang dazu Sufi-Lyrik. Ich saß dann auf dem abgewetzten Perserteppich und lauschte, tauchte genau wie die Darwische Zuckerwürfel in meinen Tee – und versuchte, genauso zu meditieren wie sie.

Das Leben der Sufis war zudem von förmlichen Ritualen bestimmt. Die Darwische begrüßten einander mit den Worten ya haqq, »die Wahrheit«, und einem speziellen Handschlag, bei dem man die Hände herzförmig zusammenlegte und dieses Herz dann küsste. Beim Betreten oder Verlassen des Meditationsraums »küssten« sie den Boden, indem sie ihn mit den Fingern berührten und diese dann an die Lippen führten. Wenn meine Mutter gemeinsam mit anderen Sufis iranische Speisen zubereitete, aßen die Darwische auf dem Boden, rund um ein darauf ausgebreitetes Tischtuch. Ich half dabei, die Plätze vorzubereiten, und wartete dann mit meinen Eltern, bis sich die anderen Darwische hingesetzt hatten, bevor wir uns selbst niederließen. Die Sufis aßen schweigend. In der Regel sprach niemand, bevor der Scheich das Wort ergriff – und es galt, dass jeder seine Mahlzeit vor dem Scheich beendet haben sollte, damit er nicht warten musste. (Allerdings aß der Scheich oft bewusst langsam, um die Nachzügler nicht in Bedrängnis zu bringen.) Diese demütigen Rituale waren den Sufis sehr wichtig und halfen ihnen, das Selbst zu überwinden, das nach der Sufi-Lehre der Liebe im Weg steht.

Diese Lebensweise gefiel den Darwischen, von denen viele aus Iran und anderen unfreien Gesellschaften nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten gezogen waren. Für manche Muslime sind Sufis mystische Ketzer, im Nahen Osten werden sie verfolgt. Doch obwohl viele der Sufis, die ich kannte, ein schweres Schicksal hinter sich hatten, blickten sie stets nach vorn. Ihre streng spirituelle Lebensweise, bei der Selbstaufgabe, Dienstfertigkeit und Mitgefühl wichtiger waren als persönlicher Gewinn, Bequemlichkeit und Vergnügen, gab ihnen Zuversicht – sie sorgte dafür, dass sie ihr Leben als sinnvoll empfanden.

Diese Menschen, für die der Sinn an höchster Stelle stand, lebten zumeist sehr bescheiden. Nicht allen fiel es leicht, ein sinnerfülltes Leben zu führen, und dennoch bestand ihr Hauptziel darin, die Welt für andere besser zu machen. Ein großer Sufi hat einmal gesagt: Selbst wenn ein Darwisch nur den ersten Schritt auf dem Weg zur Barmherzigkeit tut und dann nicht weitergeht, hat er sich für andere aufgeopfert und damit etwas für die Menschheit getan. Und das gilt auch für jeden, dem es wichtig ist, ein sinnvolles Leben zu führen. Diese Menschen verändern die Welt im Großen und im Kleinen, indem sie hehre Ziele und Ideale verfolgen.

Diese Menschen verändern die Welt im Großen und im Kleinen, indem sie hehre Ziele und Ideale verfolgen.

Genau wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse uns zurück zu den alten Weisheiten der Geisteswissenschaften geführt haben, hat die Arbeit an diesem Buch bestätigt, was ich schon als Kind im Sufi-Haus wusste. Nach außen hin waren die Darwische ganz normale Rechtsanwälte, Bauarbeiter, Techniker und Eltern, doch ihre innere Einstellung verlieh allem, was sie taten, eine tiefere Bedeutung – ob sie nach einem Festmahl beim Aufräumen halfen oder die Gedichte von Rumi und Attar sangen und deren Weisheiten befolgten. Für die Darwische kam es nicht infrage, nach persönlichem Glück zu streben. Sie waren stets bemüht, sich für andere einzusetzen, damit andere sich glücklicher und besser fühlten, und eine Verbindung zu etwas Größerem herzustellen. Sie gestalteten Existenzen, die Bedeutung hatten. Damit bleibt für uns andere nur eine Frage offen: Wie kann uns das ebenfalls gelingen?

