Du bist morgen tot - Marina Scheske - E-Book

Du bist morgen tot E-Book

Marina Scheske

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Beschreibung

Der Notstand der Altenpflege ist zur Zeit ein heißes Thema in den Medien und wird gern von Politikern in den Mund genommen. Wer aber kennt sich in der Materie aus? Wohl kaum jemand. Ein tiefer Einblick in eine ungewohnte Welt tut sich auf: Schauplatz ist ein Hamburger Pflegeheim, ein gutes Durchschnittsheim, gemessen an den Qualitätsstandarts. Den Preis dafür zahlen die Pflegekräfte. Ohnehin schon physisch und psychisch enorm belastet, gehen sie täglich bis an ihre Grenzen, um den chronischen Personalmangel auszugleichen. Ein zentrales Thema des Romans sind die persönlichen Beziehungen zwischen Bewohnern und Pflegekräften als wichtigstes Element einer menschenwürdigen Pflege. Obwohl dafür im erbärmlichen deutschen Pflegesystem keine Zeit ist, so sind sie doch da und werden gelebt. So auch in der Begegnung zwischen Britta Wiese und der Bewohnerin Frau Knoll, die schließlich zu einer äußerst dramatischen Situation führt. Die Handlung spielt im Jahre 2005. Detailgetreu schildert die Autorin den Pflegealltag so, wie sie ihn als Fachkraft erlebt hat. Jedoch was vor dreizehn Jahren mit viel Engagement noch möglich war, ist heute nicht mehr machbar. Wir erleben in dieser Geschichte den Beginn einer Entwicklung, in der die Pflege, ein uraltes Kulturgut, zu einer Ware degradiert wurde. Pflegekräfte wurden in den letzten Jahren gnadenlos verheizt, warfen das Handtuch oder sind nun chronisch krank. Wer hat je nach ihren Gefühlen und Empfindungen gefragt? Dies ist eine weitere Facette des Romans.

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Marina Scheske

Du bist morgen tot

Marina Scheske

Du bist morgen tot

swb media entertainment

Die Handlung und die handelnden Personen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden und bereits verstorbenen Personen ist zufällig.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die über die

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes hinausgeht, ist unzulässig und strafbar.

Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Speicherung in elektronischen Systemen.

Veröffentlicht im Südwestbuch Verlag, einem Unternehmen der

SWB Media Entertainment Jürgen Wagner, Waiblingen, Februar 2019

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-946686-73-6

© 2019 swb media entertainment, Gewerbestraße 2, 71332 Waiblingen

Titelgestaltung: Dieter Borrmann, Kleve

Satz: swb media entertainment

Druck, Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz

Für den Druck des Buches wurde chlor- und säurefreies Papier verwendet.

www.suedwestbuch.de

INHALTSVERZEICHNIS

Kapitel 1Johann

Kapitel 2Britta

Kapitel 3Johann und Britta

Kapitel 4Brittas Mutter

Kapitel 5Das fremde Leben

Kapitel 6Unruhige Zeiten

Kapitel 7Die letzte Reise

Kapitel 8Biografie

Kapitel 9Du bist morgen tot

Kapitel 10Heilig Abend

Kapitel 11Krankheit und Heilung

Kapitel 12Drei Jahre später

1. KAPITELJOHANN

Britta schwang ihre langen Beine ins Auto und schlug temperamentvoll die Tür zu. Johann zuckte zusammen. „Das ist kein Trabbi“, knurrte er ärgerlich, „wann lernst du endlich, wie man eine Autotür schließt.“

„Deine Eltern stehen am Fenster, mach schön winke, winke.“

„Zu spät, die sehen uns nicht mehr! Gib mir mal einen Kaugummi.“

„Aber nur, wenn du mich lieb darum bittest.“

„Bitte, Brittababy.“

Er spürte ihre weichen Fingerkuppen auf seinen Lippen. Wortlos schob sie ihm den Kaugummi in den Mund, ihre Hände rochen nach Nivea.

„Mach die Sonnenblende runter, Joe! Du siehst ja nichts. Wir fahren direkt in den Sonnenuntergang. Ach, wie ich das liebe, immer der Sonne entgegen.“ Ihre Stimme klang gekünstelt und auf eine seltsame Art euphorisch. Auch ihr Lächeln erschien ihm irgendwie falsch.

Sie ist eine ganz andere Frau geworden, dachte er. Das ist nicht mehr meine alte Britta. Klar, die knallte auch mit den Türen und war frech wie Oskar. Aber diese Britta jetzt, die ist nicht echt ... Egal, sie ist hier bei mir, sie sitzt in meinem Auto, nur das zählt.

Und doch habe ich sie verloren. Aus, vorbei, so viele Jahre schon. Ich bin nie darüber hinweggekommen.

Nach wenigen Minuten hatten sie die Stadtgrenze erreicht. Den kleinen, brandenburgischen Ort an der Oder ließ man schnell hinter sich. Er machte nicht besonders viel her, er war eher das, was man als „Kaff“ bezeichnet. Für Britta und Johann jedoch war dieser Ort Heimat. Hier waren sie aufgewachsen und hatten gemeinsam den Kindergarten und die Schule besucht. Britta und Johann, eine Sandkastenliebe.

Ach, wie ist das schön, dachte so mancher, als sie dann wirklich und wahrhaftig heirateten. Schön war es nur ein Jahr lang. Bis zum Tag der großen Katastrophe, wie Johann es in stillen Momenten nannte, wenn die Erinnerungen in ihm aufstiegen. Britta brachte ein totes Kind zur Welt. Ein Mädchen, das er nur ein einziges Mal gesehen hatte.

Er schaute auf das kleine, blasse Gesicht, dann wandte er sich ab, verließ den sterilen Krankenhausraum und lief, als würde er um sein Leben rennen. Er kam erst wieder zu sich auf einer Bank am Ufer des Flusses.

