Die Witwe - Gilly Macmillan - E-Book

Die Witwe E-Book

Gilly Macmillan

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Beschreibung

Ein malerisches Anwesen im Südwesten Englands und eine Frau allein unter Mördern ... Der neue packende Roman von »New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellerautorin Gilly Macmillan!

Als sie mehrere Millionen im Lotto gewinnen, ändert sich das Leben von Nicole und Tom über Nacht schlagartig. Das Ehepaar zieht in eine speziell angefertigte hochmoderne Scheune aus Glas, die auf einem wunderschönen Gelände in Gloucestershire steht, und lebt ein Leben im Luxus. Doch der wahr gewordene Traum wird zum Albtraum, als Nicole ihren Ehemann ermordet im Pool auffindet. Nicole ist verzweifelt. Jemand aus ihrem nächsten Umfeld muss für Toms Tod verantwortlich sein. Doch außer dem netten Nachbarspaar und deren Haushälterin gibt es meilenweit niemanden. Nicole fühlt sich beobachtet und bedroht – wie ein Goldfisch, umgeben von Piranhas …

Atmosphärisch, böse und nervenzerreißend spannend! Lesen Sie auch »Die Nanny«, »Die Vertraute« und »Ein langes Wochenende«.

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Seitenzahl: 565

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Buch

Als sie mehrere Millionen im Lotto gewinnen, ändert sich das Leben von Nicole und Tom über Nacht schlagartig. Das Ehepaar zieht in eine speziell angefertigte hochmoderne Scheune aus Glas, die auf einem wunderschönen Gelände in Gloucestershire steht, und lebt ein Leben im Luxus. Doch der wahr gewordene Traum wird zum Albtraum, als Nicole ihren Ehemann ermordet im Pool auffindet. Nicole ist verzweifelt. Jemand aus ihrem nächsten Umfeld muss für Toms Tod verantwortlich sein. Doch außer dem netten Nachbarspaar und deren Haushälterin gibt es meilenweit niemanden. Nicole fühlt sich beobachtet und bedroht – wie ein Goldfisch, umgeben von Piranhas …

Autorin

Gilly Macmillan wuchs in Swindon, Wiltshire, auf und lebte in ihrer Jugend einige Jahre im Norden Kaliforniens. Sie arbeitete beim Burlington Magazine, für die Hayward Gallery und als Dozentin für Fotografie. Heute widmet sie sich ganz dem Schreiben. Gilly Macmillans Romane sind allesamt Bestseller und erfreuen sich nicht nur in Großbritannien großer Beliebtheit. Auch bei uns hat die SPIEGEL-Bestsellerautorin eine riesige Fangemeinde. Sie lebt mit ihrer Familie in Bristol, England.

Von Gilly Macmillan bereits erschienen

Die Nanny · Die Vertraute · Ein langes Wochenende

Gilly Macmillan

Die Witwe

Roman

Deutsch von Christoph Göhler

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel THEFALL bei Century, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © 2023 by Gilly Macmillan

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Kerstin Kubitz

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotiv: © Trevillion Images (© Mark Owen; © Ildiko Neer); Dave Wall / Arcangel Images; www.buerosued.de

StH · Herstellung: sam

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29707-7V001

www.blanvalet.de

In Erinnerung an Milo Macmillan,unter anderem ein sehr guter Hund

Vorbemerkung der Autorin

Die Halbinsel Lancaut gibt es tatsächlich, aber die Gebäude und Personen in diesem Roman sind fiktiv, wie auch einige der angegebenen Örtlichkeiten. Die fiktiven Orte, Namen, Figuren, Unternehmen, Ereignisse und Vorfälle entspringen allein der Fantasie der Autorin. Jede Ähnlichkeit mit realen Personen, lebend oder verstorben, oder mit tatsächlichen Örtlichkeiten ist reiner Zufall.

1

Samstag

Nicole

Ich habe so ein Glück, sagt sich Nicole. Die ersten zweiunddreißig Jahre ihres Lebens waren vollkommen unauffällig, dafür die beiden letzten ganz und gar nicht. Sie kann es selbst kaum glauben. Es gibt so viele jüngere Versionen ihrer selbst, zu denen sie gern zeitreisen würde, um ihnen dieses neue Leben zu beschreiben, aber keine einzige würde ihr glauben.

Das Stoffverdeck des Wagens ist zurückgeklappt und die Motorhaube blinkt in der Sonne. Nicoles neue Chanel-Sonnenbrille tönt alles in einem zauberhaften Zartrosa, selbst die niedlichen Schafe, die auf der Weide grasen. Sie kann sich nicht erinnern, je zuvor so optimistisch und glücklich gewesen zu sein, nicht einmal an ihrem Hochzeitstag oder an dem Tag, an dem sie die Bestätigung bekam, dass sie und Tom im Lotto gewonnen hatten und stinkreich sein würden.

Dennoch fährt sie vorsichtig und fasst das Lenkrad mit beiden Händen. Vielleicht greift sie unter dem Einfluss der Endorphine etwas fester zu als sonst, aber sie kommt keine Sekunde in Versuchung, das Gaspedal durchzutreten. Nicole ist risikoscheu; der Wunsch nach einem Adrenalinrausch ist ihr vollkommen fremd. Ehe sie so schlagartig reich wurden, war absolut nichts Impulsives an ihrem zähen Kampf um eine Beförderung zur Administrative Managerin bei Carter, Carter & Dun, einer auf Liegenschaftsübertragungen spezialisierten Anwaltskanzlei, genauso wenig wie an ihrem Ringen mit Tom, jeden verfügbaren Penny für die Anzahlung auf ihr erstes Heim zurückzulegen – ein winziges Haus in einer der Schlafstädte bei Swindon. Sie leistete Überstunden und verstand trotz ihres knappen Budgets zu sparen, nur für sich und Tom, ihren Jugendschwarm und die Liebe ihres Lebens.

Selbst jetzt, wo sie wie im Märchen leben, ist sie stolz darauf, wie viel sie damals erreicht hatte und wie sie alles geregelt hat, seit sie das Geld gewonnen haben. Als die Leute von der National Lottery vor ihrer Haustür auftauchten, um ihren Gewinn zu bestätigen, und Tom so geschockt und verdattert reagierte wie jemand, der, na ja, eben im Lotto gewonnen hat, lauschte sie währenddessen aufmerksam allen Ratschlägen, schrieb gewissenhaft mit und unterstrich zweimal die Mahnung der Berater, alles sorgfältig zu bedenken und sich Zeit zu lassen, bevor sie irgendwelche radikalen Entscheidungen fällten. Nur eine Entscheidung traf Nicole sofort: dass sie mit ihrem Gewinn nicht an die Öffentlichkeit gehen würden. Ihr graute vor der Vorstellung, dass alle von ihrem Reichtum wissen könnten. Nicole ist instinktiv zurückhaltend und Tom tiefenentspannt, darum hatte auch er keine Lust auf den damit verbundenen Rummel.

Besonders aufmerksam hörte sie auch dem Finanzberater zu, während er Konten eröffnete, auf die das Geld überwiesen werden sollte, sie beherzigte seine abschreckenden Erzählungen von Lottogewinnern, die überstürzt gehandelt und daraufhin alles verloren hatten, und beschloss, dass ihr und Tom das nie, nie passieren würde. Nur über ihre Leiche. Vielleicht hatte es Tom genügt, als Mechaniker zu arbeiten und am Freitagabend mit seinen Freunden in den Pub zu gehen, aber sie hatte schon immer davon geträumt, ein größeres, schöneres Leben zu führen, und dies war ihre Chance.

Sie bremst ab, als sie sich dem verwitterten hölzernen Wegweiser nähert, der links zum Naturreservat Lancaut weist, und biegt in die schmale Straße zu ihrem Haus, das bislang ihre größte Investition ist. Sie und Tom haben ihre Glasscheune auf der Lancaut Peninsula errichtet, einer Halbinsel, umschlossen von einer dramatischen Flussbiegung des Wye, an der Grenze zwischen England und Wales. Ihr Vater, ein begeisterter Vogelbeobachter, hatte sie als Kind öfter hierher mitgenommen. Er nannte Lancaut einen verlorenen und ganz besonderen Ort und das ist er bis heute geblieben.

Dichter Wald reckt sich über den Wagen und sprenkelt den Weg mit getüpfelten Schatten. Die Bäume überziehen wie Flechten die gesamte Halbinsel. Sie fährt an der kleinen Ausbuchtung vorbei, in der ihr Vater immer parkte und von wo sie beide, die Feldstecher um den Hals, erst ein Stück die Straße entlang und dann über den steilen Pfad hinunter zum Naturreservat wanderten. Ihr Weg führte am Manor House vorbei, dessen Tor damals wie heute hoch und imposant neben der Straße aufragte und ihr einen sehnsüchtigen Blick auf das Anwesen erlaubte. Als Kind staunte sie über das eindrucksvolle Gebäude und fragte sich, wer wohl dort wohnen mochte. Sie hätte sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages in der Nachbarschaft leben würde.

Heute fährt sie nicht bis zum Manor House. Nach wenigen Minuten weitet sich zu ihrer Rechten der Blick, der Wald weicht zurück und sie schaut auf die einzige große Lichtung der gesamten Halbinsel. Ein Flickenteppich von Feldern und Viehweiden zieht sich hangabwärts bis zum Fluss. Nicoles Herz beginnt zu klopfen. Inzwischen wohnen sie schon einige Monate hier, aber wenn sie nach Hause kommt, ist es immer noch so, als hätte sie das Ende des Regenbogens erreicht und einen Topf mit Gold gefunden.

