Drug trail - Spur der Drogen - Matthias Kluger - E-Book

Drug trail - Spur der Drogen E-Book

Matthias Kluger

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Beschreibung

Die USA sind in einer ihrer schlimmsten Krisen, die Zahl der Drogentoten steigt täglich in noch nie dagewesener Dimension. Der Präsident und sein Beraterstab sehen sich gezwungen zu handeln. Massiver Widerstand regt sich gegenüber eingeleiteten Maßnahmen und manch einer scheint selbst vor Mord nicht zurückzuschrecken, um die eigenen Interessen zu verfolgen. In den Strudel der Ereignisse geraten die getrennt aufgewachsenen Zwillinge Philipp und Robert. Die beiden sind nicht die einzigen, die schlimme Ereignisse verarbeiten und schwierige Entscheidungen treffen müssen. Verbindungen und Freundschaften entstehen, nicht alle halten, was sie versprechen. Spannung pur und überraschende Wendungen sind dem Leser sicher.

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Matthias Kluger

(Nach einer Idee von Peer-Holger Stein)

DRUG TRAIL

Engelsdorfer VerlagLeipzig2021

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild: Gemälde von Matthias Kluger (2014)

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Exodus

„Fuck!“

Vor seinen weit aufgerissenen Augen begann sich der Raum samt Interieur zu drehen. Bedrohlich wölbte sich der Boden unter seinen Füßen nach vorn und erschwerte ihm so das Gehen und die Balance zu halten. Der braune Teppich schien über eine Felsklippe hinweg in die Tiefe zu stürzen.

Er taumelte, stolperte zur Badezimmertür und krallte seine Finger in das Holz des Türrahmens, ohne zu bemerken, dass dabei zwei der erst kürzlich manikürten Fingernägel abbrachen.

Sein Herz raste wie der Kolben einer Dampfmaschine und drängte das Blut in kurzen, heftigen Stößen durch das Adergeflecht hinauf in seinen Kopf. Schweißperlen traten auf seine Stirn, rannen ihm über das Gesicht und färbten den Kragen des weißen Hemdes dunkel.

Während Tausende imaginäre Nadeln auf seine Kopfhaut einstachen, spürte er den aufsteigenden Schwindel. Sein Blickfeld verengte sich bis zur Größe eines Stecknadelkopfes – dann wurde es vollends schwarz um ihn herum. Es war eine beängstigende Finsternis, die sich über ihn senkte, und doch keine Bewusstlosigkeit. Als wäre er Teil einer in Zeitlupe abgespielten Filmsequenz, versagten schlagartig beide Knie ihren Dienst, er kippte vornüber und seine knapp neunzig Kilo knallten auf die kalten Fliesen des Badezimmers.

Er röchelte leise und seine Hände fühlten die Kühle des Bodens, während anhaltend ein Dampfhammer auf die Windungen seines Gehirns einzuschlagen schien. Durst! Unbändiger Durst! Das maßlose Verlangen nach Flüssigkeit! Jedes Molekül seines Körpers schrie verzweifelt danach. Doch er war nicht fähig zu schreien. Vielmehr füllte seine angeschwollene Zunge die gesamte Mundhöhle aus und presste sich gefühllos gegen den ausgetrockneten Gaumen. Fortwährend pulsierte sein Herz – nein, es tobte wie verrückt und verursachte ein bebendes Inferno vom Haaransatz bis zu den Zehen. Im Versuch, kriechend den Waschtisch zu erreichen, mobilisierte er die letzten Kräfte. Zitternd gelang es ihm, sich aufzustützen. Noch immer umgab ihn ein Schleier wabernder, undurchdringlicher Schwärze. Direkt vor ihm, nur wenige Schritte entfernt, müsste sich das Waschbecken mit dem erlösenden Wasserhahn befinden. Seine Hand tastete wie die eines Blinden, als sich augenblicklich die Muskeln verkrampften und seinen ganzen Körper wie einen Zitteraal vibrieren ließen. Gleichzeitig schien eine kräftige imaginäre Faust seine Eingeweide zusammenzuquetschen, was ihn ungewollt dazu zwang, eine gekrümmte Haltung wie die eines Fötus einzunehmen. Übersäuerter Mageninhalt, der gallig durch die Speiseröhre nach oben quoll, tropfte zu beiden Seiten aus den Mundwinkeln. Als zerrte eine zweite, extrem starke Hand an seinen Haaren, riss er ruckartig den Kopf in den Nacken und übergab sich in einem Schwall. Sekunden später lag er mit dem Gesicht inmitten seines Erbrochenen. Speisereste verklebten Mund und Nasenlöcher, doch davon bekam er nichts mehr mit. Es war der Augenblick, an dem sich auch sein Herzmuskel das letzte Mal zusammenzog, um gleich darauf bleiern zu erschlaffen.

Der Anruf

„Phil? Phil, kannst du mich hören?“

Robert presste das iPhone an sein kaltes Ohr und lauschte.

„Shit, Phil, ich kann dich nicht verstehen. Bist du noch dran?“

Nichts, außer einem Rauschen in der Leitung, durchbrochen von gelegentlichem Knacken.

„Wenn du mich hörst, Phil, ich leg jetzt auf. Ruf mich gleich zurück, hörst du!“

Robert war so auf das erfolglose Telefonat mit seinem Zwillingsbruder konzentriert, dass er einen Fuß auf die Straße setzte, ohne den Verkehr zu beachten. Das laute Hupen eines Kleinwagens riss ihn abrupt in die Realität zurück und ließ ihn mit einem Satz auf den Bürgersteig zurückspringen. Zur Entschuldigung hob er die linke Hand, während seine rechte das Handy in die Manteltasche steckte. Fröstelnd stülpte Robert den Kragen seines dunklen Mohair-Mantels nach oben und wandte sich zur Fußgängerampel rechts von ihm. Washington D.C. war in dicke Schneeflocken gehüllt, die sich zart wie Wattebäuschchen auf seinem blonden Kurzhaarschnitt und den Schultern des Mantels türmten. Inmitten geschäftigen Trubels gehetzter Stadtmenschen, die zwei Tage vor Weihnachten noch die letzten Geschenke für ihre Liebsten aufzutreiben versuchten, schlug Robert den Weg in Richtung Capitol ein. Er wich gerade einer entgegenkommenden älteren Dame mit enorm beladenen Einkaufstüten aus, als sein iPhone klingelte. Robert nestelte das vibrierende Gerät aus den Tiefen seiner Manteltasche und drückte es sich an die Ohrmuschel.

„Endlich, Phil. Wo bist du?“

„Im Treppenhaus vor meiner Wohnung. Sorry, ich musste vorhin auflegen. Irgendwelche Idioten sind bei mir eingebrochen und haben einen irrsinnigen Saustall hinterlassen. Zwei von der Streife besichtigen gerade das Chaos.“

„Eingebrochen?“, fragte Robert, als hätte er das eben Gesagte nicht korrekt verstanden. „Fehlt irgendwas?“

„Zirka 900 Euro, aber die Uhr, die mir Vater letztes Jahr geschenkt hat, haben sie liegen lassen.“

„Fuck. Wie sind die reingekommen?“

„Meine Haustür scheint ein Witz zu sein. Der Polizist meint, Profis knacken das Schloss in null Komma nix. Muss heute Nacht gewesen sein, als ich bei meiner Perle war.“

„Perle? Welche Perle?“, hakte Robert nach.

Philipp grinste ins Telefon. „Nix Ernstes.“

„Und jetzt?“, wollte Robert wissen.

„Na ja, der oder die hatten es nur aufs Bargeld abgesehen. Der von der Streife meint, dass es sich meist um Einzeltäter handelt. Nicht selten Junkies, die Kohle für Drogen brauchen. Hier in Berlin haben die Cops laufend damit zu tun und kommen kaum hinterher. Ist eine richtige Seuche. Der Polizist hat mir vorgerechnet, dass so ein Junkie im Durchschnitt hundert bis zweihundert Euro am Tag braucht. Das sind locker mal über fünfzigtausend im Jahr.“

„Da muss ’ne alte Oma lange für stricken. Sonst ist aber alles okay, oder?“

„Außer, dass es arschkalt ist und regnet“, entgegnete Philipp.

„Bei uns schneit es“, brüllte Robert nun, da ein rumorender Truck auf seiner Höhe lautstark von einem Gang in den anderen schaltete. „Wann kommst du?“

„Deswegen habe ich dir gestern schon aufs Band gesprochen. So wie es aussieht, wird das nichts über die Weihnachtstage. Mutter hat für die Feiertage ein volles Programm aufgelegt und die aktuelle Kampagne lässt mir kaum Luft zum Atmen. American-British-Tobacco hat den Relaunch vorgezogen und mein Boss ist kurz vorm Kollabieren.“

„Shit, Alter. Hätte mich gefreut, dich über Weihnachten zu sehen. Was mach ich jetzt mit den beiden Hasen, die ich uns gebucht habe?“ Robert feixte in den Hörer.

„Dir wird schon was Passendes einfallen, Bruderherz. Zur Not halte sie bis zum Frühjahr warm. Wie geht’s Vater?“

„Wie soll’s Dad ein knappes Jahr vor der Präsidentschaftswahl schon gehen? Ich seh ihn mehr im Oval und im Kongress als zu Hause. Das Auftreiben von Spendengeldern kostet ihn Jahre seines Lebens. Aber er hat ja mich.“ Robert lachte auf. „Spaß beiseite. Dad geht es so weit gut. Er wird sicher ungehalten sein, wenn ich ihm sage, dass du nicht kommen kannst. Ich treffe ihn …“ Robert zögerte einen Augenblick. „Warte kurz, ich bekomm gerade noch ein Gespräch rein.“

Robert presste den Makeln-Knopf und lauschte dem zweiten Anrufer. Dann, nach etwa einer Minute, wechselte er wieder die Leitung: „Phil, ich muss Schluss machen. Ich melde mich. Sag Mom noch einen Gruß von mir.“

Noch bevor Philipp antworten konnte, hatte Robert aufgelegt und einem der vielen Yellow Cabs, die sich schleichend den Weg durch den verschneiten Verkehr bahnten, Zeichen gegeben.