Der Tag war grau. Wolkenfetzen hingen wie schmutzige Segel über dem Wasser und am Stamm einer Trauerweide klebte seine Kotze. Alles, was er in jener Stunde am Ufer des Flusses hörte und sah, grub sich tief in ihm ein. Der Schrei eines Vogels, die Melodien des Leierkastenmannes auf dem nahen Wochenmarkt, das Signal eines vorbeifahrenden Krankenwagens und der Blick einer alten Frau. Sie trug ein Netz mit Kartoffeln in der Hand ... All das war nun für ewige Zeiten mit jenem Seelenfilm verknüpft, dessen Titel lautete: „Unser Kind kam tot zur Welt“.

Danach wurde es nie wieder so wie vorher. Das Kind war gegangen und hatte Johanns und Brittas Kindheit mitgenommen. Das Kind hatte ihnen alles genommen, was sie je gemeinsam gehabt hatten. Diese Erkenntnis traf sie wie ein Stich ins Herz. Sie konnten die Leere nicht füllen, dazu fehlte die Kraft, und so trennten sie sich. Es war eine Flucht nach vorn, eine Flucht ins unbekannte Leben. Britta machte ihr Examen in der Krankenpflege und Johann schraubte an Autos herum. Nach der Wende wurde er Polizist.

Nun aber saßen sie wieder zusammen in einem Auto und fuhren gen Westen.

Johann schaute hinüber zu Britta. Sie lehnte den Kopf zurück, ihre Augen waren geschlossen und um ihren Mund spielte ein kleines Lächeln.

„He! Schläfst du?“

„Du weißt doch, dass ich im Auto nicht schlafen kann.“

„Woran denkst du?“

„Heute wäre unser zwanzigster Hochzeitstag gewesen, auf den Tag genau. Hast du es vergessen?“

„Nee. Na ja, doch ... eigentlich schon. Tut mir leid.“

Mein Gott, bin ich blöd, dachte er. So wird das nie was. Ich Volltrottel.

„Entspann dich, Joe. Falls du dich nicht mehr daran erinnern kannst, wir sind seit neunzehn Jahren geschieden. Jetzt kommt gleich eine Raststätte, ich muss mal.“

„Kannst du das nicht eher sagen! Nun bin ich vorbei.“

„Keine Angst, ich mach mir nicht ins Höschen. Die nächste ist nur zwanzig Kilometer weiter. Hast du Hunger? Meine Mutter hat uns Kuchen eingepackt.“

„Vom Kuchen deiner Mutter bekomme ich immer Sodbrennen. Ich habe eine bessere Idee, ich lade dich zum Essen ein ... Hochzeitstag und so.“

„Echt? An der Raststätte?“

„Nein! Mensch, Britta, traust du mir das zu? Also weißt du!

Zu Hause natürlich. Da ist doch dieser Grieche bei dir an der Ecke. Der ist lecker.“

„Der Grieche oder sein Essen? Stopp, Raststätte! Halt an.“

„Warum musst du immer so schreien? Du machst mich ganz nervös.“

„Reg dich ab, ist nichts passiert. Ist das voll hier, hoffentlich kriegen wir noch einen Parkplatz. Guck mal, die wollen alle nach Hamburg. Jede Menge arme Malocher.“

„Wir doch auch. Alles Brandenburger, Mecklenburger und Polen. Mein Gott, die reinste Invasion. Und was ist nun mit dem Griechen? Hast du Lust?“

Britta zuckte mit den Achseln und ihn befiel das unbehagliche Gefühl, vielleicht ein wenig zu weit vorgeprescht zu sein. Zwar hatte er gehört, dass sie zurzeit allein war und auch selten ausging, aber man weiß ja nie.

„In Ordnung“, sagte sie und lächelt breit. Er sah, dass ihre Augen nicht lächelten, nur ihr rot geschminkter Mund täuschte ein Lächeln vor. „Warum nicht. Morgen habe ich Spätdienst. Ich gehe schnell für kleine Mädchen und dann spendiere ich dir einen Kaffee. Bis gleich, Joe.“

„Gut“, murmelte er. Ihre Lippen streiften leicht seine Wange.

Ihr Parfüm roch frisch wie ein Frühlingsregen.

Britta war eine schlanke, attraktive, dunkelhaarige Frau. Sie bewegte sich, als würde sie über einen Laufsteg gehen. Männer schauten ihr nach, sie bemerkte es nicht.

Auch Johann schaute ihr nach. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und sein Blick fiel direkt auf ihren kleinen, festen Po.

Britta warf ihre langen Haare nach hinten und ging durch die Drehtür. Sie trug hautenge, dunkle Jeans und rote Pumps. Johann grinste, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sein Blick ging in Richtung Westen. Eine satte, rote Sonne stand tief über dem Horizont.

Gleich sackt sie weg, dachte er. Mal sehen, was die Nacht bringt. Sie nennt mich wieder Joe. So nannte sie mich damals, als wir uns zum ersten Mal geküsst hatten. Abschlussball, zehnte Klasse. Sie trug ein erdbeerfarbenes Kleid und ich nannte sie Schneewittchen. Aber seitdem ist viel passiert.

Am Sonntagabend saß kein Mensch beim Griechen. Nur Britta. Er sah sie schon, als er den Zebrastreifen überquerte und dabei direkt in das Lokal blicken konnte. Sein Herz machte einen Satz. Britta rauchte und trank aus einem Wasserglas. Im Lokal war es dunkel, nur ihr Kleid leuchtete rot im Schein einer Tischlampe. Es schien ihm, als hätte Britta ein Stück von der untergehenden Sonne mitgenommen. Ihr Haar war zu einer verwegenen Hochfrisur aufgetürmt. Wie hat sie das nur so schnell geschafft? Sicher mit mindestens einer halben Dose Haarspray, dachte er. Ob sie das immer noch macht?

Er erinnerte sich an das vernebelte Bad ihrer glücklichen Achtzigerjahre und dachte an seine Prophezeiung, dass sie im Jahre 2005, in ihrem vierzigsten Lebensjahr, sicher kein Haar mehr auf dem Kopf haben würde.

