Du bist mein Feuer - Isabelle Ronin - E-Book
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Du bist mein Feuer E-Book

Isabelle Ronin

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Beschreibung

Ein Blick auf die sinnlich tanzende Fremde im roten Kleid, und Caleb weiß: Er muss sie haben. Ein Zufall führt dazu, dass er Veronica Unterschlupf gewährt. Sie sieht in ihm nur den Sohn reicher Eltern, der nicht zu ihr, dem Mädchen aus schwierigen Verhältnissen, passt. Aber der verwöhnte Bad Boy will mit ihr etwas Echtes, Tiefes. Schnell merkt er, dass Veronica nicht leicht zu erobern ist: Sie vertraut nichts und niemandem. Aber Caleb ist bereit, die Schatten ihrer Vergangenheit zu vertreiben und jedes Hindernis, das sie trennt, zu überwinden. Auch wenn alle sagen, dass Veronica sein Ruin sein wird …

»Langsam und gefühlvoll baut sich die Beziehung zwischen Caleb und Veronica auf, die genauso süß wie zerbrechlich ist.« -- Romantic Times Book Reviews

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Seitenzahl: 877

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MIRA® TASCHENBUCH

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der englischsprachigen Originalausgabe: Chasing Red Copyright © 2017 by Isabelle Ronin The author is represented by Wattpad.

Covergestaltung: ZERO Media, München Coverabbildung: FinePic / Zero Werbeagentur Redaktion: Mareike Müller E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783955767440

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1. Kapitel

Caleb

Die ganze Tanzfläche war erleuchtet von roten und grünen Laserstrahlen aus den rotierenden Deckenlampen. Es war Freitagabend und der Club voller Leute, die zur wummernden Musik des DJs tanzten und umherhüpften. Sie erinnerten mich an Pinguine, die sich in der Kälte zusammendrängten, nur dass die hier wie auf Crack waren.

„Was ist denn mit dir los?“, brüllte Cameron mir ins Ohr und boxte mir leicht auf den Arm. „Das war schon die Vierte heute Abend, die du abgewimmelt hast, und wir sind eben erst angekommen.“

Ich zuckte mit den Schultern. Dass mich bedeutungsloser Sex und eintöniges Flirten mittlerweile ziemlich anödeten, wollte ich nicht so direkt zugeben. Es käme mir irgendwie erbärmlich vor. Na gut, gegen den Sex hatte ich nichts, doch in letzter Zeit wollte ich noch etwas anderes. Eine Herausforderung vielleicht. Den Nervenkitzel der Jagd.

Hastig stürzte ich mein Bier herunter. „Wenn man sich immer denselben Mist reinzieht, wird es eben langweilig“, antwortete ich.

Justin lachte dröhnend und zeigte mit seiner Bierflasche zur Tanzfläche. „Guck dir das an, Mann. Ach du Scheiße!“, rief er und stieß einen schrillen Pfiff aus.

Mitten auf dem Dancefloor tanzte ein Mädchen – nein, streicht das – sie bewegte sich auf so sinnliche Art, dass ich nicht anders konnte, als hinzustarren. Es war wie … sofort dachte ich an Sex, und offenbar ging es auch anderen so, denn viele Blicke richteten sich auf sie. Ihr perfekter Körper – Marilyn-Monroe-Maße – war in ein kurzes, enges Kleid gehüllt, das sich wie eine zweite Haut an sie schmiegte.

Und es war auch noch in einem sündhaft scharfen Rot. Verdammt.

Ich könnte ein bisschen gesabbert haben, als sie sich vorbeugte und etwas Verträumtes mit ihren Hüften anstellte, sodass das lange schwarze Haar bis zu ihrer Wespentaille schwang. Die hohen spitzen Absätze ließen ihre Beine endlos lang wirken.

„Dieses Mädchen muss ich mit nach Hause nehmen“, schrie Justin aufgekratzt.

Der Satz war billig und nervig genug, um mich aus meiner Trance zu reißen. Ich hasste Fremdgehen, und Justin hatte eine Freundin.

Auch Cameron schaute ihn missbilligend an. Dann blickte er auf, weil ihn eine Rothaarige aufforderte. Grinsend schüttelte er den Kopf und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Rothaarige lachte. Er nickte mir zu, und zusammen hauten sie ab.

„Hallo, Team-Captain.“

Ein weicher, nach schwerem, blumigem Parfüm duftender Körper drängte sich seitlich an mich. Ich schaute zu Claire Bentley. Ihre Augen waren viel zu stark geschminkt. Nichts gegen die Wunder, die Make-up in einem Mädchengesicht bewirken kann. Aber Claire sah aus, als ob man sie auf beide Augen geboxt hätte. Oder wie ein Waschbär.

„Claire. Alles klar?“ Ich lächelte sie an, doch das ermunterte sie nur, sich an meinen Arm zu hängen.

Oh nein! Warum hatte ich bloß schon wieder mit ihr geschlafen?

„Ach, na ja, geht so.“ Sie klimperte mit den Wimpern und schob ihre Brüste in meine Seite, sodass ich nicht anders konnte, als kurz zu ihrem Ausschnitt zu gucken. Ihre Brüste starrten mich förmlich an. Mann, eine Nacht im Suff, und schon hatten diese schicken Dinger für mich ausgedient.

Ein Träger ihres Kleids rutschte von ihrer Schulter. Sie sah durch ihre Wimpern zu mir hoch, und ich überlegte, ob sie diesen Blick geübt hatte. Dennoch fand ich ihn sexy. Wäre es ein anderes Gesicht gewesen, hätte er wahrscheinlich mein Interesse geweckt. Vielleicht.

„Du schuldest mir einen Drink, Caleb. Ich habe meinen verschüttet, als du vorbeigelaufen bist.“ Ihre Zungenspitze berührte ihre Oberlippe.

Ich bemühte mich, nicht die Augen zu verdrehen. Sie übertrieb es, und ich wollte nicht die ganze Nacht in ihren Klauen gefangen sein. Während ich mir das Hirn zermarterte, wie ich sie loswerden könnte, ohne sie zu kränken, schaute ich mich verzweifelt nach Cameron und Justin um, doch von denen war keiner in Sicht. Arschlöcher.

„Hey, Baby.“ Meine Augen weiteten sich vor Staunen, denn das Mädchen, das ich vorhin so schamlos auf der Tanzfläche angestarrt hatte, schlang ihre Arme um meine Taille und befreite mich aus Claires Klammergriff. Sie sah mich so an, dass ich vergaß zu atmen.

Sie war umwerfend.

„Er ist mit mir hier“, sagte sie zu Claire, ohne dabei den Blick von mir abzuwenden. Ich war gebannt davon, wie sich ihr Mund bewegte. Sie hatte volle Lippen, die in einem sehr, sehr scharfen Rotton geschminkt waren.

„Stimmt doch, oder?“ Ihre Stimme war sanft und tief. Sie erinnerte mich an dunkle Zimmer und heiße, rauchige Nächte.

Es kam mir vor, als ob mein Herz für eine irre Sekunde in meinem Brustkorb hüpfte. Es könnte auch eine volle Minute gewesen sein, vielleicht waren es sogar zwei Minuten. Völlig egal. Sie war nicht im klassischen Sinne schön. Vielmehr war ihr Gesicht markant, auffällig: hohe, stark definierte Wangenkochen, lange dunkle Brauen über katzenhaften Augen, in denen sich Geheimnisse verbargen. Und ich wollte jedes einzelne davon enthüllen.

Da ich nicht reagierte, sondern nur starrte, zog sie die Augenbrauen zusammen. Ihr matter Goldteint schimmerte im gedämpften Licht. Und ich fragte mich, wie sich ihre Haut wohl anfühlen würde. Rasch fasste ich sie an den Armen, bevor sie sich abwenden konnte, und legte ihre Hände in meinen Nacken. Ich hatte recht gehabt mit meiner Vermutung: Ihre Haut war glatt und weich. Mehr, war alles, was ich denken konnte.

Ich beugte mich näher zu ihr, sodass meine Lippen fast ihr Ohrläppchen berührten, und flüsterte: „Wo warst du denn?“ Ich spürte, wie sie erschauerte, und musste grinsen. „Ich suche schon mein ganzes Leben nach dir.“

Langsam, als hätte ich alle Zeit der Welt, strich ich mit der Nasenspitze von ihrem Ohr zu ihrem Hals, doch ehe ich mehr tun konnte, trat sie einen Schritt zurück.

„Sie ist weg“, sagte sie. „Du bist in Sicherheit. Jetzt darfst du mir einen Drink ausgeben, weil ich dich gerettet habe.“

Ich steckte meine Hände in die Hosentaschen, um nicht gleich wieder nach ihr zu greifen. Schon jetzt fehlte mir das Gefühl, sie in den Armen zu halten. „Klar, was möchtest du?“

Sie schüttelte ihr Haar nach hinten, und ich konnte nicht anders, als sie zu beobachten. Ich war fasziniert. „Etwas Starkes. Heute Abend will ich jemand anders sein. Ich will … vergessen.“

Das war mein Stichwort. Ich legte eine Hand unten an ihren Rücken und zog sie zu mir, bis unsere Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt waren. „Bei mir kannst du jede sein, die du willst.“ Ihr Duft vermischte sich mit meinem Atem, und er machte mich süchtig. „Warum gehen wir nicht weg von hier und irgendwohin, wo ich dich alles vergessen lassen kann, Red?“

Eisig starrte sie mich an, stemmte die Hände flach gegen meine Brust und stieß mich weg. „Hat mich auch gefreut, Arschloch.“ Sie winkte mir zu und ließ mich stehen. Wie ein verirrter Welpe blickte ich ihr nach. Was war das denn gewesen? Hatte sie mich eben etwa einfach so abblitzen lassen?