„Zum Capitol“, wies Robert den Taxifahrer an, nachdem er sich den Schnee vom Mantel geschüttelt hatte und eingestiegen war. „Und zwanzig Dollar extra, wenn wir es in zehn Minuten schaffen!“

Reporteralltag

„Komm schon, Sue. Du hattest die Kleine über Ostern. Da werde ich sie doch zwei Tage über Weihnachten bei mir haben können.“

Sue, die eigentlich Sophia hieß, strich sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus der Stirn. Sie war eine äußerst attraktive Mittdreißigerin, die ihre italienischen Wurzeln nicht verhehlen konnte.

„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du die Schlampe auf deinem Schreibtisch gefickt hast.“

„Sue, das ist vier Jahre her. Was hat das jetzt damit zu tun?“

Sophia verdrehte die Augen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie ihr die Vorstellung von Oliver mit diesem Flittchen noch immer einen Stich versetzte.

„Eve wird Weihnachten und Silvester mit mir bei meinen Eltern verbringen. Basta. Danach kannst du sie gerne übers Wochenende haben. Vorher nicht.“

„Dein letztes Wort?“, fragte Oliver, dem das Gespräch wieder einmal aus dem Ruder gelaufen war.

„Du zahlst“, war die lapidare Antwort seiner Exfrau, die im Begriff war aufzustehen.

„Warte, warte, setz dich bitte wieder. Ich lade dich ein und wir trinken noch einen, okay?“

Widerwillig stand Sophia am Bistrotisch, strich ihren figurbetonten Rock glatt, überlegte einen Moment und ließ sich dann sichtlich genervt auf den Stuhl zurücksinken.

Das Brown Bag am Franklin Square, in dem sie gerade saßen, lag unweit der Washington Post, wo Oliver arbeitete, und glich im Inneren einer überfüllten Bahnhofshalle. Dicht gedrängt standen diejenigen Gäste, die keinen der begehrten Sitzplätze ergattern konnten, aufgeheizt, Schulter an Schulter, in dicken Mänteln und Daunenjacken, was die Scheiben des Restaurants feucht beschlagen ließ.

„Hör zu, Sue. Was hältst du davon, wenn ich an einem Tag bei deinen Eltern vorbeikomme und wir gemeinsam feiern?“

„Dio mio, bist du jetzt völlig übergeschnappt?“ Sophia wedelte mit der Hand vor ihrer Stirn, als wäre sie ein Scheibenwischer. „Wir sind Sizilianer, hast du das vergessen? Noch bevor du einen Schritt über die Türschwelle gemacht hast, steckt das Messer meines Vaters zwischen deinen Rippen.“

„Ach was“, entfuhr es Oliver. „Lorenzo hat mich immer gemocht, das weißt du!“

„Klar, bis zu dem Tag, als er mitbekommen hat, dass sein Schwiegersohn seinen Schwanz nicht im Griff hat.“

„Sue, es war ein Mal. Ein Mal und – ach, vergiss es …“ Oliver beschloss mit einem übertriebenen Seufzer, nicht weiter zu bohren. Es hatte keinen Sinn, alles von Neuem aufzuwärmen. Sie waren jetzt vier Jahre getrennt und ihre gemeinsame Tochter Eve würde nächstes Jahr sechs werden. „Okay, Sue, gut. Lass uns nicht streiten und noch nen Drink nehmen. Eine Bitte hätte ich dennoch: Würdest du nachher noch schnell mit rüber zur Redaktion kommen? Ich hab ein Geschenk für Eve … und für dich“, fügte er etwas leiser hinzu.

„Dann lass uns gleich gehen“, bat Sophia. „Und ich warte unten.“ Sie zog eine Braue in die Höhe. „Ich habe nämlich keine Lust, in deinem Büro irgendwelchen langbeinigen Blondinen über den Weg zu laufen, die hinter meinem Rücken tuscheln, welchem Hengst ich aufgesessen bin.“ Sophias Miene strahlte noch immer Verärgerung aus.

Nachdem sie gezahlt und sich zum Ausgang gedrängt hatten, blies ihnen von draußen die kalte Dezemberluft Schneeflocken ins Gesicht. Als Oliver den Arm um Sophias Schulter legte, um sie so durch das Schneetreiben zu führen, zauderte sie zuerst abweisend, ließ es dann aber doch geschehen.

Wenig später gelangten sie zum großen Zeitungsgebäude an der 1301 K Street NW und Oliver hielt Sophia die mächtige Glastür zur Eingangshalle der Washington Post auf. Sie waren noch damit beschäftigt, sich stampfend und klopfend vom Schnee auf den Schuhen und der Kleidung zu befreien, als Oliver eine merkwürdige Anspannung auffiel, die in der Luft lag. Das übliche hektische Treiben im Empfangsbereich schien noch intensiver als sonst, so als seien sämtliche der Anwesenden in irrsinniger Eile. Handys waren gezückt, man rief sich quer über die Köpfe hinweg unverständliche Sätze zu, während hin und her gelaufen wurde, um scheinbar irgendein fiktives Ziel als Erster zu erreichen. In dem Augenblick, da sich ihre erstaunten Blicke trafen, hörten sie durch das Stimmengewirr hindurch Olivers Namen.

„Oliver, shit, Oliver.“ Im Stechschritt kam „Qualle“, Olivers Assistent und ein wahres Computergenie, auf ihn zugelaufen. Eigentlich hieß er Ronny, doch angesichts seines schwabbelig gedrungenen Körperbaus nannten ihn alle nur bei seinem Spitznamen. Es schien ihn auch keineswegs zu stören.

„Verdammt noch mal. Wo warst du die ganze Zeit? Hast du dein Handy nicht gehört?“

Oliver verzog entschuldigend das Gesicht: „Sophia, das ist Qualle. Qualle, Sophia.“

„Ja, ja, hi Sue“, begrüßte Qualle die Ex seines Chefs in scheinbarer Vertrautheit. Dann zog er Oliver am Ärmel zur Seite. „Sie haben Winston gefunden“, platzte es aus ihm heraus.

„Winston? Wo?“, fragte Oliver mit zusammengekniffenen Lippen.

„In einer Suite im Four Seasons.“

„Und?“

„Ja, was und?“ Qualles Nasenflügel bebten. „Der Vice President ist tot.“

„Tot? Wann? Wer hat ihn gefunden?“

„Die Meldung kam erst vor ner halben Stunde, so in etwa. Einer seiner Bodyguards fand ihn im Badezimmer. Mehr wissen wir noch nicht.“

„Wer von uns ist im Four Seasons?“, fragte Oliver hektisch.

„Frank und Jenny. Na und du, will ich hoffen.“ Qualle blaffte seinen Chef regelrecht an, bereute jedoch im selben Atemzug den ungestümen Vorwurf in seiner Stimme.

Oliver spürte das Adrenalin durch seine Adern rauschen. Für einen kurzen Moment wurde ihm wieder bewusst, warum er Reporter geworden war.

„Okay. Ähm, Sue“, Oliver stammelte sichtlich erregt, „also, du verstehst doch …“

„Hau schon ab.“ Ihr kurzes Lächeln war für Oliver wie eine Offenbarung. Warum hatte er diese Frau nur so beschissen behandelt? Er gab Sophia zum Dank einen Kuss auf die Wange und wandte sich zum Gehen.

„Warte kurz“, hielt sie ihn zurück. „Das Geschenk für Eve. Ich will nicht ihre Enttäuschung unterm Weihnachtsbaum sehen, dass ihr Dad mal wieder …“

„Klar, das Geschenk. Äh, Ronny“, wies Oliver seinen Assistenten im Gehen an, „lauf bitte in mein Büro. Die große blaue Tüte mit den drei Päckchen. Und ich melde mich, ja?“

Wenn sein Boss ihn nicht mit seinem Spitznamen ansprach, dachte Qualle, musste ihm die Angelegenheit mit der Geschenktüte wirklich am Herzen liegen. Er zwinkerte der attraktiven Sophia zu und bat die Italienerin, kurz auf ihn zu warten.

Weißes Pulver

Der Taxifahrer benötigte trotz starken Schneetreibens und des damit verbundenen Verkehrstrubels nur neun Minuten, bis er seitlich des James A. Garfield Memorials am Ende der Maryland Ave SW zum Stehen kam. Die in Aussicht gestellten zwanzig Dollar extra hatte er sich durch waghalsige Überholmanöver redlich verdient. Als Robert zu den Bürogebäuden rechts des Capitols lief, war dessen über achtzig Meter hohe Kuppel der dicken Schneeflocken wegen kaum auszumachen. Über den Aufzug des Kongress-Bürokomplexes Rayburn House gelangte Robert in den siebten Stock und stand wenige Minuten später im Vorzimmer seines Vaters William Baker.

William Baker war seit vielen Jahren Kongressabgeordneter der Demokraten und zählte zum Kreis der engsten Berater, dem sogenannten Inner-Circle, des Präsidenten.

Mia, die Sekretärin, bedeutete Robert mit einem Kopfnicken zur Tür, dass er bereits erwartet wurde.

„Hi, Dad. Was genau ist passiert?“, platzte es beim Eintreten in das geräumige Arbeitszimmer aus Robert heraus.

„Schließ die Tür“, wies sein Vater ihn an. „Genaues wissen wir noch nicht. Der Präsident wurde erst vor wenigen Stunden darüber informiert, dass Sicherheitskräfte Winston leblos in einer Suite des Four Seasons gefunden haben.“

„Ist es sicher, ich meine …?“

„Noch wissen wir nichts Näheres über die Umstände, aber …“

In diesem Moment klingelte das Telefon. William Baker ging um den mächtigen Mahagonischreibtisch herum und griff zum Hörer.