Auf einer ebenen Fläche in der Mitte der Lichtung erhebt sich die Glasscheune massiv und stolz aus den Überresten einiger Farmgebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nicole findet den Kontrast zwischen den harten Kanten und kompromisslosen Materialien des Neubaus und den verwitterten Ruinen rundherum überwältigend. Die Sonne wird heiß von den großen Fensterflächen reflektiert, nach denen sie ihr neues Zuhause »Glasscheune« benannt haben. Das Haus dominiert die Landschaft, als würde es nicht nur über seine unmittelbare Umgebung, sondern auch über das Panorama und sogar den Himmel darüber gebieten. Nicole liebt es aus ganzem Herzen.

Seit sechs Monaten wohnen sie hier. Sie will hier eine Familie gründen – sie arbeiten gerade am ersten Kind – und alt werden. Sie hat Tom erklärt, dass sie hier erst weggeht, wenn man sie in einem Sarg hinausträgt.

Sie biegt rechts ab auf die lange, gerade Zufahrt. Es gibt so vieles, was sie Tom von der Landwirtschaftsausstellung erzählen möchte. Sie hat die allerniedlichsten Tiere gesehen. Sie sollten sich unbedingt noch einmal darüber unterhalten, ob sie sich nicht ein paar Schafe zulegen können, nur eine kleine Zierherde, die auf den Feldern neben der Glasscheune grast. Tom hält nicht viel davon, aber vielleicht lässt er sich überreden. Sie parkt auf der breiten Zufahrt neben seinem Maserati und nimmt ihre Tasche vom Beifahrersitz. Als sie sich dem Eingang nähert, hört sie drinnen Musik. Oper. Sie lächelt. Offenbar ist Tom im Wohnbereich gleich hinter dem Eingang. Die Glasscheune verfügt über ein ausgeklügeltes Smarthome-System. Es kann die einzelnen Bewohner im Haus tracken und ist so programmiert, dass die Musik dir folgt, wenn du von einem Zimmer ins nächste wechselst, um dich dort aus unsichtbaren Wandlautsprechern zu beschallen.

Sie blickt in die Kamera, die ihr Gesicht scannen und die Tür entriegeln soll. Normalerweise passiert das in Sekundenschnelle und die Tür öffnet sich mit einem Klicken, doch es klappt nicht immer auf Anhieb. Sie tritt näher an die Kamera, reißt die Augen auf, starrt angestrengt in die Linse und tatsächlich schwingt, als sie schon glaubt, dass etwas kaputt ist, die Tür auf.

Hin und wieder hakt das System. An manchen Tagen führt es sich auf wie ein griesgrämiger Verwandter, den du erst milde stimmen musst, bevor er dir etwas Gutes tut. Wenn es nach Nicole gegangen wäre, hätten sie lediglich eine Alarmanlage installiert und keines der anderen Features. Sie mag es altmodisch, aber Toms Technikbegeisterung ist mit ihm durchgegangen. Er wollte ein Smarthome auf dem allerneuesten Stand der Technik.

»Danke«, sagt sie zur Tür und schließt sie hinter sich. Sie ist froh, der Hitze entkommen zu sein. Die Glasscheune ist klimatisiert, jeder Raum wird auf Idealtemperatur gehalten. Sie legt Sonnenbrille und Schlüssel auf dem kleinen Tisch im Atrium ab und tritt in den Wohnbereich. Die Musik läuft auf voller Lautstärke, aber Tom ist nirgendwo zu sehen. »Hallo!«, ruft sie. »Bin wieder da!«

Keine Antwort. Sie seufzt. Sie weiß nicht, wie sie die Musik manuell leiser stellen kann. »Tom!«, ruft sie. Nessun Dorma übertönt sie. Tom hat jüngst beschlossen, dass er sich für Opern interessieren könnte, ein weiterer Anlauf in einer Reihe von Selbstoptimierungsversuchen, die er seit ihrem Lottogewinn unternommen hat. Seit Wochen laufen die Drei Tenöre in Dauerschleife.

»Musik leiser!«, ruft sie. Es ist entschieden zu laut. Aber das System reagiert nicht. Vielleicht müsste sie etwas auf ihrem Handy eingeben oder auf dem von Tom. Was die Musikeinstellungen angeht, kennt sie sich nur vage aus. Das ist Toms Metier. »Tom!«, ruft sie wieder. »Mach die Musik leiser!«

Die Tenöre beantworten ihren Ruf mit einem derart jubelnden Crescendo, dass sie sich die Hände auf die Ohren presst. Tom könnte überall im Haus sein, vielleicht ist er auch draußen auf einer der Sonnenterrassen. Ironischerweise weiß das Haus wahrscheinlich, wo er steckt, nur Nicole weiß es nicht.

Die Glasscheune ist riesig, sie besteht aus einer ganzen Reihe von Gebäuden, die durch einen kapriziösen, auf der früheren Bebauung basierenden Grundriss verbunden sind. Sie schickt ihm eine Nachricht: Bin zurück, wo steckst du?, und wartet auf eine Antwort, aber die Nachricht wird nicht zugestellt. Eigenartig. Sie geht weiter in die Küche, wo sie kurz stehen bleibt, um die mit getrockneter Milch verkrustete Schaumdüse an der Kaffeemaschine abzuwischen und eine schmutzige Müslischale von der Kücheninsel in die Geschirrspülmaschine zu räumen.

Als der Architekt ihnen erklärte, dass ihre streng minimalistische Einrichtung nur gut aussehen würde, wenn sie immer makellos sauber gehalten würde, hatte sie auch ihm aufmerksam zugehört. Und sie ist fest entschlossen, keine Putzfrau einzustellen. Ihre Mum hatte zwei Jobs und hat trotzdem ihr Haus sauber gehalten, und Nicole will nicht, dass irgendwer glaubt, sie hielte sich für etwas Besseres, nur weil sie im Lotto gewonnen haben.

Sie geht weiter durch das Haus. Die Musik läuft in jedem Zimmer auf voller Lautstärke, was eigentlich nicht sein dürfte und Spannungskopfschmerzen bei ihr auslöst. Sie sieht im Fitnessbereich nach, in dem alles hell erleuchtet ist, aber auch dort hat sich Tom nicht versteckt. »Wo ist er?«, fragt sie das Haus. Auch im Dampfbad, in der Sauna oder unter der Dusche ist er nicht.

Oben sieht sie, dass das Bett nicht gemacht ist, und seufzt. Tom weiß genau, dass sie es nicht mag, wenn es unordentlich aussieht, nachdem sie beide aufgestanden sind. Er hätte das Bett machen sollen. Mit ein paar geschickten Bewegungen zieht sie alles straff und stellt dabei fest, dass eine der Balkontüren nur angelehnt ist. Sie tritt ins Freie und rechnet fest damit, Tom schlafend und mit dem iPad auf der Brust auf einem der Liegestühle zu entdecken, aber auch dort ist er nicht.

Sie schirmt die Augen ab und lässt den Blick über das Grundstück wandern, über die Wiese hinab zum Waldrand und weiter zu dem glitzernden Fluss, der die Halbinsel umschließt. Am anderen Ufer steigen hohe Kalkklippen auf, die dem Flusslauf folgen.

Wow, da haben Sie Ihr ganz privates, natürliches Amphitheater, sagte der Architekt, als er das sah. Aus diesem Anblick sollten wir so viel wie möglich herausholen. Und das hat er geschafft. Aus vielen Zimmern haben sie einen Blick auf dieses Panorama, jedes Mal aus einer etwas anderen Perspektive. Und jede einzelne ist spektakulär. Nicole lächelt, während sie in dem Ausblick badet. Sie kann sich nicht daran sattsehen; er erinnert sie an die Ausflüge mit ihrem Dad und erfüllt ihr Herz. Ich habe so ein Glück, denkt sie zum zweiten Mal an diesem Tag. Trotzdem zieht es sie ins Haus zurück. Es ist heiß draußen, zu dieser Tageszeit gibt es hier keinen Schatten, und außerdem trällern die drei Tenöre immer noch in voller Lautstärke.

Sie will gerade umkehren und sich erneut auf die Suche nach Tom machen, als sie ihn entdeckt.

Direkt unter ihr, im Pool, wo er reglos mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibt.

Sie schreit auf, und nach einer Sekunde, in der alles Licht aus ihrer Welt zu schwinden scheint, hallt ihr Schrei leise von den Klippen zurück.

2

Samstag

Sasha

Sasha tritt aus dem Manor House und rollt auf einem schattigen Fleck unter der Eiche auf dem Rasen ihre Yogamatte aus. Es ist um die Mittagszeit und heiß, aber der Baum wirft einen mächtigen Schatten und der Rasen ist von dichtem Wald umgeben. Das viele Grün gibt ihr immer ein gutes Gefühl, ganz gleich, wie warm es ist, vielleicht, weil die hohen Bäume dem Ort eine spirituelle Aura verleihen, als wären hier einst heilige Rituale abgehalten worden.

