Die Welt in Weiß - Joachim Zelter - E-Book

Die Welt in Weiß E-Book

Joachim Zelter

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Beschreibung

Sieben vom Autor eigens für diesen Band zusammengestellte oder neu geschriebene Erzählungen - und jede von ihnen führt in eine andere Welt in Weiß, in eine andere Krankenwelt. Ein wahres Multiversum an Geschichten, Begebenheiten, Einwänden und Beobachtungen von tragikomischer Eigenwilligkeit und skurriler Schärfe. Mit meisterlichem Gespür dringt Joachim Zelter in die Welt seiner Krankenhelden ein, zeichnet sie als liebenswerte "Antihelden", als Klinikneurotiker und Hypochonder im fortgeschrittenen Stadium: Wiedergänger von Molieres eingebildetem Kranken und zugleich Protagonisten der menschlichsten aller menschlichen Schwächen überhaupt: der Angst und der Furcht.

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Seitenzahl: 87

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Joachim Zelter

Die Welt in Weiß

KrönerEditionKlöpfer

Betrachtungen eines Krankenhausgängers und andere Vorkommnisse

Für Dietmar Mues

in Freundschaft und Dankbarkeit

Inhalt

Betrachtungen eines Krankenhausgängers  5

Eine kranke Welt  42

Moritz Münch  49

Die Frau und das Buch  59

Ein Arzt  68

Götter in Weiß  76

Ein Los  81

Schleusenwärterin  83

Betrachtungen eines Krankenhausgängers

Auf den ersten Blick schien die Operation, zu der es noch einige Zeit hin war, die man auch noch vertagen konnte, schien die anberaumte Operation nur ein geringfügiger Eingriff – ein Eingriff von immerhin dreizehn Zentimeter Länge, um mein Bein für die Entfernung einiger Schrauben zu öffnen, die mir vor Jahren nach einem Unfall eingesetzt worden waren. Reine Routine, sagten die Ärzte, eine Bagatelle, eine Nebensache, nicht der Rede wert. Nicht nur, dass ich mit erstaunlicher Gelassenheit die Operation ins Auge fasste, ich selbst war es, der die Operation angeregt hatte. Die Ärzte folgten meiner Anregung wohlwollend, wenn nicht begeistert, und reichten mir die erforderlichen Formulare zur Unterschrift. Es wurden fünf Unterschriften, die mein Einverständnis meiner eigenen Anregung auf zahlreichen Bögen und Ausfüllblättern festhielten. Die bei mir aufkommenden Fragen und Nachfragen behandelten die Ärzte im ruhigen Ton ihrer wohl langjährigen Erfahrungen mit solchen und viel schwierigeren Operationen. Ihre braungebrannten Gesichter strotzten vor Gesundheit und gesundem Optimismus. Hinzu kam ein Ausdruck gelangweilter Sieghaftigkeit – wie verwegene Kampfpiloten – durch nichts zu beunruhigen – die Furchtlosigkeit zum Lebensprinzip erhoben. »Ach was.« Mit wegwerfenden Bewegungen scheuchten sie alle Bedenken von sich: »Ach was.« Auch meine Fragen: »Ach was. Aber nein ...« Ich brachte gute Röntgenbilder. Meine Kniebeugen waren vielverheißend. Die mir bevorstehende Operation: »eine Bagatelloperation.« Ein Oberarzt im Vorbeigehen: »Na!?« Später der Professor persönlich: ein kurzer Windstoß, der mit Gefolge ins Untersuchungszimmer wehte und wieder davonflog – Sekunden einer Sprechstunde, die die Harmlosigkeit der Operation bezeugte.