„Baker.“ Gespannt lauschte der Abgeordnete in den Hörer, während er seinen Sohn stirnrunzelnd musterte. Nach etwa einer Minute angespannten Zuhörens antwortete Baker in den Apparat: „Sind schon auf dem Weg, Bob. Bis gleich.“ Er legte auf und drückte zeitgleich den grünen Knopf der Gegensprechanlage: „Mia, lassen Sie bitte den Wagen vorfahren.“

Robert zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. „Ins Weiße Haus?“

William nickte, während er sein Jackett vom Kleiderhaken nahm, es sich überstreifte und die Krawatte zurechtrückte. „Bob hat eine Krisensitzung einberufen. Wir treffen uns im Oval.“

Dreißig Minuten später betrat Robert mit seinem Vater William Baker das Oval Office im Westflügel des Weißen Hauses. Neben dem Präsidenten Bob Thompson waren die Direktorin der CIA, Julia Hobbs, sowie Verteidigungsminister Ashton Brown anwesend.

„Ah, William, Robert. Gut, dass ihr da seid. Julia wollte gerade beginnen, uns Genaueres über die Umstände von Winstons Ableben zu berichten. Schreckliche Sache. Verflucht, er war ein verdammt guter Mann.“

William und Robert begrüßten die Anwesenden mit Handschlag – dann nahmen sie auf dem Sofa gegenüber der Direktorin Julia Hobbs und dem Verteidigungsminister Platz.

„Bevor ich auf die brisanten Details eingehe …“, Chief Hobbs legte eine bedeutungsschwangere Pause ein, „will ich eines klarstellen: Auf mein Anraten hin hat der Präsident bewusst den Rahmen der einzuweihenden Personen auf das notwendige Minimum beschränkt. Alles, was ihr hier und jetzt von mir erfahrt, bleibt in diesen vier Wänden. Keine Informationen nach draußen, weder an Mitglieder des Kongresses noch, Gott bewahre, an die Presse. Habt ihr das verstanden?“

Allgemeines Kopfnicken schien der Direktorin auszureichen, denn sie fuhr umgehend fort: „Unser Vice President, Logan Winston, wurde durch einen meiner Beamten im Badezimmer seiner Suite des Four Seasons um exakt 10:17 Uhr aufgefunden. Der Exodus musste nur kurz zuvor eingetreten sein. Fremdeinwirkung derzeit ausgeschlossen. Alle lebenserhaltenden Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Sanitäter waren umsonst. Der hinzugezogene Arzt konnte nur noch den Tod feststellen. Das Brisante hierbei ist, dass die Todesursache – zumindest deutet derzeit alles darauf hin …“ Abermals legte die Direktorin der CIA eine Pause ein, um den nun folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen: „Vermutlich hat Logan eine Überdosis irgendeiner noch nicht näher untersuchten Substanz zu sich genommen. Auf dem Bettlaken wurde ein weißes Pulver gefunden, ebenso Spuren an seiner Nase und Oberlippe. Wir gehen von Kokain aus, es könnte aber auch irgendein anderer synthetischer Dreck sein. Genaueres werden wir in ein paar Stunden aus dem Labor sowie nach der Obduktion erfahren.“

„Versteht ihr jetzt, warum ich diese Scheiße in kleiner Runde besprechen musste?“

Etwas erstaunt über die derbe Wortwahl hefteten sich alle Augen auf den Präsidenten.

„Wenn durchsickert, dass der Vizepräsident der Vereinigten Staaten durch Drogenkonsum gestorben ist – ihr könnt euch vorstellen, wie die Aasgeier im Kongress und die Presse über uns herfallen werden. Und das so kurz vor den Wahlen. Einen schlechteren Zeitpunkt, so makaber das jetzt klingen mag, hätte sich Logan kaum aussuchen können.“

„Was gedenkst du zu tun?“, wandte sich Verteidigungsminister Ashton Brown an Julia.

„Nun, egal, was die Obduktion ergibt, es wird unter Verschluss bleiben. Offiziell wird das Statement lauten, dass Winston an einem Herzversagen gestorben ist.“

„Wir sind hier zu fünft“, schaltete sich William ein. „Sanitäter vor Ort, der Notarzt, das Obduktionsteam sowie deine Leute von der CIA und dem Secret Service. Da zähle ich schon mindestens weitere acht bis zehn Personen. Wird schwierig mit der Geheimhaltung, meinst du nicht auch, Julia?“

„Meine Jungs halten dicht. Sie haben einen Eid auf die Verfassung geschworen, vergiss das nicht, William. Alle anderen lass meine Sorge sein.“

„Okay“, entgegnete William, „ich schlage dennoch vor, einen Notfallplan auszuarbeiten, nur für den Fall der Fälle, dass doch an irgendeiner Stelle etwas durchsickert. Was meinst du, Bob?“

William blickte zum Präsidenten, der mit verschränkten Armen und besorgter Miene am Resolute Desk, dem reich verzierten Schreibtisch, einst Geschenk der britischen Königin Victoria, lehnte und nickte.

„Natürlich, William hat recht. Wir sollten vorbereitet sein. William, Robert, kümmert euch bitte darum.“

Es war das erste Mal, dass Robert in seiner kurzen Amtszeit als jüngster Berater des Präsidenten von diesem direkt um etwas gebeten wurde. Auch wenn die Bitte nicht allein an ihn, sondern gleichzeitig an seinen Vater gerichtet worden war.

„Julia, Ashton“, fuhr der Präsident fort, „ich hätte euch beide nachher gern an meiner Seite. Wir werden um 20:00 Uhr vor die Presse treten. Lasst ein Statement vorbereiten. Lebenslauf von Logan, Verdienste, das ganze Programm eben.“

Straßensperre

Oliver lenkte seinen ganzen Stolz, einen Oldtimer BMW 1600 Baujahr 1972, von der 29 M Street NW nach links auf das Four Seasons zu, wurde jedoch durch eine Straßensperre aufgehalten. Beamte der United States Capitol Police, kurz USCP, hatten den Gebäudekomplex an der 29th weiträumig abgeschottet.

Zahlreiche Übertragungswagen der örtlichen Fernsehstationen sorgten, zusätzlich zu der teilweisen Sperrung der Hauptverkehrsader 29 M Street NW wie auch der nahe gelegenen Seitenstraßen, für erhebliches Chaos. Hinzu kamen die üblichen Gaffer, die dicht gedrängt in morbider Neugier die Gehwege blockierten. Kurzum: Die Einsatzteams der USCP hatten alle Hände voll zu tun, das Areal rund um das Gebäude Four Seasons zu sichern und gleichzeitig freundlich, aber dennoch bestimmt unnötige Zaungäste in die Wüste zu schicken.

Oliver fuhr zwei Blocks weiter, bis er eine Möglichkeit zu parken fand. Zwar wies die Markierung an der Straße auf ein absolutes Halteverbot hin, doch er hoffte, die in der Frontscheibe angebrachte Plakette „Presse Washington Post“ würde eine Strafe abwenden.

Fünfzehn Minuten später erreichte er die Straßensperre zu Fuß.

„Washington Post, Oliver Konecki.“ Er hielt dem Officer der USCP seinen Presseausweis vor die Nase, was diesen sichtlich unbeeindruckt ließ, denn er war nicht willens, ihn auch nur einen Schritt weiter in Richtung Hotel kommen zu lassen.

„Tut mir leid, Mister. Kein Zugang.“

„Hören Sie, Officer. Dies hier ist ein Presseausweis der Washington Post. Ich bin seit über fünfzehn Jahren Reporter bei diesem Blatt und allein die Tatsache, dass die Öffentlichkeit ein Recht darauf hat, informiert zu werden, sollte Anlass genug sein, mich durchzulassen.“

„Gut, Mr. – ähh …“ Der Officer in schwarzer Uniform überragte Oliver um fast einen halben Kopf und neigte sich jetzt dem gezückten Ausweis entgegen. „Mr. Konacki, oder Konecki, egal, ich sagte bereits, Zutritt verweigert! Sie können gerne abseits der Straße warten, bis ich andere Anweisungen erhalte. So lange jedoch bewahren Sie bitte Ruhe. Haben Sie mich verstanden?“ Letztgesagtes hatte einen derartigen Befehlston, dass sich selbst Oliver beugen musste.

„Schon gut, schon gut“, antwortete er daher einlenkend. „Was schätzen Sie, wann wird die Absperrung aufgehoben sein?“

„Ich werde es Sie wissen lassen, Kumpel, aber bis dahin …“ Der Officer wedelte mit seiner Rechten, die einen Schlagstock fest im Griff hielt, zum Gehen.

Murrend wandte sich Oliver ab und blickte zu beiden Seiten die Hauptstraße entlang. Verdammt! Wäre er nur früher hier gewesen, dann hätte unter Umständen die Möglichkeit bestanden …

Oliver zog sein Handy hervor und wählte Jennys Nummer. Es läutete eine halbe Ewigkeit, bis sich die schrille Stimme seiner Kollegin meldete: „Auch schon wach?“

„Wo seid ihr?“, fragte er, ohne auf die Anspielung rechtfertigend einzugehen.

„In der Nähe des Four Seasons. Da, wo halt alle Starreporter im Moment sein sollten.“

„Wo genau, du Hexe?“, raunzte Oliver liebevoll.

„In einer Seitenstraße der Pennsylvania. Eine kleine Weinbar.“

„Kenn ich. Bin gleich bei euch.“

Oliver befand sich bereits auf der Pennsylvania Avenue und folgte dieser nun in nordöstlicher Richtung. Vor den niedrigen Gebäuden, die abwechselnd mit Klinkerstein gemauert oder weiß gestrichen waren, schlängelte er sich am Gehweg durch zahlreiche Passanten und Trauben von Schaulustigen hindurch. Wenn ihn nicht alles täuschte, befand sich das kleine Weinlokal an der nächsten Straßenecke. Erst im Herbst hatte er es mit einer Kollegin aus der Sportredaktion besucht. Nichts Ernsthaftes, nur ein feuchtfröhlicher Abend mit anschließendem Quickie in ihrer Wohnung.