Dieses Gefühl war mir so fremd, dass ich nichts weiter tun konnte, als ihr nachzuschauen, bis sie in der Menge verschwunden war. Sie schwankte ein bisschen, anscheinend hatte sie zu viel getrunken. Fast wäre ich ihr nachgerannt, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Aber sicher hätte sie mich dann nur angespuckt. Ihre Freunde würden sich um sie kümmern.

Doch was hatte ich falsch gemacht? Sie sendete alle richtigen Signale aus, dass sie an mir interessiert war. Wollte sie, dass ich ihr erst einen Drink spendierte? Komisch. Heute Abend hatte ich mir eine Herausforderung gewünscht – und sie dann bei der ersten Gelegenheit wie der letzte Idiot verbockt.

„Caleb!“, hörte ich ein anderes Mädchen hinter mir rufen, aber ich war nicht mehr in der Stimmung für irgendwas außer meinem Bett.

Vor dem Club schloss ich die Augen und atmete die frische Luft tief ein. Danach lief ich rasch zum Ende des Parkplatzes, wo mein Wagen stand, denn ich wollte nicht, dass mich jemand sah und zurück in den Club zerrte. Lieber würde ich mir den Arm abkauen, als da wieder reinzugehen.

Allerdings wurde ich langsamer, da mir eine Frau auffiel, die an der schmutzigen Mauer des Clubparkplatzes lehnte. Wahrscheinlich hatte sie zu viel getrunken und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Ich hätte sie gern in Ruhe gelassen, aber als ich wieder hinsah, näherte sich ihr ein Typ. Mein Beschützerinstinkt setzte ein, sobald sich der Mann aufrichtete und auf sie zuschritt.

Die Frau veränderte ihre Position, und das Licht der Straßenlaterne fiel auf ihr Gesicht. Ungläubig starrte ich hin, denn ich erkannte Red wieder. Ich musste nicht lange überlegen, sondern rannte auf sie zu. Der Kerl hatte mich noch nicht bemerkt, weil er völlig auf sie fixiert war. Auf seine Beute. Doch das Einzige, was er heute Nacht erbeuten würde, wäre eine blutige Nase, wenn er sich nicht sofort verzog.

Sowie er mit einer Hand ihren Unterarm packte, knurrte ich beinahe. Meine Wut erstaunte mich selbst, und ich musste sie bändigen, sonst würde mir die Situation hier gleich um die Ohren fliegen. Der andere Typ nahm mich endlich wahr, was ich daran erkannte, dass er plötzlich wie versteinert wirkte.

„Hey, Baby! Wo steckst du denn?“, rief ich und schlenderte betont lässig und unbekümmert auf die beiden zu. Red sah ich lieber nicht an, weil ich mich vor ihrem Blick fürchtete. Sollte sie auch bloß ansatzweise verängstigt erscheinen, würde ich diesem Dreckskerl nämlich die Faust ins Gesicht rammen. „Ich suche dich schon überall. Aber jetzt habe ich dich ja gefunden.“

Der Typ hielt sie immer noch fest, also stellte ich mich leicht breitbeinig hin, dehnte meinen Nacken und spannte meine Armmuskeln an. Dabei blickte ich ihm direkt ins Gesicht. Der Perversling trat einen Schritt rückwärts, dann noch einen und noch einen, bevor er sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung rannte.

„Blöder Arsch“, murmelte ich.

„Wie h…hast du mich genannt?“

Verblüfft, dass sie es gehört hatte, wandte ich mich zu ihr. Wie betrunken war sie eigentlich?

„Nicht dich. Obwohl man über ‚blöd‘ streiten könnte. Was machst du hier ganz allein. Holla!“ Schnell streckte ich die Hände aus, um sie aufzufangen, als sie erneut schwankte. „Alles klar bei dir?“

Im Club war es zu dunkel gewesen, doch jetzt fiel mir auf, dass sie sehr blass war und ihre Augen glasig wirkten. Ohne auf ihre Antwort zu warten, hob ich sie hoch. Sie stieß nur einen kleinen Laut aus.

„Musst du kotzen?“, fragte ich und schüttelte sie sanft, da sie nicht reagierte.

Das war offenbar keine gute Idee: Sie stöhnte leise und hielt beide Hände vor ihren Mund. Da es aber nicht so schien, als müsste sie sich gleich übergeben, setzte ich sie vorsichtig in meinen Wagen.

„Dir wird doch nicht hier drinnen schlecht, oder? Der Wagen ist ganz neu.“ Sie sah aus, als wäre sie schon weggetreten. „Wo wohnst du? Ich fahre dich hin.“

„O…obdachlos“, presste sie wimmernd hervor, und ich war schon überrascht, dass sie überhaupt auf meine Frage antwortete. „Aus der Wohnung g…geflogen.“

Ich lehnte mich an die Kopfstütze, atmete tief durch und strich mir übers Gesicht. Was nun? Ich könnte sie in einem Hotel abliefern und für einige Tage die Kosten übernehmen, damit sie untergebracht war, solange sie sich eine neue Wohnung, einen Job oder was auch immer suchte. Das war schon mehr, als ein x-beliebiger Fremder tun würde. Aber dann schaute ich sie an, und all diese Pläne verpufften.

Sie hatte die Augen geschlossen, ihr Atem ging gleichmäßig und ruhig, aber sogar im Schlaf wirkte sie besorgt. Das Mädchen, das auf der Tanzfläche so stark gewirkt hatte, schien nun unglaublich verwundbar. Ihr Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, wie ein Bild, das man vor langer Zeit gesehen hat. Allerdings wusste ich nicht, wo ich ihr schon mal begegnet sein könnte. Ein Gesicht wie ihres würde ich doch garantiert nicht vergessen.

Mein Bruder zog mich gern damit auf, dass ich gegen verzweifelte Mädchen einfach machtlos war. Vermutlich hatte er recht, denn ich beschloss, sie bei mir unterzubringen. Ich redete mir ein, dass sie in einem Hotel nicht sicher wäre, schon gar nicht in ihrer gegenwärtigen Verfassung. Weiß der Himmel, was hätte passieren können, wäre ich eben nicht aufgekreuzt!

Ich ließ den Motor an und drehte die Klimaanlage voll auf. Sie würde einen höllischen Kater haben, wenn sie morgen früh aufwachte. Wir waren nur noch Minuten von meinem Apartment entfernt, als sie plötzlich im Beifahrersitz zuckte und die Hände vor den Mund presste.

Scheiße, nein!

Sie kotzte mir den ganzen Wagen voll.

Fast hätte ich geweint. Mein funkelnagelneues Auto! Das Würgegeräusch war schon übel genug, aber der Gestank war so beißend, dass ich mich beinahe selbst übergab. Hastig öffnete ich sämtliche Fenster und das Schiebedach, bevor ich endlich aus- und wieder einatmete.

„Oh verdammt, Mädchen. Eine gute Tat und …“

Erneut spuckte sie.

„Maaaann!“

Ich war so angefressen, dass ich große Lust hatte, sie doch in einem Hotel abzusetzen. Ich kannte dieses Mädchen schließlich nicht mal. Und selbst mein Retterkomplex hatte seine Grenzen. Aber dann brachte ich es doch nicht fertig.

Resigniert parkte ich auf meinem Stellplatz, stieg aus und näherte mich widerwillig der Beifahrerseite. Die Luft anhaltend machte ich sie sauber, so gut es eben möglich war, bevor ich sie aus dem Wagen hob. Sie stank zum Himmel.

In der Lobby drückte einer der Sicherheitsmänner den Fahrstuhlknopf für mich, weil ich keine Hand frei hatte. „Hat Ihre Freundin zu viel getrunken, Sir?“

„Na, wir wissen doch beide, dass ich keine Freundin habe, Paul.“ Ich zwinkerte ihm zu, und er lachte leise.

Sobald sich die Lifttüren auf meiner Etage öffneten, lief ich geradewegs zum Gästezimmer. Sie rollte sich zusammen wie eine kleine Katze und wimmerte, während ich sie behutsam aufs Bett legte. „Mom“, stieß sie schluchzend hervor.

An der Tür verharrte ich und drehte mich zu ihr um. Was immer dieses Mädchen durchgemacht haben mochte, es war nicht schön. Eigentlich sollte ich sie waschen und in frische Klamotten stecken, doch sie würde es bestimmt nicht witzig finden, wenn sie morgen früh feststellte, dass sie von einem Fremden ausgezogen worden war. Und dann könnte ich ein Auge oder eine Hand einbüßen. Das riskierte ich lieber nicht. Ihr Atem beruhigte sich wieder. Im Nachhinein könnte ich nicht sagen, wie lange ich dort gestanden und ihr beim Schlafen zugesehen hatte.