Derartig geringfügig wurde der Eingriff hingestellt, dass man mir sogar die freie Wahl der Narkose überließ: entweder (wie bisher) eine Vollnarkose oder (neuerdings) die Spinalanästhesie. Spinalanästhesie – das ist der langgezogene Stich einer Nadel in den Rücken, ins Rückgrat, ja, in die Nähe des Rückenmarks des Patienten. Die Nervenbahnen zum Unterleib werden betäubt, die Beine schwer. Sie verlieren jedes Gefühl, jede Zugehörigkeit zum Oberkörper – und umgekehrt: Dem Oberkörper entschwindet die Zuständigkeit für den Unterkörper, so wie der Unterkörper alle Bindung zum Oberkörper verliert. Als ob beide Körperhälften nichts mehr miteinander zu tun hätten: der Oberleib nichts mehr mit der Operation des Unterleibs, der Unterleib nichts mehr mit den Sorgen des Oberleibs. Die Operation erfolgt im Wachzustand. »Denken Sie darüber nach.« Ich dachte darüber nach, daheim im Bett. Mit einem Merkblatt der Klinik lag ich auf Kissen gestützt und erörterte die Wahl der Narkose. Es musste ein Fragebogen beantwortet werden: »Wurden Sie schon einmal operiert?« Ja. »Haben Sie schon einmal eine Bluttransfusion bekommen?« Nein. »Haben Sie für die vorgesehene Operation Eigenblut gespendet?« Nein. Sollte ich!? Fragen zu Herzerkrankungen: »Haben Sie Atemnot beim Treppensteigen?« Nein. Oder doch. Um die Wahrheit zu sagen: ja! Fragen zu Lungen- und Atemwegserkrankungen, Lebererkrankungen, Bluterkrankungen (z.B. erhöhte Blutungsneigung) und sonstige, nicht aufgeführte Erkrankungen oder Besonderheiten: Gebiss, lockere Zähne, Nerven- und Gemütsleiden, besondere berufliche Verhältnisse. Mit Sorge dachte ich an die Offenbarung meiner besonderen beruflichen Verhältnisse. Der Fragebogen nahm kein Ende: »Leiden Sie unter Heuschnupfen?« Nicht unbedingt Heuschnupfen, aber Schnupfen. Nächste Seite, nächste Frage: »Sind Sie religiös? Glauben Sie an Gott?« Wie bitte? »Glauben Sie an Gott?« Zum Ankreuzen. »Nein oder ja?« Nicht ja oder nein, sondern nein oder ja. »Evangelisch oder Katholisch?« Katholisch. »Wünschen Sie seelsorgerische Begleitung?« Begleitung? Meine diesbezüglichen Angaben, so der Fragebogen, würden nicht an die Ärzte, sondern nur an das Klinikpfarramt weitergegeben.

Fast beiläufig entdeckte ich die Frage: »Wahl des Betäubungsverfahrens. Bitte ankreuzen! Allgemeinanästhesie oder Regionalanästhesie?«

»Welche Operation ist, mit Verlaub gefragt, nicht regional?« – fragte mich eine Bekannte. Ich richtete mich auf. Wie wahr. »Jede Operation auf der Welt ist mehr oder weniger regional.« Nie hatte sie von einer Operation gehört, die von Kopf bis Fuß geht. Wie wahr. Kein Patient der Welt würde sagen: Ich wurde allgemein, insgesamt, am ganzen Körper, von oben bis unten operiert. Selbst die schrecklichsten Operationen kennen Grenzen, sind also regional. Warum dann das Wort regional? Und warum im Gegensatz dazu das Gegenwort allgemein: Allgemeinanästhesie. So als würde man einen Menschen nicht im Besonderen, sondern allgemein operieren. Welch seltsames Wort: Allgemeinanästhesie. Meine Bekannte mutmaßte, vielleicht um mich zu beruhigen, es heiße Allgemeinanästhesie, weil die Allgemeinanästhesie allgemein üblich und anerkannt sei. Oder weil sie sich bewährt habe und die sicherste Methode sei – oder allgemein bevorzugt werde?

Doch in dem Allgemeinen liegen auch die größten Gefahren. Im Aufklärungsbogen der Klinik las ich: »Nach der Narkose ist es ganz normal, dass Sie noch für einige Zeit müde und schläfrig sind.« Was heißt hier normal? Was bedeutet müde und schläfrig? Wie müde, wie schläfrig? Wie lange? Stunden, Tage, Monate, Jahre? Wie viele Gehirnzellen sterben dabei ab? Wie viele Menschen wandeln durch die Welt in der Allgemeinheit der allgemeinen Folgen der Allgemeinanästhesie. Ich sehe es an ihren leeren Blicken. Karl Marx würde sagen: Die Allgemeinanästhesie ist das Opium des Volks.

Doch dies sind nur Spielereien, Wortklaubereien. Die Wörter der Medizin haben die größten praktischen Folgen, vor allem gesundheitliche Folgen. Ich fing an die Anästhesie zu studieren. Anästhesie ist das falsche Wort. Der korrekte Fachausdruck lautet Anästhesiologie: »die Wissenschaft von der Ausschaltung der Schmerzempfindung, den Narkose- und Wiederbelebungsverfahren« (Zitat aus einem Lehrbuch). Alles drei könnte bei der mir bevorstehenden Operation eine Rolle spielen: Schmerz, Narkose, Wiederbelebung ... Die Anästhesiologie – manchmal verspreche ich mich und sage Anästheologie – die Anästhesiologie – so schreibt das Lehrbuch – sei die größte Errungenschaft der modernen Medizin, womöglich gar der größte Kunstgriff der Menschheit. »Der Mensch ist ein Schmerzwesen« (Zitat). Ein Schmerzwesen mit mehr Schmerzen als jedes andere Wesen. Operationen seien unvermeidliche Serien kalkulierter Schmerzereignisse. Für eine große Reihe chirurgischer Eingriffe sei die sachgemäße Ausführung der Narkose ebenso oder noch wichtiger als das operativ-technische Werk, heißt es in dem medizinischen Lehrbuch, das ich mir eigens gekauft hatte. Je länger ich darin las, desto vehementer sprach das Buch von der Anästhesiologie als eigenständiger Wissenschaft, wenn nicht als der Königswissenschaft unter den medizinischen oder sämtlichen Wissenschaften. Keine Operation ohne Anästhesie. Keine Intensivstation ohne Anästhesie. Keine Wiederbelebung, keine Lebensverlängerung ohne Anästhesie. Kein Leben ohne Anästhesie – mehr als nur eine Wissenschaft, fast schon eine Philosophie: Philosophie des Lebens, des Schmerzes und seiner Transzendenz.