1.

Die Sinnkrise

An einem Herbsttag im Jahr 1930 fegte der Historiker und Philosoph Will Durant im Hof seines Hauses in Lake Hill, New York, gerade Laub, als ein gut gekleideter Mann auf ihn zukam.1Der Mann verkündete Durant, er werde sich das Leben nehmen, es sei denn, der bekannte Philosoph könne ihm »einen guten Grund« zum Weiterleben nennen.

Entsetzt wollte Durant eine aufmunternde Antwort formulieren – doch ihm fiel nichts Gutes ein: »Ich empfahl ihm, sich einen Job zu suchen, doch er hatte schon einen; er solle sich ein schönes Essen gönnen, doch er hatte keinen Hunger. Er ging wieder, ohne dass ihn meine Argumente überzeugen konnten.«

Durant, ein Schriftsteller und Intellektueller, der 1981 im Alter von 96 Jahren verstarb, ist besonders für seine Bücher bekannt, die der breiten Öffentlichkeit philosophische und historische Themen vermitteln. Das 1926 veröffentlichte Werk Die großen Denker wurde ein Bestseller, und seine mehrbändige Kulturgeschichte der Menschheit, die er über einen Zeitraum von 40 Jahren gemeinsam mit seiner Frau Ariel Durant verfasste, wurde für den Band Rousseau und die Französische Revolution mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Durant war äußerst vielseitig interessiert und schrieb über Literatur, Religion und Politik. 1977 erhielt er die Presidential Medal of Freedom, eine der höchsten Auszeichnungen, die die US-Regierung an Zivilisten vergibt.

Durant wurde katholisch erzogen, besuchte eine jesuitische Akademie und wollte eigentlich Priester werden. Als Student jedoch entwickelte er sich zum Atheisten, nachdem er die Werke von Charles Darwin und Herbert Spencer gelesen hatte und deren Ideen seine »ererbte Theologie« zum »Schmelzen« brachten. Nach dem Verlust seiner religiösen Überzeugung grübelte er viele Jahre lang über die Frage nach einem Sinn nach, fand jedoch nie eine befriedigende Antwort. Als Agnostiker und empirisch ausgerichteter Philosoph musste Durant schließlich einräumen, dass er sich nicht erklären konnte, weshalb Menschen selbst dann weiterleben, wenn sie vollkommen verzweifelt sind. Der große Gelehrte seiner Zeit hatte keine überzeugende Antwort für den Lebensmüden, der ihn 1930 aufsuchte – im Jahr nach dem Börsencrash, der die Große Depression verursacht hatte.

Weshalb leben Menschen selbst dann weiter, wenn sie vollkommen verzweifelt sind?

Deshalb beschloss Durant, an die größten Koryphäen aus Literatur, Philosophie und Wissenschaft zu schreiben, von Mohandas Gandhi und Mary E. Woolley über H. L. Mencken bis zu Edwin Arlington Robinson, und sie zu fragen, wie sie in diesen unruhigen Zeiten im Leben Sinn und Erfüllung fanden. »Dürfte ich Sie bitten, Ihre Arbeit einen Augenblick lang zu unterbrechen«, so beginnt Durant seinen Brief, »und sich auf ein philosophisches Spiel einzulassen? Ich befasse mich gerade mit einer Frage, die sich unsere Generation offenbar allzu gerne stellt – vielleicht bereitwilliger als jede vor ihr – und doch nicht beantworten kann: Welchen Sinn oder Wert hat das menschliche Leben?« Die Antworten trug er in dem Buch On the Meaning of Life zusammen, das 1932 erschien.

