Die Welt gegenüber - Eva Schmidt - E-Book

Die Welt gegenüber E-Book

Eva Schmidt

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Beschreibung

Die Menschen, von denen Eva Schmidt in ihren Büchern erzählt, sind Nachbarn, Menschen, die neben anderen Menschen leben, einander nah genug, um sich einsam zu fühlen, weit genug voneinander, um sich zu beobachten: aus Neugier, aus dem Bedürfnis nach Berührung oder Intimität, aus Lust an der Überschreitung. Es sind Menschen, die nachts allein in einem Auto am Straßenrand sitzen, Menschen am Fenster, wenn gegenüber das Licht angeht, Menschen, die im Gespräch ausweichen und lieber wieder von ihren Hunden sprechen, solche, die länger als andere den Vögeln am Himmel nachschauen. Von ihnen erzählt Eva Schmidt mit Empathie und Zurückhaltung, nüchtern und beteiligt zugleich. Der Blick, den sie auf ihre Figuren hat, und die Sprache, in der sie lebendig werden, sind provozierend klar. So klar, dass darin nach und nach Ahnungen spürbar und Risse erkennbar werden: leise Irritationen, die noch das Alltäglichste in unserem Leben in eine gespenstische Atmosphäre kippen lassen und in ein Erschrecken darüber, wie allein wir sind.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 Jung und Jung, Salzburg und Wien

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehalten

Umschlagbild: Ole Marius Joergensen »the breakdown«

Umschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.com

eISBN 978-3-99027-181-0

EVA SCHMIDT

Die Welt gegenüber

Erzählungen

Things you did. Things you never did. Things you dreamed. After a long time they run together.

Richard Yates

INHALT

Die Nacht

Sommerregen

Das Fehlende

Die Störung

Der Mann von der Tankstelle

Vögel

Vielleicht nach Skagen

Lear

Das fremde Kind

Die Nacht, in der Jessica über das Seil stolperte

Eine ernste Sache

Die Esel von Riparbella

DIE NACHT

Das Zimmer, das wir während unseres Aufenthalts in Brighton bewohnten, befand sich im zweiten Stock einer Pension in einem schmalen Haus mit Vorgarten in Upper Rock Gardens. Abends, der Verkehr hatte sich etwas beruhigt, aber noch immer hielten die Busse alle zehn Minuten ein paar Häuser weiter, rauchte ich, aus dem Fenster gelehnt, meine letzte Zigarette. Das Meer jenseits der Promenade am Ende der Straße hatte sich vom steinigen Ufer zurückgezogen und lag im Dunkeln, während im Haus gegenüber die zwei Fenster im Dachgeschoss erleuchtet waren.