Hinter ihr erhebt sich das Manor House. Es ist ein Natursteinbau mit einem Dach aus altem walisischem Schiefer und einer Fassade, die ein Mix aus verschiedenen Stilen ist. Der älteste, mittelalterliche Teil steht eingezwängt zwischen diversen Anbauten, die über fünf Jahrhunderte hinweg angefügt wurden. Es gibt elegante, großzügig bemessene Fenster, aber auch kleine, tief ins Mauerwerk eingelassene Bleiglasluken. An einem Teil des Gebäudes sind noch die ursprünglichen Schießscharten erhalten. Hier draußen könnte man leicht das Gefühl bekommen, von drinnen beobachtet zu werden, aber Sasha weiß, dass das nicht der Fall ist. Olly ist in seinem Arbeitszimmer auf der Rückseite des Hauses und Kitty, ihre Haushälterin, bügelt im Wäschezimmer, dessen Fenster auf den ummauerten Gemüsegarten neben dem Haus geht. Sasha kann einen seltenen Moment ungestörten Friedens genießen.

Sie geht in die erste Position, hält sie und konzentriert sich darauf, langsam ein- und auszuatmen, um ihre innere Anspannung wenigstens teilweise abzubauen. Sie will raus aus ihrem Kopf und wieder in Einklang mit ihrem Körper kommen.

Es war ein langer Vormittag nach einer langen Nacht und langen Wochen. Heute Vormittag hat sie eine private Yogastunde gegeben, und zwar zusätzlich zu dem vollen Kursprogramm der letzten Wochen und zwei Wochenendseminaren. Das fordert seinen Tribut. Sie geht die verschiedenen Asanas durch, vollzieht achtsam den Übergang zwischen den einzelnen Stellungen und visualisiert dabei, wie sie die Essenz des Waldes um sie herum, seine Güte und seine Lebenskraft, in sich aufnimmt und sich daran stärkt, wie Geist und Knochen und Gewebe neue Kraft schöpfen, bis sie sich wieder als Teil des Ökosystems fühlt und eins mit der natürlichen Welt wird. Es ist ein erfüllendes Gefühl, unbeschreiblich schön und allumfassend, und als sie zum Ende kommt, fühlt sie sich gelassen und ruhig, beinahe postkoital. Sie steht nicht auf, sondern bleibt in Shavasana liegen, öffnet ihre klaren grünen Augen, schaut in das Blätterdach der Eiche hinauf und nimmt das Astwerk und die winzigen kobaltblauen Himmelsflecken zwischen dem Grün in sich auf.

Noch bevor sie Olly sieht, spürt sie seine Anwesenheit, seine angespannte kreative Energie, seine schlaksige Gestalt, den kurzen Schatten, der ihm über den ausgedörrten Rasen folgt, und sie lächelt, als er sich neben sie legt.

»Hey«, sagt sie.

»Hey.«

»Paradiesisch, nicht wahr?« Sie streckt einen Arm in die Luft, als könnte sie die Schönheit mit einer Hand einfangen.

»Ich weiß.« Er greift nach ihrem Arm und zieht ihn zu sich her, nimmt ihre Hand und legt sie mit der Handfläche nach unten auf seine Brust. Sie spürt seinen regelmäßigen Herzschlag.

Wenn sie könnte, würde sie ewig hier liegen bleiben, den Rest der Welt aussperren und nur den heißen Neid der Menschen auf ihre Verbindung mit Olly spüren. Manchmal erschreckt es sie, wie stark ihre Gefühle für ihn sind.

Aber die paradiesische Ruhe ist nicht von Dauer; das ist sie nie. Sie heben die Köpfe, weil sie stampfende Schritte auf der Kiesauffahrt hören. Olly beugt sich vor. »Es ist Nicole«, sagt er, und Sasha hört gespannte Offenheit in seiner Stimme. Sie stützt sich auf die Ellbogen.

Nicole kommt auf sie zu, doch etwas stimmt nicht mit ihr. Sie rennt, aber ihr großer Körper bewegt sich unbeholfen und ihr Kopf liegt halb im Nacken. Sie sieht aus, als könnte sie jede Sekunde stolpern. Sasha steht auf, um ihr entgegenzugehen, doch Nicole rammt sie mit der Wucht eines Güterzuges und kollabiert so unkontrolliert in ihren Armen, dass Sashas Knie einknicken.

»Tom«, schluchzt Nicole. »Tom ist tot.«

Die Worte zucken wie ein elektrischer Schlag durch Sashas Körper. »Was?«, fragt sie nur. Nicoles Kleider sind klatschnass.

»Ich habe ihn im Pool gefunden. Tot!« Nicole zittert, als sie das Wort ausspricht. »Ich hab’s nicht geschafft, ihn rauszuziehen. Er ist zu sch…«, stottert sie. Aus dem »sch« will kein Wort werden.

»Schwer«, ergänzt Sasha und Nicole sieht sie an und nickt, ehe sich ihr Gesicht verzerrt und in sich zusammenfällt.

»Ich habe nach seinem Puls getastet«, schluchzt Nicole. »Aber ich habe keinen gespürt. Er treibt immer noch im Pool. Ihr müsst mir helfen.« Ihr Blick ist glasig vor Fassungslosigkeit und Grauen. Sasha stützt sie und setzt sie behutsam im Gras ab.

»O Gott«, sagt Sasha. Sie sieht zu Olly. Er starrt Nicole an. Sasha weiß, wie er sich fühlt. Sie selbst fühlt sich eigenartig losgelöst von der Situation, als würde das hier jemand anderem passieren. Sie versucht zu überlegen, was man in einer solchen Situation tun sollte. »Hast du den Notarzt gerufen?«, fragt sie.

»Der ist unterwegs«, antwortet Nicole.

Sie heult auf, eher Tier als Mensch, und Sasha kommt der Gedanke, dass Tom eventuell noch am Leben sein könnte, dass Nicole den Puls nicht richtig getastet haben könnte. Die Wahrscheinlichkeit ist unendlich klein, doch sie besteht. »Los!«, befiehlt sie Olly. »Lauf!«

Er sieht sie verdattert an. »Zum Pool!«, schreit sie ihn an und er schießt abrupt los, rennt quer über den Rasen und die Zufahrt entlang. In diesem Tempo sind es nur ein paar Minuten bis zur Glasscheune, aber wenn Tom im Wasser treibt, und zwar schon, seit Nicole ihn gefunden hat, ist eigentlich ausgeschlossen, dass er noch am Leben ist. Inzwischen sind mindestens zehn oder fünfzehn Minuten vergangen. Wichtig wäre auch, ob Tom mit dem Gesicht nach oben oder unten im Wasser treibt, aber die Frage klingt grausam und das kann sie Nicole im Moment nicht zumuten. Sie werden es ohnehin bald erfahren.

Sie geht neben Nicole in die Hocke, legt die Arme um sie und überlegt, dass Olly zwar gut einen Meter achtzig groß ist, aber schlank und nicht besonders muskulös, während Tom ein Schrank von einem Mann ist. Es könnte ein Kampf werden, wenn Olly Tom allein aus dem Pool ziehen muss.

»Wir müssen Olly helfen«, sagt sie. Nicole sieht sie an, aber hinter ihren Augen ist Leere. Sie ist noch gelähmt vor Entsetzen. »Schon gut, ich gehe«, sagt Sasha und will aufstehen, doch Nicole krallt sich an ihren Kleidern fest und packt ihren Arm. »Lass mich nicht allein«, sagt sie. Ihr Griff schmerzt und Sasha reißt ihren Arm los. Sie unterdrückt den Impuls, Nicole zu ohrfeigen, weil sie ihr solche Schmerzen zugefügt hat. Das hier ist so grausam, dass es einen total wehrlos macht, denkt sie. Zum Tier.

»Ich muss Olly hinterher, nachsehen, ob wir Tom helfen können, aber ich hole Kitty, damit sie bei dir bleibt. Okay? Erinnerst du dich an Kitty? Unsere Haushälterin?« Sie wartet die Antwort nicht ab, sondern dreht Nicole den Rücken zu und sprintet zum Haus.

Sie stürmt durch die schwere Eingangstür. Wo die Sonne durch das Buntglasfenster scheint, sind die Holztreppe und der Boden mit Scherben aus farbigem Licht gemustert. Ihre nackten Füße klatschen auf die Steinfliesen, als sie den langen Gang entlangrennt, der am Gelben Salon, am Musikzimmer, an Ollys Arbeitszimmer und der Küche vorbei in einen Trakt mit kleinen Haushaltsräumen führt.

»Kitty!«, ruft sie. »Ich brauche dich!«

Sie platzt ins Wäschezimmer, wo Kitty bügelt, bei leise laufendem Radio, das sich mit seinem Kulturprogramm gegen das Zischen des Bügeleisens durchzusetzen versucht. Kitty trägt halblange Baumwollshorts und ein ärmelloses Oberteil; ein Tuch hält das ergrauende Haar aus ihrem Gesicht. Es ist ein Bild häuslichen Friedens und Sasha ist bewusst, dass sie es gleich zerstören wird. Kitty sieht auf, als Sasha ins Zimmer gelaufen kommt. »Was ist los?«, fragt sie, ehe Sasha auch nur ein Wort gesagt hat, und Sasha erklärt ihr, was passiert ist und wie verzweifelt Nicole ist.

»Sie braucht etwas Trockenes zum Anziehen. Kannst du sie ins Haus holen und dich um sie kümmern, während ich zur Scheune laufe?«

Kitty zögert keine Sekunde. Sie schaltet das Bügeleisen aus und eilt hinaus. Sasha wusste, dass sie sich auf sie verlassen kann. Während sie auf der vorderen Terrasse eilig in ein Paar Schuhe schlüpft, sieht sie, wie Kitty neben Nicole niederkniet und den Arm um sie legt. Sasha rennt an den beiden vorbei, während Kitty Nicole aufhilft. Sie muss so schnell wie möglich zur Scheune, falls auch nur die geringste Möglichkeit besteht, dass Tom noch am Leben ist.