Durant untersucht, weshalb so viele seiner Zeitgenossen das Gefühl hatten, in einem existenziellen Vakuum zu leben. Schließlich hatte die Menschheit seit Jahrtausenden an die Existenz eines transzendenten, übernatürlichen Reichs geglaubt, das von Göttern und Geistern bevölkert wird und jenseits der wahrnehmbaren Welt der täglichen Erfahrung liegt. Menschen nahmen regelmäßig dieses spirituelle Reich, das der Alltagswelt einen Sinn verlieh, wahr. Die moderne Philosophie und Naturwissenschaft jedoch, so argumentierte Durant, habe gezeigt, dass der Glaube an eine solche Welt – eine Welt, die man nicht sehen oder anfassen kann – bestenfalls naiv und schlimmstenfalls abergläubisch sei. Damit sei eine weitgehende Entzauberung eingetreten.

In seinem Brief erläutert er, wieso der Verlust dieser traditionellen Sinnquellen so tragisch ist. »Astronomen haben uns erklärt, dass das menschliche Dasein nur einen Bruchteil des Weges währt, den ein Stern zurücklegt«, schreibt Durant, »von Geologen wissen wir, dass die Zivilisation nur ein prekäres Zwischenspiel zwischen zwei Eiszeiten darstellt, die Biologen haben uns gelehrt, dass das Leben immer Krieg ist, ein Existenzkampf unter Individuen, Gruppen, Nationen, Verbündeten und Spezies, Historiker erläutern, dass ›Fortschritt‹ nur eine Illusion ist, die unweigerlich zum Niedergang führt, während die Psychologen uns vermitteln, dass Wille und Ich hilflose Werkzeuge der Vererbung und Umwelt sind und die einst so unbestechliche Seele nur ein flüchtiges Flackern des Gehirns.« Derweil seien Philosophen, die meist durch logische Schlussfolgerungen zur Wahrheit gelangen, zu der Erkenntnis gekommen, das Leben sei ohne Bedeutung: »In dieser totalen Perspektive der Philosophie ist das Leben ein krampfhaftes Sprießen menschlicher Insekten auf der Erde, ein Ekzem des Planeten, das vielleicht bald schon geheilt sein wird.«

In seinem Buch berichtet Durant von einem Polizeibeamten, der einen Selbstmörder daran hindern wollte, von einer Brücke zu springen. Die beiden unterhielten sich eine Weile und stürzten sich schließlich gemeinsam in die Tiefe. »So weit haben uns Naturwissenschaft und Philosophie gebracht«, meint Durant. Von seinen Briefen an die Geistesgrößen erhoffte er sich eine Antwort auf den Nihilismus seiner Zeit – eine Antwort für den niedergeschlagenen Fremden, der ihn sprachlos gemacht hatte. Durant bat um Antwort auf die Frage, was das Leben lebenswert macht – was den Menschen antreibt, inspiriert und mit Energie, Hoffnung und Trost erfüllt.

Hat das Leben einen Sinn?

Durants Fragen sind heute wichtiger als je zuvor. Hoffnungslosigkeit und Unglück sind nicht nur auf dem Vormarsch, sondern haben sich förmlich zu einer Epidemie entwickelt. In den Vereinigten Staaten ist der Anteil der Menschen, die an Depressionen leiden, seit 1960 dramatisch angestiegen2, und zwischen 1988 und 2008 hat sich der Verbrauch an Antidepressiva um 400Prozent erhöht.3 Diese Zahlen lassen sich nicht einfach auf eine bessere medizinische Versorgung zurückführen. Laut Weltgesundheitsorganisation4 sind die Selbstmordraten seit dem Zweiten Weltkrieg weltweit um 60Prozent in die Höhe geschossen. Manche Bevölkerungsgruppen sind besonders gefährdet: So hat sich in den Vereinigten Staaten der Anteil der 15- bis 24-Jährigen, die sich das Leben nehmen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdreifacht.5 2016 erreichte die Selbstmordrate in der Gesamtbevölkerung den höchsten Wert seit 30Jahren6, und bei Erwachsenen mittleren Alters ist sie seit 1999 um über 40Prozent gestiegen. Jahr für Jahr begehen 40 000 Amerikaner Selbstmord7, und weltweit liegt diese Zahl bei etwa einer Million8.