Er bog um die Ecke. Tatsächlich. Die Weinbar lag direkt vor ihm, und wie er bemerkte, war auch hier hinter der Bar eine Absperrung der USCP errichtet worden. Sowohl vor dem Eingang als auch im Lokal selbst herrschte emsiges Treiben. Stoisch zwängte sich Oliver ins Innere der Bar. Ein fader Dunst angebrannten Olivenöls gemischt mit den Ausdünstungen transpirierender Gäste hing wie eine unsichtbare Wolke über den aneinandergereihten Köpfen. Ohne auf den leidenden Blick der überforderten Bedienung einzugehen, quetschte sich Oliver mit der rechten Schulter voran in den hinteren Bereich zur Bar. Wie Lemminge drängten sich etliche Gäste vor dem Tresen, darunter Jenny und ihr Kollege Frank, der seine Digitalkamera geschultert trug.

„Und, habt ihr schon was herausgefunden?“, fiel Oliver mit der Tür ins Haus.

„Nicht mehr als die Kollegen hier.“ Frank schmunzelte. „Alle sind sie da, wie die Aasgeier. Die Jungs von der Times, Daily News – sogar vom Chronicle. Doch niemand wird auch nur in die Nähe des Hotels gelassen.“

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Oliver in die Runde.

„Das, was alle machen: warten“, entgegnete Jenny, während sie gelangweilt ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht zu einer Grimasse verzog.

„Irgendwas ist da faul, ich rieche es förmlich“, flüsterte Oliver. „Klar, es geht hier um den Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten. Aber warum schotten sie das Areal dermaßen ab?“

„Reine Routine“, meinte Frank. „Bevor die nicht genau wissen, was passiert ist, lassen die keine Kakerlake auch nur in die Nähe. Wenn wir …“

Eine plötzlich aufkeimende Unruhe unterbrach Franks Ausführungen. Irgendetwas schien draußen in Bewegung zu kommen. Ohne Rücksicht zu nehmen, schob sich Oliver an mehreren Gästen vorbei zum Ausgang. Tatsächlich rollten soeben eine schwarze Limousine sowie ein Leichenwagen, eskortiert von zwei dunklen Vans Ford V8 mit abgetönten Scheiben, die Pennsylvania Avenue entlang, um anschließend links in der Zugangsstraße zum Hotel zu verschwinden. Frank hatte die Digitalkamera im Anschlag und das leise Rattern des Auslösers sicherte ihnen mehrere Aufnahmen in der Sekunde.

„Bleibt ihr hier am Ball“, wies Oliver seine Kollegen an. „Ich fahr ins George Washington Hospital. Sie bringen ihn sicher dorthin.“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Jenny ihn musternd.

Oliver tippte mit dem Zeigefinger an seinen Nasenflügel.

Fragestunde

Die Kabelbinder, mit denen sie Enrico vor Stunden an den Stuhl gefesselt hatten, schnitten ihm schmerzhaft in die Handgelenke. Seine Beine waren eingeschlafen, Schweiß stand auf seiner Stirn. Es fehlte nicht viel und er würde sich vor ihnen in die Hose pissen.

Direkt gegenüber von Enrico saß zusammengesunken sein Boss, Vicente. Seit seiner Jugend arbeitete Enrico jetzt schon für Vicente. Er war wie eine Vaterfigur für ihn, von der er sich über viele Jahre hinweg immer wieder die gleiche Leier anhören musste: „Weißt du“, fragte Vicente dann stets, „warum meine Mama mich auf Vicente taufen ließ? Na? Na? Ich verrat’s dir: Kommt aus dem Lateinischen von ‚vincere‘ und bedeutet so viel wie ‚Der Siegende‘.“ Dabei klopfte sich Enricos Boss wie ein Gewinner mit den flachen Händen auf die Brust. Das, was nunmehr von Vicente übrig geblieben war, hatte nichts mehr mit einem Sieger gemein. Sie hatten ihm übel zugesetzt. Sein rechtes Ohr fehlte, abgeschnitten. Sie hatten es Vicente blutbesudelt in den Rachen geschoben, inmitten abgebrochener, ausgeschlagener Zähne. Von seinem Gesicht war nach der Spezialbehandlung kaum noch etwas zu erkennen. Sein Antlitz war eine dunkelrote, zu Brei geprügelte Masse. Kleine Blutblasen bildeten sich dort, wo einst die Nase und die breiten Lippen ihren Platz hatten, und rot gefärbte Spuckefäden zogen sich bis auf den Boden. Aber Vicente atmete noch.

Unbewusst nach vorn und hinten wippend, starrte Enrico angsterfüllt auf die ohne Skrupel übel zugerichtete Gestalt. Würde ihn nun das gleiche Schicksal ereilen?

Aus dem Augenwinkel heraus nahm Enrico eine Bewegung wahr. Sie kam von einem elegant aussehenden Mann, dem er zwar zuvor noch nie begegnet war, den er jedoch von Erzählungen seines Ziehvaters her kannte. Mitte fünfzig, grau meliertes Haar, ein wie mit dem Lineal akkurat gezogener Scheitel, bekleidet mit dunklem Anzug und camelfarbenem Wintermantel. Gelassen, als würde soeben ein Werbefilm für eine italienische Modemarke gedreht, streifte sich dieser einen Lederhandschuh über, während er seinem Begleiter durch Nicken Anweisung erteilte.

Die zweite Person hatte die Figur eines Athleten und maß mindestens einen Meter neunzig. Das kantige Gesicht des Hünen sowie der massige Schädel waren glatt rasiert. Eine mächtige Narbe zog sich von der linken Augenbraue bis hoch in die Stirn und bei genauerem Hinsehen konnte man die Mulde erkennen, die sich entlang der Narbe auf der Schädeldecke abzeichnete. Seit über einer Stunde schon hatte die verschrobene Glatze den Job übernommen, Fragen an Vicente zu richten. Nachdem ihm dieser nicht die gewünschten Informationen preisgegeben hatte, prügelte der Glatzköpfige mit regungsloser Miene den Schlagstock in Vicentes Gesicht. Immer wieder. Die wuchtigen, klatschenden und knackenden Geräusche, die die Schläge verursachten, hallten dumpf in der Lagerhalle, in die Vicente mit Enrico vor über zwei Stunden verschleppt worden waren.

Jetzt griff die Glatze nach hinten in den Hosenbund, zog eine Walther P99 mit Schalldämpfer hervor und richtete die Waffe an die Schläfe Vicentes. Das leise Knacken des Abzugshahns riss dessen Kopf zur Seite. Blut und Gehirnmasse spritzten auf den staubigen Betonboden und formten gemeinsam mit eingetrockneten Ölflecken ein bizarres, abstrakt anmutendes Muster.

Sekunden der Stille.

„Hast du gesehen, was passiert, wenn man sich meinen Regeln widersetzt?“ Der grau melierte Gentleman, der auf den Namen Paolo Fucari hörte, wandte sich nun flüsternd an Enrico.

Mit vor Entsetzen starrem Blick konnte dieser weder ein Wort sagen noch eine Regung zeigen. Die Angst hatte jeden seiner Muskeln einfrieren lassen.

„Sicher verrätst du mir jetzt, von wem Vicente in den letzten Monaten das Koks bezogen hat?“ Ohne jede Notation in der Stimme war es weniger eine Frage denn ein Befehl.

„Mister, Mister Fucari“, hörte Enrico sich jetzt stammeln, „ich, ich habe wirklich keine Ahnung. Vicente hat daraus ein Geheimnis gemacht. Die Lieferungen kamen meist nachts ins Lagerhaus. Ich …“ Mehr brachte Enrico nicht zustande. Ohne es zu wollen, quollen Tränen aus seinen Augen, während er wie ein kleines Kind zu schluchzen begann.

Der Hüne mit Glatze wollte gerade zum Schlag ausholen, als die erhobene Hand Paolo Fucaris Einhalt gebot.

Fucari trat an Enrico heran, beugte sich zu dessen Ohr und flüsterte: „Ich glaube dir, mein Freund. Du bist doch mein Freund, oder?“

„Ja, ja, alles, was Sie wollen“, jammerte Enrico.

„Gut. Ulrich, binde ihn los.“ Enrico spürte den warmen Atem Fucaris an seiner Wange, während der Glatzkopf namens Ulrich ein Messer zückte und die Kabelbinder durchschnitt. Wie bei einer Marionette, deren Fäden losgelassen wurden, sackten Enricos Arme seitlich des Stuhls nach unten.

„Hör gut zu, Enrico. Gerade ist ein Platz in meiner Organisation frei geworden. Freu dich. Ich befördere dich soeben! Du nimmst den Posten von diesem Dreckskerl Vicente ein. Sicher wirst du mir ein zuverlässigerer Weggefährte sein als dieses stinkende Etwas. Du unterbindest die Lieferungen – hast du gehört! Auf die Straße kommt nur unsere Ware. Du wirst mir sagen, von wem das Koks kommt. Ulrich wird ein Auge auf dich haben. Und jetzt entsorg dieses Schwein und sieh zu, dass der Boden gereinigt wird.“

Fucari tätschelte freundschaftlich Enricos Schulter. Dann verschwanden er und die vernarbte Glatze Ulrich durch eine Seitentür der Lagerhalle.

Enrico blieb sitzen. Noch immer spürte er den Druck der Hand auf seiner Schulter. Übelkeit stieg in ihm auf und er erbrach sich.