Es waren nicht viel mehr als Andeutungen von Leben, kleine Ausschnitte von Alltäglichem, zusammengesetzt aus kurzen Auftritten und spärlichen Gesten mir vollkommen fremder Menschen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Genaugenommen war es zunächst nur ein Vorhang, ein weißer, glattgespannter Sichtschutz aus Baumwolle oder Leinen, durch den der Schein einer warmen Zimmerbeleuchtung drang. Der obere Teil des Vorhangs oder Rouleaus war lichtdurchlässig, aber dennoch undurchsichtig, doch hinter einer luftigen Bordüre im unteren Teil bewegte sich ein Mann. Er war mit einem weißen Bademantel bekleidet, ich sah von ihm weder Schultern noch Kopf noch Beine, sondern, je nachdem, wie weit er sich dem Fenster näherte oder wieder im rückwärtigen Teil des Raumes verschwand, einen mehr oder weniger großen Teil seiner Körpermitte. Ich sah den lose über schmalen Hüften geknüpften Gurt des Mantels, sah seine Hände und Arme aus den aufgekrempelten Ärmeln ragen und beobachtete, wie er sich mehrmals Richtung Fenster bewegte und schließlich, nach ein paar Handbewegungen, die nicht verrieten, womit er sich beschäftigte, von diesem wieder entfernte. Anfangs dachte ich, er würde sich zu einem Kind niederbeugen, das in einem Bett am Fenster lag, das Kind zudecken, es vielleicht streicheln. Danach stellte ich mir vor, dass er Kissen auf einem Sofa ordnete oder Gläser auf einem kleinen Tisch. Doch meine Überlegungen wurden durch das Erscheinen einer jungen Frau im danebenliegenden Zimmer unterbrochen. Ich hatte diesen Raum, dessen Fenster weder mit Vorhängen noch mit Jalousien verhängt war, für die Küche gehalten. Eine Vitrine, in deren Fächern Tassen und Gläser gestapelt waren, befand sich an jener Wand, die an das Zimmer grenzte, in dem sich der Mann aufhielt, mehr war von der Möblierung nicht zu sehen. Doch auf dem Sims des hohen Fensters stand eine gläserne Kaffeemaschine, eines jener alten französischen Modelle, die in den vergangenen Jahren wieder stark in Mode gekommen waren. Die Frau, die im Licht der schwachen Deckenbeleuchtung hantierte, wo die Arbeitsfläche zu vermuten war, hatte kinnlange, sehr gerade geschnittene dunkle, vermutlich schwarze Haare, Haare, die ihr Profil beinahe zur Gänze verdeckten. Ich hatte den Eindruck, dass es sich um eine Frau asiatischer Abstammung handelte, auch wenn mir nicht ganz klar war, warum. Sie trug, soweit ich erkennen konnte, ein helles, geblümtes, vielleicht rosafarbenes Kleid, möglicherweise ein Unterkleid, das sich eng an ihren schmalen Körper schmiegte, und verschwand, ohne mir ihr Gesicht zuzuwenden, schließlich wieder, indem sie das Licht im Hinausgehen ausmachte.

Ich hatte mir inzwischen eine zweite letzte Zigarette angezündet. Meine Augen waren unablässig auf das Rouleau gerichtet, während meine Gedanken abschweiften. Sie bewegten sich in der Zeit zurück und nach vorne, verzweigten sich und verknüpften Ereignisse, Erinnerungen und Gefühle aus meinem eigenen Leben mit dem anderer, während ich noch immer darauf wartete, dass sich im Haus gegenüber ein Mann im weißen Bademantel oder dessen Frau am Fenster zeigten. Und warum machte mich das traurig? Weshalb nur? Hatte sich mir nicht in diesen vergangenen Minuten ein Bild des Glücks gezeigt? Zusammengesetzt aus wenigen Gesten und Bewegungen zweier Menschen, ihrer Art, sich zu kleiden, und der Sorgfalt, die sie auf ihre alltäglichen Verrichtungen verwandten. Sie hatten ihre kleine Wohnung geschmackvoll eingerichtet, auch wenn sich meine Vermutungen auf nicht viel mehr als ein Stück Küchenschrank, eine französische Kaffeemaschine und ein weißes Rouleau mit Lochbordüre stützten, das sich immerhin von der üblichen geblümten und gebauschten Vorhangkultur anderer Häuser hier unterschied. Einmal noch an diesem Abend sah ich den Mann am Fenster, und einen Augenblick lang glaubte ich, im Hintergrund des Zimmers ein Wehen wahrgenommen zu haben, das leichte Wehen eines geblümten Unterkleides, das von einer Frau herrühren mochte. Doch ich konnte mich getäuscht haben.

Ich rauchte zu Ende, drückte die Zigarette auf dem Fenstersims aus und warf die Kippe nach unten auf die Straße. Als ich zu Bett ging, brannte das Licht im Dachgeschoss des gegenüberliegenden Hauses noch immer. Nachdem ich die schweren Vorhänge zugezogen hatte, bewegten sich meine Gedanken in der Dunkelheit des Zimmers wie eine Horde von Mäusen, die nicht wegzuscheuchen waren. In einem Zustand unerträglicher Wachheit nach dem Tee vom Nachmittag und der gleichzeitigen Müdigkeit vom langen Wandern auf den Klippen begannen sich die Eindrücke des Tages zu verselbständigen. Sie wurden zu sich bewegenden Bildern und Visionen, die einander rasch abwechselten. Es waren keineswegs Vorstellungen von Glück, so sehr ich mir dieses auch herbeizudenken versuchte, sondern solche von Einsamkeit, von gegenseitigem Ungenügen, von Kummer. Immer wieder tauchte das Gesicht der Frau aus dem gegenüberliegenden Haus vor mir auf, die am langen Kieselstrand von Brighton aufs Meer blickte, und ich sah es in rasender Geschwindigkeit alt werden. Ihre schönen Lippen wurden schmal und hart, ihre glänzenden schwarzen Augen fahl und ausdruckslos. Es war wohl eine Art Mitleid, das mich nicht einschlafen ließ, Mitleid mit dem jungen Paar im gegenüberliegenden Haus, mit mir selbst, mit anderen Männern und Frauen, die ihre Jugend, oft aber auch ihr ganzes Leben darauf verwendeten, auf etwas zu hoffen, das die Grenzen ihres Wesens, die Barrieren, die sie selber schufen, überstieg.