Wir haben jetzt 2005, dachte er, und sie hat noch jede Menge Haare und ist so was von sexy. Er ging möglichst geräuschlos durch die Tür, still stand er da und schaute zu ihr hinüber.

Doch dann kam Spiros um die Ecke und störte mit seinem üblichen Gedöns den Zauber des Moments. Es gab wohl kaum einen Wirt im Hamburger Westen, der so indiskret sein konnte wie er. Spiros sprach nicht, er trompetete.

„Johann, mein Freund! ... Rendezvous! ... Schöne Frau! ... Bester Platz. Ich komme sofort.“

„Ist gut, Spiros“, murmelte Johann und befreite sich geschickt aus seinem Händedruck. Britta hielt sich lachend die Hand vor den Mund und als er sich ihrem Tisch näherte, da spürte er, dass sein Gesicht jetzt mindestens genauso rot war wie ihr Kleid.

Spiros Küche glänzte fürwahr nicht mit kulinarischen Highlights, auch wenn Johann sie lecker fand, weil er ein genügsamer Mensch war. Es gab bei ihm den üblichen Krautsalat mit der unvermeidlichen scharfen Peperoni oben drauf und danach das Hauptgericht. Fleisch, Fleisch, Fleisch mit fetter Soße, dazu Pommes und Reis, griechische Musik aus der Konserve und hinterher einen lauwarmen Anisschnaps als Absacker.

Sie bestellten die Akropolis-Platte, die vom grinsenden Spiros verdächtig schnell serviert wurde. Dazu Alsterwasser.

„Bestimmt hat er sie in der Mikrowelle aufgewärmt“, murmelte Johann und ärgerte sich. Schweigend kämpften sie sich durch die reichhaltigen, scharf gewürzten Fleischberge und zermatschten die Pommes im Tsatsiki.

„Probiere mal die Leber“, meinte Johann, „die ist wirklich gut, schön zart. Warst du schon mal in Griechenland?“

Britta schüttelte den Kopf.

„Ich auch nicht, aber meine Eltern. Danach hatten sie Salmonellen. Aber die kannst du überall kriegen.“

Angewidert schob sie ihren Teller zur Seite.

„Tut mir leid, Britta, jetzt habe ich dir das Essen verekelt.“

„Macht nichts. Hast du früher ja auch gern gemacht. In der Schulspeisung. Tote Oma und so.“

„Britta, bitte! Nicht böse sein! Willst du noch ein Eis? Oder einen Espresso?“

„Der schmeckt doch nicht und ist hier viel zu teuer. Komm doch noch mit zu mir. Ich mach uns einen Kaffee, türkisch, wie früher. Und Eis habe ich auch da.“

„Na klar, aber gern.“

Johann mied ihren Blick und ging zum Tresen, um mit fliegenden Händen zu zahlen. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Spiros kam breit grinsend an den Tisch, um die Teller abzuräumen.

„Halt!“, rief Britta, „das Fleisch packen Sie mir mal bitte ein. Für meinen Hund.“

„Du hast einen Hund? Das wusste ich ja gar nicht.“

Sie standen draußen vor dem Lokal. Es nieselte ein bisschen und ein leichter Wind kam auf. So richtiges Hamburger Schietwetter.

„Quatsch! Für einen Hund habe ich doch gar keine Zeit.“

Britta schnupperte an den in Folie eingewickelten Resten.

„Riecht gut, besser als es schmeckt. Da mache ich Buletten draus. Ich zerhacke das einfach im Multi-Boy und werte es geschmacklich noch ein bisschen auf. Mit Paprika, Senf und ordentlich viel Majoran und Thymian. Und dann alles noch mal durchbraten.“

„Sag bloß, du hast noch einen Multi-Boy.“

„Na klar. Für den habe ich mich damals zwei Stunden im Warenhaus angestellt. Ich bekam den Allerletzten! Ich kann ihn doch nicht einfach wegwerfen.“

„Britta! Du alter Ossi.”

Lachend liefen sie die wenigen Schritte bis zu ihrer Wohnung. Britta wohnte in einer kleinen Mansarde mit vielen schrägen Wänden. Bevor das Flurlicht anging, stieß Johann sich den Kopf an einem Pfeiler.

Er rieb sich die schmerzende Stelle und sagte: „Ich schätze mal, das ist die Wohnung der sieben Zwerge. Wo hast du sie versteckt, Schneewittchen?“

Sie lächelte wortlos, während sie ihm die Jacke abnahm. Nun sah er wieder das herzliche Lächeln seiner alten Britta.

„Dafür wohne ich aber in Blankenese“, sagte sie und es klang sehr vornehm. Dabei blähte sie ihre Nüstern und reckte den Hals wie ein rassiges Pferd auf der Rennbahn.

„Ja, ja, ich weiß, Britta, und sündteuer vor allem. Wieso ziehst du nicht auch nach Osdorf? Ich wohne da gut und preiswert.“

„Nee! Im Block habe ich lange genug gewohnt. Ich fühle mich hier sehr wohl. Keine Schmierereien an den Wänden, kein Müll im Hausflur und keine Biertrinker vorm Kiosk. Und in fünf Minuten bin ich unten an der Elbe. Das hier ist mein Zuhause geworden, Johann! Aber nun setz dich doch, ich mache gleich den Kaffee.“

Johann nahm auf der Couch Platz und schaute sich um. Das Zimmer mit den schrägen Wänden erschien ihm recht groß. Es wirkte sehr aufgeräumt und war ganz in hellen Farben gehalten, die eigentlich keine Farben waren, sondern Nuancen zwischen beige und weiß. Der einzige Kontrast im Raum war Britta selbst. Sie stand vor der weißen Küchenzeile und ihr rotes Kleid leuchtete wie eine Mohnblume. Eine Mohnblume, die ihre Wiese verloren und sich im Haus der sieben Zwerge verirrt hatte.