Was ist nur los?

Eine Studie von Shigehiro Oishi von der University of Virginia und Ed Diener vom Gallup-Institut aus dem Jahr 2014 liefert eine Antwort auf diese Frage.9 Obwohl die Studie die enorme Anzahl von fast 140 000 Teilnehmern aus 132 Ländern der Welt involvierte, war sie ziemlich einfach gehalten. Einige Jahre zuvor hatten Forscher vom Gallup-Institut diese Menschen gefragt, ob sie mit ihrem Leben zufrieden seien und ob sie den Eindruck hätten, ihr Leben diene einem wichtigen Zweck oder habe einen Sinn. Oishi und Diener analysierten die Daten nach Ländern und verglichen das genannte Maß an Glück und Sinn mit Variablen wie Wohlstand, Selbstmordraten und anderen sozialen Faktoren.

Dabei kamen überraschende Erkenntnisse zutage. Menschen in eher wohlhabenden Regionen wie Skandinavien waren nach eigenen Angaben glücklicher als die Bewohner ärmerer Länder, zum Beispiel im südlichen Afrika. In Sachen Sinn bot sich jedoch ein ganz anderes Bild. Besonders schlechte Sinn-Werte gab es in wohlhabenden Teilen der Welt, beispielsweise in Frankreich und Hongkong, während sie in den armen Nationen Togo und Niger außergewöhnlich hoch waren– dabei waren die Einwohner dieser Länder laut der Studie besonders unglücklich. Auch die Ergebnisse zu den Selbstmordraten waren beunruhigend. Wohlhabende Nationen, so stellte sich heraus, wiesen deutlich höhere Selbstmordraten auf als die ärmeren. So nehmen sich beispielsweise in Japan, einem Land mit einem Bruttoinlandsprodukt von 34 000 US-Dollar pro Kopf, mehr als doppelt so viele Menschen das Leben als in Sierra Leone, wo das Bruttoinlandsprodukt bei 400US-Dollar pro Kopf liegt.10 Auf den ersten Blick erscheint dies unerklärlich. Menschen in wohlhabenden Ländern sind in der Regel glücklicher, und im Vergleich zu Ländern wie Sierra Leone, das von endemischen Krankheiten, schlimmer Armut und den Folgen eines verheerenden Bürgerkriegs geplagt wird, sind die Lebensumstände dort geradezu paradiesisch. Wieso also sollten sie sich umbringen?

Den seltsamen Zusammenhang zwischen Glück und Suizid haben auch andere Forschungen bestätigt.11 Glückliche Länder wie Dänemark oder Finnland weisen ebenfalls hohe Selbstmordraten auf. Manche Sozialwissenschaftler meinen, es sei eben besonders belastend, in einem Land unglücklich zu sein, in dem so viele andere glücklich sind– andere wiederum gehen davon aus, das Glücksempfinden sei in diesen Ländern deshalb besonders hoch, weil die Unglücklichsten sich selbst aus der Statistik streichen.

Die Studie von Oishi und Diener legt jedoch eine andere Erklärung nahe. Als sie sich eingehend mit den Zahlen befassten, entdeckten sie einen auffälligen Trend: Glück und Unglück ließen keinen Rückschluss auf die Selbstmordgefahr zu. Dieses Risiko wurde durch die Variable Sinn bestimmt– oder vielmehr durch das Fehlen von Sinn. Die Länder mit der geringsten Sinn-Quote, wie Japan, hatten auch die höchsten Selbstmordraten.