Veronica

Warmer Sonnenschein auf meiner Haut weckte mich. Ich genoss die saubere weiße Bettdecke über mir und dachte, wie nett es von meiner Mom war, sie frisch zu beziehen. Zufrieden lächelte ich und kuschelte mich ein.

Meine Mom. Das war nicht möglich. Meine Mom war tot.

Ich schoss hoch, und mir wurde schwindlig. Mehrmals blinzelte ich, blickte mich um und schluckte die Panik herunter, die mir in die Kehle stieg, denn ich kannte dieses Zimmer nicht. Wo zur Hölle bin ich? Und was ist das für ein ekliger Gestank?

„Es wäre wirklich hilfreich, wenn du jetzt nicht panisch würdest“, murmelte ich und erschrak, weil mein Atem so entsetzlich roch. Den Mund geschlossen, atmete ich einige Male ein und aus, um mein rasendes Herz zu beruhigen.

Wenigstens hatte ich noch meine Sachen an, auch wenn die voller eingetrocknetem … Erbrochenen waren. Daher der Gestank. Das war ich! Oh mein Gott.

Ich konnte mich an alles erinnern, was gestern war, bis auf den Abend. Verschwommene Bilder waberten mir durch den Kopf, doch nichts Konkretes, das mir einen Anhaltspunkt geben könnte. Aus der Wohnung geworfen zu werden, weil ich die letzten zwei Monate die Miete nicht aufbringen konnte, war brutal gewesen. Die meisten meiner Sachen zurückzulassen war mir leichtgefallen, weil das meiste sowieso alt, billig und vom Flohmarkt war. Ich hatte nur meine guten Sachen und Erinnerungsstücke von meiner Mutter mitgenommen und im Schließfach auf dem Campus verstaut.

Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht in den Club gegangen, um Drinks zu servieren oder Tische abzuwischen, sondern um mich zu betrinken. Es war meine Art, dem Leben den Stinkefinger zu zeigen. Ich vertrug nicht viel, also brauchte es nicht lange, bis ich sehr betrunken war.

Ich hatte schon immer zur Paranoia geneigt, daher schaute ich jetzt hastig auf meine Hände und stellte erleichtert fest, dass ich noch alle meine Finger hatte. Meine Beine steckten unter der weißen Decke, und ich fragte mich, ob sie nach wie vor an meinem Körper hingen. Ich wackelte mit den Zehen. Super, das funktionierte also weiterhin. Als Nächstes hob ich mein Kleid an, weil ich mich vergewissern wollte, dass ich keine frischen Wundnähte oder Schmerzen hatte. Jemand hätte meine Leber stehlen können, meine Nieren oder andere lebenswichtige Organe. Nachdem ich festgestellt hatte, dass sämtliche Körperteile intakt waren, sah ich mich genauer in dem Zimmer um.

Es als Zimmer zu bezeichnen erschien mir wie eine schamlose Untertreibung. Es war größer als meine ganze Wohnung und teuer und geschmackvoll eingerichtet. Ein breites Fenster mit schweren weißen Vorhängen nahm fast die ganze Wand rechts von mir ein und bot einen erstklassigen Blick auf die Stadt. Es musste ein hohes Gebäude sein, denn die Innenstadt wirkte von hier aus klein.

Hatte ich gestern Abend noch etwas anderes getan, außer mich zu betrinken? Wie zum Beispiel … oh Hilfe, mit einem Fremden geschlafen? Ich hob den Hintern und machte einige Beckenbodenübungen, als würden mir die verraten, ob ich noch Jungfrau war. Na ja, wund fühlte ich mich jedenfalls nicht. Erneut geriet ich in Panik …

„Tief einatmen, Veronica. Tief einatmen.“

Leise stieg ich aus dem Bett, und meine Füße versanken in einem weichen Teppich. Wem immer das hier gehören mochte, er musste steinreich sein, und ich hatte nicht vor, ihm zu begegnen. Was wäre, wenn er im großen Stil mit Drogen dealte? Wie sollte er sonst an so viel Kohle kommen? Oder vielleicht wollte er mich auch erst mal mästen, bevor er meine Organe stahl und verkaufte?

Krieg dich ein, blöde Nuss!

Ehe ich mich nach draußen schleichen konnte, entdeckte ich ein Badezimmer, das direkt von dem Raum abging, und ergriff meine Chance. Anschließend schlich ich mich vorsichtig zur Tür und linste hinaus. Trotz meiner Panik fiel mir auf, wie unglaublich hier alles war. Solche Apartments kannte ich bisher nur aus Hochglanzmagazinen. Alles sah elegant und modern aus. Teure Gemälde hingen an weißen Wänden, und ein riesiger Fernseher stand vor einer L-förmigen Couch. Unter meinen Füßen schimmerte ein Parkettboden.

Angesichts von so viel Luxus schnitt ich eine Grimasse.

Das Leben war unfair, schoss es mir durch den Kopf, während ich nach der Wohnungstür Ausschau hielt. Mir stockte allerdings der Atem, als ich in einem Bereich, bei dem es sich um die Küche handeln musste, jemanden entdeckte. Dieser Jemand hatte mir seinen nackten Rücken zugekehrt, und ich konnte erkennen, dass er groß und braun gebrannt war. Als er einen Arm bewegte, spannten sich seine gut definierten Muskeln an.

Wie eine Idiotin verharrte ich nervös und ängstlich auf der Stelle. Als hätte er meine Anwesenheit gespürt, drehte er sich plötzlich zu mir um, und seine Augen weiteten sich.

Das Gesicht kannte ich.

Caleb. Caleb Lockhart!

Oh nein, nicht er! Das durfte nicht wahr sein. Ich war in der Höhle der männlichen Campus-Schlampe aufgewacht!

Ein Stück Brot fiel ihm aus dem Mund, während er mich weiter angaffte. Seine bronzefarbenen Locken waren zerzaust und standen in alle Richtungen ab, als wäre er eben erst aufgestanden. Seine Brust und der Bauch waren sehr muskulös und sehr nackt. Vor ihm war ein Küchentresen, der in Höhe seiner Taille endete, sodass ich nicht erkennen konnte, ob er weiter unten etwas anhatte.

Lieber Gott, hoffentlich hat er unten herum etwas an.

Und dann grinste er. Als hätte er alle Zeit der Welt, ließ er seinen Blick von meinem Haar bis zu meinen Zehen und wieder zurück gleiten. Ich fühlte ein Kribbeln.

„Hey, Baby, du siehst aus, als hättest du eine wilde Nacht gehabt“, flüsterte er heiser.

Oh Gott!

„Haben wir … hast du …?“, stammelte ich und verschränkte meine Arme vorm Oberkörper, um meine Brust vor seinem lasziven Blick zu schützen.

Er zog eine Augenbraue hoch, während er darauf wartete, dass ich meine Frage beendete. Mein Mund war ausgetrocknet, und in meinem Kopf setzte ein unangenehmes Pochen ein. Ich sah nach unten zu meinen nackten Füßen und fragte mich, wo ich meine Schuhe gelassen hatte. Dämliche, dämliche Kuh.

„Sag es mir einfach.“

„Was genau soll ich dir sagen?“ Seine Augen funkelten amüsiert, und in seinen Wangen bildeten sich Grübchen. Er wusste ganz genau, was ich meinte, aber anscheinend hatte er Spaß daran, unschuldige Leute zu quälen. Idiot.

Als er einen Schritt vortrat, ging ich einen zurück und schrie: „Bleib weg von mir!“

Stirnrunzelnd hob er beide Hände. „Was ist denn in dich gefahren?“

Hektisch blickte ich mich nach etwas um, was ich als Waffe benutzen könnte. Falls er beschloss, mich anzugreifen. „Warum bin ich hier?“

„Erinnerst du dich nicht?“

Auf einmal wollte ich mir die Haare raufen. „An was soll ich mich erinnern?“

Seine Miene verfinsterte sich, als würde er an etwas Unangenehmes denken. „Irgendein Perversling hätte dich gestern Abend fast verschleppt und eventuell vergewaltigt. Ich habe dich gerettet.“

Mir klappte die Kinnlade runter.

„Und du hast mir den ganzen Wagen vollgekotzt.“ Er machte eine kurze Pause. „Zwei Mal.“

„Mich v…vergewaltigen?“ Meine Erinnerungen waren verschwommen, doch ich wusste noch, dass ich mich gegen die Annäherungsversuche von jemandem gewehrt hatte. Und wenn er das gewesen war?

Er nickte und starrte mich immer noch sehr eindringlich an. Irgendwas am Blick seiner grünen Augen weckte die Erinnerung an eine tiefe Männerstimme, die murmelte, Ich suche schon mein ganzes Leben nach dir … Ich schüttelte den Kopf, um sie zu vertreiben, und funkelte ihn wütend an. „Woher soll ich wissen, dass du nicht dieser Kerl warst?“

„Oh bitte“, sagte er und verdrehte die Augen. „Ich muss kein Mädchen zwingen, mit mir zu schlafen.“

Er lehnte sich an die Arbeitsplatte, verschränkte die Arme vor seiner eindrucksvollen Brust und legte den Kopf schräg. Sein Bizeps spannte sich an, die Muskeln traten vor. Unverhohlen musterte er mich weiter.