3

Samstag

Olly

Olly watet in den Pool und schwimmt zu dem reglosen Körper, der mit dem Gesicht nach unten am tiefen Ende treibt. Das Wasser zerrt an Ollys Kleidern. Er ist kein besonders guter Schwimmer.

Es ist ein Naturpool, wunderschön angelegt, mit einer Randbepflanzung aus Iris- und Schilfstauden, zwischen denen schillernde Libellen schweben. Unter anderen Umständen wäre es, als würde er ins Paradies waten, und genauso empfand Olly es vergangene Woche, als Tom und er am Pool saßen, Bier tranken und ins Wasser sprangen, um sich abzukühlen oder einfach so zum Spaß. Wie sich herausstellte, hatten sie kaum etwas gemeinsam, aber wer braucht das schon, wenn ein Abend von einem rosa Sonnenuntergang und Alkohol eingefärbt wird? Du lehnst dich zurück, schließt die Augen und genießt das Leben, selbst wenn dein Begleiter von der Smarthome-Steuerung seiner Poolbeleuchtung schwadroniert oder davon, wie der Motor seines Autos anhand von Datensätzen aus mehreren Autorennen getunt wurde, während du nur über Hemingways Prosa diskutieren willst.

Olly erreicht Tom und versucht, ihn auf den Rücken zu drehen, aber das ist ausgeschlossen, solange er keinen Boden unter den Füßen hat, und so packt er den Ärmel von Toms Polohemd und zieht den Körper erst schwimmend, dann watend bis zur Treppe, wo er Tom bis zum Bauch aus dem Wasser hievt und ihn auf den Rücken wälzt, bevor er erschöpft daneben zusammensackt. Während er an Toms Hals nach einem Puls tastet, registriert er, wie matschig und weiß Toms Haut ist, Zehen ähnlich, die zu lange im Badewasser waren; er betrachtet eingehend eine Wunde an Toms Haaransatz, eine kleine Beule, wo die Haut zwar beschädigt ist, aber noch nicht so weit aufgerissen, dass sie bluten würde. Er ist nicht überrascht, keinen Puls zu spüren. Mit Tom ist es endgültig zu Ende. In diesem durchweichten Haufen von Fleisch und Kleidung ist nichts Menschliches mehr.

Olly setzt sich neben dem Leichnam auf die Stufen, er spürt, wie ihm die Sonne auf den Scheitel brennt und seine nassen Kleider wärmt. Während er sich die tropfenden Haare aus dem Gesicht streicht, geht ihm durch den Kopf, was Sartre nach Camus’ Tod über die »unerträgliche Absurdität des Todes« gesagt hat. Das hier erscheint wie die perfekte Illustration seiner These. Die luxuriöse Umgebung, die Schönheit der Natur rundum und im Zentrum ein pummeliger Leichnam in überteuerter, hässlicher Designerkleidung. Es erfüllt Olly mit einem merkwürdigen Machtgefühl, hier zu sitzen und so etwas zu denken. Es ist ein tiefgreifender Moment, denkt er. Das hätte er nicht erwartet.

Sasha kommt keuchend angelaufen. Sie bleibt am Rand des Pools stehen und ihr Schatten fällt auf ihn. »Er ist tot«, sagt er und bemerkt im selben Moment, dass es so aussieht, als könnte Toms Leichnam in den Pool zurückgleiten. »Hilf mir.«

Sie stellen sich jeweils auf eine Seite, schieben die Hände unter Toms Achseln und ziehen ihn weiter aufs Trockene. Toms Kopf rollt zur Seite und Sasha richtet ihn wieder auf. Wie bei einer Puppe, denkt Olly.

»Wo hast du ihn gefunden?«, fragt sie.

»Da drüben.« Er deutet zum tiefen Ende des Pools.

»Was machen wir jetzt?« Sasha ist immer sehr lösungsorientiert, was manchmal geradezu ermüdend ist. Olly ist es lieber, wenn er Zeit hat, die Dinge zu durchdenken, nachzusinnen.

»Wir warten«, sagt er. »Wie auf Godot.«

»Was?«, fragt sie, und er sagt: »Wir warten auf den Krankenwagen.«

Sie setzt sich an den Pool und schlingt die Arme um die Knie. Olly fällt auf, dass Toms Schuhe neben dem Pool liegen. Seine Kleider tropfen so, dass sich um seine Füße eine Pfütze bildet. Er würde gern sein T-Shirt ausziehen, aber er schämt sich seines dürren Körpers und hat Angst, dass die Sanitäter ihn abschätzig beäugen könnten, wenn sie denn eintreffen. Er überlegt kurz, ob er sich ein paar Sachen von Tom borgen soll, bevor ihm aufgeht, dass es nicht gut aussieht, wenn er die Kleidung des Toten trägt.

Das Brummen eines näher kommenden Fahrzeugs durchschneidet das Gezwitscher der Vögel und das Summen der Insekten. Olly nickt Sasha zu und geht um das Haus herum. Als er vorn ankommt, hält eben ein Streifenwagen, und das überrascht ihn. Er war davon ausgegangen, dass Nicole einen Krankenwagen gerufen hatte, aber vielleicht hat die Notrufzentrale beides alarmiert. Er fragt sich, was Nicole wohl gesagt hat, um das auszulösen. Vielleicht ist das einfach Vorschrift.

Der Motor erstirbt und Olly holt tief Luft. Erstaunt stellt er fest, dass er leicht nervös ist, denn er will alle Fragen korrekt beantworten. Wahrscheinlich, denkt er, werde ich jetzt erfahren, ob ich ein guter Zeuge bin. Ein Autor sollte das sein, glaubt er, schließlich muss ein Autor beobachten können.

Eine Polizistin und ein Polizist steigen aus dem Wagen. Beide setzen ihre Kappe auf. Sie sehen aus, als würden sie in ihrer Uniform gleich einen Hitzschlag erleiden.

»Ich bin der Nachbar«, erklärt Olly, bevor sie auch nur ein Wort gesagt haben. »Olly Palmer. Ich wohne in Lancaut Manor, dem Haus weiter vorn an der Straße. Das ist Sasha, meine Partnerin. Nicole, die Frau von Tom, dem Mann im Pool, Tom Booth, hat Sie angerufen. Sie ist zu unserem Haus gelaufen, nachdem sie ihn entdeckt hatte, und wir sind hergekommen, um zu sehen, ob wir noch etwas tun können, aber er war schon tot.«

Sie blicken auf seine nasse Hose und das T-Shirt, die ihm am Körper kleben. Er könnte ebenso gut nackt sein. Er fühlt sich schmerzlich bloßgestellt und zupft verlegen das T-Shirt von seiner Brust. »Ich habe versucht, ihn aus dem Pool zu ziehen«, erklärt er. »Für den Fall, dass er noch nicht tot gewesen wäre, verstehen Sie? Aber das war er.« Beide bleiben stumm; sie sehen am Haus hoch. »Ja«, sagt er. »Unglaublich.« Er lacht. Die beiden Polizisten nicht. Halt den Mund, ermahnt sich Olly. Du hörst dich an wie ein Idiot.

Die Polizistin ist etwa in seinem Alter, schätzt Olly, durchschnittlich groß, gertenschlank, ähnlich wie er selbst, und zu jung, als dass ihr blondes Haar so dünn sein sollte. Ihr Partner ist ein Kerl von einem Mann und älter, deutlich älter. Männliche Autoritätsfiguren schüchtern Olly ein und dieser Mann ist da keine Ausnahme. »Gehen Sie voran?«, fragt der Mann halbwegs höflich, aber seine Augen bleiben tot, und statt sich wichtig zu fühlen wie anfangs, fühlt Olly sich klein und zurechtgestutzt.

Er führt sie um das Haus herum. Sasha ist vom Pool zurückgetreten und steht jetzt neben einem Blumentopf mit Fuchsien, deren geschlossene Blüten sie zwischen Finger und Daumen zerplatzen lässt. Sie wirkt gestresst, als sie die Polizisten begrüßt, und Olly hat Mitleid mit ihr. Hin und wieder, denkt er bei sich, sollte er sich ins Gedächtnis rufen, dass sie nicht so belesen oder gebildet ist wie er und nicht so erfahren darin, sich Gedanken über die dunkleren, komplexeren Seiten des Lebens zu machen, so wie er beim Schreiben. Er hätte sie nach Hause schicken und sich dem hier allein stellen sollen.

Die Polizisten betrachten den Leichnam. Die Polizistin streift einen Einweghandschuh über und tastet nach Toms Puls. Sie schüttelt den Kopf.

»Der Krankenwagen ist unterwegs«, sagt Sasha.

»Zu spät«, kommentiert der Polizist. »Haben Sie ihn so aufgefunden?«

Olly schildert, was passiert ist, wie er den Leichnam vom tiefen Ende zu den Stufen gezogen hat. »Ich wollte seinen Kopf aus dem Wasser bekommen«, ergänzt er, weil sie nicht denken sollen, er hätte Tom völlig gedankenlos wegbewegt.

»Haben Sie irgendwelche Lebenszeichen festgestellt?«

»Nix.« Null, nada, niente, setzt er die Reihe im Kopf fort. Ein Filmzitat. Woher noch mal? Nein, denk nicht darüber nach. Konzentrier dich.