Viele Menschen dort haben mit dem gleichen Problem zu tun, das auch den lebensmüden Mann umtrieb, der vor 80Jahren von Durant einen Grund fürs Weiterleben hören wollte. Obwohl seine Lebensumstände allgemein gut waren, hielt er das Leben dennoch für nicht lebenswert. Heutzutage gibt es Millionen von Menschen, die diese Auffassung teilen. Vier von zehn Amerikanern haben kein Lebensziel gefunden, das sie zufriedenstellt.12 Und fast ein Viertel aller Amerikaner– etwa 100Millionen Menschen– hat nicht den Eindruck, das eigene Leben sei besonders sinnvoll.

Wie können Menschen in modernen Gesellschaften Erfüllung finden?

Die Lösung für dieses Problem kann natürlich nicht darin bestehen, den Lebensstandard in den Vereinigten Staaten demjenigen in Sierra Leone anzupassen. Auch wenn der moderne Fortschritt dem Leben seinen Sinn nehmen kann, hat er zweifellos deutliche Vorteile. Aber wie können Menschen in modernen Gesellschaften Erfüllung finden? Wenn wir die Kluft zwischen einem bedeutungsvollen Leben und einem modernen Leben nicht überwinden können, wird dieser Zwiespalt weiterhin einen hohen Preis fordern. Der Religionswissenschaftler Huston Smith schrieb: »Jeder Mensch fragt sich von Zeit zu Zeit, ob das Leben sich lohnt, und damit fragt er sich im Prinzip, ob es sinnvoll ist, das Leben fortzusetzen, wenn es hart auf hart kommt. Wer zu dem Schluss gelangt, es lohne sich nicht, gibt auf; wenn auch nicht radikal durch Selbstmord, so doch Stück für Stück, indem er täglich kapituliert angesichts der schleichenden Trostlosigkeit der vergehenden Jahre«13– mit anderen Worten, indem er der Niedergeschlagenheit, dem Überdruss und der Verzweiflung das Feld überlässt.

Tolstois späte Erkenntnis

So erging es dem berühmten russischen Schriftsteller Leo Tolstoi.14 In den 1870er-Jahren, als er etwa 50Jahre alt war, stürzte Tolstoi in eine so schwere existenzielle Depression, dass er ständig den Drang verspürte, sich das Leben zu nehmen. Er war überzeugt davon, sein Leben sei vollkommen bedeutungslos, und diese Vorstellung erfüllte ihn mit Entsetzen.

Nach außen hin mag die Depression des Schriftstellers unverständlich gewirkt haben. Tolstoi, ein Adeliger, hatte alles: Er war vermögend, berühmt, verheiratet und hatte mehrere Kinder, und seine beiden Meisterwerke, Krieg und Frieden (1869) sowie Anna Karenina (1878) hatten jeweils großen Anklang gefunden. Man schätzte ihn weltweit als einen der größten Schriftsteller seiner Zeit, und Tolstoi konnte sich sicher sein, dass seine Werke bald als Klassiker der Weltliteratur gelten würden.

Die meisten Menschen wären schon mit weitaus weniger zufrieden. Doch auf dem Gipfel seines Ruhms kam Tolstoi zu dem Schluss, dass diese Errungenschaften nur die Fallstricke eines bedeutungslosen Lebens darstellten – sie bedeuteten ihm also rein gar nichts.

1879 begann der verzweifelte Tolstoi mit der Arbeit an Meine Beichte, einem autobiografischen Bericht über seine spirituelle Krise. Zu Beginn von Meine Beichte zeichnet er auf, wie er als Student und später als Soldat ein zügelloses Leben führte. »Lüge, Raub, Wollust, Trunksucht, Gewalt, Mord – es gibt kein Verbrechen, das ich nicht begangen hätte«, schreibt er, wohl etwas überspitzt15, »und für all das wurde ich geehrt und von meinen Zeitgenossen als verhältnismäßig moralisch angesehen.« In dieser Phase seines Lebens begann Tolstoi mit dem Schreiben, nach eigener Aussage motiviert durch »Eitelkeit, Geiz und Stolz«– durch den Wunsch, reich und berühmt zu werden.