„Danke“, meinte ich leise, blieb jedoch misstrauisch. Wenn man in einer rauen Gegend aufwuchs, wurde Misstrauen zur Normalität. Da war ich nicht anders als andere. „Ich weiß gar nichts mehr von gestern Abend.“

„Du warst betrunken“, half er mir auf die Sprünge.

„Ja, an den Teil erinnere ich mich.“

„Und du bist nicht verkatert?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Erstaunlich“, bemerkte er beeindruckt.

„Hör mal, wenn es dir nichts ausmacht, gib mir meine Schuhe, und ich verziehe mich.“

„Nicht so schnell.“

„Was?“ Fünf Schritte entfernt stand eine Tischlampe, die ich notfalls als Waffe benutzen konnte.

„Du hast mir meinen Wagen vollgekotzt, und ich habe den erst vor wenigen Wochen bekommen.“

Oh. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Ist dein Dad nicht reich?“ Ich deutete mit einer ausholenden Geste auf die luxuriöse Einrichtung um uns herum. „Kannst du den nicht einfach von jemandem reinigen lassen?“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Also willst du, dass jemand anders deinen Dreck wegmacht?“

Ich biss die Zähne zusammen. „Was willst du von mir?“

Er hockte sich auf den Tresen, sodass ich seinen Körper in voller Pracht sah. Ich schluckte. Wenigstens hatte er eine Jogginghose an.

„Kannst du denn irgendwohin, wenn du jetzt abhaust?“ Auf der Arbeitsplatte neben ihm stand ein Obstkorb voller Äpfel. Er griff nach einem. Was für ein Glück er hatte, jederzeit Essen in Reichweite zu haben, wenn er es wollte. Er brauchte nicht zu fürchten, dass er hungern musste … oder obdachlos wurde.

„Was ist das denn für eine Frage? Natürlich nach Hause.“ Wo zu Hause war, konnte ich nicht sagen, aber das wusste er ja nicht.

Er schmiss den Apfel hoch, fing ihn auf und warf ihn erneut in die Luft. „Und wo ist das?“

Mein Magen grummelte leise vor Hunger. „Das geht dich nichts an.“

„Tja, ich habe dir das Leben gerettet. Und ich glaube ans Energiesparen, also will ich nur sicher sein, dass du meine Energie nicht verschwendest. Gestern Abend habe ich dich gefragt, wo du wohnst, und du hast mir erzählt, dass du obdachlos bist. Ehrlich, im Moment siehst du aus, als hätte dir gerade jemand deinen letzten Dollar geklaut.“

Vor Schreck riss ich den Mund auf.

„Du hast mich verstanden“, erwiderte er, legte den Apfel zurück in den Korb und verschränkte erneut die Arme. Führte er mir absichtlich seine Muskeln vor?

„Warum interessiert dich das?“, hakte ich nach.

Es dauerte einen Moment, ehe er antwortete: „Kannst du wirklich irgendwohin?“ Sein sanfter, mitfühlender Tonfall machte mich fertig. Ich fühlte, wie mir die Tränen kamen. Und ich sah ihm an, dass es ihm unangenehm war. Er sprang vom Tresen, schritt zum Kühlschrank und öffnete ihn.

„Hier“, meinte er leise und reichte mir eine Wasserflasche. Ich wollte mich bedanken, traute meiner Stimme allerdings nicht. Als ich aufblickte, wich er vor mir zurück. „Dir ist bewusst, dass du stinkst, oder?“

Ich lachte. Ich musste so sehr lachen, dass ich mich auf den Boden hocken musste, damit ich nicht auf die Nase fiel. Und dann fing ich an zu weinen. Er musste mich für irre halten.

„Wieso bleibst du nicht ein bisschen, bis du eine Wohnung gefunden hast?“

Ich war so schockiert, dass ich ihn nur stumm anstarren konnte. Er zuckte mit den Schultern. „Ich erkenne es, wenn Leute am Ende ihrer Kräfte sind.“

Am Ende ihrer Kräfte? Ich wurde wütend. Ich hasste es, zu jemandem hochschauen zu müssen, wenn ich mit ihm sprach; deshalb stand ich wieder auf. Er war immer noch deutlich größer, und das ließ mich erst recht sauer werden. „Hör mal, ich mag obdachlos sein, doch ich will deine Almosen nicht.“

„Wohin willst du sonst? In ein Obdachlosenasyl? Pass auf.“ Er hielt ein Finger vor mein Gesicht. „Erstens, ich lebe allein, also hast du hier nur das Vergnügen meiner Gesellschaft. Zweitens“, er hob einen zweiten Finger, „bist du hier allemal sicherer, weil du mich hast, der dich beschützt. Und drittens“, er nahm einen dritten Finger hinzu, „Bingo! Du kannst hier umsonst wohnen.“

Ich wurde skeptisch. Das klang zu schön, um wahr zu sein. „Warum hilfst du mir?“ Das Leben hatte mir schon oft genug einen Schlag verpasst, daher wusste ich, dass es nichts umsonst gab. Caleb öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Keine Ahnung.“

Mit Caleb Lockhart zusammenwohnen. In dieser riesigen Wohnung. Umsonst. Oder alternativ zum Obdachlosenheim gehen oder auf der Straße leben. „Ich werde nicht deine Hausnutte.“

Er wirkte gekränkt. „Kleines, eine Prostituierte werde ich nie brauchen. Hast du diesen Körper gesehen? Glaubst du ehrlich, dass ich für Sex Geld hinblättern muss? Außerdem“, fügte er grinsend hinzu, „falls du dich dazu entschließen solltest, mit mir zu schlafen, wirst du mich bezahlen.“

Wow. Von seinem gewaltigen Ego müsste er eigentlich permanent Kopfweh haben. Ich sah ihn angewidert an und gab vor zu gähnen. „Alles, was du sagst, klingt unglaublich spannend. Ich verstehe gar nicht, warum ich die ganze Zeit gähnen muss.“

Seine grünen Augen wurden größer, und er blickte mich eindringlich an. Diesmal habe ich ihn wohl richtig auf die Palme gebracht, dachte ich, doch dann passierte etwas völlig Unerwartetes. Er fing an zu lachen. „Du gefällst mir“, sagte er. „Ich meine, du siehst ja echt hammermäßig aus, aber ich hätte nicht gedacht, dass das tiefer geht.“

Hatte er mich gerade beleidigt?

„Ich biete dir einen Ausweg aus deiner Notlage an. Warum greifst du nicht zu?“ Er hielt sich mit zwei Fingern die Nase zu. „Und kannst du bitte duschen gehen? Du magst ja umwerfend sein, doch ich verbringe meine Zeit nicht mit jemandem, der nach Kloake riecht.“

Ich schnaubte. Natürlich hatte er recht. Ich musste richtig, wirklich schlimm, stinken. Aber … „Und was willst du als Gegenleistung?“

„Nicht jeder will was von dir“, antwortete er ernst.

„Ach, glaubst du das wirklich?“ Ich lachte verbittert. „Jeder will was von einem, auf die eine oder andere Art. Hast du das noch nicht kapiert?“

Er legte den Kopf schräg und schaute mich einen Moment lang nachdenklich an. Ich fragte mich, was er sah. Durch mein Äußeres, meine Figur, wirkte ich auf andere oft so, als wäre ich auf Spaß aus. Sie hatten ja keine Ahnung, dass das nun wirklich das Letzte war, was ich wollte. Das Allerletzte. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, zu überleben und mir meine nächste Mahlzeit zu erarbeiten, um an so was wie Vergnügen auch nur zu denken. Der gestrige Abend war eine Ausnahme gewesen. Total unnormal für mich.

„Ich könnte putzen“, bot ich an. Tat ich das hier wirklich? Warum nicht? Die Welt hatte mir schon lange keine Freikarte mehr geschenkt. Ich war überfällig für eine.

„Ich habe schon dreimal die Woche eine Putzkraft“, antwortete er.

„Ich kann kochen.“

Er runzelte die Stirn. „Mach dich nicht über mich lustig. Das ist nicht nett.“

Ich verdrehte die Augen.

„Kannst du ehrlich kochen?“ Er sah wie ein kleiner Junge aus, der den letzten Keks ganz unten in der Dose entdeckt hatte.

„Ja.“

„Abgemacht!“

Das war zu einfach. „Du hast gesagt, dass du allein wohnst, aber wie kannst du dir so eine Wohnung leisten?“

Die Frage machte ihn sichtlich verlegen. Ich hoffte, dass er nicht dachte, ich wollte herausfinden, wie viel er auf der Bank hatte. Dass ich eine Goldgräberin war. Doch wie sollte er das nicht denken? Schließlich kannte er mich gar nicht.