Die Polizistin zieht den Handschuh schnalzend wieder ab. Ihr Kollege starrt leidenschaftslos auf den Leichnam. Olly fragt sich, wie viele Leichen die beiden wohl schon gesehen haben. Der Polizist tritt beiseite und murmelt etwas in sein Funkgerät. Olly hat das Gefühl, dass er ein paar Worte mit der Polizistin wechseln sollte. Er stellt sich zu ihr an den Pool. Sie starrt angestrengt ins Wasser. »Was passiert jetzt?«, fragt er.

»Bitte treten Sie zurück, Sir«, sagt sie und deutet auf den Platz neben Sasha, an den er sich stellen soll.

Es gefällt Olly nicht, wie ein Kind herumkommandiert zu werden; immerhin versucht er, hier zu helfen. Die Polizistin sieht ihn mit leicht zusammengekniffenen Augen an, als würde sie seinen Widerwillen spüren. Er nickt und stellt sich zu Sasha, aber er ist es leid, so herablassend behandelt zu werden.

»Können wir nach Hause gehen?«

»Das ist nebenan?«, fragt die Polizistin.

»Ja. Das Manor House. Ein Stück weiter oben an der Straße.«

»Und dort hält sich momentan auch die Frau des Verstorbenen auf?«

»Ja. Sie hat bei uns Hilfe gesucht, nachdem sie den Leichnam gefunden hatte. Wie ich Ihnen schon erklärt habe. Sie ist am Boden zerstört, darum haben wir sie in der Obhut unserer Haushälterin gelassen.« Er hat das Gefühl, das noch einmal hervorheben zu müssen, um den Polizisten zu zeigen, dass er und Sasha gute, hilfsbereite Nachbarn sind.

Sie bespricht sich mit ihrem Kollegen und die beiden beschließen, dass Olly und Sasha nach Hause gehen dürfen. Sie werden in Kürze nachkommen, sagen sie, um ihre Aussagen aufzunehmen und um die Witwe zu befragen. Sie werden das CID hinzuziehen müssen. »Die Kriminalpolizei«, ergänzt sie, als wüsste Olly das nicht. »Wir müssen das jetzt als Tatort behandeln«, erklärt ihr Kollege. »Für den Fall, dass das kein Unfall war.«

Olly und Sasha gehen langsam, bis sie außer Sichtweite der Glasscheune sind. Er bleibt neben einem überwucherten Viehgatter stehen, zieht sie an sich und schließt sie fest in die Arme.

»Hör auf«, sagt sie. »Was tust du da? Wenn uns jemand sieht!«

Er ist high vor Adrenalin. Jeder Nerv in seinem Körper kribbelt unter Hochspannung. Aber sie hat recht. Dies ist weder die Zeit noch der Ort dafür.

Sie gehen weiter. Olly sieht sie an. Er bewundert Sasha von ganzem Herzen. Sie ist ohne jeden Zweifel die beste Lügnerin, der er je begegnet ist.

4

Fünf Jahre zuvor

Annas Tagebuch

»Es wird Zeit, dass Sie wieder nach vorn schauen«, sagte Kitty. Ich war gerade in Nicks Arbeitszimmer und las, nichts Böses ahnend, in meinem Buch, als sie, ohne anzuklopfen, ins Zimmer kam und damit herausplatzte, als hätte sie ewig darüber nachgedacht.

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. »Das geht Sie nichts an«, hätte ich eigentlich sagen wollen, aber ich mag keine Konfrontation. Stattdessen schämte ich mich, als hätte ich als Witwe versagt.

»Sie haben sich schon zu lang in diesem Haus verkrochen, Mrs. Creed«, sagte sie. »Das ist nicht gesund. Mr. Creed ist inzwischen sechs Monate tot.«

Als ob ich das nicht wüsste.

Kitty arbeitet als Haushälterin für Nick und mich, seit wir vor zehn Jahren ins Manor House gezogen sind, aber sie und ich sind nie warm miteinander geworden. Im Lauf der Jahre habe ich mich damit abgefunden, dass ich kein Mensch bin, den andere spontan ins Herz schließen. Offenbar strahle ich etwas Abweisendes aus, auch wenn ich nicht weiß, wieso. Soweit ich das beurteilen kann, sehe ich aus wie eine ganz gewöhnliche Zweiundfünfzigjährige, ich dränge mich niemandem auf und sage und tue nichts, was andere aufregen oder abstoßen könnte, daher weiß ich beim besten Willen nicht, woran es liegt. Nick meinte, weil ich so schüchtern sei, könnte ich manchmal unterkühlt wirken, aber das kann ich nicht ändern. »Wir haben einander«, sagte er immer, »und wir haben ein paar Freunde. Wenn du mehr Menschen kennenlernen möchtest, können wir daran arbeiten, aber wenn du glücklich bist, bin ich es ebenfalls. Wozu brauchen wir noch mehr Menschen?«

Ich hätte sagen sollen: »Falls einer von uns stirbt.« Unsere Freunde haben mich nach der Trauerfeier fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.

»Danke, Kitty«, sagte ich und hoffte, dass sie wieder gehen würde, aber sie blieb stehen, bis ich gezwungen war, mein Buch wegzulegen und mich mit ihr zu unterhalten.

»Ich trauere«, sagte ich.

»Das ist auch richtig so. Mr. Creed war ein wunderbarer Mann, aber da draußen gibt es noch mehr gute Männer. Sie können sich nicht ewig hier verkriechen.«

»Ich will keinen anderen Mann.«

»Dann brauchen Sie eine Freundin oder ein Hobby.«

»Es gibt hier so viel zu tun.« Anwesen wie das Manor House sind eine Lebensaufgabe. In den zehn Jahren, seit Nick und ich hier eingezogen sind, habe ich mich ganz dem Ziel gewidmet, das Manor House zu erhalten. Wir konnten keine Familie gründen und so wurde stattdessen dieses Haus meine Leidenschaft.

»Darf ich offen sein?«

»Ich dachte, das wären Sie bereits.«

»Sie sollten sich was Schickes anziehen und in die Stadt fahren, dort zum Friseur gehen und sich die Nägel machen lassen. Dann würden Sie sich besser fühlen. Würde Ihnen das nicht gefallen?«

»Ich fühle mich auch so wohl, vielen Dank«, sagte ich, obwohl ich ein bisschen beleidigt war und das Gefühl hatte, dass sie zu weit gegangen war.

»Ich sage das nicht, weil ich Ihnen ein schlechtes Gewissen machen möchte. Mr. Creed würde es schrecklich finden, dass Sie so unglücklich sind, und er würde es schrecklich finden, wenn das Manor House für Sie zum Gefängnis wird. Bevor er starb, hat er mich gebeten, dass ich mich um Sie kümmere.«

»Wirklich?«

Sie nickt. »Und ich würde mein Versprechen brechen, wenn ich jetzt nichts sagen würde. Er hat vorausgesagt, dass das passieren könnte.«

Ich war schockiert. Ich habe meine Erinnerungen an Nick immer für mich behalten. Der Schmerz über seinen Tod war für mich ein äußerst intimes Gefühl, das ich instinktiv mit niemandem teilen wollte. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er mit Kitty darüber sprechen könnte, wie sich sein Tod auf mich auswirken wird. Wenn er mich darauf ansprach, was ich nach seinem Tod tun würde, antwortete ich regelmäßig, dass ich schon zurechtkommen würde, um dann das Thema zu wechseln, weil es zu sehr schmerzte. Es rührte mich, dass er mein Verhalten so akkurat vorhergesehen und Schritte unternommen hatte, um mir zu helfen. Er war eben mein Seelenverwandter, darum ergab das Sinn.

Sie streckte mir ein Stück Papier hin und ich nahm es. Es war einer jener kleinen Streifen, die man von einem angehefteten Werbezettel abreißt. »Sasha. Yoga«, stand darauf. Und eine Telefonnummer.

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Yogakurs. Sasha ist eine gute Lehrerin, sie hat ein Gespür für Anfängerinnen. Werden Sie das probieren?«

Ich war skeptisch, allein der Gedanke ermüdete mich. »Ich habe so was noch nie gemacht.«

»Es ist nur eine Stunde in der Woche und Sasha ist ein sehr offenherziger Mensch.«

»Gehen Sie dorthin?«

»Ich gehe in einen ihrer Abendkurse, aber Sie könnten tagsüber gehen. Das würde etwas Struktur in Ihren Tag bringen und Sie würden wieder unter Menschen kommen.«

Ich sah auf den Zettel und dann wieder zu Kitty. Sie stand da wie eine Säule und es war bestimmt nicht leicht für sie, mir das alles zu sagen, selbst wenn sie es Nick versprochen hatte. Es fiel mir schwer, Nein zu sagen.

»Ich werde es versuchen«, sagte ich.

»Sie werden es nicht bereuen«, gab sie zurück. »Glauben Sie mir.«

Ich war nicht sicher, wieso es sie so zu freuen schien, dass ich mich zum Besuch eines Yogakurses hatte breitschlagen lassen, aber wahrscheinlich war es für sie nicht einfach gewesen, mitansehen zu müssen, wie ich mich immer weiter zurückzog. Ich schätze, manchmal merkt man gar nicht, wie sehr sich das eigene Verhalten auf andere auswirkt.

