Die Waliserin - Jane Watt - E-Book

Die Waliserin E-Book

Jane Watt

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine mutige Frau kämpft gegen die Fesseln ihrer Zeit. Südwales im 12. Jahrhundert: Susanna ist fassungslos, als sie ihre Mutter ohne ein Wort des Abschieds davonreiten sieht. Drei Kinder lässt die adelige Witwe zurück, um zum Feind überzulaufen. Die Geschwister schließen sich umso enger zusammen – und Susanna schwört sich, ihre Familie niemals derart zu verraten. Doch durch die Begegnung mit dem jungen Lord Owain wird ihre Treue auf die Probe gestellt: Ähnelt sie am Ende ihrer Mutter doch mehr, als ihr lieb ist?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 784

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Jane Watt

Die Waliserin

Aus dem Englischen von Silvia Kinkel

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine mutige Frau kämpft gegen die Fesseln ihrer Zeit.

 

Südwales im 12. Jahrhundert: Susanna ist fassungslos, als sie ihre Mutter ohne ein Wort des Abschieds davonreiten sieht. Drei Kinder lässt die adelige Witwe zurück, um zum Feind überzulaufen. Die Geschwister schließen sich umso enger zusammen – und Susanna schwört sich, ihre Familie niemals derart zu verraten. Doch durch die Begegnung mit dem jungen Lord Owain wird ihre Treue auf die Probe gestellt: Ähnelt sie am Ende ihrer Mutter doch mehr, als ihr lieb ist?

Über Jane Watt

Jane Watt wurde in Usk, Südwales, geboren. Heute lebt sie mit ihrem Mann John im neuseeländischen Auckland. Nach dem Bestseller «Die Herrin von Llyn» ist der vorliegende Band ihr zweiter Roman.

Inhaltsübersicht

PersonenlistePrologTeil EinsKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfTeil ZweiKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel NeunTeil DreiKapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnDanksagung[Bildteil]

Personenliste

Südostwales war in drei Herrschaftsgebiete unterteilt: Morgannwg, Gwynllwg und Senghennydd. Die von den Normannen besetzten Gebiete lagen im angrenzenden Tiefland.

MORGANNWG

Iestyn ap Gwrgant – Prinz von Morgannwg

 

Rhidri – hoher Lord und Iestyns persönlicher Ratgeber

Gwenllian – seine Gemahlin

Crystin – ihre Tochter

Maredudd, Llywelin – ihre Söhne

 

Idwal – Rhodris Neffe

Susanna, Gorffenna – Rhodris Nichten

 

GWYNLLWG

Urien ap Caradog («Urien Wan») – Prinz von Gwynnlwg

Morgan, Iowerth – seine Söhne

 

SENGHENNYDD

Cydifor – verstorbener hoher Lord von Senghennydd, Iestyns Schwager

Meurig – Cydifors Sohn, künftiger Herrscher von Senghennydd

 

NORMANNISCHES TERRITORIUM

Roger – normannischer Ritter

Gwladys – seine Gemahlin, Idwals, Susannas und Gorffennas Mutter

Geoffrey, Hawise, Eleanor – ihre Kinder

Anmerkungen zur Aussprache im Walisischen

C:

wie ein K (z.B. Caradog – Karadog)

DD:

wie weiches TH in engl. the (Maredudd – Maredith, Senghennydd – Senghennith, Gruffudd – Griffith)

F:

wie ein W (z.B. Ifor – Iwor)

Doppel-F:

wie ein F (z.B. Ffenna – Fenna)

IE:

gesprochen wie JE (Iestyn – Jestin)

LL:

wie HL oder CHL (Llywelyn – Hlewelin)

RH:

stark gerollt, RH wie HR (Rhodri – Hrodri)

U:

wie i (z.B. Gruffudd – Griffith)

W:

wie ein kurzer oder langer O/U-Vokal (z.B. Cadwgan – Caduhgan), als Konsonant bleibt das W als W bestehen (z.B. Gwilym – Gwilim); bei Gwladys: stumm wie beim englischen Gladys

Y:

langes oder kurzes I (z.B. Bryn y Ffin – Brin i Finn)

Prolog

September 1100. Am Hofe Lord Iestyns, Morgannwg

Gwladys betrachtete die aus dem Burghof unter ihr aufsteigenden Staubwolken, während die letzten von Lord Iestyns Gästen hereingeritten kamen und den Weg zur Halle einschlugen. Seufzend wandte sie sich vom Fenster ab. Nun war es an der Zeit, Abschied zu nehmen. Aber als Gwladys’ Blick auf ihre drei Kinder fiel, die drüben in ihrem Zimmer glücklich und zufrieden spielten, musste sie schlucken. Susanna und Idwal hockten wie immer zusammen. Idwals braunes Haar verschwand förmlich hinter Susannas schwarzer Mähne. Mit ihren sechs Jahren hatte sie bereits so langes und volles Haar, dass sie sich und ihren Bruder problemlos darin einhüllen konnte. Die beiden kicherten verschwörerisch, und Susanna neigte den Kopf zur Seite und sah ihren Bruder auf eine Weise an, mit der sie unbewusst eine Eigenart ihrer Mutter nachahmte. Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Augen und brachte die goldenen Sprenkel zum Leuchten. Als ihr Bruder sie verschmitzt angrinste und damit bestätigte, dass ihre Zweifel an seiner Lügengeschichte durchaus begründet waren, verzog sie den Mund zu einem Lächeln. Idwal ähnelte Gwladys von den dreien am meisten. Er hatte die gleiche Stupsnase, die gleichen haselnussbraunen Augen, die heller waren als Susannas und ohne die bezaubernden goldenen Sprenkel. Gwladys’ Blick wanderte zu ihrer Jüngsten, Gorffenna, die geschäftig mit der Puppe plapperte, die Rhodri für sie gefertigt hatte. Das weizenblonde Haar umspielte ihren Kopf, und als die Kleine herübersah und mit ihren blauen Kinderaugen die Mutter erblickte, breitete sich auf ihrem Gesicht ein strahlendes Lächeln aus. Gwladys’ Augen füllten sich mit Tränen – und genau das hatte sie doch vermeiden wollen. Sich in Gedanken scheltend, zog sie ihren Gürtel fest. Sie raffte den Rock ihres Gewandes aus festem Wollstoff, schob ihn so unter den Gürtel, dass er nur noch bis zur Mitte ihrer Unterschenkel reichte, und vergewisserte sich, dass das Unterkleid ihre Knöchel bedeckte. Bevor sie das Zimmer der Kinder betrat, legte sie ihren Umhang an und befestigte ihn mit einer edelsteinbesetzten Fibel. Die Kleinen sollten nicht sehen, dass sie darunter reisefertig gekleidet war.

«Ihr bleibt hier und seid brav», ermahnte sie die drei.

«Warum dürfen wir nicht mit in den Saal?», fragte Idwal traurig. Er hatte sich von dem Platz neben seiner Schwester erhoben und stand nun mit schmerzerfülltem Blick vor seiner Mutter.

«Hör auf zu jammern, Idwal», wies Gwladys ihn schärfer zurecht, als es ihre Absicht gewesen war. «Die herrschenden Lords von Gwynllwg und Senghennydd sind wegen einer wichtigen Besprechung mit Lord Iestyn und deinem Onkel Rhodri nach Morgannwg gekommen. Dabei können sie keine kleinen Kinder gebrauchen, die ihnen zwischen den Beinen herumlaufen.»

«Aber ich werde morgen neun! Und schließlich geht es auch um mein Land», beharrte Idwal und verzog schmollend das Gesicht.

«Und morgen, an deinem Geburtstag, wirst du der Ehrengast sein», beschwichtigte Gwladys ihn mit sanfter Stimme. «Aber nicht heute. Außerdem möchte ich, dass du auf deine Schwestern aufpasst, insbesondere auf Susanna. Du weißt doch, wie eigensinnig sie sein kann.» Die Proteste ihrer ältesten Tochter ignorierend, sah Gwladys ihren Sohn streng an. «Ich verlasse mich auf dich und will keinen von euch dreien dort herumschleichen sehen. Ist das klar?»

Als Idwal widerstrebend nickte, kniete sie sich hin und breitete die Arme aus. «Kommt her, ihr beiden.» Während sie Idwal und Susanna fest an sich drückte und küsste, musste sie blinzeln, um die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Dann hob sie ihre Jüngste hoch, streichelte ihr über das seidige Haar und presste sie fest an sich, bis die Zweijährige sich wand und zappelte, um wieder freizukommen.

«Ich muss gehen, euer Onkel und eure Tante fragen sich bestimmt schon, wo ich bleibe.» Gwladys wischte rasch eine Träne weg und atmete tief durch. «Ich möchte, dass ihr gut aufeinander aufpasst und immer daran denkt, wie lieb ich euch habe.»

«Wir haben dich auch lieb, Mama», rief Susanna, während sie auf einem Bein herumhüpfte, «aber warum weinst du?»

«Ich weine ja gar nicht, mein Kind, ich habe Staub in die Augen bekommen. Wir müssen die Dienstmägde unbedingt dazu anhalten, dieses Zimmer gründlicher zu säubern», gab sich Gwladys betont heiter. «Jetzt muss ich aber los.» Sie erhob sich und eilte davon. Ihr leichter Schritt war bald nicht mehr zu hören, aber ihr Duft hing noch eine ganze Weile im Raum.