„Hör mal“, presste ich zischend hervor, denn es ärgerte mich, wenn jemand an meinen moralischen Grundsätzen zweifelte. Ich mochte arm sein, aber ich war keine Schmarotzerin. Meine Hände waren der Beweis, wie schwer ich arbeitete, und darauf war ich stolz. Noch ein Jahr, dann würde ich meinen Abschluss in der Tasche haben. Ich hatte hart geschuftet, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Viel hatte ich nie gebraucht; ein regelmäßiger Job, ein einfaches Zuhause und ein verlässlicher Wagen waren mehr als genug, damit ich glücklich war. Und ich wollte nie wieder hungern. Diese Ziele würde ich auch ohne die Hilfe von irgendwem erreichen. „Ich war bloß neugierig. Falls du denkst, dass ich eine Goldgräberin bin …“

Er hob eine Hand. „Kannst du bitte aufhören, mir Worte in den Mund zu legen? Glaubst du wirklich, dass ich dieses Leben will? Das … das.“ Er deutete auf den Raum. „Glaubst du, das macht mich glücklich?“ Seine Gesichtszüge hatten sich verhärtet, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. Ich verstummte. Wir beide standen verlegen da, doch nach ein paar Sekunden zog er die Augenbrauen hoch, als sei nichts gewesen. „Weißt du was, ich kann meine Collegesachen erledigen, während du mir heute Abend was kochst.“

Der Moment unvermuteter … Verwundbarkeit, oder was immer es auch gewesen sein mochte, war wieder vorbei.

„Warte mal“, meinte er. „Ich kenn nicht mal deinen Namen.“

„Veronica Strafford.“

„Ich bin Caleb Lockhart.“

Ich erwiderte sein Lächeln nicht und verriet ihm auch nicht, dass ich schon wusste, wer er war. Wer denn nicht? Sicher kannte ihn auf unserem Campus jeder.

„Auf welchem College bist du?“, fragte er.

„Mich hier wohnen zu lassen heißt nicht, dass ich mein Inneres vor dir ausbreiten muss, oder?“

„Genau genommen hast du das schon. In meinem Wagen, schon vergessen?“, erinnerte er mich trocken. „Bitte, geh duschen. Und leih dir gern frische Klamotten von mir. Du darfst dich sogar“, meinte er grinsend, „bei meiner Unterwäsche bedienen.“

Ich schnaubte. Wir beiden standen uns gegenüber, unsicher und in unsere jeweiligen Gedanken versunken. Tat ich das Richtige, indem ich hierblieb? Wohin sollte ich sonst?

„Du kannst in dem Zimmer wohnen, in dem du letzte Nacht geschlafen hast. Es hat ein eigenes Bad.“ Er ging hinter den Tresen, auf Abstand zu mir. „Ich haue gleich ab. Fühl dich ganz wie zu Hause.“

Ich nickte. Es kam mir komisch vor. War das hier tatsächlich gratis? Wie konnte er mich in seinem Apartment allein lassen, wenn er mich überhaupt nicht kannte? Er konnte unmöglich sicher sein, dass ich ihn nicht komplett ausraubte.

„Danke. Ich …“ Ich stockte. „Danke“, wiederholte ich. Und ich meinte es ernst.

Er nickte. Ich wandte mich von ihm ab und nagte an meiner Unterlippe. Wo zum Teufel war noch mal das Zimmer? Ich schaute erst nach links, dann nach rechts. Seine Wohnung war riesig, und ich war in Panik gewesen, als ich den Raum verlassen hatte.

„Gibt’s ein Problem?“, fragte er hinter mir.

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. „Ich … ich habe vergessen, wo das Zimmer ist. Sag es mir einfach, und dann mache ich einen Bogen um dich.“ Ich merkte, wie ich rot wurde.

Als er nicht antwortete, blickte ich auf und sah, wie er mich lächelnd anstarrte.

„Was?“, fragte ich.

„Mann, ganz schön feindselig, was?“ Er lief an mir vorbei. „Folge mir.“

Ich ging ihm nach und bemühte mich, nicht allzu sehr auf seinen Körper zu glotzen. Fast hätte ich aufgeheult, sowie er sich plötzlich umdrehte, mir zuzwinkerte und sagte: „Willkommen in meinem Apartment, Red. Ich hoffe, du genießt deinen Aufenthalt.“

2. Kapitel

Caleb

Mädchen waren meine Schwachstelle.

Das wusste ich, aber noch nie hatte ich für ein Mädchen meine Regeln gebrochen.

Bis gestern Abend.

Schweiß rann über mein Gesicht, während ich den Ball mit beiden Händen hielt, die Arme reckte und meinen Wurf ausführte. Ich fluchte vor mich hin, denn ich verpatzte es zum zweiten Mal.

Was dachte ich mir denn nur dabei?

Ich hatte schon beschlossen, ihr Geld zu geben, damit sie sich etwas Eigenes mieten könnte, doch als ich sie heute Morgen sah, den Trotz in ihren dunklen Augen, vor allem aber die Traurigkeit, die sie verbergen wollte, lösten sich meine Vorsätze in Rauch auf.

Ich fing das saubere Handtuch, das Cameron mir auf dem Weg zurück zur Umkleide zuschmiss, und wischte mir damit das Gesicht ab. Das Training war brutal hart gewesen, und ich war abgelenkt.

Justin überholte mich und lief rückwärts vor mir her. „Hat deine Mommy heute Morgen vergessen, dich zu stillen, Lockhart? Du hast grottenschlecht gespielt, Alter.“

Ich schleuderte ihm das Handtuch ins Gesicht.

„Wohin bist du gestern Abend verschwunden?“, fragte Cameron. Er achtete nicht auf Justins Gemecker.

„Ja, ich habe gesehen, wie du mit diesem scharfen Teil im Club geredet hast. Bist du zum Schuss gekommen?“

Warum wollte ich ihm eine verpassen? Justin redete dauernd wie eine menschgewordene Müllhalde. Das hatte mich nie gestört. Doch ich mochte es überhaupt nicht, wenn er so über sie sprach.

Ich zog mein durchgeschwitztes Trikot aus, knüllte es zusammen und warf es ohne jeden Anflug von Reue in Justins Gesicht.

„Hey, was soll das, du Sack?“

Cameron lachte, wurde jedoch ernst, als er mich ansah. Ich fand schon immer, dass er die unheimlichsten blauen Augen hatte, die ich je bei einem Menschen gesehen hatte.

„Alles gut?“, fragte er.

Ich öffnete meinen Spind, griff mir meine Tasche und hockte mich auf die Bank, um nach einem sauberen Shirt und Jeans zu suchen.

„Klar. Ich muss mich nur mal flachlegen lassen.“

Justin schnaubte. „Als hättest du auf dem Gebiet ein Problem.“

Wenn er wüsste, was für eine heftige Abfuhr ich gestern Abend kassiert hatte, würde er sich schlapplachen.

Ich war auf dem Weg zu den Duschen, als auf meinem Handy eine Textnachricht einging.

SANDRA BODELLI: Hey, Hübscher. Willst du rüberkommen? Meine Mitbewohnerin ist heute Abend weg.

Ich stutzte. „Wer ist Sandra Bodelli?“

Justin trat hinter mich und schaute auf mein Telefon. „Verdammt, hast du ein Schwein, Cal! Weißt du nicht mehr? Das Mädchen aus Ingenieurwissenschaft, das letzte Woche beim Training war?“

Verständnislos starrte ich ihn an.

Und er schüttelte den Kopf. „Wie kannst du die vergessen haben? Sie hat ihre Nummer in dein Telefon eingetippt. Blond, große Augen“, hier wölbte er die Hände vor der Brust, „super Arsch etc.?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen.“

Justin lachte wie ein Irrer. Ich ignorierte ihn und schickte einen Text an Sandra, dass ich sie in einer Stunde treffen würde.

Heute Abend würde ich Red vergessen.

Leicht betrunken und abgekämpft, stolperte ich um zwei Uhr morgens zurück nach Hause. Es war dunkel, aber ich machte kein Licht an, als ich mich direkt im Wohnzimmer auszog.

Ich öffnete den Kühlschrank, nahm den Orangensaft heraus, holte mir – weil ich mal wieder die Stimme meiner Mutter im Kopf hörte, dass ich nicht direkt aus der Packung trinken soll – ein Glas aus dem Schrank und schenkte mir etwas ein. Nach drei Gläsern stieß ich laut auf.

Dann steuerte ich mein Schlafzimmer an, bereit, sofort aufs Bett zu fallen und einzuschlafen.

„Aua! Was soll das denn?“

Die Lichter gingen an und blendeten mich, während ich mich vor Schmerz auf dem Fußboden krümmte.

„Oh mein Gott!“, schrie Red und hielt sich die Augen zu. „Du bist nackt!“

„Was zur Hölle machst du denn?“, brüllte ich und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Sie hatte meinen Baseballschläger mit beiden Händen gepackt.

Wusste ich es doch! Sie war eine Mörderin, eine Profikillerin, die von irgendeinem Psycho auf mich angesetzt worden war.

„Tut mir leid! Ich dachte, du bist ein Einbrecher!“, schrie sie.

Ein Einbrecher? In meiner eigenen Wohnung?

Alles tat mir weh: mein Kopf, mein Rücken, meine Arme, meine Beine. Ich rollte mich auf dem kalten Boden auf den Bauch.

„Leg lieber den Schläger hin, denn sonst, das schwöre ich, versohle ich dir den Hintern“, drohte ich. Sie musste meine Warnung nicht ernst genommen haben, denn ich hörte, wie sie herumwuselte. Einen Moment später landete ein Stück Stoff auf meinem nackten Arsch. Sicher würde ich das witzig finden, wenn erst mal der Schmerz verklungen war.