»Danke«, sagte ich, »es ist wirklich nett, dass Sie sich so um mich kümmern.«

Sie lächelte verlegen und ich war zwar immer noch überrascht, aber gleichzeitig dachte ich, wenn Nicks Tod überhaupt etwas Gutes haben kann, dann vielleicht, dass Kitty und ich uns näherkommen, und dafür sollte ich dankbar sein.

5

Samstag

Hal

»Steen«, meldet sich der Detective. Er nimmt den Anruf im Korridor an, im Stechschritt, auf dem Weg zum Vernehmungsraum, während er in Gedanken noch einmal durchgeht, welche Fragen er dem Verdächtigen stellen will. Er rechnet fest damit, als Antwort immer nur »Kein Kommentar« zu erhalten, aber das hat ihn nicht davon abgehalten, sich gründlich und hartnäckig vorzubereiten. Wenn man aussieht wie Hal Steen, ist Hartnäckigkeit eine nützliche Eigenschaft. Er ist nicht mit glatter Haut oder ebenmäßigen Gesichtszügen gesegnet. Niemand hat ihm je Komplimente zu seinem Aussehen gemacht.

»Hal«, sagt sein Boss. »Draußen auf Lancaut, am Wye, wurde eine Leiche in einem Pool gefunden.«

Hal bleibt stehen und drückt sich an die Wand, um einige Kollegen vorbeizulassen. Er kennt die Lancaut-Halbinsel ein wenig. Er ist dort mal gewandert, auf einem sich dahinschlängelnden Weg hoch über dem Wye, und ihm ist noch gut im Gedächtnis, wie schön es dort war, wie friedlich und abgeschieden man sich dort aufgrund der geografischen Lage fühlte und dass es ihm vorkam, als würde dort die Zeit rückwärtslaufen, sein Hirn würde endlich Ruhe finden und die dringend notwendige Selbstheilung beginnen.

»Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen leiten«, sagt sein Boss. »Okay?«

»Ja. Absolut.« Er klingt ruhig, aber das ist nur aufgesetzt. Er muss seine Begeisterung unter Kontrolle halten, weil er keinesfalls etwas sagen will, was den Boss dazu verleiten könnte, seine Meinung zu ändern. Hal wartet schon lange auf einen Fall, der ein großes Ding werden könnte. Er hat zusehen müssen, wie Kollegen, die bessere Eigen-PR betreiben als er, Chancen bekamen, die ihm verwehrt blieben, obwohl er mindestens so gut ist wie sie. Oft sogar besser. »Ich bin gerade auf dem Weg zu einer Vernehmung, aber sobald ich damit fertig bin, kann ich nach Lancaut fahren.«

Hal sieht seine Partnerin Jen durch den Gang näher kommen. Sie ist groß und gut aussehend und verträgt Unmengen von Koffein – drei Dinge, um die er sie beneidet. Er stoppt sie mit einem erhobenen Finger.

»Kann jemand die Vernehmung übernehmen?«, hört er die Stimme des Chefs aus dem Handy. »Sie wollen doch bestimmt Jen dabeihaben, oder?«

Hal überlegt kurz, bevor er antwortet, denkt daran, wie gewissenhaft er sich auf diese Vernehmung vorbereitet hat, wie sehr er zweifelt, dass jemand anders sie so führen kann, wie er es möchte. Es fällt ihm schwer, den Fall abzugeben, aber der Verdächtige ist ein Kleindealer, den sie schon öfter hier gesehen haben und der garantiert nicht zum letzten Mal hier sein wird. Er muss loslassen, falls er diesen Fall übernehmen will. »Ja«, sagt er. »Zu beiden Fragen.«

Er beendet das Gespräch und wendet sich an Jen. Er spürt, wie sein Gesicht glüht. »Draußen in Lancaut liegt eine Leiche in einem Swimmingpool. Der Chef will, dass ich das übernehme. Und ich will dich dabeihaben.«

Ihre Brauen heben sich. Sie ist genauso überrascht wie er. »Danke. Und machen wir die Vernehmung noch?«

»Nein.«

»Du willst den Fall tatsächlich abgeben?« Sie kennt ihn besser, als er gedacht hat.

»Das werde ich wohl müssen.«

Jen wartet an der Tür, während er mit einer Kollegin viel zu ausführlich seine Notizen durchspricht. »Hal!«, ruft sie ihn nach einer Weile. »Gehen wir.«

Sie nehmen einen Wagen aus der Bereitschaft und Jen fährt sie durch Chepstow, eine Kleinstadt, deren Zentrum von der alten Burg überragt wird. Sie steht hoch über dem Wye, der sich an der Stadt entlangwindet und eine natürliche Grenze bildet. Es gibt Pläne, das Criminal Investigations Department aus dem Ort zu verbannen und in einen gesichtslosen Büroblock neben der Autobahn zu verpflanzen. Hal wird der Ort fehlen, falls das umgesetzt wird. Ihm gefallen die Geschichtsträchtigkeit und die Grenzmentalität. Chepstow liegt in England, aber das andere Flussufer gehört schon zu Wales.

Ein paar Minuten und Ampelkreuzungen später haben sie die Ausläufer von Chepstow hinter sich gelassen und fahren über Land. Hal schaut aus dem Fenster. Die Hecken sind gesäumt von leuchtend roten Mohnblumen. Sie fahren erst an goldenen Stoppelfeldern vorbei, dann an struppigen Weiden, auf denen Holstein-Rinder mit schlammverkrusteten Flanken im Schatten der Eichen stehen und in der Hitze mit Ohren und Schwänzen zucken. Bald erreichen sie ein Dorf, Einfamilienhäuser und Bungalows sind zu beiden Seiten der Straße verstreut, es gibt ein Postamt und einen kleinen Laden. Die Dorfkirche erhebt sich hinter dem Friedhof; die Steine ragen schief und wacklig aus dem Boden, der von Jahrhunderten der Erdabsenkung unterhöhlt ist.

An einem Hinweisschild zum Naturreservat Lancaut biegt Jen scharf links ab und bremst, um nicht durch die vielen Schlaglöcher zu rumpeln. Sekunden später schließt dichter Naturwald sie ein. Die Reifen schleudern Rollsplitt hoch. Genauso plötzlich öffnet sich rechts von der Straße die Landschaft wieder.

»Wir sind da«, sagt Jen. Sie biegt in eine Einfahrt, an deren Tor unübersehbar ein brandneues Schild mit der Aufschrift »Glasscheune« montiert ist. Das Tor steht offen und die neu angelegte Zufahrt erstreckt sich vor ihnen, lang, schnurgerade und mit frischem schwarzem Teer asphaltiert. Keinerlei Bepflanzung mildert den Einschnitt ab. Die Straße scheint die sich wellende Landschaft eher zu teilen, als dass sie sich einfügt.

»Wow«, sagt Hal. Am Ende der Zufahrt ragt herrisch und kompromisslos ein moderner Glaspalast auf. Sein erster Eindruck ist der eines misslungenen Mixes aus ultramoderner Architektur und zu Tode restaurierten Ruinen. Der Glasbau erhebt sich inmitten von Überresten alter Gebäude, vermutlich Bauernscheunen, aber neben den ultramodernen Neubauten wirken sie wie Disneyland-Kulissen. Sie haben jeden Charme verloren, den sie einst gehabt haben mögen.

»Das nenne ich mal ein Haus«, sagt Jen.

»Gefällt es dir?«

»Scheiße, ja.«

Er schüttelt den Kopf, urteilt: »Kein Geschmack«, und sie lacht, setzt aber ihr Pokerface wieder auf, bevor sie aussteigen. Ein Polizist in Uniform steht im Schatten vor dem Haus. Sein Hemd hat Flecken unter den Achseln. Er führt sie um den Bau herum zum Pool.

Der Leichnam liegt neben dem Pool, das Gesicht unter einer Decke, die offenbar von den Sanitätern darübergelegt wurde. Die Holzplanken unter dem Körper sind feucht, durchtränkt von der Nässe in den Kleidern, obwohl in der Sonne alles schnell wieder trocknet. Hal streift einen Handschuh über, geht neben dem Leichnam in die Hocke und hebt behutsam die Decke an. Die Augen des Opfers sind geschlossen. Hal bemerkt eine kleine Beule am Haaransatz. Sie sieht frisch aus. Die Miene ist immer noch freundlich. Der Tote sieht entspannt aus, wie ein netter Kerl.

»Armer Mann«, sagt Jen, und er weiß, dass sie das Gleiche denkt wie er, obwohl beide aus Erfahrung wissen, dass viele Menschen, die nett aussehen, es nicht sind.

»Seine Frau hat ihn von dort oben mit dem Gesicht nach unten im Pool treiben sehen«, erklärt der Polizist. Er deutet auf einen Balkon im ersten Stock. »Das ist das große Schlafzimmer.« Hal sieht sofort, dass der Balkon zu weit vom Pool entfernt ist, als dass das Opfer von dort ins Wasser gefallen sein könnte. Er lässt den Blick wandern. Der Pool ist mit Holzbohlen eingefasst und von üppiger Bepflanzung umgeben. Die Anlage soll nach Naturteich aussehen. Dahinter stehen auf einer Seite hohe Gräser. Auf der anderen fällt das Gelände steil ab. Von hier aus kann man den Fluss nicht sehen, aber Hal weiß, dass er dort ist, und er kann das andere Ufer erkennen, wo die hoch und steil aufsteigenden Kalkklippen das Wasser überragen, durchsetzt mit Vogelnestern und kleinen Büschen wie mit Pockennarben.