 

Das Zimmer der Kinder lag am Ende des Saals, hinter dem Podium und unweit der Küche. Gwladys wollte nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen. Deshalb machte sie einen Umweg durch die Küche und über den Burghof und konnte so den Saal durch den Haupteingang – weit weg von den Versammelten – betreten. Die Besprechung hatte bereits begonnen. Gwladys nahm ihren Platz bei den anderen Damen des Hofes ein. Als sie den forschenden Blick ihrer Schwägerin Gwenllian erwiderte, verrieten Gwladys’ haselnussbraune Augen nicht das Geringste. Aber so nervös, wie sie an ihren Haaren herumzupfte, war nicht zu übersehen, wie unbehaglich sie sich fühlte. Gwladys hatte sich nie von Gwenllians äußerem Erscheinungsbild täuschen lassen. Ihre Zartheit wurde oft mit Zerbrechlichkeit verwechselt, aber Gwladys wusste, dass ihre Schwägerin hart wie Stahl war. Wie die geschärfte Klinge eines Rasiermessers drang Gwenllian durch alles hindurch, bis auf den wahren Kern der Dinge. Sie konnte einem die beste Freundin sein, aber wer ihr oder ihren Angehörigen Leid zufügte, der machte sie sich für alle Zeit zur erbitterten Feindin. Gwladys konnte Gwenllians Blick nicht länger standhalten und sah weg. Sie tat so, als würde sie durch die heftige Auseinandersetzung abgelenkt, die gerade zwischen den anwesenden herrschenden Lords der umliegenden Gebiete stattfand.

«Es war nicht meine Idee, die Normannen in Cardiff eine Siedlung gründen zu lassen. Ich habe auf dich gehört, Iestyn, und sie in Ruhe gelassen. Fitzhamon war hier in deinem Haus zu Gast, und du musst uns für Dummköpfe halten, wenn du glaubst, uns jetzt die Schuld dafür geben zu können, dass sie immer noch da sind», donnerte Urien ap Caradog, Prinz von Gwynllwg. Er sprang auf und strich wie ein Raubtier um die Versammelten herum.

«Offenbar hat dein Erinnerungsvermögen etwas gelitten, Urien. Es war dein Vater, der sie eingeladen hat. Er brachte sie auf die Idee mit der Siedlung – als Gegenleistung für ihre Unterstützung auf dem Schlachtfeld», konterte Iestyn mit aller Schärfe.

«My Lords, Ihr ereifert Euch über Ereignisse, die fast 30 Jahre zurückliegen», warf Lord Cydifor beschwichtigend ein. «Zwei englische Könige haben seitdem den Tod gefunden, und wir sind doch hier zusammengekommen, um zu besprechen, welche Konsequenzen der Tod Williams II. für uns hat.»

«Mein Schwager hat Recht.» Iestyn warf Urien einen triumphierenden Blick zu, während die anderen Lords zustimmend murmelten. «Bitte, Rhodri, du hast das Wort», wandte er sich mit lauter Stimme an seinen wichtigsten Berater.

Als Rhodri mit seiner tiefen, kraftvollen Stimme das Wort ergriff, richteten sich sofort alle Blicke auf seine eindrucksvolle Gestalt. «Die Ermordung von William Rufus im letzten Monat wird für uns erhebliche Folgen haben. Ich denke dabei nicht nur an unsere Herrschaftsgebiete, sondern an sämtliche walisischen Ländereien. Aber die Sorge derer, die sich heute hier versammelt haben, gilt Morgannwg und Gwynllwg.» Rhodri machte eine kurze Pause und sah zuerst Cydifor, dann Iestyn an. «Und Senghennydd», fügte er hinzu und ignorierte den wütenden Blick Iestyns ebenso wie das freudige Aufleuchten in Cydifors Gesicht. «Es ist schwer zu sagen, ob Rufus’ Tod vorsätzlich herbeigeführt wurde. Jedenfalls hat sein Bruder Henry keine Zeit verloren und ist auf schnellstem Wege durch ganz England geritten, um sich krönen zu lassen. Unter den Normannen war es schon vorher zu erheblichen Spannungen gekommen, weil viele von ihnen meinten, Rufus führe einen korrupten Lebensstil. Ihnen missfielen die Vergünstigungen, die er seinen Lieblingshöflingen zuteil werden ließ. Und wie wir alle wissen, stand Lord Fitzhamon ihm besonders nah. Es waren nicht nur unsere Niederungen, in die Rufus eingedrungen ist.» Rhodri grinste, während sich leises Gelächter im Saal ausbreitete. Die Gerüchte, dass Lord Fitzhamon der Geliebte von König William Rufus gewesen sei, waren nie vom englischen Hof dementiert worden. «Rufus’ Feinde glauben, dass mit der Thronbesteigung Henrys eine neue Ära der Normannenherrschaft anbrechen wird. Ich habe keinerlei Grund, das zu bezweifeln. Er hat bereits bewiesen, dass er seine Ziele rücksichtslos verfolgt, und jetzt fügt er seinen Eroberungen die Krone Englands hinzu. Er scheint allerdings keinen Groll gegen Lord Fitzhamon zu hegen, obwohl Rufus diesem die Gloucester-Ländereien übertrug, auf die eigentlich Henry ein Anrecht hatte. Fitzhamon wird nicht nur diese Ländereien behalten, sondern auch die an der Küste gelegenen Gebiete, die er uns vor sieben Jahren abgenommen hat. Als Gegenleistung wird er Henry ebenso treu zur Seite stehen wie zuvor Rufus, wenn auch nur in militärischer Hinsicht – nehme ich jedenfalls an.» Eine weitere Welle des Gelächters durchlief den Saal. Rhodri hatte sichtlich Vergnügen an seinem Auftritt.

Gwladys betrachtete den Bruder ihres verstorbenen Mannes. Mühelos zog er die volle Aufmerksamkeit aller Männer auf sich. Aber Rhodri hob sich eben von der Masse ab, und das nicht nur, weil er größer war als die meisten Männer. Mit seinem bohrenden Blick aus dunklen Augen unter buschigen Brauen fixierte er der Reihe nach alle Zuhörer. Sein Körper war wesentlich durchtrainierter und fester, als es seinem Alter entsprach. Und wenn er geht, hat der Anblick dieser muskulösen Schenkel schon so manches Frauenherz höher schlagen lassen, dachte Gwladys leicht spöttisch. Sein wollener Waffenrock war von einem schlichten, gedeckten Grün, aber so fein gewebt und wunderbar gearbeitet, dass er keinen Zweifel am Stand dieses Mannes aufkommen ließ. Rhodri war sich seiner Macht bewusst und hatte sie über Jahre hinweg ausgebaut. Man brachte ihm enormen Respekt entgegen, und sein Wort wurde widerspruchslos akzeptiert. Iestyn mochte zwar die Krone von Morgannwg tragen, aber er regierte lediglich, weil ihn einige mächtige Familien unterstützten. Und die größte Macht verkörperte Rhodri. Gwladys entging nicht, dass Iestyn Rhodri unablässig beobachtete – die Augen zusammengekniffen, das einstmals hübsche Gesicht gezeichnet von tiefen Furchen, die sich über viele Jahre hineingegraben hatten. Von Misstrauen gegenüber jedermann geplagt, hatte Iestyn immer wieder darum kämpfen müssen, seine Vormachtstellung zu behaupten. Die Herrscher von Powys und Deheubarth und jetzt die Normannen – sie alle begehrten das einträgliche, zentral gelegene Morgannwg. Iestyn mochte vielleicht nicht über Rhodris Redegewandtheit verfügen, aber er war ein Kämpfer, und zwar einer, den man ernst nehmen musste. Bevor die Normannen auftauchten, hatte er sich als der tonangebende Herrscher dieses östlichen Teiles von Wales hervorgetan, und er würde seine Macht nicht so einfach an benachbarte Lords abtreten, ob walisische oder normannische. Gwladys schaute weg, als Iestyns durchdringender Blick sie kurz streifte, bevor er ihn erst auf Prinz Urien von Gwynllwg und schließlich auf Cydifor, den Mann seiner Schwester, richtete. Urien stellte für ihn keine Bedrohung dar – Iestyn nahm ihn nicht einmal ernst. Der Prinz von Gwynllwg konnte sich noch so aufplustern und Forderungen stellen, er besaß keine echte Autorität. Seine Macht war mit dem Tod seines Vaters erloschen, und was Urien davon als Erbe hätte antreten können, löste sich an dem Tag in Luft auf, als er die Anwesenheit der Normannen offiziell akzeptierte. Das wusste Urien genauso wie jeder andere in diesem Raum. Sein farbenprächtig bestickter Waffenrock stand in hartem Kontrast zu seinem wenig eindrucksvollen Gesicht, und über seine nur zu offensichtlichen Versuche, Cydifor auf seine Seite zu ziehen, musste Gwladys zynisch lächeln. Zumal Cydifors Miene völlig ausdruckslos blieb und er den Blick von Urien abwandte. Damit distanzierte er sich von ihm genauso deutlich, als wäre er auf die andere Seite des Saals gegangen. Ihn wird man im Auge behalten müssen, schoss es Gwladys durch den Kopf, Iestyn wird es noch sehr bedauern, seine Schwester mit ihm verheiratet zu haben. Iestyn hatte auf diese Weise einen aufsässigen Lord im Zaum halten wollen; stattdessen hatte er Cydifor damit genau die Familienbeziehungen verschafft, die dieser brauchte, um sein Ziel zu erreichen.