Am nächsten Morgen weckten mich die lauten Schreie der Seemöwen. Ich stand auf, schob die schweren Vorhänge beiseite, und während ich Tee kochte, beobachtete ich die riesigen Vögel, die von anderer Statur und ungleich größer waren als ihre kleinen Artgenossen und mich erheiterten, weil ihre Schnäbel geformt und gefärbt waren, als würden sie immerzu lachen. Sie waren an diesem frühen Morgen nur zu zweit und zelebrierten auf dem Dach der St Martin’s Church ihr übliches Ritual, das, wozu es auch immer dienen mochte, laut genug war, die Bewohner eines ganzen Viertels zu wecken. Ich lehnte mich weit aus dem Fenster, um das Meer zu sehen, das im Licht der aufsteigenden Sonne metallblau schimmerte. Gedankenlos, lediglich einem Automatismus folgend, schaute ich wenig später nach oben und sah im Dachgeschoss gegenüber eine junge Frau ans Fenster treten. Sie wandte mir ihr Gesicht zu, und im Licht des Tages sah ich, dass sie ein hell gemustertes Nachthemd trug. Sie hatte rotbraune, kinnlange Haare, und über eine Distanz von zwei Fahrspuren und Vorgärten glaubte ich klar zu erkennen, dass ihre helle Haut voller Sommersprossen war. Sie machte sich in dem Raum, in dem sich die Küche befand, zu schaffen, und es waren ihre Bewegungen, ihre ruhigen, bestimmten und zupackenden Handgriffe, die die Schemen und Geister der Nacht verscheuchten, so als wären diese nur Schatten gewesen, ähnlich jenen, die mich in den Nächten meiner Kindheit heimgesucht hatten, bis ich nach endlosen Minuten der Angst jedes Mal feststellte, dass es wieder nur der Wind gewesen war, der die Vorhänge bewegte, oder das Licht des Mondes, das durch die Bäume fiel und über die Wände wanderte.

Ich atmete die kühle, nach Salz und Tang riechende Seeluft ein, sah unten auf der Straße den ersten Bus halten und empfand allein die Geräusche, das stotternde Anspringen eines Motors, das Bellen eines Hundes, der auf dem Vorplatz der St Martin’s Church den Tauben nachjagte, das sandige Knirschen eines Rollladens wie Botschaften des Gerettetseins. Im Dachgeschoss des Hauses gegenüber tauchte schließlich ein Mann auf. Er trug einen weißen Bademantel mit aufgekrempelten Ärmeln und legte einen seiner nackten Arme um die Taille der Frau, ganz nebenbei, und während sie unbeirrt weiterarbeitete, Tee aufbrühte oder Eier in eine Pfanne schlug, beobachtete ich, wie sich die beiden Seemöwen mit einem Kreischen vom Dach der Kirche stürzten, ihren Sturzflug abrupt abbrachen, ein paar Kreise zogen und mit lautem Geschrei durch die breiten Häuserzeilen von Upper und Lower Rock Gardens auf das weite offene Meer zuflogen.