Ich fühlte, wie sie sich neben mich kniete und in meinen Nacken atmete. „Entschuldige, Caleb. Ich dachte ehrlich … hey, alles in Ordnung?“

Als sie mir eine Hand auf die Schulter legte, zuckte ich zusammen. Sofort zog sie die Hand wieder weg. Dabei war es nicht so, dass mich ihre Berührung störte. Sie fühlte sich viel zu verflucht gut an.

„Sehe ich so aus?“, fragte ich schroffer als beabsichtigt. „Wieso erschießt du mich nicht einfach? Dann hast du es hinter dir.“

Ich konnte förmlich spüren, wie mir ihr wütender Blick Löcher in den Kopf bohrte. „Hättest du das Licht angemacht wie ein normaler Mensch, hätte ich dich nicht geschlagen.“

Ich brachte noch genug Kraft auf, um den Kopf zu heben und sie stirnrunzelnd anzublicken, doch kaum sah ich, was sie anhatte, vergaß ich vollkommen, dass ich wütend war. Sie trug ein sehr großes weißes Shirt, auf dem vorn das Bild einer fetten orangefarbenen Katze mit einer Margarita in der Pfote prangte.

„Woher hast du die fette Katze?“, fragte ich und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

Sie blinzelte. „Was?“

„Ich glaube nicht, dass das mein Shirt ist.“ Ich stockte. „Oder?“

„Wahrscheinlich würdest du dir einiges von meinem Respekt verdienen, wenn es so wäre, aber nein. Ich hatte es mit einigen anderen Sachen im Schließfach auf dem Campus, und die habe ich heute geholt, während du weg warst.“

Irgendwas war doch bei mir nicht richtig, denn Sandra in ihren Dessous hatte mich kein bisschen erregt. Reds unförmiges Shirt tat es aber schon. Oder vielleicht lag es nur an ihr. Ich hatte mir eine lahme Ausrede ausdenken müssen, um bei Sandra abzuhauen, und am Ende den Abend mit Cameron verbracht und getrunken.

„Warum lächelst du jetzt? Mit deinem Kopf stimmt was nicht, oder?“

Lächelte ich? Das hatte ich gar nicht gemerkt. Ich legte die Wange auf den Boden, schloss die Augen und atmete ihren Duft ein. Ich konnte das Erdbeershampoo riechen, das sie benutzt hatte.

Und ich entschied, dass Erdbeeren von jetzt an mein Lieblingsobst sein würden.

Sie saß immer noch neben mir, nahe genug, dass ich nach ihr greifen und sie auf mich ziehen könnte. Etwas sagte mir, dass mir das einen Tritt in die Eier einbringen würde, also blieb ich, wo ich war, und inhalierte ihren Duft zufrieden.

„Es tut mir leid, Caleb“, murmelte sie nach einer Weile.

Mein Gott, diese Frau würde noch mein Tod sein! Mal fauchte sie mich an wie ein verwundeter Tiger, dann wieder war sie sanft und süß wie ein kleines Kätzchen.

„Schon gut, Red. Ich denke, ich habe noch ein paar Gliedmaßen übrig, die du misshandeln kannst. Aber bitte nicht mehr heute Nacht, einverstanden?“

Um des Effekts willen wackelte ich mit den Fingern und Füßen, doch es kam keine Reaktion von ihr.

Sie winkelte die Beine an, lehnte ihr Kinn auf ein Knie, und eine dunkle Haarsträhne fiel ihr in die Stirn. Ich hätte sie ihr zu gern hinters Ohr gestrichen.

„Wieso nennst du mich so? Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Mein Haar ist dunkel.“

Meine Lider wurden schwer, und ich wollte sie schon zufallen lassen, als ich ihre Zehennägel bemerkte. Sie waren in einem sexy Rot lackiert. Und sie fragte sich, warum ich sie „Red“ nannte?

„Weil du gestern Abend dieses scharfe rote Kleid anhattest. Und wegen deiner Lippen. Bei deinem Mund denke ich an … Nein, ich glaube nicht, dass du hören willst, woran ich denke.“

Sie ignorierte meine Bemerkung und stand auf.

„Es ist spät. Brauchst du Hilfe, um in dein Zimmer zu kommen?“ Es klang, als wollte sie ein Nein hören.

„Du weißt, dass ich nackt bin, oder?“ Ich blickte zu ihr auf, und sie starrte mich wütend an. „Dieses Handtuch, mit dem du meinen Hintern bedeckt hast, ist nicht groß genug, um das zu verhüllen, was vorn ist.“

Was hatte ich da gerade gesagt? Ich rechnete fest damit, dass sie erbost davonstampfen würde, doch sie überraschte mich dadurch, dass sie loslachte. Es war ein lautes, freches Lachen und so ungehemmt, dass ich grinsen musste. Ich wollte, dass sie weiterlachte. Allerdings war ich so fertig, dass mir nichts einfiel, womit ich sie wieder zum Lachen bringen könnte.

„Ich kann dir jederzeit einen Leichensack besorgen“, bot sie an. Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie grinste.

„Du bist unheimlich“, meinte ich.

„Nicht so unheimlich wie du.“

Ich schloss die Augen, immer noch idiotisch lächelnd. „Flirtest du jetzt mit mir, Red?“

Falls sie antwortete, verpasste ich es, denn das Nächste, was ich mitkriegte, war, wie ich zum Duft gebratenen Bacons aufwachte. Ich war nach wie vor auf dem Boden, doch sie hatte mir ein Kissen unter den Kopf geschoben und mich zugedeckt.

Groggy setzte ich mich auf und stellte fest, dass meine Sachen von gestern nicht mehr auf dem Boden verteilt lagen. Sie musste alles eingesammelt haben, während ich schlief. Ich ging in die Küche und entdeckte sie am Herd.

Wohlige Wärme breitete sich in meiner Brust aus. Sie machte Frühstück.

Für mich.

Ich musste mich daran erinnern, dass sie bloß ihren Teil des Deals erfüllte. Dennoch war ich glücklich darüber.

Ich lehnte mich an die Wand und genoss den Anblick. Es hatte etwas Süßes und Heimeliges, einem Mädchen zuzusehen, das einem Frühstück zubereitete. Die Gerüche, die Geräusche … das Mädchen.

Ihr Haar hatte sie zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden, aus dem sich einzelne Strähnen lösten und auf ihrem zarten Hals kräuselten. Die Eleganz und Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen erinnerten mich daran, was für eine fantastische Tänzerin sie war.

„Hallo, Fremde“, begrüßte ich sie, als sie sich umdrehte.

Sie quiekte erschrocken auf und ließ beinahe den Teller fallen.

„Bist du morgens immer so schreckhaft?“

Halbherzig lächelte sie. Vermutlich steckte hinter ihrer Reaktion mehr, als sie mir zeigen wollte, doch ich ließ es gut sein.

„Wieso ziehst du dich nicht an, dann kannst du frühstücken?“, schlug sie vor.

Ich bohrte meine Zunge in die Innenseite einer Wange. „Meinst du, mich ausziehen und dich zum Frühstück vernaschen?“

Manchmal fragte ich mich, ob meine Mutter mich als Säugling mal so hatte fallen lassen, dass ich auf dem Kopf gelandet war. Sogar ich selbst fand, dass ich mir den Mund öfter mit Seife auswaschen sollte, bei dem Dreck, der da rauskam. Doch Red musste sich allmählich an mich gewöhnen, denn sie schüttelte nur den Kopf.

Ich ging in mein Schlafzimmer, putzte mir die Zähne und stieg in meine Jeans. Als ich wieder zurückkam, balancierte sie zwei Teller auf einem Arm. Wie machte sie das bloß?

Während ich ihr zusah, wie sie fachmännisch die Teller auf den Tresen stellte, setzte ich mich hin.

„Drei von vier Fächern in deinem Kühlschrank sind voll mit Orangensaft“, bemerkte sie, wobei sie fragend die Brauen hochzog.

„Klar. Hast du erraten, dass ich das Zeug hasse? Wo hast du Kochen gelernt?“

Es verstrich ein Moment, ehe sie antwortete: „Als ich klein war, hatte meine Mom drei Jobs, also war ich oft allein. Ich musste entweder Kochen lernen oder für den Rest meines Lebens Erdnussbutterbrote essen.“

Ich dachte kurz nach. „Magst du Erdnussbutter?“

Etwas an ihrem Lächeln weckte eine Erinnerung, doch die war wieder fort, bevor ich sie einfangen konnte. „Mein Lieblingsessen.“

„Okay, ich besorge welche.“

„Das musst du nicht“, sagte sie sofort.

„Weiß ich.“ Und weil mir klar war, dass sie auch widersprechen würde, wenn ich behauptete, Gras sei grün, wechselte ich das Thema. „Hey, ich habe eine Idee, wie diese Mahlzeit richtig nett sein kann.“

Sie sah mich etwas skeptisch an, während sie mir ein Glas Orangensaft hinstellte.