Das Jackett

Zu zweit hievten Männer in weißen Overalls den leblosen Körper auf die sterile Plastikfolie des aus Aluminium gefertigten Sarges. Dann schloss sich der Deckel über dem Leichnam. Ein Agent des Secret Service, der unübersehbar das Sagen hatte, streifte transparente Plastikhandschuhe ab, gab das Zeichen für den Abtransport des Aluminiumsarges und wandte sich an seinen Kollegen: „Habt ihr alles gründlich durchsucht?“

„Das Zimmer ist sauber, Chief. Nichts, was noch auf den Aufenthalt des Vice hindeuten würde.“

„Gut. Nehmt die gesamten Utensilien mit ins Labor der Pathologie. Ich informiere Hobbs.“

„Wird gemacht, Chief.“

Mit gehorsamem Nicken griff der Beamte nach einem luftdichten Behältnis und folgte den Sargträgern. In der dunkelblauen Box waren sämtliche Habseligkeiten des Vizepräsidenten fein säuberlich in Plastiktüten verstaut. Auch das Jackett Logen Winstons, das zwei Agenten des Secret Service noch kurz zuvor aus der Reinigung im Kellertrakt des Hotels abgeholt hatten.

Pressekonferenz

Blitzlichtgewitter begrüßte Bob Thompson, als er, gefolgt von der Direktorin der CIA Julia Hobbs sowie Verteidigungsminister Ashton Brown, Punkt 20:00 Uhr Ortszeit ans Rednerpult trat. Mit stoischem Gesichtsausdruck wartete der Präsident der Vereinigten Staaten, bis das Klicken der Fotoapparate sowie das Gemurmel der anwesenden Journalisten verstummten.

Bob Thompson atmete tief ein, bevor er zu sprechen begann: „Ladies and Gentlemen, Bürger der Vereinigten Staaten. Mit großem Kummer in meinem Herzen obliegt es mir, Ihnen mitzuteilen, dass unser Vizepräsident, Präsident des Senats und guter Freund Logan Winston heute Vormittag von uns gegangen ist. Ein Schicksalsschlag, der unsere Nation, ebenso wie alle hier im Weißen Haus und natürlich im Besonderen seine Familie in tiefe Trauer stürzt. Unsere Gedanken sind in diesen Minuten, Stunden und Tagen bei seiner Frau Rachel und den Töchtern Barbara und Bridget.“

Die einfühlsame Rede des Präsidenten zeichnete den fulminanten Aufstieg Winstons vom jungen Jurastudenten bis zu dessen Wahl zum demokratischen Senator des Bundesstaates von Delaware auf. Eine Bilderbuchkarriere. Seit nunmehr über drei Jahren war er nach der äußerst knapp gewonnenen Wahl des demokratischen Abgeordneten Bob Thompson zum Präsidenten der Vereinigten Staaten dessen Vizepräsident gewesen.

Merklich trauernd, neigte sich die Rede des Präsidenten nach etwa fünf Minuten dem Ende entgegen: „Wir beten für Logan Winston. Für ihn wie auch für seine Familie und seine Freunde.“ Thompsons schmerzerfüllter Blick ruhte gedankenversunken auf den Gesichtern der Journalisten, die gleichfalls schweigend ihrer Anteilnahme Ausdruck verliehen. Dann erhob Thompson ein letztes Mal die Stimme: „Ich danke Ihnen für Ihre rücksichtsvolle Berichterstattung im Sinne Logan Winstons Familie. Sie werden sicherlich Fragen haben. Julia Hobbs wird Ihnen diese gerne beantworten.“

Noch während er den Presseraum durch den seitlichen Ausgang verließ, wurden die ersten Fragen der Journalisten gestellt.

Lauthals setzte sich Jenny Thompson, Washington Post, über die Kollegen im berstend gefüllten Presseraum hinweg durch, als sie rief: „Director Hobbs, welche Gründe rechtfertigen es, das Areal rund um das Hotel Four Seasons für die Presse abzuriegeln? Ist dies nicht ungewöhnlich? Trotz der Tatsache, dass es sich um unseren Vizepräsidenten handelt?“

„Keineswegs, Ms. Thompson“, antwortete Julia Hobbs sichtlich kühl. „Unser Secret Service hielt sich strikt an die Standards, die für derartige Sicherheitsbelange festgelegt sind. Auch wenn ich nachvollziehen kann, dass es Ihnen als Journalistin die Berichterstattung erschwert.“

„Woran ist Logan Winston gestorben?“, hakte Jenny nach.

„Wir warten noch auf die Ergebnisse der Obduktion. Der behandelnde Arzt, der vor Ort den Tod festgestellt hat, geht von akutem Herzversagen aus. Fremdeinwirkung, das können wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen, scheidet aus. Also handelt es sich um eine natürliche Todesursache.“

Lauthals wurden weitere Fragen durcheinander in den Raum gerufen. Direktor Hobbs deutete mit ihrem Zeigefinger konsequent über Jennys Kopf hinweg auf einen Kollegen in den hinteren Sitzreihen: „Rudy Mason, Ihre Frage bitte.“

Kokaiiiin

„Rodrigo, wo warst du solange? Beeil dich. Der Präsident spricht gerade im Fernsehen.“

Rodrigo drückte seiner jungen mexikanischen Freundin einen Kuss auf die Wange, bevor er sich mit lautem Seufzer auf das durchgesessene Sofa fallen ließ.

„War mächtig Trubel heute im Hotel. Lauter Beamte des Secret Service. Das hättest du mal erleben sollen.“

„Und? Hast du die Leiche gesehen?“ Catalina schauderte es bei dem Gedanken.

„Wo denkst du hin? Die hatten alles abgeriegelt. Aber sie haben mich direkt angesprochen.“ Mit stolzgeschwellter Brust achtete Rodrigo auf die Reaktion seiner Freundin, die prüfend ihre dichten, dunklen Augenbrauen zusammenzog.

„Wer hat dich angesprochen? Was hast du damit zu tun?“

„Was ich damit zu tun habe? Du fragst mich, Rodrigo, den Chef der Chefs des Four Seasons, tatsächlich, was ich damit zu tun habe?“ Er kicherte laut auf. „Na, die wollten die Jacke dieses Winston von mir. Sein Jackett, verstehst du? Ich hatte es gerade aufgebügelt, da stehen zwei so Schränke wie Men in Black vor mir in der Reinigung und machen ein ganz ernstes Gesicht.“

„Ja, und?“, fragte Catalina.

„Nichts und. Ich hab’s ihnen natürlich gegeben. Aber …“ Rodrigo machte eine Pause, stand auf und schmunzelte. Er griff in die Hosentasche seiner Jeans und zog ein unscheinbares Plastiktütchen hervor. Tänzelnd wedelte er mit dem Tütchen vor Catalinas Gesicht. „Aber ich hab ihnen nicht alles gegeben.“ Wieder kicherte er laut auf.

„Was ist das?“

„Das, meine Prinzessin, ist der Nachtisch für heute Abend. Kokaiiiin. Und sicher der feinste Stoff, den wir uns jemals reingezogen haben.“

Catalina schmunzelte nun ebenfalls. „Wo hast du das Zeug her?“, wollte sie wissen.

„Aus der Jahacke des Vizepräsidenten der Vereiheinigten Staaten“, gab Rodrigo im Singsang von sich. „Was glaubst du, der Typ hat sicher nur vom Feinsten geschnupft. Das Zeug wird uns so geil machen, dass wir die ganze Nacht vögeln werden.“

„Glaubst du nicht, dass es vermisst wird?“

Rodrigo riss die Augen auf. „Vermisst?“, gluckste er. „Der Typ ist auf Eis gelegt, in den ewigen Jagdgründen, Babe. Der vermisst in dieser Welt mit Sicherheit nichts mehr.“

„Cool“, flüsterte Catalina, während sie auf das Päckchen in Rodrigos Hand stierte.

„Ich werde jetzt meinen durchtrainierten Body unter die Dusche lenken. Und wenn ich zurückkomme, kannst du die erste Line direkt von meinem nach Seife duftenden Schwanz ziehen.“ Er warf das Tütchen aufs Sofa, gab Catalina noch einen Kuss auf die Stirn und verschwand im Bad.

Es war ein schäbiges Badezimmer in der kleinen Zweizimmerwohnung, deren Miete sie sich gerade mal so leisten konnten.

Schnell zog Rodrigo sein Shirt und die Jeans aus. Das Neonlicht am Spiegel über dem Waschbecken warf ein unnatürlich helles Licht auf die dunkle Haut des Mexikaners. Fletschend prüfte er vor dem Spiegel die Zähne – nicht, dass Reste der Petersilie vom Mittagssandwich diese verunstalteten. Doch alles war perfekt.

Er drehte den Wasserhahn auf und ließ die Brause einige Minuten laufen, bis endlich heißes Wasser kam. Dann stellte er sich, vor lauter Vorfreude laut summend, in die Duschwanne, zog den mit bunten Goldfischen bedruckten Plastikvorhang zu und begann sich von oben bis unten einzuseifen. Während er den Schaum in seinem Gesicht und auf seiner Haut verteilte, ließ ihn ein leises Kratzen aufhorchen. Mit geschlossenen Augen rief er durch den Duschvorhang zur Badezimmertür: „Catalina, bist du das?“ Keine Antwort – stattdessen erneutes Kratzen und Poltern. „Catalina?“ Er blinzelte, um etwas erkennen zu können. „Scheiße“, fluchte Rodrigo, als plötzlich ohne Vorwarnung etwas gegen den Duschvorhang stieß und diesen aus der Wandverankerung riss. Abwehrend streckte er die Arme in die Höhe, während der Plastikvorhang samt Metallschiene und einem zuckenden Leib in die Wanne schlug.

Augenblicklich brüllte Rodrigo wie am Spieß. Hektisch spülte er die brennenden Augen mit Wasser aus und tastete dabei mit einer Hand nach dem Körper, der zitternd halb in der Duschwanne, halb auf dem Badezimmerboden lag. Als er endlich wieder klar sehen konnte, lag Catalina gekrümmt vor ihm. Ihr Kopf musste gegen die Armatur geprallt sein, denn eine klaffende Wunde an ihrer Stirn färbte das Duschwasser rot, bevor es gurgelnd im Abfluss verschwand.