SOMMERREGEN

Als das Mobiltelefon auf dem Beifahrersitz klingelte, lenkte er den Wagen an den Straßenrand und hielt an. Er sah die Nummer auf dem Display. Er ließ es läuten, bis sich die Mailbox einschaltete, es war nur ein Kunde. Er hatte einen anderen Anruf erwartet. Wie dumm von ihm, sie würde natürlich nicht anrufen. Er versuchte, tief ein- und auszuatmen. Sein Hals war wie zugeschnürt, und wieder spürte er diesen Druck im Kopf, als würde gleich etwas Schlimmes passieren. So etwas wie ein Schlaganfall oder ein Tumor im Kopf, der auf irgendein wichtiges Zentrum in seinem Gehirn drückte. Wichtig. Was war schon wichtig? Ihm war schwindlig, und er hatte das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein.

Früher hatte ihn Autofahren beruhigt. Übers Land, durch kleine Ortschaften zu fahren, ohne sich später an deren Namen zu erinnern, hatte ihm oft geholfen, wenn er wegen irgendetwas, meist waren es Kleinigkeiten, außer sich geraten war. Ein Kaffee wäre jetzt gut, dachte er. Aber in dem Nest, in dem er gelandet war, hatte nichts mehr offen. Es regnete noch immer, also machte er die Scheibenwischer an, schaute die Straße entlang. Die Parkplätze waren leer, bis auf zwei Autos am Ende der Straße. Ein paar Schaufenster waren beleuchtet, das Innere der Geschäfte aber dunkel. Hier gab es nirgends Kaffee. Er langte auf den Rücksitz, öffnete die Papiertüte, in der sich sein Abendessen befand, das er vor gut zwei Stunden an einer Tankstelle gekauft hatte. Ein Sandwich, das er gar nicht erst auspackte, eine Packung Erdnüsse, Wasser und eine Flasche Wodka. Wenn er mit dem Auto unterwegs war, trank er meistens Wodka, weil man ihn angeblich nicht roch, aber jetzt bereute er, dass er stattdessen nicht eine Flasche Gin oder Bourbon genommen hatte. Er schraubte den Verschluss auf und trank, steckte die Flasche dann zurück in die Tüte.

In dieser Nacht würde er wohl im Auto schlafen, er fühlte sich zu müde, um noch ein Zimmer zu suchen. Warum war er bloß so weit gefahren? Sein letzter Schlafplatz war gar nicht so schlecht gewesen. Er hatte das Gästezimmer benutzt, nicht das Elternschlafzimmer. Ehebetten deprimierten ihn. Er schaute auf den Tacho, er war mindestens hundert Kilometer gefahren. Als wäre jemand hinter ihm her. In dieser Gegend gab es kein Haus, in dem er übernachten konnte, dazu musste er seinen Aktenkoffer gar nicht erst aufmachen. Er hatte die Liste im Kopf. Eine Dreizimmerwohnung, ein Appartement, zwei Einfamilienhäuser, alle in nächster Nähe seines Büros. Wenn er nicht bald Käufer fand, würden die Besitzer den Makler wechseln. Er sah es kommen.

Er nahm noch einen Schluck. Rülpste. Schaltete wieder die Scheibenwischer ein. Nichts rührte sich. Hier war niemand mehr unterwegs, nicht einmal ein Streifenwagen. Wenn sie nicht aufgehört hätte zu trinken, wären wir noch immer zusammen, dachte er. Er hatte sie beobachtet, war sicher gewesen, dass sie ihm etwas vormachte. Wenn sie abends unterwegs war – und das war sie so gut wie jeden Abend –, trank sie sicher kein Himbeerwasser. Erst vor ein paar Tagen hatte er sich ein Fernglas gekauft. Das Auto konnte er in der Nähe des Hauses nicht stehenlassen, sie hätte es sofort erkannt. Also hatte er einen halben Kilometer entfernt geparkt und sich hinter die Hecke geschlichen. Seine Schuhe waren danach voller Dreck gewesen, an der Hose klebten Kletten, und die Schleimspur einer Schnecke zog sich über den Saum. Das Fernglas war gut, er hatte sogar den Flaum auf ihrer Oberlippe gesehen. Sie hatte sich die Wimpern getuscht, die Lippen angemalt, ein Kleid mit Ausschnitt getragen. Ein Kleid, das er noch nie an ihr gesehen hatte. Neu gekauft. Mit seinem Geld. Das Haus könne er gerne verkaufen, hatte sie gesagt, sie würde bald in ein Appartement in der Stadt ziehen. Sicher, hatte er gedacht, aber nicht zu deinem Liebhaber. Der hat eine Frau und zwei Kinder.