Johann sah zu, wie Britta ihre Pumps von den Füßen kickte und den Wasserkocher füllte. Dann holte sie Tassen und kleine Schälchen aus dem Schrank, klapperte mit den Löffeln und tauchte kopfüber in den Kühlschrank ein. An der rechten Wade hatte sie genau in der Mitte eine Laufmasche. Das erinnerte ihn an eine Faschingsfeier vor sehr langer Zeit. Britta trug Netzstrümpfe mit Naht. Die Hauptbeschäftigung jenes Abends bestand für ihn darin, eifersüchtig darüber zu wachen, dass kein anderer mit ihr flirtete.

Johann seufzte verhalten. Als sie wieder auftauchte, hielt sie einen großen Pack Aldi-Eis in der Hand. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und Britta pustete sie weg, so wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte. Johann schluckte und räusperte sich, obwohl da nichts in seinem Hals war, was er herunterschlucken musste.

„Vanilleeis? Mit Apfelmus und Sahne? Schwedisch, das hast du doch immer gemocht.“

Er erinnerte sich an die alte Milchbar ihrer Jugend. Er nickte schweigend und dachte, hier sitzen und zuschauen, wie sie den Kaffee aufbrüht, das ist wie Weihnachten. Was habe ich nur die ganzen Jahre ohne sie gemacht. Ich hätte um sie kämpfen müssen, damals ... Jetzt hat sie bestimmt gerade diesen Silberblick, den sie immer hat, wenn sie auf etwas starrt. Am liebsten würde ich aufstehen und nachsehen. Und dann? Sie einfach in den Arm nehmen und küssen? Ich kann das nicht, ich trau mich nicht, ich bin so ein Feigling. Vielleicht ist sie ja doch noch mit diesem Ralf zusammen. Eigentlich weiß ich gar nichts von ihr. Sie erzählt ja nichts über sich.

„Ich mach mal die Stehlampe an, du siehst ja nichts.“

„Ich sehe alles.“

Das Licht flammte auf und er schaute direkt auf Brittas leuchtend rotes Kleid. Verlegen räusperte er sich, setzte sich gerade hin und nahm ihr blinzelnd den Becher ab. Nachdem er den Kaffee umgerührt hatte, pustete er in die Tasse und probierte einen vorsichtigen Schluck. Es schmeckte scheußlich. Ihre Blicke begegneten sich.

„Der ist gut“, heuchelte er. Unmöglich, ihr zu sagen, dass er sich an gefilterten Kaffee gewöhnt hatte, auch hin und wieder in eines der modernen Cafés ging, wo man mit den neuesten Maschinen ein köstliches Gebräu erzeugte. Es wäre wie Verrat gewesen, Verrat an ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Also trank er tapfer den „Türken“ aus und löffelte dazu das Vanilleeis mit Apfelmus und Sahne. Das Eis schmeckte ihm und auf diese Weise löste sich der Kaffeegrund in seinem Munde auf.

Johann gab sich einen inneren Ruck. „Und sonst?“, fragte er, „was macht eigentlich Ralf?“

Brittas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie schob das Kinn vor und machte nun ein recht böses Gesicht. Er lehnte sich zurück und mimte ein Lächeln.

„Woher soll ich wissen, was der macht“, knurrte sie, „er ist in New York und spielt Monopoly. Das weißt du doch, Geld verdienen für seine Bank. Money, Money, Money! Außerdem ist es schon lange aus, das weißt du auch. Oder funktioniert der Buschfunk nicht mehr?“

Ihr Löffel fiel klirrend aufs Tablett, sie stand auf und räumte hastig den Tisch ab.

Auch er stand auf und trug ihr das Milchkännchen und die Zuckerdose hinterher. Nun ritt ihn der Teufel, er konnte nicht anders, es war wie ein Zwang. Er wollte sie zur Weißglut bringen, dann würde sie keifen und vielleicht sogar auf ihn einschlagen. Aber er würde sie ganz fest umarmen, bis sie ihm weinend um den Hals fiel. Also machte er genau das, was er schon als Kind gern mit ihr veranstaltet hatte, wenn sie wütend war. Er setzte noch eins drauf.

„Da warst du der feinen Familie wohl nicht gut genug. In diesen Kreisen soll man ja immer noch eine Ehe arrangieren, habe ich gehört.“

„Du hast ja keine Ahnung“, schnaubte Britta und nahm einen Aschenbecher von der Spüle. Sie riss die Balkontür auf, ging hinaus und begann heftig zu rauchen.

„Darf ich auch rauchen?“, fragte er kleinlaut.

„Seit wann fragst du so was?“, fuhr sie ihn an, „und hast du eigentlich morgen gar keinen Dienst?“

„Nee, ich muss erst zur Nachmittagsschicht. Ist das jetzt der Rausschmiss? Ich nehme den Nachtbus.“ Vorsichtig berührte er ihre Schulter. „Brittababy, ich wollte nicht, dass du dich so aufregst. Bitte verzeih mir.“

Britta lachte. „Du Heuchler! Du stichelst doch für dein Leben gern. Ach Johann! Jetzt hör mal zu, das mit Ralf und mir war nur so ... verstehst du? Wir wussten beide, es ist nicht für immer. Wir waren einfach zu verschieden, wir redeten in verschiedenen Sprachen und hatten ganz unterschiedliche Lebensvorstellungen. Eigentlich ging es nur um Sex. Wir hatten eine gute Zeit, haben uns einvernehmlich getrennt und das war alles.“

Johann zuckte zusammen. Das tut weh, dachte er, verdammte Scheiße. Und er stellte sich vor, wie dieser Ralf, ein eleganter, hanseatischer, blonder Schönling, mit seiner Britta ...

„Hallo, Joe! Hörst du mir überhaupt zu? Komm rein, es ist kalt.“ Sie griff nach seiner Hand und führte ihn wie ein Kind ins Zimmer zurück.