„Catalina, fuck, was ist los? Was ist mit dir? Sag was! Oh, scheiße, scheiße, scheiße.“

Angespannt hantierte er am dünnen Plastik des heruntergerissenen Duschvorhangs, der sich völlig durchnässt um den Wasserhahn gestülpt hatte. Als er den Regler endlich zu fassen bekam, drehte er das brausend heiße Nass ab.

Catalina lag mit ihrem Oberkörper auf seinem linken Fuß. Im Versuch, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, zog er ihn hervor und stieg vorsichtig aus der Wanne. Ein Zittern hatte Catalina derart heftig erfasst, als würden permanente Stromschläge durch ihren Körper gejagt.

„Catalina, scheiße, verdammt, was ist mit dir? Sag doch was!“

Rodrigo kniete sich vor sie, umschloss mit beiden Händen ihr Gesicht und sah das Weiß ihrer nach oben verdrehten Augäpfel. In diesem Moment brach ein Schwall Erbrochenes aus Catalina heraus, direkt auf seine nackten Oberschenkel.

„Ohhh, shit. Shit, Catalina, Catalina, verdammt, sag doch was!“

Völlig von Sinnen schüttelte er sie an den Schultern. Ihr Kopf wackelte dabei hin und her, während der saure Dunst ihres ausgeworfenen Mageninhalts beharrlich in seiner Nase biss. Instinktiv griff er nach einem Handtuch und presste es auf die blutende Platzwunde an ihrer Stirn.

Catalina begann heftiger zu atmen. War das ein gutes Zeichen? Dann krümmte sie sich zusammen, gerade so, als wolle sie wie eine Katze eingerollt in den Schlaf übergehen. Doch Catalina schlief nicht, sie lag nur still da.

Banale Story

Qualle schien sichtlich enttäuscht.

„Was?“, fuhr Oliver ihn an, da er mit seinem schlechten Gewissen haderte. Wäre er vormittags ans Handy gegangen, hätten sie jetzt unter Umständen mehr Material für die morgige Ausgabe. Aber es war schließlich um Eve gegangen, seine Tochter – und Weihnachten. „Keines der anderen Blätter hat mehr als wir. Die Beamten vor Ort haben alles derart dicht gemacht, als wäre ein fucking Außerirdischer gelandet.“ Oliver schmiss verärgert den Kugelschreiber über seinen Tisch.

„Ich sag doch gar nichts, Boss“, nörgelte Qualle gespielt beleidigt, um sich dann an Jenny und Frank zu wenden, die ebenso offenkundig frustriert am Besprechungstisch gegenüber lehnten. „Immerhin konntest du die beiden ersten Fragen bei Hobbs landen. Das ist doch schon was.“ Qualle reckte lobend den Daumen in die Höhe.

„Ach, Qualle, du bist süß.“ Jenny stieß sich vom Besprechungstisch ab, ging einen Schritt auf den Assistenten Olivers zu und kniff ihn in die dicke Wange.

„Wie sind die Fotos geworden?“, fragte Oliver an Frank gewandt.

„Wenn wir einen Leichenwagen auf Seite eins drucken wollen, passt das Bildmaterial.“

„Okay. Ich schlage vor, wir ziehen ein Archivbild von Logan Winston, den Leichenwagen gibt’s als Miniaturbild. Ohne in Spekulationen zu verfallen, bekommen wir mit der Story nicht mehr als eine halbe Seite gefüllt. Seite drei dann noch den Lebenslauf. Geburt, wesentliche Eckpfeiler seiner Karriere, Abgang.“

„Keine Spekulationen?“, setzte Jenny nach.

„Du hast den Präsidenten gehört. Rücksichtsvolle Berichterstattung im Sinne seiner Familie. So hat er sich doch ausgedrückt, oder?“

„Schon, aber müssen wir uns daran halten? Ich hab das mehr als Bitte ver…“

„Welche Hypothesen willst du aufstellen?“, unterbrach Oliver sie. „Director Hobbs hat ausdrücklich betont, dass Winston eines natürlichen Todes gestorben ist. Wo nichts ist, werden wir auch nichts finden!“

„Aber du hast doch selbst gesagt, dass da irgendwas faul ist. Straßensperren, die ganze Abschottung, als sei unser Vizepräsident mit einem hochansteckenden Virus infiziert gewesen. Das Ganze stinkt doch zum Himmel!“, widersprach Jenny.

Frank nickte zustimmend, während Oliver an seine eigene Abfuhr im George Washington Hospital dachte. Tatsächlich hatte man den Leichnam zur Obduktion dorthin gebracht. Doch kein Kommentar der Ärzte, nicht mal auf die Station wurde er vorgelassen.

„Vergesst die Riesenstory. Das ist kein Material für den Pulitzer. Ein andermal vielleicht. Klimpert zwanzig Spalten runter, dann legt euch schlafen. Ich für meinen Teil mach Feierabend. Qualle, hast du ’ne Zigarette für mich?“

Zögernd zog Qualle ein faltiges Päckchen aus seiner Brusttasche und reichte es Oliver. Eigentlich hatte sein Boss damit aufgehört.

Blackout

Rodrigo rieb seine eiskalten Handflächen aneinander. Alleingelassen saß er vornübergebeugt im Flur des George Washington Hospitals. Trotz des alles überlagernden Geruchs nach Desinfektionsmittel hatte er noch immer den säuerlichen Duft des Erbrochenen Catalinas in der Nase. In seinem Kopf drehte sich alles. Außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen, schossen in seinem Schädel Bilder der letzten Stunden wie Stroboskopblitze wild durcheinander. Bildsequenzen von Catalina, wie ihr regloser Körper vor ihm gelegen hatte. Wie er sie immer wieder geschüttelt und dabei um Hilfe geschrien hatte. Offensichtlich hatte er seine Jeans angezogen, ein Handtuch um Catalinas nasse, schlaffe Gestalt gelegt. Ein weiterer Lichtblitz und er stand auf einmal mit nacktem Oberkörper barfuß im Aufzug – Catalina in seinen Armen – regungslos. Keine Ahnung, wie er in der Eiseskälte zum geparkten Wagen gekommen war. Die Autofahrt ins Krankenhaus – dasselbe schwarze Loch der Amnesie. Wie war er nur hierhergekommen? Jetzt zuckten kurz die Bilder der heraneilenden Schwester vor seinem Auge. Dann erneute Dunkelheit. Als er wieder aufgewacht war, hatte man ihm eine Decke um die Schultern gelegt und etwas in seinen Arm gespritzt. Ein Beruhigungsmittel, erklärte ihm die freundliche Schwester, bevor sie ihn auf den Stuhl in diesen gottverdammten Korridor abgeschoben hatte. Das weiße Neonlicht brannte in seinen verheulten Augen. Wo war Catalina jetzt? Konnten sie ihr helfen?

Er musste etwas unternehmen. Irgendetwas. Würde er weiterhin hier sitzen bleiben, lief er Gefahr, wahnsinnig zu werden.

Gerade als er aufstehen wollte, erschrak er wegen zweier Männer, die direkt vor ihm standen und auf ihn herabsahen. Woher waren die so plötzlich gekommen? Sie sprachen mit ihm, doch er konnte lediglich ein dumpfes Gemurmel vernehmen. Jetzt packte ihn einer der Männer an der Schulter, zog ihn hoch und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Was um Himmels willen geschah hier? Was hatten die Männer mit ihm vor?

Er spürte das kalte Metall der Handschellen, war jedoch nicht in der Lage, Widerstand zu leisten. Mürrisch legte ihm der zweite Beamte die zuvor heruntergerutschte Wolldecke über die Schultern.

Die Bakers

„Hi, Mom, frohe Weihnachten.“

„Robert, lieb, dass du anrufst. Wie geht’s dir? Habt ihr das Fest schön verbracht?“

„Kommt drauf an, Mom. Unser Truthahn hat dieses Jahr auf jeden Fall überlebt. Wir hatten alle Hände voll damit zu tun, dem Präsidenten irgendwelche Pläne auszuarbeiten.“

„Mit ‚wir‘ meinst du bestimmt dich und William“, mutmaßte Birgit.

„Ja, klar. Ich soll dir einen schönen Gruß von Dad ausrichten. Es geht hier tatsächlich drunter und drüber. Politik, du kennst das ja.“

Und wie Birgit das kannte. Als sie nach ihrem Studium in Hamburg Anfang der Achtziger aus dem Norden Deutschlands nach München gezogen war, um dort eine Stelle am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung anzunehmen, hatte sie nicht geahnt, dass dieser Ortswechsel ihr bis dato so streng gehütetes Single-Dasein auf den Kopf stellen sollte.

Professor Walter vom Institut hatte ihr 1982 die Aufgabe übertragen, das sogenannte Praxisreferat einzurichten. Eine Institution, deren Hauptaufgabe darin bestand, Medienunternehmen zu akquirieren, um Studenten zur Ergänzung der universitären Ausbildung Praktikumsplätze zur Verfügung zu stellen. Mit Liebe und Engagement widmete sich Birgit dieser Herausforderung. Ihr erklärtes Ziel war es, nicht nur in Deutschland ansässige Firmen zu gewinnen, sondern darüber hinaus Medienagenturen im Ausland. Dann, auf einer Werbeveranstaltung im Deutschen Hof in München, hatte sie ihn das erste Mal getroffen. Im maßgeschneiderten hellgrauen Anzug und mit seinen strahlend blauen Augen sah er umwerfend aus. Sie wusste, sollte er sie an diesem Abend ansprechen, würden sie über kurz oder lang im Bett landen. Und er sprach sie an, mit der zurückhaltenden und dennoch zielführenden Art der Diplomatie.