Die Flasche war bald bis zur Hälfte leer. Vielleicht sollte er doch etwas essen. Er nahm einen Schluck Wasser, biss in das Sandwich, die Salatblätter schmeckten faul, Mayonnaise tropfte auf seine Hose. Egal. Passte zu der Schneckenspur. Er lachte. Wie einem plötzlich alles egal sein konnte. Egal, egal, egal. Klar würde er das Haus verkaufen. Schon morgen stünde es auf seiner Onlineplattform. An allererster Stelle. Er würde einfach die alten Fotos nehmen, die alte Beschreibung. Als er ihr das Angebot gezeigt hatte, war sie gleich Feuer und Flamme gewesen. Genau das Richtige für uns, hatte sie gemeint. Ein heller Wohnraum mit Küche, ein Elternschlafzimmer mit Balkon, zwei Kinderzimmer, ein kleiner Garten. Ob sie sich nicht einen größeren Garten vorgestellt habe?, hatte er gefragt. Sie hatte nur gelacht. Gartenarbeit sei nicht so ihr Ding, hatte sie gesagt, und die Kinder würden ohnehin alles verwüsten. Welche Kinder?, dachte er. Als er sie dabei ertappt hatte, wie sie heimlich verhütete, hatte sie sich herausgeredet. Auf die Hypothek, ihren Job, der gerade gut lief. In Zeiten wie diesen könne man nicht einfach planlos Kinder in die Welt setzen, hatte sie gesagt. Klar war er ausgerastet. Er dachte an ihre blutige Nase, die aufgesprungene Lippe. Er bereute nichts. Höchstens, dass er sich hinterher dafür entschuldigt hatte.

Es regnete ohne Unterlass. Die Straße, die Fassaden mit den geschlossenen Läden, die Waren in den Auslagen, die zerschlissenen Bordüren, die wie kleine Fahnen von den eingezogenen Markisen hingen, sahen aus, als würden sie gleich davonschwimmen. Er schraubte die Flasche auf, trank, steckte sich eine Zigarette an, ließ das Fenster auf der Beifahrerseite ein Stück herunter. So stark hatte es in den vergangenen Tagen oft geregnet. Auch in der ersten Nacht, als er sich im Gästezimmer eines seiner Verkaufsobjekte einquartiert hatte. Das Zimmer lag unter dem Dach, und irgendwann hatte er gedacht, dass man von Dauerregen verrückt werden konnte. Genauso wie von dichtem Nebel. Wie damals, als er mit ihr auf irgendeiner Autobahn im Ausland unterwegs gewesen war. Sie hatten sich gestritten, weil er die falsche Ausfahrt genommen hatte, vielleicht auch aus einem anderen Grund. Der Nebel war so dicht geworden, dass er nicht schneller als im Schritttempo fahren und sich nur noch an der Fahrbahnmarkierung orientieren hatte können. Aber sie hatte einfach nicht den Mund gehalten. Mach mal Musik an, hatte sie gesagt, oder: Da hat dich gerade einer überholt, du könntest ruhig etwas schneller fahren. Er hatte die Zähne zusammengebissen, die Hände ans Lenkrad geklammert. Es war ihr erster gemeinsamer Urlaub gewesen, und gleich zu Beginn war die Stimmung gekippt, weil das Fenster in ihrem Hotelzimmer auf einen Hinterhof ging und der Bettüberwurf voller Flecken war. Sie hatte die Flecken angewidert betrachtet und gemeint, es handle sich um Spermaflecken, hatte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer gesetzt und ihm beim Kofferauspacken zugesehen. Einen dünnen, weinroten Pullover hatte sie getragen. Etwas an diesem Pullover hatte ihn gestört. Oder vielleicht die Art, wie sie dagesessen war.