„Und was seine Eltern betrifft, die sind nicht reich oder so was. Was du dir alles ausdenkst! Die waren wirklich nett zu mir. Sein Vater ist ein kleiner Angestellter bei einer Importfirma und seine Mutter arbeitet als Verkäuferin. Das sind ganz normale Leute.“

„Aber das Haus an der Elbe und so ...“

„Und so! Das haben sie geerbt. Das ist alt, der Vater baut ständig daran herum. Das macht er alles allein.“

Schade, dachte Johann, nun hat sie wieder Oberwasser. Seufzend hob er die Brauen und sagte mit ernster Miene: „Na, wenn das so ist! Und ich habe schon gedacht, er ist nicht damit klargekommen, dass du dir beim Griechen die Reste einpacken lässt.“

Ein seidig raschelndes Kissen traf ihn mitten ins Gesicht. „Eins zu null für dich, lieber Johann“, meinte sie lachend, „aber ich muss dich leider enttäuschen. Dein Schuss ging ins Leere. Ralf lässt sich grundsätzlich alle Reste einpacken, auch wenn er sie hinterher wegwirft. Er hat mich erst auf die Idee gebracht, früher hätte ich mich das gar nicht getraut.“

„Wirklich? Echt? So einer ist das also.“

Britta überhörte den spöttischen Unterton. „Er sagt, was man bezahlt, steht einem zu. Er lässt sich sogar das Salatblatt und die viertel Tomate einpacken.“

„Der Spinner“, knurrte Johann. Britta überhörte es und bot ihm ein Glas Rotwein an. Johann schaute auf seine Armbanduhr.

„Eins kannst du ruhig noch trinken, der erste Nachtbus fährt erst in einer Stunde.“

„Na gut.“ Seufzend lehnte er sich zurück und sah zu, wie sie den Wein einschenkte. Zu spät, dachte er, heute wird das nichts mehr. Das habe ich mir selbst versaut. Und zwar mit Ralf. Jetzt sitzt der wie ein Gespenst hier mit am Tisch, dieser blasse Albino, dieser Spacken. Sitzt da in seiner Barbourjacke und mischt die Karten. Macht nichts, meine Chance kommt noch.

Britta hatte eine Kerze angezündet, sie flackerte leise vor sich hin und verströmte einen aufdringlichen Duft, der ihn an Hustenbonbons erinnerte.

„Wie geht es eigentlich deiner Mutter?“

„Wie soll es ihr schon gehen, immer dasselbe. Ich befürchte, sie trinkt in letzter Zeit zu viel Alkohol. Früher stand bei uns zu Hause noch nicht mal ein Bier im Kühlschrank, jetzt süffelt sie schon nachmittags Kirschlikör und solchen Kram.“

„Trauert sie immer noch diesem Kerl hinterher?“

„Ja, sicher und ich verstehe das ja auch. Sie ist sechzig, was soll da noch kommen. Mit Werner hatte sie eine gute Zeit. Ihre beste Zeit, denke ich. So als Frau, verstehst du. Ich mochte ihn auch, er war schon fast so was wie mein Vater. Aber mal muss man sich doch wieder einkriegen.“

„Ach, Brittababy.“

Johann streichelte sacht ihre Hand und Britta zog sie weg, als hätte sie sich verbrannt. „Meine Mutter sagt, er soll in Polen sein, in Stettin. Er wohnt dort bei einer Freundin, auch eine Friseuse. Stimmt das?“

„Das stimmt. Die hatte den Salon gleich hinter der Grenze. Das war damals der erste Friseur, der gleich nach dem Mauerfall auf polnischer Seite eröffnet wurde. Dadurch blieben bei uns in der Stadt die Kunden weg. Die fahren doch jetzt alle nach Polen zum Friseur, kein Wunder bei den Preisen. Aber damals war es ja nicht weiter schlimm. Als ihr Salon geschlossen wurde, da hat Mutti einfach schwarz gearbeitet, im Haus und so. Werner hat ihr Kunden besorgt, der kannte ja Hinz und Kunz. Aber nun ist er weg. Und sie sitzt da und tut so, als wenn ihr Leben zu Ende wäre.“

„Das ist traurig.“

„Sag ich doch. Sie kann sich zu gar nichts mehr aufraffen. Noch nicht mal besuchen will sie mich hier. Und immer die Vorhänge zugezogen, die zieht sie gar nicht mehr auf.“

„Was macht sie denn den ganzen Tag so allein?“

„Vormittags das Übliche. Sie macht sauber, wäscht und kocht sich was, geht einkaufen ... Noch, sag ich mal, verstehst du. Noch tut sie das alles, aber wer weiß, wie sich das entwickelt. Nachmittags geht sie überhaupt nicht mehr raus. Sie legt drei Türketten vor und dann hat sie sich da so ein Riesenteil aufschwatzen lassen für die Tür, mit einem Balken aus Stahl, so quer rüber. Total verrückt.

Nachmittags guckt sie Videos, alte Filme. DEFA und so. Und dann süffelt sie ihren Likör und jammert. Dass alles vorbei ist und sie ein beschissenes Leben hatte. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.

Ich finde, sie übertreibt, so schlecht war es ja früher auch nicht. Wir waren zwar allein, aber wir hatten es doch ganz gemütlich. Kunden hat sie auch nicht mehr, ich habe den Verdacht, die hat sie mit ihrem Gejammer vergrault.

Was soll ich da machen, Johann? Ich kann ja gar nichts machen, so selten, wie ich nach Hause komme. Wenn ich wieder los muss, habe ich immer ein schlechtes Gewissen. Und heute hat sie etwas sehr Merkwürdiges gesagt. Sie stand am Regal, nahm ein Fotoalbum heraus, blätterte es durch und sagte: ‚Weißt du, Britta, es gibt da etwas, worüber wir mal in Ruhe sprechen müssen‘.“

„Und du? Was hast du gesagt?“

„Nichts. Ich war gerade dabei, meine Tasche zu packen. Als ich sie fragen wollte, was sie meint, da war sie schon wieder in der Küche. Ehrlich gesagt, ich war in Gedanken auch schon weg. Ich fühle mich einfach nicht mehr wohl dort, es ist alles so grau und trist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwelche Geheimnisse in unserer Familie gibt. Was meinst du, worauf wollte sie wohl hinaus?“

„Frag sie doch einfach, wenn du das nächste Mal bei ihr bist. Mach dir keine Vorwürfe, Britta, du warst doch immer eine gute Tochter. Jetzt musst du dein eigenes Leben führen. Heutzutage ist es ganz normal, dass die Familien nicht mehr so eng zusammen sind, wie es früher mal war. Es geht nicht anders, man muss dahin gehen, wo die Arbeit ist.“

Britta schaute schweigend in die Kerzenflamme. Was sie in diesem Augenblick dachte, das konnte sie ihm nicht sagen. Sie dachte an das tote Kind und an jene Zeit danach, als ihre Mutter ihr einziger Halt gewesen war. Hatte sie jetzt nicht die verdammte Pflicht, sich um ihre Mutter zu kümmern?