Schon bald schloss er sich den literarischen und intellektuellen Kreisen in Russland und Europa an, die quasi eine säkulare Gemeinde bildeten, die dem Fortschrittsgedanken huldigte. Auch Tolstoi teilte diese Überzeugung. Doch dann offenbarten ihm zwei dramatische Erfahrungen, wie oberflächlich der Glaube an die Perfektionierbarkeit von Mensch und Gesellschaft war. Zum einen erlebte er 1857 in Paris, wie ein Mann mit der Guillotine hingerichtet wurde. »Als ich sah, wie der Kopf vom Leib getrennt wurde, und hörte, wie beide Teile in der Kiste aufschlugen«, so schreibt er, »wurde mir klar, nicht mit meinem Intellekt, sondern mit meinem ganzen Selbst, dass eine solche Tat durch keine Theorie der Rationalität des Seins oder des Fortschritts zu rechtfertigen ist.« Das zweite Ereignis war der sinnlose Tod seines Bruders Nikolai, der an der Tuberkulose starb. »Er litt fast ein Jahr lang«, so Tolstoi, »und starb einen qualvollen Tod, ohne überhaupt zu begreifen, weshalb er gelebt hatte, oder gar zu erfassen, weshalb er sterben musste.«

Diese Erlebnisse erschütterten Tolstoi, konnten ihn jedoch nicht aus der Bahn werfen. 1862 heiratete er, und das Familienleben lenkte ihn ebenso von seinen Zweifeln ab wie die Arbeit an Krieg und Frieden, mit der er kurz nach seiner Hochzeit begann.

Die Frage, was dem Leben Sinn verleiht, hatte Tolstoi schon immer interessiert, und dieses Thema zieht sich durch sein Werk. Levin, der gemeinhin als Tolstois Alter Ego gilt, hat in Anna Karenina mit eben diesem Problem zu kämpfen. Schließlich kommt er zu dem Schluss, dass sein Leben nicht sinnlos ist: »Mein Leben, mein ganzes Leben, wie auch immer es sich äußerlich gestalten mag, jeder Augenblick meines Lebens wird jetzt nicht zwecklos sein wie bisher, sondern zu seinem alleinigen, bestimmten Zweck das Gute haben. Denn das liegt jetzt in meiner Macht: meinem Leben die Richtung auf das Gute zu geben!«

Doch schon bald nach der Vollendung von Anna Karenina vertrat Tolstoi eine düsterere Sichtweise. Die Frage nach dem Sinn legte einen Schatten über alles, was er tat. Eine Stimme in seinem Kopf stellte Fragen: Warum? Warum bin ich hier? Welchen Zweck hat all das, was ich tue? Weshalb existiere ich? Und im Laufe der Jahre wurde diese Stimme lauter und hartnäckiger: »Bevor ich mich mit meinem Besitztum in Samara, mit der Erziehung meines Sohnes, mit der Abfassung von Büchern beschäftigte«, schreibt er in Meine Beichte, »müsste ich wissen, wozu ich das tue.« An anderer Stelle in Meine Beichte formuliert er die Frage mit anderen Worten: »Was wird das Ergebnis sein von dem, was ich heute tue, was ich morgen tun werde – was wird das Ergebnis meines ganzen Lebens sein? … Wozu lebe ich? Wozu begehre ich? Wozu handle ich? Oder, anders ausgedrückt: Ist in meinem Leben ein Sinn, der nicht zunichte würde durch den unvermeidlichen, meiner harrenden Tod?« Da er das »Warum« seiner Existenz nicht beantworten konnte, kam er zu dem Schluss, sein Leben sei bedeutungslos.

»Was hat der Mensch für Gewinn von aller seiner Mühe, die er unter der Sonne hat?«

Leo Tolstoi

»Nun gut«, schreibt er, »du wirst berühmter sein als Gogol, als Puschkin, als Shakespeare, als Molière, als alle Schriftsteller der Welt – nun, und dann!« Tolstoi fühlte sich wie der Prophet im Buch Kohelet: »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von aller seiner Mühe, die er unter der Sonne hat? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt ewiglich.« Die einzige Wahrheit, derer wir uns ganz sicher sein können, so meinte Tolstoi, ist, dass das Leben mit dem Tod endet und von Leid und Sorge gekennzeichnet ist. Wir und alles, das uns wichtig ist – unsere Liebsten, unsere Errungenschaften, unsere Identitäten – werden irgendwann vergehen.