„Kennst du diese französischen Zimmermädchen-Kostüme?“, fuhr ich fort und tat mir Eier, Bacon und Toast auf. „Kurzer schwarzer Rock, weiße Schürze, Spitzenhaarband? Natürlich brauchst du noch weiße Strümpfe und hohe Schuhe. Oui, Monsieur Lockhart, isch ole es Ihnön. Oui, Monsieur Lockhart, Sie säen eute fantastique aus. Fantastique.“

„Ich hätte da mal eine Frage“, begann sie, stand vor mir und stemmte die Hände in die Hüften. „Was genau willst du eigentlich mal werden, wenn du groß bist?“

Mit diesen Worten drehte sie sich um und rauschte davon.

Was hatte ich denn jetzt schon wieder angestellt?

Ratlos legte ich meine Gabel hin, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und rieb mir das Gesicht.

Ich wollte, dass sie mit mir frühstückt.

Ich wollte ihre Gesellschaft.

Was zum Teufel passierte mit mir?

Ich kam mir vor wie ein Hund, der um Aufmerksamkeit bettelte.

Ich war Caleb Lockhart. Ich bettelte nie um die Aufmerksamkeit eines Mädchens. Die Mädchen waren es, die sich um mich scharten und meine Gesellschaft wollten.

Mir wurde klar, dass ich verwöhnt und dieses Mädchen sehr, sehr anders war.

Wie es schien, ging mein Wunsch doch noch in Erfüllung.

Veronica

Mein Herz pochte wie verrückt, als ich die Zimmertür hinter mir abschloss. Die Hand noch am Türknauf, presste ich die Stirn gegen das Holz und senkte die Lider.

Musste Caleb die ganze Zeit halb nackt herumlaufen?

Der Typ war ein wandelndes Werbeplakat. Und es war schwer vorzutäuschen, dass er keinerlei Wirkung auf mich hatte. Früher oder später würde er mich durchschauen.

Caleb umgab eine Aura entspannten Selbstvertrauens. Er war sich seiner Wirkung auf das weibliche Geschlecht allzu bewusst und fühlte sich sehr wohl damit. Er war genau der Typ Mann, von dem ich mich normalerweise fernhielt.

Was für eine Ironie des Schicksals, dass ich neuerdings mit ihm unter einem Dach wohnte!

Ich stemmte mich von der Tür ab und schaute auf meine Uhr. Die Campus-Bibliothek öffnete jetzt. Ich wollte dort den Computer benutzen, um mich online für Jobs zu bewerben und meinen Lebenslauf auszudrucken, damit ich ihn an so viele Firmen in der Innenstadt wie möglich schicken konnte. Das hatte ich bereits einige Male getan, leider erfolglos, doch ich musste es weiter versuchen.

Die Wirtschaft in Green Pine, Manitoba, hatte sich noch nicht ganz von der Rezession erholt. Es war schwerer denn je, Jobs zu finden, vor allem solche, die sich nicht mit meinen Seminaren überschnitten. Inzwischen wusste ich nicht mal mehr, ob ich es mir leisten könnte, mein Studium zu beenden.

Vielleicht wurde es Zeit, dass ich in eine andere Gegend zog, wo es reichlich Arbeitsstellen gab, doch ich mochte die Seenlandschaft von Manitoba so sehr, schätzte die freundliche Atmosphäre kleiner Städte, die Vielzahl an unterschiedlichen Kulturen und Gebräuchen. Außerdem war es ja nicht so, als könnte ich mir schon wieder einen Umzug leisten.

Wo ich wohl wäre, wenn Caleb mir nicht angeboten hätte, bei ihm zu wohnen? Ich schuldete ihm einiges, und ich würde einen Weg finden, es wiedergutzumachen. Irgendwie.

Ich sammelte meine Bücher zusammen und öffnete die Nachtischschublade, um sie dort zu verstauen.

Unwillkürlich schrie ich auf. Die Schublade war zum Bersten voll mit Kondomen!

Gütiger Himmel! War das hier etwa das Zimmer, in dem Lockhart mit seinen Groupies schlief? Ich konnte nur hoffen, dass er die Bettwäsche gewechselt hatte. Und wenn nicht? Iiih! Eilig zog ich das Bettzeug ab und nahm mir vor, es später zu waschen. Vielleicht sollte ich gleich das ganze Zimmer desinfizieren.

Dann duschte ich und machte mich fertig für den Tag. Mein Haar war noch feucht, als ich das Zimmer verließ und mit einem sehr festen und nassen Körper kollidierte.

„Aua!“, schrie ich und rieb mir die Stirn.

„Hey, Red.“

Ich blickte auf und war sprachlos.

Caleb hatte mal wieder einen nackten Oberkörper, und seine unglaublich muskulöse Brust glänzte vor Schweiß. Mit den Händen hielt er die Enden eines weißen Handtuchs, das um seinen Nacken hing. Er hatte Pflaster an den Fingern, und ich konnte Abschürfungen an seinen Händen sehen.

Trainierte er jeden Tag?

„Willst du irgendwohin?“, fragte er. Seine grünen Augen blitzten, als hätte er etwas vor.

Ich räusperte mich, nickte und weigerte mich, tiefer als bis zu seinem Hals zu sehen. „Arbeiten.“

„Ah, verstehe.“ Er schwieg kurz. „Immerzu ernst.“

Die Hitze, die sein Körper ausstrahlte, machte mir zu schaffen. Sehr sogar. Und die Art, wie er mich anschaute, half nicht wirklich. Ich trat einen Schritt zurück.

Da war ein herausforderndes Funkeln in seinem Blick, als er fragte: „Willst du mal was sehen?“

Misstrauisch schaute ich ihn an. „Eigentlich nicht.“

Sein Lächeln wurde breiter, dann streckte er die Arme zu beiden Seiten weg und spannte seine eindrucksvollen Bizepse an. Die Linien und Wölbungen seiner Muskeln waren fest, seine Haut war gebräunt und straff.

„Pass mal auf.“ Mit noch so einem Grinsen drehte er sich zur Seite, sodass ich freien Blick auf seinen Po hatte. Der war ohne Frage rund und knackig und … Dies hier lief definitiv aus dem Ruder.

„Achte auf meinen Hintern“, sagte er augenzwinkernd. „Ich lasse ihn tanzen, nur für dich. Pass gut auf. Den besten Teil habe ich dir noch gar nicht gezeigt.“

Er fing an, seine Brustmuskeln zu bewegen. Es sah aus, als wären da kleine Käfer unter seiner Haut. Im Grunde unheimlich. Ich fing so heftig an zu lachen, dass ich mir die Arme um den Bauch schlingen musste. Der Typ war verrückt!

„Was meinst du, Kleines? Ich hab’s doch, hmm? Ich hab’s echt richtig drauf.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das Einzige, was du für dich als Pluspunkt aufführen kannst, ist, dass dich noch keiner für den Zoo ausgesucht hat. Dein Gehege wartet schon. Sicher kannst du dich da dann unter deiner Spezies chic zur Schau stellen.“

Er klimperte mit den Wimpern. „Du würdest bezahlen, um mich zu sehen. Gib’s zu. Na los, Red!“ Plötzlich wurde er ernst und fragte mich mit leiser, tiefer Stimme: „Willst du einen Striptease?“

Wir zuckten beide zusammen, als seine Gegensprechanlage laut summte.

Er rieb sich übers Gesicht und murmelte: „Verflucht! Ich hatte vergessen, dass ich heute mit meiner Mutter zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung muss. Kannst du dich bitte ein paar Minuten in deinem Zimmer verstecken? Und sei bitte richtig, richtig still.“

„Angst vor deiner Mommy?“

„Na, und ob! Es könnte auch komisch werden zu erklären, warum du hier bei mir wohnst. Gib mir nur einige Minuten. Eine halbe Stunde höchstens, dann kannst du weg.“

Wenn seine Mom nicht wollte, dass ich hier bei ihm war, sollte ich mir lieber so schnell wie möglich eine andere Bleibe suchen. Ich musste noch heute einen Job finden.

Mir entfuhr ein frustrierter Seufzer. „Ich muss weg, Caleb. Ich habe heute eine Menge zu erledigen. Und ich kann sagen, dass ich die Putzhilfe bin.“

„Nein! Du hast ja nicht mal einen Besen bei dir. Vertrau mir, ich werde sie so schnell los, wie ich kann. Dann kannst du los.“

„Na gut.“

Ich lauschte auf die Geräusche vor der Tür und hörte die sanfte Stimme einer älteren Frau, gefolgt von Calebs tieferer. Zwanzig Minuten später wurde leise an meine Tür geklopft.

Vorsichtig blieb ich, wo ich war, und wartete. Langsam öffnete sich die Tür. „Red?“

Ich ging hin, blieb allerdings hinter der Tür. „Ich bin hier“, murmelte ich.

„Ich muss weg. Also … bis heute Abend?“

Wir standen auf beiden Seiten der Tür und flüsterten wie Kinder, die ein gemeinsames Geheimnis hatten.

„Klar“, antwortete ich.

„Wirst du mich vermissen?“

Ich stockte. „Sicher doch, Caleb.“

Er räusperte sich. „Bis später, Red“, sagte er leise und machte die Tür zu.

„Bis später, Caleb“, flüsterte ich ins Nichts.

3. Kapitel

Veronica

Den Rest des Vormittags verbrachte ich in der Bibliothek damit, mich online für Jobs zu bewerben, meinen Lebenslauf auszudrucken und eine Liste von Firmen anzulegen, bei denen ich mich vorstellen wollte.