„Fräulein Schmidt, darf ich Ihnen meinen Glückwunsch zu Ihrem überaus gelungenen Vortrag aussprechen?“, waren seine Worte, als er im Foyer auf sie zutrat. Er stellte sich ihr als William Baker vor, Generalkonsul der Vereinigten Staaten in München.

So jung und schon Generalkonsul, überlegte Birgit, während sie innerlich bereits dahinfloss. Der Duft seines Rasierwassers, ebenso die gewählte Aussprache – er sprach perfekt Deutsch, wenn auch mit Akzent – das Gesamtpaket passte.

Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, ließ sich liebend gern auf einen Drink an der Hotelbar einladen, und noch am selben Abend landeten sie in seiner Wohnung. Aus dem One-Night-Stand entwickelte sich eine, ja, man könnte es fast schon Beziehung nennen, die dem Wunsch beider entsprach, ihre persönliche Freiheit nicht aufzugeben. Wenn man sich ein-, zweimal die Woche traf, so stand unausgesprochen fest, dass dies rein zum Ausleben sexueller Fantasien gedacht war. Bis zu dem Tag, da ihr bewusst wurde, dass etwas nicht stimmen konnte. Eine Frau spürt so etwas und es wurde dann durch ein positives Ergebnis des Schwangerschaftstests bestätigt.

Daraufhin hatte sie in Erwägung gezogen, für William italienisch zu kochen, um bei Pasta, Weißwein und Kerzenschein die Neuigkeit möglichst positiv zu verkaufen. Doch sie entschied sich dagegen, zog es vor, sich mit ihm in einem Fastfood-Lokal zu treffen, vielleicht unbewusst, um diese Angelegenheit, diese Schwangerschaft in der gleichen Geschwindigkeit zu besprechen, in der das Essen serviert wurde.

„William, übrigens … mmh, ich bin schwanger“, sagte sie schmatzend, nachdem sie ihre Tabletts mit Burger und Pommes vor sich abgestellt hatten, um sogleich, ohne Luft zu holen und wie beiläufig, weiter auszuführen: „Du brauchst dir keinen Kopf zu machen. Ich stell keine Ansprüche, du hast keinerlei Verpflichtungen, sieh es einfach als … als kleinen Betriebsunfall.“ Sie zuckte etwas unbeholfen mit den Schultern, während sie Williams immer größer werdende Augen betrachtete. Wie schön blau sie doch waren. „Wir könnten nachher noch ins Kino gehen. Flashdance soll ganz gut sein. Was meinst du?“, fragte sie völlig belanglos, das Thema schneller wechselnd, als ein Boxenstopp bei einem Formel-1-Rennen dauert.

Gänzlich überrumpelt starrte William sie an. „Bist du sicher?“, flüsterte er und schob die zwischen ihnen liegende Tüte Pommes beiseite.

„Wenn man den Filmkritiken Glauben schenkt, ja. Auch soll die Musik zu Flashdance der Hammer sein.“

„Birgit, hör bitte auf, derart banal zu diskutieren. Seit wann weißt du es?“

„William, ich, ich …“ Jetzt verschlug es Birgit die Sprache. Ihre Brust hob und senkte sich vor Aufregung. Vorsichtig tupfte sie sich eine Träne aus dem Winkel ihres Auges. „Ich weiß, das war alles nicht so geplant. Ich bin ebenso überrascht wie du. Aber sieh doch mal: Eine Abtreibung kommt nicht infrage. Du kennst mich! Ich bin ein Mensch, der über sein Leben und über das Wie und Wann selbstständig entscheidet. Ich werde gewiss ganz gut alleine klarkommen, ein Kind großzuziehen. Meinst du nicht auch?“

William antwortete nicht sofort. Ohne den Blick von ihr abzuwenden, schien er in seinen Gehirnwindungen nach der passenden Antwort zu kramen. Schließlich hatte er diese anscheinend in Form einer Frage gefunden: „Wieso grenzt du mich von vornherein derart aus? Ich meine … ich habe doch ein nicht ganz unerhebliches Wort mitzureden.“

„Ich werde nicht abtreiben, wenn du das meinst!“ Birgit funkelte ihn nervös und gleichzeitig kampfeslustig an.

„Wer spricht denn von Abtreibung? Du doch, nicht ich. Ich spreche vielmehr von einer gemeinsamen Wohnung, mindestens sechs Zimmern mit zwei Bädern, damit wir uns ab und an aus dem Weg gehen können. Wir sollten einen Babysitter engagieren, der perfekt Windeln wechseln kann. Und wenn du willst …“

„Pssst.“ Birgit unterbrach ihn lächelnd, während sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen legte. „Genau das wollte ich vermeiden. Dass du dich verpflichtet fühlst.“

„Sicher fühle ich mich verpflichtet“, entgegnete William sanft. „Aber es ist ein schönes Gefühl.“

Noch im selben Jahr heirateten sie standesamtlich, 1984 kamen die Zwillinge Philipp und Robert zur Welt. Die gemeinsame Wohnung am Starnberger See, etwas außerhalb Münchens südlich gelegen, besaß sogar acht Zimmer – was allerdings auch nicht verhindern konnte, dass ihre Ehe nach nur drei Jahren vor dem Aus stand. Pragmatisch trafen sie rechtzeitig die Entscheidung, getrennte Wege zu gehen, bevor die Phase der gegenseitigen Vorhaltungen in ihrer Lebensgemeinschaft die Oberhand gewann. Während Birgit mit Philipp in der Wohnung am Starnberger See blieb, willigte William ein, den Posten des Beraters für Auslandsfragen in Washington D.C anzunehmen. So wurden die Zwillinge Philipp und Robert im zarten Alter von drei Jahren getrennt, da William seinen Sohn Robert mit in die Vereinigten Staaten nahm, während Philipp bei seiner Mutter blieb.

Über all die Jahre des Erwachsenwerdens trafen sich die Brüder sowie Birgit und William, sooft es die Zeit und die Ferien zuließen, abwechselnd in München und Washington D.C. – für Philipp und Robert, trotz der Tausenden von Kilometern Entfernung, ein ganz normales, außergewöhnlich multikulturelles Familienleben.

Übergabe Ramirez

Dem Sheriff des Metropolitan Police Departments – kurz MPDC – missfiel es sichtlich, als zwei Beamte des Secret Service mit ernster Miene in seinem Büro erschienen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er daher, ohne von seinem Tisch aufzusehen.

„Sie haben seit gestern Abend einen gewissen Rodrigo Ramirez in Gewahrsam.“

„Kann sein. Was ist mit ihm, dass ihr Jungs vom Secret Service bei mir antanzt?“ Noch immer würdigte der Sheriff die Agenten keines Blickes.

Ohne auf die Frage einzugehen, legte einer der in dunkle Wintermäntel gehüllten Anzugträger ein gefaltetes Blatt Papier auf den Tisch des Sheriffs. Der kannte diese Art von Schreiben, diese Direktiven, die ihm wieder einmal vor Augen führten, dass er und sein Department außen vor gelassen wurden, wenn es um die wirklich wichtigen schlimmen Jungs ging. Doch dieses Mal schien es sich bei der nachgefragten Person um einen ganz großen Fisch zu handeln. Die Verfügung zur sofortigen Überstellung des genannten Häftlings an den Secret Service war von keiner geringeren Person als der Direktorin der CIA selbst, Julia Hobbs, unterschrieben.

Erstmals sah der Sheriff von seiner Tischplatte auf und musterte die beiden Beamten. „Warten Sie hier“, wies er die Agenten an, stand auf, trat an dem Duo vorbei und verließ das Büro. Er überquerte den Flur, bis er an eines der Großraumbüros kam, in dem der Duft von Hot Dogs und kalter Pizza lag.

„Luke“, schrie er über die Köpfe der anderen Polizeibeamten hinweg und deutete nickend einem der Beamten im hinteren Flügel des Raums an, zu ihm zu kommen.

„Chief, was gibt’s?“, fragte Luke, dem der grimmige Ausdruck im Gesicht seines Chefs nicht entgangen war.

„Du warst doch gestern dabei, als ihr diesen Rodrigo Ramirez aus dem George Washington geholt habt, oder?“

„Klar. Was ist mit ihm?“

„Keine Ahnung. Wo ist der Bericht?“

Luke schien derartig überrumpelt, dass er anfänglich nur stammelnd antworten konnte: „Chief, der Bericht, also, der Bericht …“

„Kein Bericht? Verdammt, Luke, du weißt doch …“

„Chief, es war nach 23:00 Uhr, als wir im Krankenhaus ankamen. ’ne Stunde später hatte ich Feierabend. Bin eh erst um 2:00 Uhr nach Hause gekommen. Da war keine Zeit für nen Scheißbericht.“

„Schon gut, entspann dich“, beruhigte der Sheriff. „Wieso wurdet ihr gerufen?“

„Einer der Ärzte … also, dieser Ramirez hatte seine Freundin ins George Washington gebracht, da war sie aber bereits verstorben. Der Arzt äußerte den Verdacht des Drogenmissbrauchs. Sicherheitshalber hat er dann uns informiert.“

„Drogen, so, so“, sinnierte der Sheriff. „Sonst irgendwas, was die Jungs vom Secret Service auf den Plan rufen könnte?“

„Secret Service?“, wiederholte Luke erstaunt, um gleich darauf verneinend den Kopf zu schütteln.

„Zwei dieser Halbaffen warten in meinem Büro und wollen Ramirez mitnehmen. Und so wie es scheint, mit Befehl von ganz oben.“

Lukes Mundwinkel verzogen sich nach unten, während er unwissend mit den Schultern zuckte.