Rhodri sprach immer noch. Gwladys verschloss sich seiner donnernden Stimme und ließ ihre Gedanken zurückschweifen. Sie dachte an die letzten zehn Jahre und daran, wie sich alles gegen sie verschworen hatte, bis hin zu dem Dilemma, in dem sie jetzt steckte. Es war das Jahr 1093 des Herrn gewesen, als die Normannen in das walisische Herrschaftsgebiet einmarschierten. Man hatte sie gerade erfolgreich in Brycheiniog, dem nördlich an Morgannwg und Gwynllwg angrenzenden Gebiet, stoppen können, als Rhys ap Tewdwr, Prinz von Deheubarth, getötet wurde. Es geschah während der Osterwoche, und die Waliser waren bis ins Mark erschüttert gewesen. Gott schien sich von ihnen abgewandt zu haben. Zum selben Zeitpunkt fielen die normannischen Streitkräfte unter der Führung Lord Fitzhamons in Gwynllwg und Morgannwg ein. Die Waliser hatten erbitterten Widerstand geleistet, aber mit Hilfe eines kleinen vorgelagerten Stützpunktes in Cardiff, der noch aus der Zeit Williams I. stammte, konnten die Normannen in den flachen Küstengebieten Fuß fassen. Mittlerweile standen diese völlig unter ihrer Kontrolle. Allerdings war es den Walisern unter Iestyns Regentschaft gelungen, Fitzhamons Vorstoß am Fluss Ogmore zu stoppen. Fitzhamon hatte sich mit Iestyn geeinigt, und auf diese Weise hatte man ein Vordringen der Normannen über die Tiefebene hinaus in höher gelegene Landstriche verhindern können. Gwladys warf einen Blick auf Gwenllian. Sie und Rhodri hatten im walisischen Widerstand ihren zweitgeborenen Sohn verloren. Wie mochte sie sich angesichts eines drohenden neuerlichen Angriffs durch die Normannen fühlen? Und wie geht es mir dabei? Gwladys seufzte leise. Nach dem Tod ihres Ehemanns Ifor vor zwei Jahren war ihr keine andere Wahl geblieben, als sich dem Schutz Rhodris zu unterstellen. Sie hatte zwei kleine Kinder und trug ein drittes unter dem Herzen. Was also hätte sie tun sollen? Da Rhodri ihr nächster männlicher Verwandter war, fiel die Vormundschaft über die Kinder automatisch an ihn. Gwladys wusste, dass Rhodri alles in seiner Macht Stehende tun würde, um die Interessen seines jüngeren Bruders zu wahren. Was das anging, konnte sie ihm nichts vorwerfen. Er würde dafür Sorge tragen, dass Plas-Marl für Idwal erhalten blieb, damit dieser sein Erbe antreten konnte, sobald er erwachsen war. Davon war Gwladys überzeugt, denn Rhodri und Ifor waren loyale Brüder gewesen. Zwischen ihnen war es nach dem Tod des Vaters nicht – wie sonst oft bei Walisern – zu blutigen Erbstreitigkeiten gekommen. Idwals Zukunft ist gesichert, und auch für meine Töchter wird gesorgt sein, sagte sich Gwladys wieder und wieder, bevor laute Stimmen sie aus ihren Gedanken rissen. Urien von Gwynllwg war erneut aufgesprungen, zweifellos hatte Iestyn ihn erneut als Urien Wan – den Blassen und Schwachen – bezeichnet. Urien der Schwache, dachte sie verbittert. Genau diese Schwäche hatte Ifor getötet. Aber das war Vergangenheit, und sie musste jetzt an ihre Zukunft denken – die sie hier nicht mehr sah. Diese Männer mochten vielleicht nicht bereit sein, das Unabwendbare zu akzeptieren – sie schon. Mehr noch, sie hieß es sogar willkommen. Das Vordringen der Normannen brachte Gwladys in Kontakt mit einer völlig anderen Welt, und mehr als alles andere wünschte sie sich, Teil von dieser zu sein. Sie sehnte sich danach, den Zwängen des walisischen Hofes und der Ablehnung durch die Familie ihres Mannes zu entfliehen. Rogers Leben war so viel strahlender und aufregender als ihres, und es scherte sie einen Dreck, was Iestyn, Rhodri oder sonst jemand sagte – die Normannen würden hier bleiben. Sie verfügten über mehr Mittel, Ehrgeiz und Machthunger als die Waliser. Und sie wollte zur Welt der Sieger gehören, deshalb würde sie mit Roger weggehen.

Ein letztes Mal ließ sie den Blick durch den Saal schweifen und dachte daran, wie sehr er sich im Laufe der Jahre gewandelt hatte. Sie konnte sich noch lebhaft daran erinnern, wie es war, als sie diesen Raum zum ersten Mal sah. Sie war gerade einmal zehn Jahre alt gewesen und furchtbar aufgeregt. Ihr Vater hatte damals entschieden, dass sie nun alt genug sei, um am königlichen Hof zu leben. Iestyn befand sich auf dem Höhepunkt seiner Macht und war der unangefochtene Herrscher von Morgannwg. Die Normannen stellten zu diesem Zeitpunkt noch keine Bedrohung dar, und durch die Vermählung seiner Tochter mit Rhys ap Tewdwr, dem Prinzen des Südwestens – dem Einzigen, der mächtig genug war, um ihm gefährlich zu werden –, hatte Iestyn einen vorläufigen Frieden mit den benachbarten Walisern erkauft. Iestyns Tochter war ein sehr hübsches Mädchen gewesen, und Rhys ap Tewdwr hatte sich ihrem Wunsch gefügt, keinen Krieg gegen ihren Vater zu führen. In jenen Tagen hatte diese Halle, die von außen schlicht und streng wirkte, in ihrem Innern förmlich gestrahlt. Schwere Wandteppiche mit Darstellungen von Jagdszenen schmückten die Wände, und die hohen Holzpfeiler, die das Dach stützten, waren so reich bemalt gewesen, dass es der jungen Gwladys vorkam, als hätte man ihre geliebten umliegenden Wälder in diesen Saal gebracht. Damals lebte noch Iestyns erste Frau, Constance, und gemeinsam hatten sie rauschende Feste ausgerichtet. Ein strahlendes Paar, das sich seines Platzes in dieser Welt sicher war und eine Dynastie gründete, von der es annahm, sie würde noch viele Generationen lang herrschen. Aber mit dem Einmarsch der Normannen wurde Iestyns Autorität plötzlich auch innerhalb der eigenen Reihen angezweifelt. Andere hochgeborene Lords waren bereit und in der Lage, ihren Vorteil aus der Situation zu ziehen und eigene Machtansprüche geltend zu machen. Cydifor von Senghennydd tat sich dabei besonders hervor. Iestyns Macht war nicht länger uneingeschränkt, und mehr als einmal verwitwet – wobei jede neue Ehefrau jünger war als ihre Vorgängerin –, fehlte ihm Constance, die ihm eine Stütze gewesen war und den hohen Standard eines gut geführten Haushalts erhalten hatte. Die Weitläufigkeit dieses einst so prachtvollen Ortes trug jetzt nur noch dazu bei, seine Vernachlässigung aufzuzeigen. Iestyn war durch und durch ein Kämpfer, der seine gesamte Zeit und all seinen Besitz in einen Krieg investierte, der nicht enden zu wollen schien. Er war sich der verblichenen, ausgefransten Wandbehänge, der von den Holzpfeilern abblätternden Farbe und der vergammelten Binsen auf dem Boden gar nicht bewusst. Die Feuerstelle in der Mitte des Raumes war kaputt und versorgte den Saal nicht mehr mit Wärme, und das in besseren Zeiten lodernde Kaminfeuer war nur noch eine blasse Erinnerung. Nein, Gwladys würde diesen Ort nicht vermissen. Sie dachte an Rhodris weitläufigen Besitz in Bryn y Ffin mit seiner gepflegten, wohnlichen Halle. Der Unterschied zwischen seinem und Iestyns Anwesen war schon seit Jahren Gesprächsstoff an den Feuerstellen des Hochadels. Iestyn war der anerkannte Prinz dieses Fürstentums, aber nicht nur Gwladys fürchtete Rhodris Zorn wesentlich mehr als den seinen. Sie wusste, wenn sie diesen Ort erst einmal verlassen hatte, würde man sie niemals mehr zurückkehren lassen. Aber für ihre Kinder würde gut gesorgt werden. Ihr Entschluss stand fest. Gwladys erhob sich unauffällig von ihrem Platz und schlüpfte durch den Haupteingang auf den Burghof. Draußen sog sie die frische Luft tief ein, als sei sie dem Erstickungstod entronnen.

«Du hast dich also entschieden.»

Gwladys fuhr herum. «Gwenllian, spionierst du mir etwa nach?»

«Allerdings, und ich werde mich dafür ganz bestimmt nicht rechtfertigen», entgegnete Gwenllian. «Rhodri konnte sich nicht vorstellen, dass du es wirklich fertig bringst, aber ich wusste es besser. Allerdings habe ich nicht erwartet, dass du dich davonschleichst wie ein Dieb in der Nacht.»

«So ist es am besten», verteidigte sich Gwladys. «Dank Rhodris Einsatz bei Iestyn dürfen Roger und seine Männer mich am Flussübergang abholen. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass er es nur gestattet hat, weil er glaubt, sie würden vergeblich warten. Wenn ich vor den Augen aller von hier wegginge, wäre das kein schöner Abschied. Und vor den vielen Herrschern, die hier versammelt sind, möchte ich Rhodri nicht in Verlegenheit bringen.»

«Unsinn», schleuderte Gwenllian ihr entgegen. «Du hast dir ganz bewusst den heutigen Tag ausgesucht. Du wusstest, dass Rhodri lange genug abgelenkt sein würde, damit du dich aus dem Staub machen kannst.»