Er warf die Kippe aus dem Fenster, schaltete das Radio ein, drehte am Knopf, fluchte, weil er nichts Passendes fand. Als er das Handschuhfach öffnete, fielen ein paar CDs heraus. Er wollte sich bücken, um sie aufzuheben, bemerkte, dass er noch immer angeschnallt war, drückte auf den Sicherungsknopf, der sich aber nicht gleich öffnete. Die Wut kam wie ein Schwall. Er zerrte und riss am Gurt, glaubte zu ersticken. Ein Knopf von seinem Sakko riss ab, als der Gurt endlich zurückschnellte. Er ließ das Fenster auf seiner Seite herunter, lehnte den Kopf aus dem Fenster. Das tat gut.

Nachdem er sich beruhigt hatte, bückte er sich nach den CDs am Boden, sortierte sie, holte eine aus der Hülle, steckte sie in den Schlitz. Er lehnte sich zurück, griff nach der Flasche, trank, steckte sich eine weitere Zigarette an, trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad, schloss die Augen. Yeah, dachte er, der gute, alte Charlie. So hätte sie ihn sehen sollen. So war er gewesen, bevor er sie kennengelernt hatte. Frei. Frei, frei, frei. Wie um alles in der Welt hatte er sich so verändern können?

Charlie war schon immer sein Idol gewesen. Dabei hatte er gar nicht mehr gelebt, als er auf die Welt gekommen war. Er kannte ihn nur von Filmaufnahmen auf YouTube und von den vielen Platten und CDs, die er gesammelt hatte. Charlies wegen hatte er sich einen Plattenspieler gekauft, auf Vinyl hörte sich alles besser an. Er hatte in Plattenläden und im Internet gestöbert, an Auktionen teilgenommen, er war so stolz auf seine Sammlung gewesen. Hatte alles über Charlie gelesen. Sein Leben war dem Charlies ähnlich, wenn auch nicht unbedingt äußerlich. Einmal hatte er zu ihr gesagt, sie solle ihn Bird nennen. Nie würde er vergessen, wie sie gelacht hatte. Bird?, hatte sie gesagt und gemeint, da würden ihr ein paar Namen einfallen, die besser zu ihm passten. Zum Beispiel?, hatte er gefragt. Sie hatte ihn von oben bis unten gemustert, war einen Schritt zurückgetreten und dabei über den Teppich gestolpert. Sie war betrunken gewesen und hatte gar nicht mehr aufgehört zu lachen. Bird, hatte sie gelallt. Bird. Er hatte sie gepackt, auf die Couch gestoßen, ihr eine Ohrfeige verpasst. Wenn er jetzt daran zurückdachte, war er auf eine einzige Sache stolz: dass er die Plattensammlung nicht verkauft hatte. Sie sei ein Vermögen wert, hatte er ihr erklärt. Dann verkauf sie doch, hatte sie gemeint. Sie hatte Charlie auch nicht hören wollen, nicht einmal den Duke wollte sie hören. Und wozu er überhaupt ein Saxophon habe, hatte sie wissen wollen, wenn er doch nicht spiele. Es war das Einzige, was er mitgenommen hatte: die Sammlung, den Plattenspieler und seine Klamotten. Der Kofferraum war voll. Kaum dass er den Deckel zugekriegt hatte.

Es ist nicht falsch, ein Vorbild zu haben, dachte er. Jemanden, dem man möglichst ähnlich ist. Er hatte die Ähnlichkeit mit Charlie immer gespürt. Auch wenn er nie Musiker oder berühmt werden würde, darum ging es nicht. Das Saxophon hatte er zurückgelassen, er würde es später holen, sobald er einen Käufer für das Haus gefunden hatte. In den Jahren ihrer Ehe hatte er es nur selten aus dem Koffer geholt, nur wenn sie nicht da war. Aber mehr als ein paar schiefe Töne hatte er nicht zustande gebracht. Er nahm noch einen Schluck. Bald wäre die Flasche leer, dann würde er schlafen. An Ort und Stelle. Oder noch ein Stück weiterfahren, irgendwo am Straßenrand oder in einem Waldweg parken. Hier war die Gegend voller Wälder, zwischen jedem Dorf ein Wald. Wälder in der Ebene und auf Hügeln. Charlie war vierunddreißig gewesen, als er starb. So alt wie er jetzt. Er war auf Heroin gewesen, nie mehr losgekommen von dem Stoff. Der Stoff, aus dem die Träume sind, dachte er und lachte. Sobald er alles hinter sich hatte, die Scheidung, den Hausverkauf, würde er Saxophon lernen, sich statt des Autos ein Motorrad kaufen. Wegziehen.