Tolstoi hat letztlich einen Weg aus dem Nihilismus gefunden. Er suchte nach Menschen, die mit ihrem Leben im Reinen waren, um zu erfahren, wo sie einen Sinn sahen. Die meisten Menschen in seinem Umfeld – Aristokraten und die literarische Elite – führten ein oberflächliches Leben und hatten dessen Sinn nicht erkannt, so argumentierte Tolstoi. Deshalb verließ er sein eigenes soziales Umfeld und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass viele Millionen ganz normaler Menschen offenbar die Lösung für das Problem kannten, das ihn verzehrte. Diese »einfachen Leute«, wie Tolstoi sie nannte, die ungebildeten Bauern, fanden den Sinn im Glauben – dem Glauben an Gott und an die Lehren des Christentums.

An der Universität war Tolstoi einst vom Glauben abgefallen, doch seine Sinnsuche führte ihn wieder zurück zur Religion. Aus Neugier, weshalb der Glaube den Bauern so unersetzlich war, studierte er verschiedene religiöse und spirituelle Traditionen, darunter auch den Islam und den Buddhismus. Während dieser spirituellen Reisen entwickelte er sich zum praktizierenden Christen. Zunächst wandte er sich der russisch-orthodoxen Kirche zu, der er von Geburt an angehört hatte, löste sich später jedoch von ihr und lebte nach seiner eigenen knappen Version des Christentums, die sich darauf konzentrierte, die Lehren Christi aus der Bergpredigt zu befolgen.

»Jede Antwort des Glaubens verleiht dem endlichen Dasein des Menschen den Sinn des Unendlichen.«

Leo Tolstoi

Tolstois Definition des Glaubens ist sehr vage: Dieser ist für ihn das vollkommen irrationale »Wissen um den Sinn des menschlichen Lebens«. Er ist jedoch davon überzeugt, der Glaube verbinde das Individuum mit etwas Größerem oder gar »Unendlichem«, das jenseits des Ichs liegt. »Welche Antworten auch der Glaube geben mag«, so schreibt er, »jede Antwort des Glaubens verleiht dem endlichen Dasein des Menschen den Sinn des Unendlichen – einen Sinn, der nicht durch Leiden, nicht durch Entbehrungen, nicht durch den Tod vernichtet wird.« Auch wenn Tolstoi nicht an die Wunder oder Sakramente der Kirche glaubte, fand er einen Sinn in »einem Leben, wie es von Gott gewollt war«, wie es einer seiner Biografen beschrieb – für Tolstoi bedeutete das, sich wie Christus für andere aufzuopfern, insbesondere für die Armen.

Mit der Fertigstellung von Meine Beichte war Tolstois Suche nach einem Sinn noch nicht vorbei; die Sinnfrage bestimmte die letzten Jahrzehnte seines Lebens. Er lebte nun ein einfaches Leben, verzichtete auf Alkohol und Fleisch, legte den Adelstitel »Graf« ab und lernte das Schuhmacherhandwerk, da er handwerkliche Arbeit für besonders tugendhaft hielt. Er verwandte viel Zeit darauf, die Not der Bauern in seiner Gemeinde zu lindern, und versuchte sogar, seinen gesamten Besitz an die Armen zu verschenken (diesen Plan lehnte seine Frau jedoch vehement ab). Zudem vertrat er fortschrittliche Ideen wie die Abschaffung von Privatbesitz, Pazifismus und die Doktrin vom Verzicht auf Widerstand gegen das Böse. Mit diesen Überzeugungen zog Tolstoi eine Gruppe von Schülern an, die seine Lehren wie die eines Gurus befolgten.