«Was erwartest du eigentlich von mir, Gwen?», brauste Gwladys auf. «Ich gehe mit einem Normannen fort, das entspricht wohl kaum Rhodris Vorstellungen von meiner zweiten Ehe!»

«Und was willst du deinen Kindern sagen?» Als Gwladys ihrem Blick auswich, sog Gwenllian hörbar die Luft ein. «Großer Gott, Gwladys, du gehst ohne ein Wort des Abschieds! Wie kannst du nur?»

«Wie schon gesagt, so ist es am besten.» Gwladys reckte trotzig das Kinn. «Ich kann sie nicht mitnehmen. Rhodri ist ihr rechtmäßiger Vormund und würde es niemals erlauben. Er dachte, dass ich ohne die Kinder auf keinen Fall gehen würde. Nun, er hat sich geirrt. Ich habe meine Pflicht gegenüber meinen Kindern erfüllt, jetzt ist es an der Zeit, dass ich an die Verpflichtung mir selbst gegenüber denke.»

Gwenllian betrachtete sie mit einer Mischung aus Trauer, Wut und Verachtung. Gwladys wusste, wie sehr Gwen nach Ifors Tod mit ihr gefühlt hatte. Aber jetzt sagte ihr der Blick dieser Frau, dass sie nie verstehen, geschweige denn verzeihen würde, dass eine Mutter ihre Kinder im Stich lassen konnte. Es gab nichts mehr zu sagen. Gwladys zog ihren Umhang fester zusammen. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und sie wollte weg von hier. «Leb wohl, Gwen», sagte sie leise, drehte sich um und ging.

 

«Idwal», rief Susanna aufgeregt, «Idwal, komm schnell her.»

«Was ist denn?» Idwal unterbrach nur ungern sein Knobelspiel.

«Was tut Mama da?» Susanna schaute angestrengt aus dem Fenster.

Idwal stellte sich neben seine Schwester. Als er sah, wie ihre Mutter zu den Pferdeställen eilte, zuckte er mit den Schultern. Von ihrem Zimmer aus hatten sie einen guten Blick auf den Burghof und die Stallungen auf der gegenüberliegenden Seite.

«Wo will sie denn hin?», fragte Susanna, als ein gesatteltes Pferd herausgeführt wurde und ein Stallbursche ihrer Mutter beim Aufsitzen half.

«Nach England», teilte ihnen Tante Gwenllian mit, die lautlos das Zimmer betreten hatte.

«England?» Idwal war sichtlich verwirrt.

«Es gibt keinen schmerzlosen Weg, es euch zu sagen», fuhr Gwenllian im gleichen schroffen Ton fort. «Eure Mutter hat sich entschieden, wieder zu heiraten, und zwar einen Normannen. Folglich wird sie mit ihm in England leben.»

«Aber was ist mit uns?», rief Susanna ängstlich. «Werden wir auch dorthin gehen?»

«Nein, ihr bleibt hier, bei eurem Onkel Rhodri und mir. Ihr werdet von uns aufgezogen und immer da sein, wo wir sind, entweder hier, am Hofe Lord Iestyns, oder in Bryn y Ffin.»

«Mama hat uns wegen eines Normannen verlassen?» Zorn verzerrte Idwals Kinderstimme. «Aber die Normannen sind unsere Feinde! Sie haben Papa getötet. Warum ist sie fortgegangen?»

Gwenllian verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in ihrem Herzen, als zwei verstörte kleine Gesichter sie erwartungsvoll ansahen. Aber sie wusste, dass Mitleid jetzt nicht half, deshalb zuckte sie nur mit den Schultern und antwortete kühl: «Diese Frage kann dir nur deine Mutter beantworten.»

Wie auf Kommando stürmten Idwal und Susanna aus dem Zimmer. Am hinteren Tor machten sie Halt, denn weiter durften sie nicht. Susanna sah Idwal an, der kreidebleich geworden war. In beider Augen stand das blanke Entsetzen. Sie nahm seine Hand und drückte sie ganz fest. So standen die beiden und sahen schweigend zu, wie ihre Mutter den Weg zur Furt hinunterritt und im Zwielicht verschwand.

Teil Eins

Kapitel Eins

Juni 1105. Am Hofe Lord Iestyns, Morgannwg

Susanna band ihr Pony an einer großen Eiche fest und ging in den Wald hinein. Sie schürzte Rock samt Unterkleid und folgte vorsichtig dem Steinpfad, der in das kleine Tal hinunterführte. Mehr als einmal rutschte sie mit ihren Lederstiefeln auf dem Moos aus, das an diesem schattigen Platz reichlich wuchs. Als sie die Quelle erreichte, setzte sie sich in die dämmrige, mit Farnen bewachsene kleine Grotte und starrte auf das Wasser, das zwischen moosbedeckten Steinen hervorsprudelte. Sie streute einen Strauß Wildblumen auf das Wasser und sprach leise in das Plätschern hinein, wie sie es immer tat, wenn sie nicht weiterwusste. Dieser Ort wurde Cerrigceinwen genannt – die Felsen von Ceinwen. Wer war diese Ceinwen?, fragte sich Susanna, während sie ganz still saß, eine schöne Dame oder eine Heilige? Das wusste niemand, dieser Ort hatte schon immer so geheißen, und man sagte, die Quelle sei heilig. «Was soll ich nur tun?», erflehte Susanna laut Rat von der Herrin der Felsen, während sie verzweifelt über Onkel Rhodris Worte nachdachte. «Deine Mutter möchte dich sehen», hatte er gesagt. Fünf simple Wörter, die Susannas Welt völlig durcheinander brachten.

Susanna war jetzt fast elf Jahre alt. Beinahe fünf Jahre waren vergangen, seit ihre Mutter sie verlassen hatte. Dennoch konnte Susanna sich so deutlich daran erinnern, als wäre es gestern gewesen. Sofort spürte sie wieder den Schmerz und die Bestürzung darüber, dass ihre Mutter sie einfach im Stich gelassen hatte. Niemand hatte je wieder von ihr gesprochen – bis heute ein Bote mit einem Brief für Onkel Rhodri am Hofe Lord Iestyns eingetroffen war. Stirnrunzelnd hatte ihr Onkel das normannische Siegel betrachtet. Nachdem er den Brief gelesen hatte, reichte er ihn schweigend weiter an Iestyn. Und dann hatte Onkel Rhodri ihr jene Worte gesagt, die sie gleichermaßen herbeigesehnt und gefürchtet hatte. Im ersten Moment hatte ihr Herz einen Satz gemacht. Bei dem Gedanken, ihre Mutter wiederzusehen, die zudem ausdrücklich nach ihr verlangt hatte, durchströmte sie ein Gefühl der Freude. Aber ein kurzer Seitenblick auf Idwals Miene genügte, um ihre Euphorie zu dämpfen und sie an das zu erinnern, was passiert war.

Sie brach einen Farnwedel ab und drehte ihn geistesabwesend in der Hand. Je länger sie darüber nachdachte, desto zorniger wurde sie. In all den Jahren hatte sie kein Lebenszeichen von ihrer Mutter erhalten. Nichts als eine erdrückende Wand des Schweigens. Und jetzt erwartet sie tatsächlich von mir, dass ich angelaufen komme!, dachte Susanna wütend. Meint sie vielleicht, ich vergesse vor lauter Dankbarkeit über ihre Nachricht einfach die Vergangenheit? Onkel Rhodri hatte gesagt, es sei ihre Entscheidung, ob sie ginge, aber sie hatte ihm angemerkt, dass er es wollte. Warum eigentlich? Er war damals so wütend gewesen, dass er allen verboten hatte, jemals wieder ihren Namen zu erwähnen. Immerzu hatte er gepredigt, dass Gwladys keine Loyalität gegenüber ihrer Familie kenne und dass ihre Kinder ihr egal seien. Er hatte sie drei gelehrt, ihr Herz gegenüber der Mutter zu verschließen. Dabei hätte Idwal dazu überhaupt nicht aufgefordert werden müssen, dachte Susanna traurig. Laut seufzend warf sie den zerknickten Wedel ins Wasser und sah zu, wie er vom Strudel erfasst und fortgespült wurde. «Was soll ich nur tun?», fragte sie zum x-ten Male laut.

Sie fröstelte und blickte durch die Baumwipfel hinauf zum Himmel. Die Sonne stand schon recht tief. Seufzend dachte Susanna, dass sie sich besser auf den Rückweg machen sollte. Als sie sich den Schmutz aus den Kleidern klopfte und den Moosfleck entdeckte, der nicht nur ihr schönes zartgelbes Gewand, sondern auch ihr leinenes Unterkleid verunzierte, verzog sie das Gesicht. Auf dem Weg zur Grotte hatten sich dünne Zweige und Blätter in ihrem langen Haar verfangen. Tante Gwen würde ganz schön mit ihr schimpfen, nicht nur, weil sie so zerzaust herumlief, sondern auch, weil sie so lange weggeblieben war. Susanna kämpfte sich bis zum Waldrand zurück, bestieg leichtfüßig ihr Pony und ritt widerstrebend den ausgetretenen Pfad entlang, der zu dem lang gestreckten, verwahrlosten Gebäude führte, in dem Lord Iestyn Hof hielt. Ja, sie würde zu ihrer Mutter reisen. Hatte sie denn überhaupt eine andere Wahl?

 

«Und? Wirst du gehen?», wollte Idwal wissen, kaum dass sie den Saal betreten hatte. Er war nur 30 Monate älter als Susanna, wurde aber bereits langsam zum Mann und war in letzter Zeit unglaublich in die Höhe geschossen. Die Empörung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

«Onkel Rhodri möchte, dass ich gehe», erwiderte sie ausweichend.