Der Anästhesist sei übrigens ein eigener Menschenschlag, nicht ohne Grund mit einem gesonderten Parkplatz vor jedem Krankenhaus: Anästhesie oder Anästhesist, viel stiller, behutsamer, sanfter, filigraner, verständnisvoller, vielleicht sogar belesener (auch in schöngeistigen Dingen) als andere Ärzte. Mit einer gewissen Hoffnung (Hoffnung auf Verständnis und Milde) blickte ich, noch zu Hause, in meinem Bett, dem Anästhesisten, der mich betäuben würde, entgegen, als jemandem, der die Schmerzen der Menschen versteht, der mich mit Klavierhänden begrüßt und mir beruhigend zuspricht, vielleicht Shakespeare zitierend ... Dies als Wink an die Operateure, vor denen mich der Anästhesist in Schutz nimmt. Ja, er wird im besten Sinne des Wortes an meiner Seite stehen, an meinem Kopf, während die Chirurgen sich an meinem Bein zu schaffen machen, während der Anästhesist mir zulächelt, mir alle Freiheiten einräumt, vor allem aber (wo sonst gibt es derartiges in der Medizin) mir die freie Wahl lässt, die Wahl der Narkose, Vollnarkose oder Regionalnarkose, ganz nach Gusto, je nachdem, wie Sie wollen ...

Je länger ich in dem Buch las, umso besser verstand ich die großen, epochalen Betäubungsverfahren der Anästhesiologie, deren es zahlreiche gibt. Zunächst die Vollnarkose mit ihren zahlreichen Variationen (intravenöse Narkose, Maskennarkose, Intubationsnarkose), sodann die vielfachen Formen der Regionalanästhesie: die Spinalanästhesie, die Periduralanästhesie, die Kaudalanästhesie ... Ich gebe zu, dass ich ein schmerzempfindlicher Mensch bin. Das ist normal, heißt es in dem Buch. Die Spinalanästhesie wird im Sitzen oder in Seitenlage vorgenommen. Es wird eine erste Spritze unter die Rückenhaut gesetzt, und es wird eine zweite Spritze in den Wirbelkanal gespritzt. Bald dringt das Anästhetikum in jede Faser meiner Nerven. Alle schmerzleitenden Nervenbahnen sind nun betäubt. Schmerzleitende Nerven! Ein entlarvendes Wort. Schmerzleitend bedeutet ja nichts anderes als schmerzleidend und schmerzleidend nichts anderes als schmerzleitend ... Dies nur als Randnotiz, während die Spritze vorbereitet wird. Im Lehrbuch steht, die Nadel der Spritze sei hauchdünn. Zwischen dem zweiten und dritten Lendenwirbel dringt sie in mich ein. Ihre Wirkung beginnt innerhalb von Minuten. Meine Beine ... Ich spüre sie nicht mehr. Das ist normal, steht in dem Buch. Sie bewegen sich nicht mehr. Ich bewege sie nicht mehr. Sie gehorchen mir nicht mehr. Ich gehorche mir nicht mehr. Sie liegen wie die Beine eines Fremden vor mir. Sie liegen wie lebloses Holz, doch ich sehe kein Holz, sondern Beine, nicht die Beine eines anderen, sondern meine eigenen, die nicht mehr meine eigenen Beine sind, sondern abgetrennt vor mir liegen ... Der Beinamputierte spürt womöglich den Schmerz seiner Beine, die es nicht mehr gibt, während es meine Beine noch gibt, aber ich sie nicht mehr spüre. »So ist das Leben«, höre ich eine Krankenschwester sagen, die mich in einen anderen Raum schiebt, denn mit dem Grauen meiner leblosen Beine ist es noch nicht genug, es kommt ja noch die Operation, die mich erwartet, die ich nun mit eigenen Augen erleben werde.

Es brennt in der Tat das grelle Licht einer Operationslampe. Es stehen tatsächlich vermummte Ärzte, Assistenten und Schwestern, die meinen Gruß kaum erwidern, sondern über meine Anwesenheit hinweg allerlei Instrumente und chirurgisches Besteck für mich anrichten und Tücher ausbreiten. Ich sehe einen Chirurgen in tänzelnder Erwartung.