„Gut, schaff mir diese geleckten Secret-Typen vom Hals und übergib ihnen Ramirez. Lass dir ’ne Quittung geben, nicht, dass die uns noch ans Bein pissen, sollte der Mexikaner verschollen gehen.“

Ihr wisst, was das bedeutet

„Was wissen wir über diesen – wie heißt er noch mal?“ William hatte kurz zuvor Julia Hobbs gebeten, in einem der schweren Ledersessel vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

„Rodrigo Ramirez“, antwortete Julia. „Nicht sehr viel. Mexican American, braucht also keine Aufenthaltsgenehmigung. Ebenso seine verstorbene Freundin, eine gewisse Catalina Flores.“

„Und was macht diesen Ramirez so interessant?“, fragte Robert, der ebenfalls anwesend war, dem sich allerdings noch nicht alle Zusammenhänge erschlossen.

„Rodrigo Ramirez ist Angestellter im Four Seasons, was allein genommen noch nicht problematisch ist“, erklärte Julia. „Doch die Tatsache, dass dessen Freundin am gleichen Tag wie Logan Winston verstarb, darüber hinaus die gleichen Symptome aufwies, macht die Sache so brisant.“

„Du meinst, sie ist auch an einer Überdosis gestorben?“

„Nicht ganz, Robert“, erklärte die Direktorin der CIA. „Wir wissen mittlerweile, dass es keine Überdosis war, der Winston und die Freundin dieses Ramirez zum Opfer gefallen sind. Genau genommen schnupften vermutlich beide schlichtweg Kokain. Doch dieses war gestreckt mit einem Mittel, das einen tödlichen Anstieg des im Körper befindlichen Adrenalins bewirkt. Epinephrin wird in sehr kleinen Dosen in der Medizin verwendet – in unserem Fall führt die erhöhte Beimengung zu Blutdruckanstieg, exzessiven zerebralen Blutungen bis hin zu Kammerflimmern und Herzstillstand.“

Robert und William sahen sich an. Beiden war bewusst, dass nun der Fall eingetreten war, den William im Oval Office als Worst-Case-Szenario an die Wand gemalt hatte.

„Jetzt haben wir die undichte Stelle, Julia“, stellte er daher fest.

„Nicht ganz“, meinte diese prompt. „Nur dann, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Freundin dieses Ramirez und Logan Winston hergestellt wird.“

„Und das versuchst du zu verhindern“, resümierte William ohne jegliche Betonung in seiner Stimme.

„So ist es. Ramirez befindet sich in der Obhut des Secret Service. Noch weiß er nicht, warum und in welchem Zusammenhang. Wir müssen ganz sicher sein, woher er das Koks hat und dass er die Puzzleteile nicht zu einem Ganzen zusammenfügt.“

„Das bedeutet?“, fragte Robert.

„Ihr wisst, was das bedeutet!“, flüsterte Julia. „Es geht hier um nationale Interessen.“

Jetzt hast du mich neugierig gemacht

Robert lag bereits im Bett, als sein Handy summte. Verschlafen tastete er mit seiner rechten Hand auf dem Nachttisch, bis er das Mobiltelefon zu fassen bekam. Das hell erleuchtete Display blendete seine zusammengekniffenen Augen. „Big Brother“, las er verschwommen – dann drückte er den grünen Hörer und raunzte mit leiser, brüchiger Stimme: „Phil, was hast du vor? Willst du mich mit Schlafentzug quälen?“

„Klar“, erwiderte Philipp und Robert konnte das Schmunzeln seines Bruders durch die Leitung hören. „Wenn du dich nicht meldest, liegt es an mir, dich anzurufen. Was geht ab?“

„Was willst du zu nachtschlafender Zeit wissen?“, fragte Robert, der nun endgültig wach geworden war.

„Nichts Bestimmtes. Wie geht’s euch, dir und Dad, meine ich?“

„Du weckst mich mitten in der Nacht, um zu erfahren, wie es uns geht? Au Mann, Phil. Gut so weit. Wir haben zu tun, Dad und ich, rund um den Tod des Vizepräsidenten.“

„Warum das?“, fragte Phil. „Schreibt doch den Posten einfach aus, stellt einen Vize ein und weiter geht der Trott.“

„Wenn es so einfach wäre“, entgegnete Robert. „Da spielen viele Faktoren mit rein, verstehst du?“

„Kein bisschen! Was für Faktoren?“

„Hinter, na ja, hinter den Kulissen. Manches ist nicht so, wie man es aus der Presse erfährt.“

„Höre ich da brisantes Material knistern? Winston war ein Doppelagent und wurde von 007 aus dem Verkehr gezogen?“

„So in etwa“, lachte Robert auf.

„Mal im Ernst, jetzt hast du mich neugierig gemacht“, flüsterte Philipp.

„Ich kann dir nichts sagen, Phil, topsecret.“

Philipp pfiff durch die Zähne. „Topsecret also?“

„So ist es“, antwortete Robert.

„Jetzt lass dich nicht so feiern. Ich bin’s, dein Bruder. Meine Lippen sind versiegelt.“

„Im Ernst, ich darf nicht darüber reden. Nur so viel: Manches deutet darauf hin, dass Drogen im Spiel waren, und wir vermuten, dass noch etliches auf uns zukommen wird.“

„Winston hat sich nen goldenen Schuss gesetzt und Amerika wird von Drogen überflutet?“, fragte Philipp.

„Lass uns jetzt Schluss machen, Phil, ich muss in ein paar Stunden raus und mir fallen die Augen zu. Ich melde mich, ja?“

„Schon gut, penn weiter“, gab Philipp nach.

Dann legten sie auf.

Dagobert Duck

Innerhalb der Syndikate hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Vicente war exekutiert worden, und niemand wagte es, Enrico als rechtmäßigen Nachfolger Vicentes infrage zu stellen.

Gerade einmal sechs Tage war es her, dass Enrico eigenhändig das Blut vermengt mit Gehirnmasse und Knochensplittern Vicentes vom Betonboden des Lagerhauses geschrubbt hatte. Das, was von Vicente übrig geblieben war, zu entsorgen, bereitete Enrico weniger Mühe. Als letzte Ruhestätte musste ein Toyota Corolla, Baujahr 74 herhalten, zusammengepresst auf die Größe eines Schuhkartons.

Inmitten seines Abendessens, Enrico angelte gerade geschickt mit Stäbchen die vor ihm aufgetischten Gunkanmaki- und Nigiri-Sushi, läutete sein Handy. Ungestört im hinteren Bereich seines Lieblingsrestaurants nahm er das Telefonat an.

„Enrico Portas.“ Enrico lauschte, vernahm aber zuerst nur ein röchelndes Atmen am anderen Ende der Leitung.

„Ciao, Enrico.“ Erneut schleimiges Einatmen. „Ich darf dich doch Enrico nennen, nachdem ich für deinen Gönner so viel Gutes getan habe?“

„Wer spricht da?“, fragte Enrico, obwohl er bereits vermutete, wer mit fast schon asthmatischem Schnaufen zu ihm röchelte.

„Enrico, mein Freund. Kennst du Dagobert Duck? Du kennst doch Dagobert Duck, oder?“ Enrico hatte keine Gelegenheit, zu antworten, denn abermals übermannte den Anrufer ein heftiger Hustenanfall. Dann fuhr dieser fort: „Nenn mich Dagobert. Nicht, dass ich wie diese Ente in Geld bade, doch für ein frisches Sushi reicht es allemal. Lang zu, mein Freund. Heute bist du mein Gast, auch wenn ich bedaure …“, von Neuem befiel den Fremden, der sich Dagobert nannte, ein Hustenreiz, während Enrico sich suchend im Lokal umblickte, „… bedaure, dass ich dir nicht Gesellschaft leisten kann. Vicente hat mich sehr geschätzt – und ich ihn, musst du wissen. Durch mich hat er viel – und wenn ich viel sage, dann meine ich auch viel, sehr viel – am Syndikat vorbei verdient. Das steht nun dir zu, mein Junge.“

So, wie Dagobert „mein Junge“ betonte, löste es bei Enrico ein Schaudern aus.

„Sicher fragst du dich jetzt, was du dafür tun musst. Ich verrate es dir. Nicht mehr, als es in deinem Lager entgegenzunehmen und auf die Straße zu bringen. Gut, pro Lieferung hatte Vicente ein mageres Salär für mich. Eine Million in kleinen Scheinen. Ich liebe diese ledernen Koffer, die er stets für mich bereitgestellt hat. Kannst du mir folgen, Enrico? Bist du noch dran? Du bist so schweigsam.“

„Was macht Sie so sicher, dass ich den Deal möchte?“, fragte Enrico leise.

„Enrico, Enrico, Enrico. Jetzt enttäuschst du mich. Ich liefere dir Ware im Wert von mehreren Millionen und du hinterfragst mich? Selbst Vicente hat mir vertraut. Und du weißt, Vicente war ein vorsichtiger Mann. Gott hab ihn selig.“

„Sie wissen, was mit Vicente geschehen ist?“

„Dumme Sache, Enrico. Einmal unvorsichtig kann tödlich sein in unserem Metier. Aber du bist wachsam, das spüre ich. Übermorgen, übermorgen 23:00 Uhr kommt die Lieferung in deinem Lager an. Vergiss den Lederkoffer nicht.“

Bevor Enrico antworten konnte, hatte Dagobert auch schon aufgelegt.

Im Fahrstuhl

Als ein Sheriff des MPDC, gefolgt von zwei grimmig dreinblickenden Beamten in schwarzen Wintermänteln, ihn aus der Zelle holte, war Rodrigo Ramirez bereits hellwach. Man hatte ihm ein dunkelgraues Hemd aus kratziger Wolle sowie ein Paar alter Winterstiefel überlassen. Über die Nacht hinweg hatte das ihm verabreichte Beruhigungsmittel in seiner Wirkung allmählich nachgelassen. Übrig geblieben waren einzig stechende Kopfschmerzen.

Gerade mal eine Stunde, bevor die Beamten seine Zelle betraten, kam langsam, ganz zaghaft die Erinnerung an den Vorabend in sein Gedächtnis zurück. Wie eine Blume, die man im Zeitraffer wachsen sieht, erblühten in ihm die grauenhaften Erkenntnisse der Ereignisse des vorangegangenen Tages.