«Ich würde nicht gehen!», rief er zornig.

«Das weiß ich – und sie weiß es auch», seufzte seine Schwester. «Onkel Rhodri wartet», fügte sie hastig hinzu, weil sie keine Lust hatte, sich mit Idwal zu streiten. Sie drückte einem Dienstboten ihren Umhang in die Hand und lief in das Zimmer, in dem ihr Onkel sie erwartete.

«Jetzt schau nicht so besorgt», sagte Rhodri, nachdem sie ihm ihre Entscheidung mitgeteilt hatte. Er lächelte sie beruhigend an. «Es ist nur für ein paar Tage. Und wenn dir selbst das zu lang ist, kommst du früher zurück. Du musst es nur sagen, und Geraint bringt dich auf dem schnellsten Weg nach Hause.»

«Nein, ich werde so lange bleiben, wie du es wünschst, es ist nur …» Sie brach ab und sah ihn bedrückt an.

«Ja, mein Mädchen?», ermutigte Rhodri sie.

«Ich verstehe einfach nicht, warum sie ausgerechnet mich sehen will!»

«Deine Mutter hat dir vielleicht etwas mitzuteilen», fuhr Iestyn schroff dazwischen.

«Was Lord Iestyn damit sagen will», beeilte sich Rhodri zu erklären, «ist, dass du allmählich zur Frau heranwächst und sie dir vielleicht Dinge sagen will, mit denen sich nur eine Mutter auskennt. Und jetzt lauf und hilf deiner Tante beim Packen», entließ er sie, damit sie keine unangenehmen Fragen stellen oder, schlimmer noch, darauf hinweisen konnte, dass doch Tante Gwenllian in all den Jahren für sie wie eine Mutter gewesen sei und ihr «gewisse Dinge» erklären konnte.

Nachdem Susanna davongeeilt war, warf Rhodri Iestyn einen wütenden Blick zu. «Ich hatte dir doch gesagt, du sollst mich die Sache in die Hand nehmen lassen», fuhr er ihn an. «Sie ist immer noch ein Kind, verdammt nochmal, lass ihr einen Rest Hoffnung, dass ihre Mutter sie aus purer Zuneigung sehen möchte und nicht, weil sie irgendwelche Hintergedanken hegt.»

«Vielleicht ist es ja auch wirklich so. Du weißt nicht, ob Gwladys tatsächlich Informationen hat, und wenn ja, ob sie auch bereit ist, diese an uns weiterzugeben. In den letzten Jahren sind wir ihr ziemlich egal gewesen. Aber Susanna kann sich ja mal umhören. Wie gut ist ihr Französisch?» Iestyn gab einem Bediensteten ein Zeichen, er möge ihnen Wein einschenken.

«Praktisch nicht vorhanden», erwiderte Rhodri grimmig und ergriff den angebotenen Becher.

Iestyn trank langsam einige Schlucke, bevor er ganz ruhig sagte: «Dann müssen wir einfach hoffen, dass deine ehemalige Schwägerin uns etwas zu sagen hat und nicht einfach nur versucht, ihre Kinder zurückzubekommen.»

«Gwladys weiß nur zu gut, dass sie daran nicht einmal im Traum denken sollte», entgegnete Rhodri. «Nein, Iestyn, sie wird uns die Gerüchte bestätigen, darauf verwette ich meinen guten Namen.»

***

Susanna reiste mit ihrer Kammerjungfer und begleitet von einer Eskorte. Sie mussten erst Lord Iestyns Reich und dann das von Lord Urien regierte Gwynllwg durchqueren, bevor sie weiter nach Süden zur normannischen Siedlung in St. Gwynllwg gelangen konnten. Je weiter sie vorankamen, desto nervöser wurde Susanna. Mehr als einmal hätte sie Geraint fast gebeten, umzukehren, und lediglich der Gedanke, ihren Onkel zu enttäuschen, ließ sie schweigen. Solange sie im Hochland unterwegs gewesen waren, war es ihr leichter gefallen, nicht an das bevorstehende Treffen zu denken. Die vertraute Landschaft hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit gegeben. Aber dieses Gefühl schwand mehr und mehr, je weiter sie die Berge hinter sich ließen. Susanna war ans Reisen gewohnt, da Onkel Rhodri seinen Haushalt regelmäßig zwischen dem Hof Lord Iestyns und Bryn y Ffin hin- und herverlegte. Aber diese Anwesen lagen alle im bergigen Landesinneren, schützend umgeben von bewaldeten Hügeln. Nie zuvor hatte Susanna diese Gebiete verlassen. Am Ende des zweiten Tages ihrer Reise erreichten sie das flache Tiefland, wo sie sich wesentlich ungeschützter bewegten. Susanna spürte, wie sie mit jedem Schritt unruhiger wurde. Sie war erleichtert, als Geraint vorschlug, über Nacht Rast zu machen, bevor sie am nächsten Tag St. Gwynllwg erreichten.

Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, versuchte Susanna sich abzulenken, indem sie die ihr unbekannte Landschaft betrachtete. Obwohl die Entfernung zwischen dem von Walisern regierten Gwynllwg und dem unter normannischer Herrschaft stehenden St. Gwynllwg eigentlich gar nicht so groß war, hatte Susanna das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen – so sehr hatten die Bewohner diese Landschaft geprägt. Das Land war ganz auf landwirtschaftliche Nutzung ausgerichtet, mit Wiesen und Weideland für die Tiere direkt am Fluss. Zu einer Zeit, als Susanna noch gar nicht auf der Welt gewesen war, hatten die Niederungen von Gwynllwg und Morgannwg als Kornkammern für ihre eigenen Leute gedient. Aber Susanna hatte diesen bewirtschafteten Landstrich nie mit eigenen Augen gesehen. Hier gab es nichts von der Wildheit der freien Natur des Hochlands, das in schmalen Streifen dort bebaut wurde, wo Bodenqualität und Landschaft es zuließen. Wohin sie auch schaute – überall war das Land in Parzellen unterteilt und umzäunt worden. Jede Koppel diente entweder als Feld für den Anbau landwirtschaftlicher Produkte oder als Viehweide. Susanna hasste dieses Land vom ersten Augenblick an. Als sie sich der kleinen Siedlung von St. Gwynllwg näherten, zügelten sie die Pferde, und Susanna betrachtete mit großen Augen die ihr völlig fremde Szenerie. Die Siedlung war während der letzten zehn Jahre entstanden, nachdem der herrschende Normannenfürst sich hier niedergelassen hatte und seine Getreuen in dieses Gebiet gefolgt waren. Dicht aneinander gereiht standen Holzhäuser entlang der einzigen Straße, auf der sich die Menschen drängten. Susanna musste ihr Pferd jäh zurückreißen, weil sich plötzlich ein kleines Kind aus einer Menschenschlange löste, die draußen vor einer Bäckerei geduldig darauf wartete, dass jedem sein Brot gebacken wurde. Händler priesen ihre Waren an. Auf einigen Holzkarren lagen große runde Käse, auf einem anderen wurden edelsteinbesetzte Messer feilgeboten. Susanna entdeckte einen Wagen mit einem Berg aus leuchtend bunten Bändern. Vielleicht hätte ich Mutter ein Geschenk mitbringen sollen, dachte sie plötzlich mit schlechtem Gewissen.

Was Susanna irritierte, war die Sprache dieser Bauern, die miteinander lachten und Handel trieben. Sie hatte schon einmal gehört, wie sich Leute auf Französisch unterhielten, aber das hier klang anders. Sie sah Geraint an.

«Englisch», nahm er ihre Frage vorweg und nickte bekräftigend, als er den überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht sah.

Susanna starrte die Bauern an. Nie zuvor hatte sie einen leibhaftigen Engländer gesehen, obwohl sie schon viel von ihnen gehört hatte.

«Gibt es hier keine Waliser?», flüsterte sie.

«Nein», erwiderte Geraint schroff und presste die Zähne zusammen, sonst hätte er womöglich seiner Wut darüber lautstark Ausdruck verliehen. Er hatte diesen Auftrag nur ungern angenommen. Zwar sprach nichts dagegen, die junge Dame zu beschützen, aber er war nicht sicher gewesen, ob er es ertragen konnte, in seinem Heimatland wie ein Fremder behandelt zu werden. Er befürchtete, seine Zunge nicht im Zaum halten zu können.

Etwa zwei Stunden nach der Mittagszeit erreichten sie ihren Bestimmungsort. Als sie durch das Tor in den Hof ritten, studierte Susanna aufmerksam das Anwesen, in dem ihre Mutter lebte. Es lag nicht weit von der Siedlung entfernt und entsprach in keiner Weise Susannas Erwartungen. Sie hatte es sich wesentlich größer vorgestellt. Es gab keinen Erdwall oder Wassergraben zum Schutz der Anlage, bloß einen Palisadenzaun und ein massives Tor. Die Aufteilung des Geländes ähnelte dem, was Susanna kannte. Die Unterkünfte der Wachen waren nahe dem Haupttor, Stallungen und Schmiede lagen am hinteren Tor. Essensdüfte hingen in der Luft, obwohl die Essenszeit bereits vorbei war, denn die Normannen pflegten ihre Hauptmahlzeit um die frühe Mittagsstunde einzunehmen. Man konnte das Küchengebäude nicht unmittelbar sehen, da sich die Wirtschaftsräume auf der Rückseite der Halle befanden. Bevor Susanna hineinging, betrachtete sie die Halle geringschätzig. Es war eine recht primitive Konstruktion, nur eingeschossig und mit einem schlichten Holzdach. Keine gewölbten Stützbalken oder Holzschnitzereien wie in Onkel Rhodris Halle in Bryn y Ffin, und gerade einmal halb so groß, stellte sie zufrieden fest. Allerdings um einiges einladender als Lord Iestyns Behausung – das konnte sie nicht leugnen. Der Lehmboden des Saals war mit frischen, angenehm duftenden Binsen bestreut, und Kissen in leuchtenden Farben ließen die Fenstersitze gemütlich und freundlich wirken. Plötzlich tauchte vor ihrem geistigen Auge ein Bild auf: Sie dachte an die Kissenüberzüge ihres Bettes, die ihre Mutter damals für sie bestickt hatte. Susanna wurde von dieser Erinnerung völlig überrascht und brauchte einen Momen t,um sich wieder zu sammeln. Sie senkte den Kopf und mied den Blick der Leute, die sie neugierig musterten, während sie zu dem kleinen, vom Saal abgetrennten Raum geführt wurde, in dem ihre Mutter sie erwartete.