„Übrigens glauben meine Eltern, dass wir wieder zusammen sind.“

Er hielt den Kopf leicht gesenkt, während er es aussprach und es klang, als würde er sie um eine zweite Chance bitten.

„Ja, ja, ich weiß, meine Mutter glaubt das auch. Ich habe das richtiggestellt. Außerdem ist es mir egal, was sie alle denken.“

Johann trank sein Glas aus, schaute auf die Uhr und erhob sich. „Ich muss los, Britta.“

Sie brachte ihn zur Tür. Er umarmte sie, hielt sie fest und sagte leise: „Was hast du ihr denn über uns erzählt?“

Britta machte sich frei und strich ihm sanft über die Wange. „Dass wir wieder Freunde sind, Joe. So wie früher, als wir noch Kinder waren. Und nun hau ab, sonst verpasst du den Nachtbus.“

Als Johann in den Bus stieg, grinste er von einem Ohr zum anderen. Mein Gott, bin ich froh, dachte er, das wird wieder, na klar. Und Ralf ist außen vor.

Der Fahrer nickte ihm zu, sie kannten sich. Er inspizierte den Sitz und ließ sich nieder. Gegenüber schlief ein Betrunkener seinen Rausch aus. Es roch nach Alkohol, Parfüm und Urin, der Nachtbus kam direkt von der Reeperbahn. Müde schloss er die Augen und seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, an dem er Britta in der großen Stadt begegnet war. Und zwar durch einen Zufall in Gestalt einer kleinen, verwirrten alten Frau. Sie stand vor dem Schaufenster einer Bäckerei und schaute sehnsüchtig hinein. Dabei hielt sie einen zottigen Plüschhund im Arm, sie hielt ihn, wie man ein Baby trägt. Über ihrem geblümten Kleid trug sie eine helle Bettjacke und ihre Füße steckten in karierten Hauspantoffeln.

„Schau mal, dort“, sagte Kathrin zu ihm, „ich wette, die ist irgendwo ausgebüxt.“

Sie fuhren zusammen Streife an diesem sonnigen Frühlingstag und hielten gerade vor der Bäckerei an, um sich Kaffee und Kuchen zu holen.

„Geh du rein, Johann. Ich kümmere mich um sie. Und bring Franzbrötchen mit. Drei.“

„Wieso drei?“

„Sie hat sicher Hunger. Sie drückt sich ja die Nase an der Scheibe platt. Ich wette, sie ist aus dem ‚Kastanienhof‘ oder aus dem ‚Elbblick‘ ausgebüxt. Das sind die beiden Altenheime hier im Viertel. Die Leitstelle hat bis jetzt nichts durchgegeben. Sie werden es noch gar nicht bemerkt haben im Heim.“

Als er aus der Bäckerei kam, saß die kleine Frau bereits neben Kathrin im Auto. Hastig nahm er das klebrige Franzbrötchen aus dem Papier und reichte es ihr hin. „Bitte! Schmeckt gut, ein Franzbrötchen, probieren Sie mal.“

„Franzbrötchen, probieren Sie mal“, wiederholte die Frau. Sie ließ ihren Plüschhund fallen, schnappte sich das Kuchenteil und biss gierig hinein. Johann schnüffelte, dann öffnete er hastig das Fenster. Im Auto roch es nach Urin.

„Riechst du das auch?“

„Ich habe ihr was untergelegt“, nuschelte Kathrin hinter ihrem Franzbrötchen. „Sie ist aus dem ‚Senator Wendt-Haus‘.“

„Woher weißt du das? Hat sie das gesagt?“

„Sie redet nicht mit mir. Aber Herr Mommsen kam vorbei, der kennt sie. Sie soll früher hier im Viertel gewohnt haben.

Die Bäckerei war damals ein Grünhöker, der Laden gehörte ihrem Großvater.“

„Moment mal, wer ist Herr Mommsen?“

Johann ärgerte sich. Kathrin, die sowieso alles besser wusste, hatte mal wieder Heimvorteil. Sie war in diesem Viertel aufgewachsen.

„Sag bloß, den kennst du nicht! Das ist der Flaschensammler von Othmarschen, den kennt hier jeder. Der da drüben auf der Bank. Er sitzt doch immer da und lauert, wenn er nicht gerade die Papierkörbe abgrast.“

„Ach so, na klar.“

Johann kannte Herrn Mommsen nicht und ärgerte sich noch mehr.

Herr Mommsen saß auf einer Bank unter einem blühenden japanischen Kirschbaum und las das „Hamburger Abendblatt“, jedenfalls tat er so. Wer jedoch genau hinsah, der bemerkte, dass ihm die Zeitung nur als Tarnung diente. Der alte Mann ließ seinen Blick immer wieder durch den Park schweifen, ganz wie ein Detektiv. Er lauerte auf gewisse junge Leute, die ihr Pfandgut achtlos in die Papierkörbe oder gar in die Büsche warfen. Sein Outfit passte gut zur japanischen Zierkirsche.

Er trug einen feinen rosa Kaschmirpullover, darunter ein hellblaues Nadelstreifenhemd und im Hemdausschnitt einen Seidenschal. Dazu eine marineblaue Hose mit scharfen Bügelfalten und einen Südwester. Neben ihm stand eine alte, ausgebeulte Arzttasche.