Ein schöner Ort zum Sterben, denkt er, spricht es aber nicht aus.

Der Pool wirkt gepflegt. Sechs Sonnenliegen stehen ordentlich aufgereiht neben einigen ungeöffneten Sonnenschirmen. Nirgendwo liegen Handtücher oder irgendwelche persönlichen Gegenstände herum. Es sieht nicht so aus, als hätte das Opfer schwimmen gehen wollen. Aber es ist noch zu früh, um irgendwas mit Sicherheit zu sagen. Es gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, ob das ein Unfall oder ein Verbrechen war. Aber das hätte er auch nicht erwartet. Das wäre zu einfach.

»Wo ist seine Frau?«, fragt er. Er fürchtet sich ein bisschen vor der Begegnung. Das Leid anderer Menschen belastet ihn. Es kriecht ihm unter die Haut und bohrt sich in sein Fleisch. So als könnte er es nie wieder loswerden. Aber genau deshalb macht er diesen Job. Deshalb ist er so hartnäckig.

»Die ist immer noch bei den Nachbarn«, informiert ihn der Polizist.

Hal steht auf. Die Hitze ist intensiv, brennt regelrecht herab. Der Leichnam muss hier weg. Jen hat sich in den Schatten gestellt. Sie betrachtet die Umgebung, nimmt jedes Detail in sich auf. Sie wird sich um die Witwe kümmern, denkt er. Sie wird eine hervorragende Opferschutzbeamtin abgeben. Er wird sie in diesem Fall dazu bestimmen.

Sie gehen zum Auto zurück. Hal bekommt eine Nachricht von der Chefin der Spurensicherung. Sie ist jung, aber gewissenhaft. Er respektiert sie.

Bin gleich da, schreibt sie.

Muss jetzt mit der Witwe sprechen, schreibt er zurück. Sie ist bei den Nachbarn. Wir sprechen uns später am Tatort.

Er schaut sich um. Es ist kein anderes Grundstück zu sehen. Der Himmel ist fast weiß, als würde die Sonne ein Loch hineinbrennen. Er sieht Jen mit halb zusammengekniffenen Augen an. »Fahren wir nach nebenan?« Sie nickt. Sie steigen wieder ins Auto.

»Na schön.« Hal lässt sich in seinen Sitz sinken. Im Auto ist es noch heißer als draußen. »Dann hören wir uns mal an, was seine Frau zu sagen hat.«

»Die Witwe«, verbessert ihn Jen und lässt den Motor an.

Er sieht in seine Notizen, um sich ihren Namen zu vergegenwärtigen. »Nicole Booth«, sagt er.

Natürlich könnte es sein, dass sie sich gar nicht um die Witwe kümmern müssen. Vielleicht ist sie überglücklich, dass ihr Mann tot ist. Im jetzigen Stadium ist sie zweifellos die Hauptverdächtige. Jen ist nicht nur die Richtige, um Nicole Booth Trost zu spenden, sondern auch, um sie genau im Auge zu behalten, falls ihre Witwenmaske Risse bekommt.

Jen fährt das Fenster herunter. »Wo wohnen die Nachbarn?«, fragt sie den Streifenpolizisten.

»Nach der Einfahrt rechts, dann steht es gleich auf der linken Seite. Es ist nicht zu übersehen. Das große Herrenhaus.«

6

Samstag

Kitty

Bemüht, nicht unnötig für Unruhe zu sorgen, sammelt sie die benutzten Taschentücher rund um Nicole Booth ein und stellt eine frische Packung vor sie hin. Sie warten auf die Polizei. Alle schwitzen. Trotz der dicken Wände, die das Herrenhaus im Sommer eigentlich immer kühl halten, hat die Hitze das Manor House durchdrungen. Die sonst allgegenwärtige, leicht muffige Feuchtigkeit hat sich verflüchtigt und in der stickigen Luft liegt ein neuer Geruch nach alten Materialien, die sich langsam und widerwillig erwärmen und ausdehnen.

Veränderung liegt in der Luft. Alles in ihrem Leben verändert sich zurzeit.

Vergangene Woche hat sie etwas gesehen, das ihre Welt auf den Kopf gestellt hat, ohne dass sie jemandem davon erzählen könnte. Sie würde sich gern noch einmal überzeugen, dass ihre Augen sie nicht getrogen haben, aber dazu hatte sie noch keine Gelegenheit. Dazu müssten Olly und Sasha das Haus zur gleichen Zeit verlassen und das kommt so gut wie nie vor.

Die Fenster im Gelben Salon sind weit geöffnet, um jede noch so kleine Brise einzufangen, aber im Raum regt sich nichts. Die schwüle Wärme und Nicoles tiefer Schmerz, der emotionale Peitschenhieb ihrer Entdeckung vor einer Woche und die belastende Situation nehmen ihr die Luft zum Atmen. Die Geschehnisse haben das Potenzial, den Status quo zu zerstören, sie können sich auf ihr Heim, ihre Identität, ihre Erinnerungen, ihre Zukunft auswirken.

Als Sasha heute Vormittag so ungestüm ins Wäschezimmer gestürmt kam und sie beim Bügeln unterbrach, hatte sie eine grauenvolle Sekunde gedacht, Sasha hätte herausgefunden, was sie entdeckt hatte, und würde sie zur Rede stellen wollen. Aber nein. Es war die entsetzliche Nachricht von Toms Tod, die Sasha ihr überbrachte, und damit weitere seismische Erschütterungen für ihre gemeinsame kleine Welt.

Sie fragt: »Möchte noch jemand etwas? Noch ein Glas Wasser? Vielleicht einen Tee?«

Sie sieht Nicole an, die stumm den Kopf schüttelt. Seit Nicole vor ein paar Stunden hier angekommen ist, weint sie oder starrt ins Leere. Sie steht eindeutig unter Schock. Vorhin hat sie so gezittert, dass Kitty ihr kaum helfen konnte, die nassen Kleider aus- und trockene anzuziehen. Ihre Augen sind rot, geschwollen und glasig, ihre Wangen tränennass, ihre schreckensbleichen Gesichtszüge untröstlich.

Sie kann sich so gut in Nicole hineinversetzen, sie würde ihr gern jeden Trost anbieten, den man in so einem Moment spenden kann. Sie kannte Tom nur flüchtig, aber sie konnte ihn gut leiden. Sie hat sich zwar nie länger mit ihm unterhalten, doch er war immer freundlich und höflich, wenn er mit Nicole auf ein paar Drinks vorbeikam, nachdem sie drüben eingezogen waren, oder wenn er ihr auf der Straße begegnete. Obwohl sie so reich sind, haben weder Tom noch Nicole Allüren, das gefällt ihr. Und sie hat mit Wohlwollen verfolgt, wie sich die beiden ein neues Leben aufgebaut haben. Es war fantastisch zu beobachten, wie die Glasscheune aus diesen alten Ruinen auferstand. Olly und Sasha beschwerten sich oft bitter über den Lärm und das Chaos, obwohl der Verkauf des Grundstücks an Tom und Nicole viel frisches Geld ins Haus gebracht hatte, doch Kitty schaute gern zu, wie die Bauarbeiten voranschritten.

Sie setzt sich neben Nicole und ergreift ihre Hand. Sasha beobachtet sie vom Sofa aus und nickt. Olly sitzt in dem Lehnsessel am Fenster, mit dem Profil zu ihr. Er schaut ernst und ruhig auf die Zufahrt. Sie fragt sich, was genau Olly und Sasha heute Vormittag an der Glasscheune gesehen haben, aber gleichzeitig will sie sich lieber nicht vorstellen, wie der Leichnam ausgesehen hat. Sie haben nicht viel erzählt. Sie hört einen Motor. »Die Polizei ist da«, sagt Olly.

»Ich lasse sie herein.« Sie steht auf und streicht ihr Hauskleid glatt.

Die Detectives stellen sich an der Tür mit Namen vor. Sie sind ein ungleiches Paar. Die Frau, Jen, hat hübsche Locken, einen sportlichen Körper und ein höfliches Lächeln. Der Mann, Hal, hat ein Verbrechergesicht. Sie kann sich vorstellen, dass das in seinem Beruf ganz praktisch ist, trotzdem wirkt es ein bisschen einschüchternd. Sie hofft, dass er nett zu der armen Nicole sein wird.

»Und wer sind Sie?«, fragt er.

Sie zögert, sie ist nervös. »Ich bin Kitty, ich halte das Haus in Ordnung.«

Dass die beiden hier sind, dass die Polizei ins Manor House kommt, macht ihr wieder bewusst, dass eine Welt jenseits dieses Grundstücks existiert und dass auch sie Beistand finden könnte, wenn sie nur die nötige Courage aufbrächte.

»Ist Mrs. Booth hier?«

»Sie ist im Gelben Salon. Sie ist völlig aufgelöst. Hier entlang.« Sie bedeutet den beiden, ihr vorauszugehen, aber er bleibt stehen. Er hat kleine Augen. In der Düsterkeit des Hausflurs kann sie kaum etwas darin lesen. Die schwere Treppe, die dunkle Holztäfelung und die dicht gemusterte Tapete schlucken das Licht und das Buntglas in dem Fenster auf dem Treppenabsatz nimmt den einfallenden Sonnenstrahlen die Kraft. Der Kronleuchter brennt, aber seine verschnörkelten Arme – Messing und Geweihe – richten das Licht ausschließlich nach oben und werfen tiefe Schatten nach unten.