Er dachte an die Donald-Trump-Maske, die er gekauft hatte, um ihren Liebhaber zu überfallen. Er hatte Erkundigungen über ihn eingezogen, wusste, wo er wohnte, wie die Frau aussah, mit der er verheiratet war. Er hatte die beiden Kinder gesehen, zwei Jungs, die sich im Hof des Mietshauses, in dem sie wohnten, geprügelt hatten. Die Frau hatte keine schlechte Figur, er hatte sie gesehen, als sie zu den Mülltonnen ging. Der Mann arbeitete als Barkeeper in einem Club in der Stadt. Wenn er abends zum Dienst ging, kam er mit geölten Haaren, frisch rasiert und geduscht aus dem Haus, setzte sich in seinen Audi A4 und fuhr Richtung Innenstadt, um sich in der Bar von einer wie seiner Ex anmachen zu lassen. Er hatte sich die Sache mit dem Überfall ein paar Tage überlegt, sich das Ganze dann aber aus dem Kopf geschlagen. Es war den Einsatz nicht wert.

Er war so unendlich müde. Dachte an seinen Vater, der auch immer müde gewesen war. Charlies Vater hatte die Familie im Stich gelassen, sein Vater war geblieben. Mürrisch war er am späten Nachmittag von seiner Schicht zurückgekommen, hatte ein Bier aufgemacht und sich vor den Fernseher gesetzt. Und dann war er einfach gestorben. So konnte man sich auch davonmachen.

Ein Rest Wodka war noch in der Flasche. Entweder fuhr er weiter bis zu einer Tankstelle, oder er legte sich schlafen. Im Gästezimmer des leerstehenden Hauses hatte er sich auf die nackte Matratze gelegt. Die Besitzer hatten sie zurückgelassen, sie gehörte in den Müll. Es war eine wabbelige, vergilbte Schaumstoffmatratze. Er fragte sich, wie oft jemand darauf geschlafen hatte, die Familie hatte nicht ausgesehen, als würden ständig Gäste kommen. Vermutlich musste der Mann im Gästezimmer schlafen, wenn er zu viel getrunken hatte und schnarchte. Was aus ihnen geworden war, wusste er nicht. Er sollte das Haus für sie verkaufen, weil der Mann seine Arbeit verloren hatte, weshalb sie die Kreditraten nicht mehr zurückzahlen konnten. Er nahm noch einen Schluck. Immobilienmakler war so gesehen ein mieser Beruf. Die Leute taten einem leid, wenn sie ihre Häuser und Wohnungen verloren.

So am Ende, wie er jetzt war, musste dringend eine neue Flasche her. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss, bis sich das Gebläse und das Navi einschalten ließen. Die nächste Tankstelle war eineinhalb Kilometer entfernt. Was, wenn er in eine Kontrolle geriet? Er konnte es sich im Augenblick nicht leisten, seinen Führerschein zu verlieren. Er könnte einfach aufhören zu trinken. Für immer. Oder … er öffnete noch einmal das Handschuhfach, tastete darin herum, zog die Pistole heraus. Sie war schwer, das Metall kalt. Er hielt sich den Lauf an die Nase, schnupperte daran. Schon lange hatte er sie nicht mehr gereinigt und geölt, war seit Jahren nicht mehr beim Schießtraining gewesen. Er hielt sich die Waffe an die Stirn und sagte: Peng. Dann drückte er den Lauf an die Nase, steckte ihn in den Mund, suchte über dem Hemd nach der Stelle, wo er den Herzschlag am intensivsten spürte. Er war ein guter Schütze und wusste genau, wo und in welchem Winkel man die Waffe ansetzen musste, um schnell und sicher zu sterben.