„Das ist doch kein Flaschensammler, der sieht ja richtig gediegen aus.“

„Er hat das gar nicht nötig, sagen die Leute. Er soll Millionär sein, aber das ist bestimmt nur dummes Gerede.“

„Was du alles weißt. Dann hat dir Herr Mommsen sicher auch gesagt, wie sie heißt, oder?“

„Hat er nicht, hat er vergessen.“

„So, vergessen. Oder hast du vielleicht vergessen, ihn zu fragen?“

„Also das ist mir jetzt zu blöd, Johann.“ Kathrin wandte sich beleidigt ab.

Die alte Frau hatte ihr Franzbrötchen verspeist und leckte sich genüsslich den Zuckerguss von den Fingern.

„Stimmt das, wohnen Sie im ‚Senator Wendt-Haus‘? Wie heißen Sie denn?“

„Wie heißen Sie denn?“, wiederholte die Frau mit hoher Kleinmädchenstimme.

„Ich bin Johann. Und Sie? Verraten Sie mir Ihren Namen?“

Die kleine Frau schüttelte heftig den Kopf und musterte ihn mit einem Blick, der sagte: Was bist du denn für einer?

„So wird das doch nichts“, murmelte Kathrin und tippte sich an die Stirn.

„Meinst du mich oder sie?“, brummelte Johann. „Na los, fahren wir endlich. Obwohl ich das gar nicht glauben kann, es sind doch mindestens drei Kilometer bis zum ‚Senator Wendt-Haus‘. Denkst du wirklich, sie ist die ganze Strecke gelaufen?“

„Was weiß ich, vielleicht ist sie ja mit dem Bus gefahren. Einfach eingestiegen.“

Johann schnaubte verächtlich und fuhr los.

„Sie heißt Josefine Meyer“, meldete sich Kathrin von hinten.

„Hat sie das gesagt?“

„Nee, aber es steht im Kragen ihrer Jacke. Die Wäschemarke.“

So fuhren sie also mit der vermeintlichen Frau Meyer zum „Senator Wendt-Haus“ und meldeten sich bei der Dame am Empfang.

Und dann kam ihnen wahrhaftig Britta entgegen, Britta im hellblauen Kittel, die Haare streng zu einem Dutt gebunden. Sie eilte die Treppe hinunter und die vermeintliche Frau Meyer fiel ihr um den Hals. Das heißt, nicht wirklich, dazu war sie zu klein. Sie umklammerte Brittas Taille.

„Ich war bei Opa“, sagte sie. „Er hat mir ein Franzbrötchen geschenkt, hat gut geschmeckt.“

„Schön, dass du wieder da bist, Luise. Wo hast du denn deinen Karl gelassen?“

Josefine, die nun eine Luise war, zeigte auf Kathrin. „Die da hat ihn, die komische Frau, schwatt wie ein Sottje! Die hat ihn mir geklaut.“

„Luise, das ist kein Schornsteinfeger, das ist eine Polizistin. Magst du einen Bonsch?“

Luise nickte heftig und Britta kramte ein Eukalyptusbonbon aus ihrer Kitteltasche.

Nun erst schauten sich Britta und Johann lachend an und riefen beide gleichzeitig: „Das gibt es ja nicht! Wo kommst du denn her?“

„Wo kommst du denn her?“, rief nun auch Luise und klatschte vor Begeisterung in die Hände. An dieser Stelle seiner Erinnerungen seufzte Johann tief auf, öffnete die Augen und schaute lächelnd aus dem Fenster. Noch zwei Stationen, dann war er zu Hause.

Verrückt, dachte er. Und er hatte angenommen, sie würde in einer großen Klinik arbeiten. Von Britta erfuhr er, dass sich Luise gern die Kleidung anderer Bewohner anzog und an diesem Tag mit Josefines Jacke verschwunden war. Alles abgesucht hatten sie, natürlich es auch der Polizei gemeldet. Aber das erzählte sie ihm erst am nächsten Tag in einem Café an der Elbe. Da saßen sie nun unter einer Palme an den Landungsbrücken und Johann dachte, wie komisch, früher hatten wir nie ein richtiges Rendezvous. Wir waren ja immer zusammen.

Dann erfuhr er, dass Britta schon seit einigen Jahren im „Senator Wendt-Haus“ arbeitete.

„Und warum du das nicht weißt, Johann“, meinte sie, „das hat einen ganz einfachen Grund. Meiner Mutter ist das nämlich peinlich. Ich war vorher im Krankenhaus Altona, das hat sie jedem erzählt, aber nun wische ich ja den Alten den Arsch und dann auch noch in einem Wohnbereich für Demenzkranke. Damit hat sie ein Problem, deshalb weiß das keiner zu Hause.“

Worauf Johann sagte: „Aber weshalb ...“ Weiter kam er nicht, Britta schnitt ihm temperamentvoll das Wort ab. „Siehst du, du bist genau wie meine Mutter! Wie kann man nur in einem Altenheim arbeiten, wenn man ein Krankenpflegeexamen hat und dazu noch die Beste seines Jahrgangs war.“

Johann schwieg und schaute sie lächelnd an. Ihre Augen blitzten wütend, das gefiel ihm. Das war seine alte Britta und er spürte, wie sehr er sie noch immer liebte. Nach all den Jahren war es wieder da, dieses Gefühl, nur ganz und heil zu sein, wenn Britta in seiner Nähe war. Dieser Augenblick war für ihn viel mehr als diese Erkenntnis, die nichts Neues war, nur etwas lange Verschüttetes, das nun wieder aus den Lagen der Zeit auftauchte. Es war der Beginn einer neuen Liebe.