Bewaffnet mit Kopien meines Lebenslaufs, zog ich von einem Laden in der Innnenstadt zum nächsten.

Vier Stunden war ich allein zu Fuß unterwegs, füllte Formulare und Fragebögen aus. Ich war erschöpft, hungrig und entmutigt, weil ich ohne Ende „Tut mir leid, aber wir haben zurzeit keine Jobs“ oder „Wir melden uns bei Ihnen“ gehört hatte.

Die Pancakes, die ich zum Frühstück gegessen hatte, waren schon seit Stunden verdaut. Ich hätte zwischendurch etwas essen sollen, wollte aber das letzte Geld, das ich noch hatte, nicht für Essen vergeuden. Ich konnte warten, bis ich wieder bei Caleb war.

Ich seufzte und fiel fast hin, als sich die Sohle meines Schuhs endgültig auflöste.

Vollkommen geschafft starrte ich zu der klaffenden Lücke unter meinem Fuß. Meine Kehle wurde eng, und mich überkam der dringende Wunsch, den Witz, zu dem mein Leben geworden war, mit einem Lachen zu quittieren.

Es wäre auch zum Schreien komisch, wäre der alte, aufgetragene Schuh nicht der letzte Strohhalm gewesen, an den ich mich klammerte.

Solange Mom noch lebte, schafften wir es knapp, uns mit dem, was wir beide verdienten, über Wasser zu halten. Doch als es ihr immer schlechter ging und sie nicht mehr arbeiten konnte, war ich gezwungen, zusätzlich zu meinem Studienkredit noch ein Darlehen aufzunehmen, damit wir unser Dach über dem Kopf behielten.

Am Ende musste sie ins Krankenhaus, und ich beschloss, mir ein Zimmer in einem Haus mit fünf anderen Leuten zu mieten, um Geld zu sparen. Da war es alles andere als sicher, weshalb ich anfing, ständig ein Taschenmesser bei mir zu tragen und meine Wertsachen im Schließfach am College zu verwahren.

Nach Moms Tod sparte ich so viel, wie ich konnte, und zog in ein Apartment nahe dem College, an dem ich ein zweijähriges Kochstudium absolvierte.

Die Einzimmerwohnung war so groß wie eine Briefmarke, die Möbel waren gebraucht und alt, und die Gegend war fies.

Aber es war meine Wohnung.

Alles darin hatte ich mit meinem erarbeiteten Geld bezahlt. Ich hatte meine Privatsphäre und musste das Bad mit niemandem teilen, nicht den Dreck von jemand anderem wegputzen, nicht mehr jede Nacht fürchten, jemand würde meine Sachen stehlen oder … Schlimmeres.

Doch all das war jetzt vorbei.

Das Tanzstudio, in dem ich seit der Highschool gejobbt hatte, musste wegen Insolvenz schließen, sodass auf einmal ein Großteil meines Verdienstes weg war. Ich hatte noch einen Teilzeitjob als Kellnerin in einem kleinen Restaurant, aber mit den wenigen Stunden dort reichte es nicht mehr, um meine Kosten zu decken. Als mein Vermieter mich rauswarf, weil ich mit zwei Monatsmieten im Rückstand war, zerbrach etwas in mir.

Dann begegnete ich Caleb, und jetzt war ich hier.

In richtig bitteren Zeiten fiel Mom immer irgendwas ein, was sie sagen konnte, um uns aufzumuntern. Als sie im Krankenhaus dahinsiechte, drückte sie meine Hand mit ihrer schon so schwachen und sagte: „Alles, was in deinem Leben geschieht, bereitet dich auf die Zukunft vor, Veronica. Eisen muss durch Feuer gehen, um zu schmelzen und zu einem Schwert zu werden. Sei stark, denn dies hier ist nur eine Prüfung. Du wirst geschmolzen und zu einem stärkeren Menschen geformt. Das Brennen des Feuers wird vergehen, und du wirst zur Ruhe kommen. Gib nicht auf, Schatz.“

Ich schloss die Augen, atmete tief ein und nahm mir einen Moment, um mich wieder zu fangen. Das Leben hatte mich gelehrt, dass es auf niemanden wartete. Ich musste weitermachen. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, war ich bereit, den Tag in Angriff zu nehmen.

Es war spät, als ich wieder in Calebs Wohnung zurückkehrte. Ich war erschöpft, hatte jedoch ein riesiges Grinsen im Gesicht. Es war ein sehr produktiver Tag gewesen.

Ich öffnete den Kühlschrank und überlegte, ob ich Calebs Abendessen fertig haben könnte, ehe er zurück war, und danach im Gästezimmer verschwinden könnte, bevor er mich sah.

Die Höflichkeit verlangte, dass ich ihn über meinen Stundenplan informierte, anstatt einfach zu kommen und zu gehen, wie ich wollte. Deshalb notierte ich meine Termine auf einem Post-it und klebte den Zettel an den Kühlschrank.

Als ich hörte, wie die Wohnungstür aufging, stöhnte ich frustriert.

Leise schlich ich ins Wohnzimmer, wobei ich mit einer Hand das Taschenmesser umklammerte, das ich immer bei mir trug – für den Fall, dass jemand anders als Caleb gerade in die Wohnung eingedrungen war. Vorsicht war besser als Nachsicht.

„Red?“

Sowie ich Calebs Stimme hörte, atmete ich erleichtert aus. Er lag ausgestreckt auf der Couch, die Fernbedienung in der Hand, und zappte sich durch die Kanäle. Seine schwarzen Lederschuhe und die Smokingjacke hatte er auf dem Fußboden verteilt. Ich schenkte mir das betrübte Seufzen. Es schien eine lästige Angewohnheit von ihm zu sein. Eine von vielen.

Ich stand hinter ihm und bewunderte, wie der Bronzeton seines Haars im Licht glitzerte.

„Was gibt es zum Abendessen?“ Er legte die Füße auf den Couchtisch.

„Ich komme gerade erst von der Arbeit. Aber ich kann dir jetzt etwas kochen, wenn du willst.“

Er schaute über seine Schulter zu mir hin. Falls mein Herz aussetzte, war das eine völlig normale und gesunde Reaktion auf den Anblick eines wunderschönen Gesichts. Es hatte nichts zu bedeuten.

„Versuchst du jetzt schon, dich aus dem Deal zu mogeln?“, fragte er und blickte wieder zum Fernseher.

Beleidigt stemmte ich die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. „Sofern du keine Orangensaftsuppe mit Pop-Tarts-Einlage willst, musst du mir schon ein paar Minuten geben. Es dauert nicht lange. Außerdem haben wir keine Lebensmittel im Haus.“

Er legte den Nacken auf die Rückenlehne der Couch und streckte den Hals so weit nach hinten, bis er mich kopfüber angucken konnte. „So kriege ich Nackenschmerzen. Warum kommst du nicht rum, damit wir wie normale Menschen reden können? Es sei denn, du willst das hier auf animalische Art klären. Damit hätte ich auch kein Problem.“

Ich kniff die Augen zusammen.

Er seufzte. Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte er sich um, stieg über die Couchlehne und hockte sich drauf. Seine Beine waren so lang, dass er mit beiden Füßen fest auf dem Boden stand, und er musterte mich amüsiert. „Mir ist langweilig“, verkündete er.

Ich zog die Augenbrauen hoch. Erwartete er etwa, dass ich ihn unterhielt?

„Und?“

„Du schuldest mir ein Abendessen.“

„Ich habe doch gesagt …“

Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er seine rote Krawatte lockerte. „Du kannst mich auch anders bezahlen.“

Mir klappte die Kinnlade runter und ich starrte ihn fassungslos an.

Er lachte. „Warum hast du eigentlich immer so dreckige Gedanken?“

Ich blinzelte einmal. Zweimal. Meine Gedanken waren dreckig?

Er stemmte sich von der Couch ab, schlüpfte in seine Schuhe, schnappte sich seine Schlüssel und einen Helm vom Couchtisch und lief an mir vorbei. Ich dachte, er wollte verschwinden, spürte aber plötzlich, wie seine Hand mein Handgelenk umfing und er mich mit zur Tür zog.

„Oh, echt jetzt, was soll das denn, wohin willst du mich zerren?“

Er war groß, sodass ich bei jedem seiner Schritte zwei machen musste, um mitzuhalten.

Er drückte den Fahrstuhlknopf. „Auf meine Maschine.“

„Deine Maschine?“

Er fing an zu lachen, während er mich in den Fahrstuhl bugsierte. „Mir ist noch kein Mädchen begegnet, das mir so die Worte im Mund verdreht wie du. Du hast eine schmutzige Fantasie, Red.“

„Wie bitte? Ich soll eine schmutzige Fantasie haben?“, platzte ich empört heraus.

Die Türen öffneten sich, und er zog mich in die Tiefgarage.

„Meine Maschine.“ Er drückte seine Zungenspitze innen an die Wange. „Mein Motorrad.“

Ich riss meinen Arm los und rieb das Handgelenk an meiner Jeans. Seine Haut war heiß und weckte die seltsamsten Gefühle in mir.

Caleb blieb stehen und blickte sich zu mir um. „Gibt’s ein Problem?“

„Es ist Sonntagabend. Hast du morgen keine Seminare?“