»Nachdem wir mit Mrs. Booth gesprochen haben, würden wir uns gern auch mit Ihnen unterhalten.«

»Ja«, sagt sie. Sie ist aufgeregt und unruhig. Worte beginnen hervorzusprudeln. Sie verbringt so viel Zeit damit, zu schweigen oder anderen aufzuwarten, dass das hin und wieder vorkommt. Sie muss sich jemandem mitteilen. »Es war ein echter Schock. Bis dahin war es ein völlig normaler Morgen. Sasha gab eine Yogastunde und Olly arbeitete an seinem Roman. Ich war beim Bügeln. Es war ein ganz gewöhnlicher Samstag, bis Nicole auftauchte. Sie kam angelaufen, nachdem sie den Leichnam ihres Mannes im Pool entdeckt hatte. Sie war tropfnass. Ich blieb bei ihr, während Olly und Sasha zur Glasscheune liefen, um nachzusehen, ob sie noch was für ihn tun konnten. Aber …« Ihr versagt kurz die Stimme bei der Erinnerung an den schrecklichen Moment, als Olly und Sasha zurückkamen und leise bestätigten, dass Tom tot sei. Ich habe es gewusst, antwortete Nicole. Ich wäre nicht hiergeblieben, wenn ich geglaubt hätte, dass es noch Hoffnung gibt. »Aber …«, wiederholt sie und stellt fest, dass sie den Satz nicht zu Ende bringen kann.

»Hat schon jemand Ihre Aussage aufgenommen?«, fragt der Detective.

Sie nickt. »Ein Polizist.«

»Trotzdem würden wir später gern noch mal mit Ihnen sprechen, wenn das okay ist. Können Sie mich jetzt zu Mrs. Booth bringen?«

Sie gibt ihnen ein Zeichen voranzugehen. Die beiden schauen sich im Gehen um, begutachten die dunkle Eichentreppe und die in mehreren Reihen bis dicht unter die hohe Decke hängenden Ölgemälde, teils große Porträts, teils Landschaften oder Jagdszenen. Normalerweise erzählt sie neuen Besuchern, wenn sie interessiert wirken, alles über das Haus, weist auf die wichtigsten Details hin und gibt ihnen einen Abriss über die jahrhundertealte Geschichte. Alle möchten den verzierten Tudor-Kamin im Großen Saal sehen und die mittelalterlichen Sgrafitti im Mauerwerk, vor allem die Hexenzeichen.

Sie ist die perfekte Fremdenführerin, denn sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, alles über dieses Haus zu wissen, jede Anekdote und noch die kleinste historische Wendung zu kennen. Jedes Mal, wenn sie durch die Flure geht, ist ihr bewusst, wie viele Menschen vor ihr hier entlanggegangen sind und wie viele nach ihr noch kommen werden. Sie hat es immer als Privileg empfunden, die Hüterin des Manor House zu sein.

Aber heute ist nichts von dem angezeigt. Sie sagt nur: »Die zweite Tür rechts.«

Sie bleibt in der Tür stehen, während die Detectives eintreten. Olly und Sasha sitzen noch genauso da wie zuvor.

»Wir würden gern allein mit Mrs. Booth sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagt der Detective. »Könnten Sie so lange woanders warten?«

Sie tritt beiseite, während Olly und Sasha das Zimmer verlassen. Die Detective kommt an die Tür und im nächsten Moment sind sie ausgeschlossen. Im Halbdunkel steht sie Olly und Sasha gegenüber. »Wir warten in Ollys Arbeitszimmer«, sagt Sasha.

»Ich muss noch in der Küche sauber machen«, sagt sie, dabei weiß sie, dass dort alles tadellos aufgeräumt ist.

Olly und Sasha verschwinden in seinem Arbeitszimmer und schließen ebenfalls die Tür.

Durch die Tür zum Gelben Salon sind Stimmen zu hören, aber nicht zu verstehen. Allerdings lässt sich das ändern. In diesem Haus gibt es eine Reihe von Geheimverstecken, die zum Teil niemand außer ihr kennt.

Sie geht ein Stück weiter zum Musikzimmer, das direkt neben dem Gelben Salon liegt. Ein Flügel füllt es zum größten Teil aus. Sie geht um ihn herum in die Zimmerecke und löst dort einen in der Wandtäfelung versteckten Mechanismus aus. Zwei Paneele öffnen sich, sie schlüpft durch den Spalt in einen schmalen Hohlraum zwischen den Wänden und schiebt dann die Paneele behutsam wieder in Position, ohne sie zu verriegeln. Von hier aus kann sie die Detectives und Nicole exzellent verstehen.

Sie weiß, dass sie nicht lauschen sollte, und tatsächlich geht es ihr nicht darum, Nicoles Geheimnisse zu erfahren; sie will nur sichergehen, dass die Polizisten sie anständig behandeln, außerdem ist die Versuchung einfach zu groß, weil es nun mal diese Räume im Manor House gibt, die ausschließlich als Versteck oder Lauschposten gedacht waren. Einer davon ist ein sogenanntes Priesterloch, dazu zahlreiche, aus dem sechzehnten Jahrhundert stammende Durchlässe wie diesen. Sie will sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich es für die katholischen Priester gewesen sein muss, sich damals in diesen Wänden zu verstecken, während draußen Jagd auf sie gemacht wurde.

Aber sie weiß auch, wie sich diese geheimen Schlupflöcher zum eigenen Vorteil nutzen lassen, und es wird höchste Zeit, dass sie aus ihrer Passivität heraustritt.

Sie geht auf die Knie und legt das Ohr an die Rückseite der Wandtäfelung im Gelben Salon. Die Polizistin stellt freundlich eine Frage nach der anderen, aber Nicole ist so untröstlich, dass sie kaum antworten kann. Schluchzend erlaubt sie den beiden, sich die Aufzeichnungen der Überwachungskameras in der Glasscheune anzusehen, das Haus zu durchsuchen und Toms elektronische Geräte mitzunehmen, sofern sie wichtig sein können. Sie schreibt die jeweiligen Passwörter auf, aber sie hört keine Sekunde auf zu weinen. Es fühlt sich wie eine Erlösung an, als die Befragung nach kurzer Zeit abgebrochen wird.

Als Kitty aus der Wand klettert und das Paneel wieder verriegelt, merkt sie, dass sie sich Tränen vom Gesicht wischen muss.

Arme, arme Nicole, denkt sie. Sie hat das alles nicht verdient und ich genauso wenig.

7

Sonntag

Nicole

Nicole spürt die Kälte bis in die Knochen, obwohl es schon früh warm wird und die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen durch die Bleiglasfenster der Küche im Manor House dringen. Sie hat die Nacht hier verbracht. Die Polizisten haben sie gebeten, die Glasscheune nicht zu betreten, während dort ermittelt wird. Olly und Sasha waren unglaublich großzügig und haben sie hier übernachten lassen, was nur gut ist, weil sie sonst nirgendwo hingekonnt hätte.

»Die Detectives sind wieder da«, sagt Sasha. Nicole nickt. Sie hat das Auto gehört. Die Befragung gestern hat rein gar nichts erbracht, weil sie nicht aufhören konnte zu weinen. Heute will sie das Gespräch so schnell wie möglich hinter sich bringen, es abhaken, damit sie endlich in Ruhe trauern kann. Toms Tod war mit Sicherheit ein Unfall. Sie kann sich beim besten Willen nichts anderes vorstellen.

Weil sie unsicher ist, wie sie sich verhalten soll, steht sie auf, als Sasha die beiden in den Raum führt. »Das mit gestern tut mir leid«, sagt sie.

»Gar kein Problem«, versichert ihr die Detective. Nicole fällt ihr Name wieder ein: Jen Walsh. Der Mann heißt Hal Steen. Jen sieht aus, als wäre sie Mitte dreißig – etwa in Nicoles Alter – und Nicole fühlt sich ihr irgendwie verbunden. Jen ist direkt, aber nicht aggressiv. Was sie von Jens männlichem Kollegen halten soll, weiß Nicole nicht so recht. Er ist stiller, aber sein Blick bringt sie aus der Fassung und er wirkt wie unter Druck, von rastloser Energie erfüllt.

Diesmal sitzen sie am Küchentisch. Die Atmosphäre ist entspannter als in dem steifen Salon, in dem sie gestern saßen. Das Manor House schüchtert Nicole ein. Es ist so riesig, so herrschaftlich. Kitty hält es makellos sauber, trotzdem riecht es hier immer leicht muffig, und die Vergangenheit würde sich ohnehin nicht wegschrubben lassen.

»Hatte Tom vor seinem Tod irgendwelche Unfälle, von denen Sie wissen?«

»Was für Unfälle?«

»Ist er vielleicht gestürzt? Etwas in der Art?« Der Detective sieht sie bohrend an.

»Nein. Nicht, dass ich wüsste. Warum?«

»Wir haben eine Verletzung an seinem Kopf bemerkt.« Er tippt sich knapp unter dem Haaransatz an die Stirn.

»Was für eine Verletzung?« Ihr ist keine aufgefallen, als sie ihn zu retten versuchte, aber das waren auch panische, hektische Minuten.

»Eine Beule«, erklärt er.

Sie starrt die beiden an. »Er muss am Pool ausgerutscht sein und sich den Kopf angeschlagen haben, vielleicht an der Poolkante. Vielleicht ist er ohnmächtig geworden und im Wasser gelandet. Glauben Sie das nicht auch?«