Damals, als er mit dem Training angefangen hatte, wollte er zur Polizei. Es hatte nicht geklappt, er war ein paar Zentimeter zu klein, und seine Augen waren schlecht. Inzwischen trug er Linsen. Inzwischen wären sie froh, wenn er sich noch einmal bewerben würde, sie hatten zu wenig Personal, er hatte so etwas gelesen. Er hatte ihr erzählt, dass er zur Polizei wollte. Einen Bullen hätte sie nie geheiratet, hatte sie gesagt. Warum nicht?, hatte er gefragt, aber es war ihr keine Antwort eingefallen. Sie sagte oft etwas, das sie hinterher nicht begründen konnte. Seinen ursprünglichen Beruf hatte er ihr verschwiegen.

Als er sie kennenlernte, hatte er den Kurs als Immobilienverkäufer gerade abgeschlossen. Er war Eisenleger gewesen. Am liebsten hatte er beim Bau von Brücken und Hochhäusern gearbeitet, weit oben hatte er sich am wohlsten gefühlt. Es war seine beste Zeit gewesen. Abends mit den Kollegen etwas trinken. Frauen kennenlernen, die zu ihm passten. Er hatte keine einzige von ihnen geschlagen.

Durch Lucy hatte er Charlie entdeckt und all die anderen. Sie hatte ihn in einen Jazzclub mitgenommen, er hatte gar nicht gewusst, dass es so etwas gab, aber gleich gespürt, dass es das war, wonach er gesucht hatte. Etwas Besonderes. Auch Lucy war etwas Besonderes gewesen. Sie hatten viel gelacht, so hatte er noch nie im Leben gelacht. Wenn sie nicht gestorben wäre, wären sie bestimmt zusammengezogen. Von Heiraten war nie die Rede gewesen. Sie hätten sich auch kein Haus gekauft, höchstens ein Wohnmobil. Lucy war mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, sie befand sich im toten Winkel eines abbiegenden Lastwagens, als sie überfahren wurde. Der Fahrer konnte nichts dafür, er hatte sie nicht gesehen. Warum sie nicht gesehen hatte, dass der Wagen abbog, würde er nie erfahren. Bestimmt war sie in Gedanken gewesen. Vielleicht hatte sie an ihn gedacht. Es war jedenfalls eine schöne Vorstellung, dass ihre letzten Gedanken ihm gegolten hatten.

Lover Man war Lucys Lieblingsstück gewesen. Einmal hatte sie gesagt: Lover Man, das bist du. Er hatte sich darüber gefreut, sich aber verhalten, als wäre es selbstverständlich, dass sie so etwas sagte.

Eines seiner Lieblingsstücke war Don’t Blame me. Er hatte sich die Nummer angehört, sooft er Streit mit seiner Frau gehabt hatte. Natürlich erst, nachdem sie das Haus verlassen hatte, wie immer nach einem Streit. Jedes Mal hatte sie gesagt, sie werde jetzt endgültig ihre Koffer packen. Einmal hatte er einen ihrer Koffer aus dem Keller geholt und vor sie hingestellt. Sie hatte schon nicht mehr gewusst, dass sie ihm damit gedroht hatte, und gefragt: Was soll das? Du wolltest doch deine Koffer packen, hatte er erwidert.

Er steckte sich noch eine Zigarette an, trank die halbe Wasserflasche leer. Vielleicht sollte er doch zurückfahren, sich für ein paar Tage und Nächte noch einmal im Gästezimmer einquartieren. In der letzten Nacht, als er dort gelegen war und an das Fenster gestarrt hatte, gegen das der Regen klatschte, hatte er gedacht, dass er den Rest seines Lebens am liebsten in dieser Höhle verbringen würde. Er hatte sich so sicher gefühlt. Niemand wusste, dass er da war. Die Leute, für die er das Haus verkaufen sollte, erwarteten ihr Geld, aber er würde sie noch eine Weile hinhalten. Er hatte den Plattenspieler aufgestellt, geraucht, gegessen und getrunken und die ganze Nacht lang Charlie Parker gehört, zwischendurch auch ein paar andere Platten. Aber immer wieder war es Charlie gewesen, der ihm das Gefühl gegeben hatte, dass alles gar nicht so schlecht war.