«Susanna!» Gwladys lief auf ihre Tochter zu und schloss sie in die Arme. Als sie jedoch spürte, dass die Umarmung nicht erwidert wurde, ließ sie los und trat einen Schritt zurück. «Wie groß du geworden bist», strahlte sie. «Gib Alys deinen Umhang.»

Schweigend löste Susanna die Fibel und reichte dem Dienstmädchen ihren Umhang.

«Danke, Alys», sagte Gwladys. Das Dienstmädchen deutete einen Knicks an und ließ sie dann allein.

Susanna fühlte sich äußerst unbehaglich, als sie jetzt vor ihrer Mutter stand. Sie wusste plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte, und starrte sie einfach nur an. All die Worte, die sie sich während ihrer Reise zurechtgelegt hatte, schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. «Du hast dich nicht sehr verändert», brachte sie schließlich mühsam hervor.

«Findest du?» Gwladys trat unter dem prüfenden Blick ihrer Tochter verlegen von einem Fuß auf den anderen.

Sie sah tatsächlich immer noch so aus, wie Susanna sie in Erinnerung hatte – obwohl sie heute offenbar besonders sorgfältig zurechtgemacht war. Aber diese haselnussbraunen Augen und die glänzenden braunen Flechten – an denen Gwladys nervös herumzupfte – waren Susanna nur zu vertraut. Gwladys trug ein hübsches rotgelbes Kleid, dessen tief sitzender Gürtel ihre immer noch schlanke Figur betonte. Aber es war nicht ihr Aussehen, sondern ihr Duft, der in Susanna die lebhaftesten und schmerzvollsten Erinnerungen wachrief. Sie hatte ihn noch lange, nachdem ihre Mutter damals fortgegangen war, in den Räumen wahrgenommen. Und sosehr Susanna sich auch bemüht hatte – vergessen hatte sie ihn nie.

Ein unbehagliches Schweigen folgte, bis Gwladys schließlich das Wort ergriff. «Susanna, dies ist für uns beide eine schwierige Situation, deshalb wollte ich auch, dass wir uns zunächst allein treffen. Du hast bestimmt jede Menge Fragen an mich, aber sollen wir uns nicht zuerst ein wenig stärken? Meine Mutter pflegte immer zu sagen: ‹Mit einem vollen Bauch sieht die Welt ganz anders aus.›» Sie rang sich ein Lachen ab, das aber vor dem anhaltenden Schweigen ihrer Tochter im Nichts verhallte. «Bitte, setz dich doch», bat sie und lächelte erleichtert, als Susanna sich folgsam setzte, während sie selbst geschäftig herumlief und ihnen mit Wasser verdünnten Wein einschenkte. Währenddessen war nichts zu hören außer dem Rascheln ihrer schweren Brokatröcke.

«Hast du die ganze Zeit hier gelebt?», fragte Susanna in vorwurfsvollem Ton und dachte an die kurze Reise. Gerade einmal drei Tage war sie unterwegs gewesen.

«Nein, normalerweise leben wir auf dem Anwesen in England. Wir sind erst seit kurzem hier. Obwohl du vielleicht weißt, dass Roger schon früher einige Zeit hier zugebracht hat …» Sie brach ab, weil Susanna bei der Erwähnung Rogers zusammengezuckt war. «Es war sehr großmütig von deinem Onkel, dass er dich kommen ließ», fügte Gwladys mit sanfter Stimme hinzu.

«Ich bin ausschließlich auf seinen Wunsch hier», erwiderte Susanna trotzig.

«Natürlich», sagte Gwladys leise. «Aber ich freue mich sehr darüber.» Sie ergriff die Hand ihrer Tochter. «Ich habe dich vermisst … euch alle.»

Susanna schwieg. Sie wusste, was ihre Mutter jetzt hören wollte. Aber Susanna konnte und wollte ihr nicht sagen, dass auch sie ihre Mutter schmerzlich vermisst hatte.

Gwladys ließ Susannas Hand los und erhob sich. «Komm, lass uns einen kleinen Spaziergang machen. Wir gehen hinunter zum Fluss. So einen breiten Fluss wirst du in deinem ganzen Leben noch nicht gesehen haben.»

Woher willst du das wissen?, klagte Susanna sie im Stillen an, aber sie stand auf und folgte ihrer Mutter gehorsam ins Freie.

 

Es war nicht weit bis zum Flussufer, und als Susanna fasziniert die langsam dahinströmenden Wassermassen betrachtete, die sich auf den unendlichen Horizont zubewegten, vergaß sie für einen Moment ihren Groll. Sie nahm eine Hand voll Sand und ließ ihn zwischen den Fingern hindurchrieseln. Als der Wind ihr offenes Haar zauste, wünschte sie plötzlich, wieder ein kleines Kind zu sein. Wie gern hätte sie einfach die Arme ausgebreitet und wäre bis zum Rand des Wassers gelaufen. Stattdessen stand sie einfach nur da und wickelte sich fester in ihren Umhang. Sie war kein Kind mehr, sie war schon fast elf Jahre alt und musste sich dementsprechend verhalten.

«Ach, Susanna, so sag doch etwas», bedrängte Gwladys sie.

Susanna drehte sich um und sah ihre Mutter, die jetzt dicht neben der Tochter stand, herausfordernd an. Es war nicht leicht für sie, dieses vertraute Gesicht so nah bei sich zu haben, aber sie hielt es aus, ohne Rührung zu zeigen. «Was willst du, Mutter?»

«Ich wollte dich sehen! Ist das denn so falsch von mir? Roger und ich werden von nun an in dieser Gegend leben, wir sind also nicht mehr ganz so weit weg. Vielleicht könntest du …»

«Ich werde nicht bei dir leben», fiel Susanna ihr ins Wort. «Ganz bestimmt werde ich Onkel Rhodri nicht so behandeln, wie du es getan hast – keiner von uns wird das tun.» Ihre Wangen röteten sich vor Zorn und Verbitterung.

«So etwas würde ich auch nie vorschlagen», erwiderte Gwladys gefasst. «Aber ich dachte, dass du mich vielleicht besuchen kommst. Du könntest Gorffenna und Idwal mitbringen.»

«Idwal wird nicht kommen», erklärte Susanna kategorisch, «und Ffenna erinnert sich gar nicht mehr an dich», log sie. «Hast du etwas anderes erwartet?» Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, denn Gwladys schien verletzt. Aber das war Susanna egal. «Papa war noch nicht lange tot, da bist du schon mit diesem Normannen weggelaufen.»

«Euer Vater war bereits zwei Jahre tot, und ich bin auch nicht ‹weggelaufen›, wie du es nennst. Die übliche Trauerzeit wurde eingehalten.»

«Die Trauerzeit wurde eingehalten! Wir konnten doch gar nicht richtig um Papa trauern, so schnell hast du die Sachen gepackt und uns zu Onkel Rhodri geschafft.»

«Ich war auf seinen Schutz angewiesen, das weißt du ganz genau, Susanna – und ich musste Idwals Erbe sichern.»

«Außerdem war der Hof Lord Iestyns sicher auch um einiges attraktiver als der von Lord Urien», meinte Susanna bissig und tat einen Schritt von ihrer Mutter weg.

«Sei doch nicht so naiv, Kind!», fuhr Gwladys sie an. «Ich war eine junge Witwe mit zwei kleinen Kindern und dem dritten unter dem Herzen. Mit dem Tod deines Vaters wurde Onkel Rhodri automatisch zu unserem Schutzherrn. Mir wäre es auch lieber gewesen, ständig in Bryn y Ffin zu leben, aber wir mussten ihn nun einmal begleiten, wenn er sich an Iestyns Hof aufhielt.» Sie lächelte kurz, dann sah sie Susanna ernst an. «Ich kann dir versichern, mein Kind: Lord Iestyns Hof hat auf mich nicht den geringsten Reiz ausgeübt, aber wir waren dort einfach sicherer. Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich um die Zukunft meiner Kinder besorgt war und entsprechend gehandelt habe.»

«Unsere Zukunft! Wohl eher deine. Das Leben an Iestyns Hof war dir wohl nicht gut genug?»

«Ich war noch jung, und es war nur recht und billig, wieder zu heiraten», sagte Gwladys traurig. Das Blut schoss ihr in die Wangen.

«Aber ausgerechnet einen Normannen! Warum nur?» Susanna war nicht minder aufgebracht als ihre Mutter. Ein Windstoß fegte über sie hinweg, wirbelte die Schöße ihres Umhangs auf und zerwühlte ihr Haar. Aber Susanna schien das gar nicht zu merken. Regungslos starrte sie ihre Mutter an, ihr drängender Blick eine einzige Frage, die nach Antwort verlangte.

«Warum denn nicht?» Gwladys holte tief Luft. Sie wollte nicht über dieses Thema streiten. «Wenn du etwas älter bist, wirst du mich vielleicht verstehen», fügte sie leise hinzu.

Susanna atmete ebenfalls tief durch. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie sich wie ein Kind aufführte, dabei wollte sie doch gerade beweisen, dass sie keines mehr war. Sie senkte den Kopf und verbarg das Gesicht hinter ihrem dichten, langen Haar. Dann schluckte sie ein paarmal und versuchte, den Kloß in ihrem Hals zu beseitigen. Sie hatte nicht erwartet, dass es so schwer sein würde. Der Anblick ihrer Mutter und der Klang ihrer Stimme beschworen Gefühle herauf, die sie lange erfolgreich unterdrückt hatte – und Erinnerungen, die sie längst vergessen geglaubt hatte. Vorher, weit weg von hier, war es einfach gewesen, ihre Mutter zu verteufeln, aber jetzt … Susanna blinzelte wütend. Gwladys war immer noch ihre Mutter. Susanna biss sich auf die Lippen und rang um Beherrschung. Sie dachte an Idwal und seinen angestauten Zorn, an Gorffenna und die Geschichten, die sie sich ausmalte, und allmählich verwandelten sich ihre hitzigen Gefühle in kalte Wut. Mit beiden Händen strich sie das dunkle Haar zurück und blickte ihre Mutter direkt an. Die goldenen Sprenkel in ihren haselnussbraunen Augen wirkten hart wie Metall.

«Ich habe von diesem Augenblick geträumt», sagte sie leise. «Aber ich stellte mir immer vor, dann schon erwachsen zu sein und selbst Kinder zu haben. Ich würde dir ebenbürtig gegenüberstehen – und dir zeigen, was für eine gute Mutter ich bin, die ihre Kinder niemals verlässt.» Sie machte eine kurze Pause, denn ihre Worte hatten offensichtlich einen wunden Punkt berührt. «Was erwartest du eigentlich?», fuhr sie in schroffem Ton fort. «Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du uns angetan hast? Ohne ein einziges Wort bist du davongeritten. Du hattest nicht einmal den Mut, dich von uns zu verabschieden!»

Brüsk wandte sie den Kopf ab und starrte auf das Wasser, das unermüdlich ins Meer strömte, wünschte, sie könnte sich mit den Wellen weit forttreiben lassen. Der Wind fuhr durch ihr Haar und wickelte es wie einen schützenden Umhang um ihren Körper.

«Warum wolltest du ausgerechnet mich sehen?», fragte sie dann. «Ich war nie dein Lieblingskind. Idwal ist der Erstgeborene und dein einziger Sohn. Du hast ihn immer deinen ‹kleinen Mann› genannt. Und Ffenna, die erst nach Vaters Tod auf die Welt kam, war vom ersten Tag an das verhätschelte Nesthäkchen. Warum also ich, Mutter? Und warum jetzt?»

«Weil du immer die Mutigste warst und die mit dem wachsten Verstand. Und wie ich sehe, hast du beides nicht verloren», fügte Gwladys zärtlich hinzu und näherte sich Susanna zögernd. «Ich wollte dich sehen, um dir zu sagen, dass wir hierher ziehen.»

«Das erwähntest du bereits», erwiderte Susanna trocken.

Gwladys packte sie an den Schultern. Nach einem kurzen Seitenblick auf die Eskorte, die sich die ganze Zeit in ihrer Nähe aufhielt, sah sie Susanna fest in die Augen.

«Ich möchte, dass du deinem Onkel Rhodri Folgendes ausrichtest: Wir haben unseren Wohnsitz hierher verlegt, so wie etliche unserer Freunde. Mein Mann, Roger, war nie einer von Lord Fitzhamons Gefolgsleuten, er diente König Henry schon vor dessen Krönung und dient ihm immer noch. Lord Fitzhamon ist bei der Belagerung von Falaise schwer verwundet worden. Noch ist er am Leben, aber vielleicht nicht mehr lange. Außerdem hat sein Verstand solchen Schaden davongetragen, dass er keinesfalls mehr in der Lage sein wird zu regieren. Der König hat bereits Lord Fitzhamons kleine Tochter – die Alleinerbin seiner Besitztümer – unter seinen Schutz gestellt. Das ist die Situation. Hast du alles genau verstanden, Susanna?»

Susanna starrte ihre Mutter an. Nach und nach begann sie den Sinn dessen zu begreifen, was Gwladys gerade gesagt hatte. Am Hofe Lord Iestyns hatte Susanna mit angehört, wie sich die Männer über gewisse Gerüchte unterhielten. Jetzt war ihr auf einmal klar, warum Onkel Rhodri sie zu diesem Treffen ermutigt und warum Gwladys darum gebeten hatte. «Du möchtest uns also wissen lassen, dass sich jetzt der englische König höchstpersönlich für unsere Ländereien interessiert», antwortete sie fast unhörbar und mit ausdruckslosem Gesicht.

«Ich wusste, dass du mich nicht enttäuschst», stellte Gwladys zufrieden fest. Völlig unempfänglich dafür, wie sich Susanna in diesem Augenblick fühlen musste, fuhr sie mit gedämpfter Stimme fort: «Anfänglich war ich nicht sonderlich besorgt angesichts der normannischen Burgen, von denen mehr und mehr in den von Walisern regierten Gebieten auftauchten. Ich glaubte Roger, als er mir sagte, sie dienten lediglich der Verteidigung. Aber in all den Jahren, die ich jetzt an seiner Seite lebe, habe ich erfahren, wie land- und machthungrig die Normannen sind. Die Herrscher sind hartgesottene Männer, die jede Gelegenheit ergreifen, um ihre Macht zu vergrößern. Und jetzt haben sie einen König, dessen Raffgier die ihre noch übertrifft.» Sie streckte die Hand aus und strich ihrer Tochter zärtlich über die Wange. «Aber genug von der Welt der Männer. Komm, ich habe ein kleines Abendessen für dich herrichten lassen. Ich dachte mir schon, dass du das Mittagessen versäumen würdest – wir pflegen sehr früh zu speisen. Danach musst du dich tüchtig ausschlafen, und morgen reden wir weiter. Ich möchte alles über euch drei erfahren, wie es euch ergangen ist und was eure Tante euch beigebracht hat.»

Susanna zwang sich zu einem Lächeln und erlaubte der Mutter, sich bei ihr einzuhaken. Während sie zurückgingen, schalt sie sich selbst, weil sie so enttäuscht war. Sie hätte es besser wissen müssen. Es geht ihr nicht darum, mich zu sehen, sie brauchte lediglich einen zuverlässigen Boten, dachte sie voller Bitterkeit.

Als sie zur Halle zurückkehrten, bemerkte Susanna, dass die Leute sie mit dem gleichen Interesse betrachteten wie bei ihrer Ankunft. Alle grüßten überaus freundlich, und Gwladys übersetzte alles geduldig, da Susanna kein Französisch sprach. Sie war sehr fasziniert von diesen Menschen, die sich gar nicht viel anders kleideten als ihre eigenen Leute. Lediglich die Stiefelschäfte waren nicht ganz so hoch, sondern reichten gerade einmal bis über die Knöchel. Außerdem trugen die Männer Vollbärte, und am Halsausschnitt ihrer Waffenröcke sah man Brusthaare sprießen. Susannas Landsmänner waren alle glatt rasiert, und außer dem Kopfhaar waren lediglich Oberlippenbärte eine geduldete Form der sichtbaren Körperbehaarung.

«Wie du siehst, ist unsere Art zu leben gar nicht viel anders.» Gwladys hatte sich dicht neben Susanna gesetzt und sah ihr beim Essen zu.

«Wo hält sich dein Ehemann zurzeit auf?», erkundigte sich Susanna höflich und vermied bewusst den vertraulichen Ton ihrer Mutter.

«Er ist in Cardiff und erfüllt seine Pflichten als Wachhabender der Burg», erklärte Gwladys und fügte leise hinzu: «Die Ankunft des Königs wird erwartet.»

Obwohl es ziemlich unwahrscheinlich war, dass hier irgendjemand Walisisch sprach, wusste Gwladys, dass sie vorsichtig sein musste. Eine lose Zunge galt als Todsünde, und ihr Mann würde sie dafür bestrafen. Sie wollte ihn nicht hintergehen, aber sie hatte auch kein schlechtes Gewissen – schließlich ging es um ihre Kinder.

Susanna hörte auf, an dem Hühnerbein zu knabbern, und schluckte schnell herunter. Tante Gwens Ermahnungen bezüglich ihrer Tischmanieren klangen ihr förmlich im Ohr.

«Weiß Roger, dass ich hier bin?»

Gwladys senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. «Er wird es erfahren», erwiderte sie leise. Dann lächelte sie und tätschelte Susannas Hand. «Komm, du musst dich unbedingt hinlegen und ausruhen, die Mägde haben für dich ein Lager in meinem Schlafgemach bereitet.»

Susanna erwiderte das Lächeln. Obwohl sie dagegen ankämpfte, wurde sie allmählich etwas vertrauter mit ihrer Mutter und betrachtete sie verstohlen, während sie ihr durch den Saal bis hinter einen Vorhang folgte, der das Schlafgemach vom übrigen Raum abtrennte. Sie plauderte schon fast vertrauensselig, während sie sich auszog und für das Bett zurechtmachte, als plötzlich eine Magd mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau hereinkam.

«Bitte entschuldigt, Mylady, die beiden wollten einfach nicht schlafen gehen, ohne Euch eine gute Nacht gewünscht zu haben.»

Beim Anblick der Kinder strahlte Gwladys, drückte die beiden fest an sich und überschüttete sie mit Kosenamen in einer Mischung aus Französisch und Walisisch. Der Junge mochte etwa vier, das Mädchen vielleicht drei sein, vermutete Susanna. Und trotz ihrer blonden Haare war unzweifelhaft zu erkennen, wer die Mutter der beiden war.

«Susanna, darf ich dir deinen Halbbruder und deine Halbschwester vorstellen, Geoffrey und Hawise», sprudelte es aufgeregt aus Gwladys heraus, während die beiden Kinder Susanna schüchtern betrachteten. «Sie möchten dir auch gute Nacht sagen», fuhr sie fort und registrierte nicht im Geringsten, dass Susanna plötzlich wie versteinert wirkte.

Dass ihre Mutter noch mehr Kinder hatte, war für Susanna ein Schock, obwohl sie davon eigentlich hätte ausgehen müssen. Während sie mit ansah, wie ihre Mutter die beiden küsste und herzte und dabei auf die gleiche Art den Kopf neigte und lächelte wie damals, als Susanna noch klein war, wurde ihr jäh bewusst, um was sie gebracht worden war. All das habe ich nicht gehabt, dachte Susanna und spürte, wie sich ihr Herz verhärtete.

«Sagt Susanna gute Nacht», forderte Gwladys die beiden auf.

«Bonne nuit», murmelte Geoffrey, und als seine Mutter mahnend den Finger hob und mit gespieltem Tadel die Stirn runzelte, fügte er rasch hinzu: «Nos da.» Dann schob die Magd die beiden eilig hinaus.

«Findest du nicht auch, dass Hawise mit ihren hübschen Locken aussieht wie Gorffenna?», rief Gwladys und klatschte vor Begeisterung in die Hände, während sie sich wieder Susanna zuwandte.

«Ffennas Haar ist nicht so goldgelb und viel glatter. Und sie ist auch nicht mehr das Baby, das du in Erinnerung hast», murmelte Susanna abweisend. «Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, Mutter.»

Ohne ein weiteres Wort schlüpfte Susanna unter das Laken und hoffte, dass ihre Mutter enttäuscht war, weil sie ihr keinen Gutenachtkuss gegeben hatte. Aber Gwladys schwieg und ging zurück in die Halle.

Susanna schlief nicht besonders gut. Sie war schon früh auf den Beinen und hatte bereits ihre Reisekleidung angelegt, als Gwladys erwachte.

«Wo willst du hin, Susanna?», fragte sie überrascht, während sie sich von einem Dienstboten einen Becher Wein reichen ließ.

«Wir reisen ab», erwiderte Susanna geradeheraus.

«Aber ihr wolltet doch ein paar Tage bleiben?», protestierte ihre Mutter, griff nach ihrem Umhang und stieg hastig aus dem Bett.

«Das war keineswegs so vereinbart. Du hast mich gebeten, dich zu besuchen, und das habe ich getan. Jetzt mache ich mich auf den Heimweg», erklärte Susanna in schneidendem Ton, streifte ihre Lederhandschuhe über und wandte sich zum Gehen.

«Susanna, warte.» Gwladys packte sie am Arm. «Was ist passiert? Habe ich dich durch irgendetwas verärgert?»

Susanna zögerte angesichts der Angst, die ihrer Mutter deutlich anzuhören war, und wandte sich ihr zu.

«Warum hast du mir nicht gesagt, dass du noch mehr Kinder hast?», fragte sie leise.

«Ich dachte, davon würdest du ohnehin ausgehen, ich meine …», erwiderte Gwladys verwirrt. Nachdem sie sich wieder etwas gesammelt hatte, fuhr sie fort: «Ich habe einfach auf den richtigen Moment gewartet. Jetzt weiß ich, dass es falsch war, dir nicht sofort davon zu erzählen. Aber die Kinder sind doch nicht etwa der Grund für deine Abreise?»

«Durch sie ist mir klar geworden, dass du dein eigenes Leben führst, eines, an dem wir keinen Anteil haben.» Susanna sah ihre Mutter mit festem Blick an.

«Aber Susanna, ich möchte, dass ihr zu meinem Leben gehört, ebenso wie ich zu eurem.» Gwladys’ Stimme klang flehentlich.

«Auf dieses Anrecht hast du vor fünf Jahren verzichtet.»

Gwladys zuckte zusammen wie bei einer Ohrfeige. «Ich habe es vermutlich nicht anders verdient», murmelte sie traurig.

«Damit liegst du verdammt richtig», herrschte Susanna sie an. Sie wollte ihre Mutter verletzen, deshalb bediente sie sich ganz bewusst eines Wortes, das sie bei Hofe aufgeschnappt hatte.

Gwladys funkelte sie böse an. «Susanna! Ich verbitte mir diesen Ton. Ich bin immer noch deine Mutter.»

«Nun, ich hoffe, du wirst den beiden Kleinen eine bessere sein, als du es uns gewesen bist», entfuhr es Susanna, die ihre Gefühle nicht länger im Zaum halten konnte. «Ich hoffe, Geoffrey wird niemals so wie Idwal nachts im Dunkeln weinen, wenn er glaubt, dass seine Schwester schläft. Und Hawise wird ihre mageren Erinnerungen nicht mit den romantischen Geschichten irgendwelcher Dichter ausschmücken müssen, so wie Ffenna.»

«Und du kannst anscheinend nichts anderes tun, als mich ständig zu verurteilen», versuchte sich Gwladys wütend zu verteidigen.

Susanna konnte nicht sofort antworten. Sie presste die Zähne aufeinander, bis es schmerzte, in der Hoffnung, ihre Unterlippe würde dann aufhören zu zittern.

«Was siehst du, wenn du mich anschaust, Mutter?», fragte sie schließlich. «Ein junges Mädchen an der Schwelle zum Frausein, das hart und zynisch geworden ist? Soll ich dir sagen, was ich sehe? Ein sechsjähriges Kind, das zum Tor läuft und zusehen muss, wie seine Mutter davonreitet. Ein völlig verwirrtes kleines Mädchen, das innerlich fleht, sie möge sich umdrehen … sie möge sich doch bitte umdrehen.» Wütend wischte sie mit der Hand eine Träne weg. «Nicht ein einziges Mal, Mutter, du hast nicht ein einziges Mal zurückgeschaut. Idwal ging schließlich, aber ich blieb dort stehen, auch noch, als du schon längst außer Sicht warst. Es fing an zu regnen, aber ich habe gewartet. Ich stand dort, bis Onkel Rhodri kam, mich hochhob und meine Tränen wegküsste. Wage also nicht, mir vorzuwerfen, dass ich dich verurteile.»

«Es tut mir so Leid … das habe ich nicht gewusst», sagte Gwladys mit erstickter Stimme.

«Es ist wohl das Beste, wenn ich jetzt gehe.» Susanna atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen. «Es hätte keinen Zweck, länger zu bleiben», fügte sie hinzu und warf ihrer Mutter einen Blick zu, in dem die Bitte zu lesen war, nicht darüber zu streiten.

«Wie du willst», gab sich Gwladys geschlagen. «Ich begleite dich zum Tor.»

Als Mutter und Tochter hinausgingen, sahen sich die Bediensteten fragend an. Sie waren Ohrenzeugen der heftigen, auf Walisisch geführten Auseinandersetzung gewesen und wünschten, sie hätten etwas davon verstehen können.

 

Geraint wartete bereits mit den gesattelten Pferden, und Susanna saß sofort auf. Von ihrem Pferd herab sah sie ihre Mutter an. «Ich werde Onkel Rhodri deine Botschaft übermitteln», sagte sie mit belegter Stimme.

«Komm gut nach Hause», flüsterte Gwladys und ergriff Susannas Hand. «Werde ich dich wiedersehen?»

«Ich weiß es nicht», erwiderte Susanna müde. Sie löste ihre Hand aus Gwladys’ Umklammerung, griff nach den Zügeln ihres Pferdes, tätschelte das Tier liebevoll und ritt durch das Tor hinaus.

Während sie davonritt, breitete sich große Erleichterung in ihr aus. So lange hatte sie ihre Gefühle unterdrückt, jetzt hatten sie endlich hervorbrechen dürfen. Sie fühlte sich, als wäre eine schwere Last von ihr genommen. Festzustellen, dass sie ihre Mutter nicht hasste, verursachte zwar widersprüchliche Empfindungen in ihr, aber Susanna hoffte, dass der Gedanke an sie von nun an nicht mehr ihr Leben vergiften würde. Schön nach vorn schauen, sagte sie sich stirnrunzelnd, nur nach vorn schauen. Aber als ihre kleine Gruppe sich immer weiter von dem Gebäude entfernte, da war es, als drehe eine unsichtbare Hand ihren Kopf. Sosehr sie sich auch dagegen sträubte, sie musste einfach zurückschauen. Aber da stand niemand mehr – ihre Mutter war bereits gegangen.

Kapitel Zwei

August 1105. Am Hofe Lord Iestyns, Morgannwg

«Ich werde in den Saal gehen!», verkündete Idwal. Er und Susanna quetschten sich in die Fensteröffnung ihres Zimmers, um die Besucher aus Senghennydd sehen zu können, die soeben auf den Burghof geritten kamen.

«Onkel Rhodri hat gesagt, dass wir hier bleiben sollen», entgegnete Susanna.