Noch immer schwieg er. Sie aber schaute direkt in seine Augen und sagte leise: „Verzeih mir, dass ich mich so aufrege. Aber ich hasse diese dummen Vorurteile. Die Arbeit, die ich jetzt mache, ist sehr anspruchsvoll und vielseitig. Ich bin nicht nur Krankenschwester, ich bin alles - Seelenpfleger, Mutterersatz, Tochterersatz, Freundin, Beistand in Not und Welterklärerin. Ach Joe, wenn du wüsstest. Manchmal aber denke ich, es ist mehr, als man ertragen kann. Man muss auch auf sich selbst achten. Man darf sich nicht zu sehr hineinziehen lassen. Ich belege ständig Fortbildungslehrgänge, das hilft mir sehr, einen professionellen Abstand zu halten. Zum Beispiel Luise. Jeden Abend, wenn ich sie zu Bett bringe, bittet sie mich, dass sie bleiben kann. Sie fängt an zu weinen, sie bettelt förmlich und dann sagt sie: ‚Mutter, bitte, ich will nicht mehr nach Uhlenhorst. Ich gehe da nicht mehr hin, sie sind so böse zu mir.‘ Was soll ich ihr da antworten? Ich verspreche ihr, dass sie nie wieder nach Uhlenhorst muss, obwohl ich keine Ahnung habe, wovon sie redet. Ich weiß nur, Uhlenhorst ist ein Stadtteil von Hamburg. Das Biografieblatt in ihrer Akte ist leer und es ist niemand da, der mir was über ihr Leben erzählen kann. Kein Verwandter, keine Familie. Luise ist ganz allein und sie denkt, ich wäre ihre Mutter, weil ich sie abends ins Bett bringe.

Aber ich wage auch nicht, sie zu fragen, was in Uhlenhorst passiert ist. Ich bin ja kein Psychiater, wer weiß, was ich dann anrichte. Das ist belastend, verstehst du das? Da muss man stark sein.“

Brittas Blick ging ihm direkt ins Herz. Sie schwiegen und wussten beide, dass sie an ihr Kind dachten, an das kleine Gesicht mit den geschlossenen Augen. An dieses Wesen, das einst ein Teil von ihnen war.

Johann schaute über die Elbe. Wellen bäumten sich grau auf und schlugen an den Ponton. Das Wasser würde seinen Weg nehmen wie an jedem Tag, würde fließen mit dem Wind, bis es sich an der Mündung im Meer verlor. Aber es gab die Tage des Sturmes, der es zurücktrieb, so dass es großen Schaden anrichten konnte. Schaden, der manchmal nicht wiedergutzumachen war.

Das Kind hatte man verbrannt. Es gab kein Grab, das war damals nicht üblich gewesen. Und alles ging danach einfach weiter, die Tide des Wassers, so wie die Tide des Lebens. Auf Ebbe folgte Flut und nach dem Lachen kam das Weinen ...

Das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt, dachte er, während er aus dem Bus stieg und vor der Haustür nach seinem Schlüssel suchte. Nur das zählt und dann soll es wohl so sein und alles wird gut.

Dieser banale Gedanke verdrängte die Trauer und schloss die Tür zur Vergangenheit, die Tür zu einem Raum, der für ihn lange Zeit tabu gewesen war. Aber an jenem Tag, an dem er Britta fand, hatte sich diese Tür ein kleines Stück geöffnet. Doch musste er in der Zeit danach höllisch aufpassen, sie nicht mit Gewalt aufzustoßen. Ein falsches Wort hätte genügt, um Britta erneut zu verlieren.

Seine Gedanken streiften durch die vergangenen Jahre. Da waren einige Beziehungen, die ihn hoffen ließen, er sei endlich angekommen und könnte neu anfangen. Sie scheiterten stets aus ihm unerfindlichen Gründen. Erst seit jenem Nachmittag an den Landungsbrücken wusste er, warum das so gewesen war. Er hatte die Sache mit Britta nie zu Ende gebracht, wenn man überhaupt von einer Sache sprechen konnte. Es war ja das Leben, das ganze pralle, volle Leben mit ihr, das er aufgegeben hatte. Aus Angst, aus Entsetzen und Feigheit.

Johann stand am Fenster seines kleinen Wohnzimmers, starrte in die Dunkelheit und ballte seine Fäuste. „Ich will es zu Ende bringen, zu einem guten Ende“, sagte er leise.

2. KAPITELBRITTA

Auch Britta stand in dieser nächtlichen Stunde am Fenster und starrte in die Dunkelheit. Sie dachte an Ralf. Was sie Johann erzählt hatte, war nur die halbe Wahrheit.

„Nein“, flüsterte sie, „nicht mal das war es. Es war falsch, ganz und gar falsch. Weil ich die Wahrheit nicht ertragen kann. Und wie soll ich es dann Johann erklären?“

Die wahre Geschichte war ganz einfach. Sie liebten sich von ganzem Herzen, Britta und Ralf, und sie verbrachten seit zwei Jahren den größten Teil ihrer freien Zeit miteinander.

Bis zu jenem Tag, als Ralf zu ihr sagte: „Britta, mein Liebes, was hältst du davon, dass wir heiraten?“

Worauf sie ihm antwortete: „Ist das jetzt ein Antrag?“

„Natürlich ist das ein Antrag“, meinte er verlegen und ehe sie Luft holen konnte, um zu antworten, steckte ein Ring an ihrem Finger. Dann nahm er sie in den Arm, wirbelte sie hin und her und rief: „Und Kinder will ich haben, mein Schatz! Das willst du doch auch, nicht wahr? Mindestens zwei, jetzt sind wir gerade noch jung genug, worauf sollen wir denn noch warten.“

Britta war damals achtunddreißig und Ralf zweiundvierzig.

Sie schaute stumm auf den Ring, er funkelte und strahlte wie ein ganzer Juwelierladen und sie dachte, der war sicher sehr teuer. Während sie sich um Fassung bemühte, brummte in ihrem Kopf ein Bienenschwarm.

„Der Ring ist wunderschön“, sagte sie schließlich, „aber ich kann ihn nicht annehmen. Und ich kann dich nicht heiraten.“

Ralf schaute sie an wie ein enttäuschtes Kind. Britta streifte den Ring ab und legte ihn vorsichtig auf den Tisch. Das Sonnenlicht fiel direkt auf ihn, er strahlte und funkelte.

Sicher ist es ein echter Diamant, dachte sie, da hat er sich tüchtig ins Zeug gelegt. Er tut mir furchtbar leid, aber das ... nein, das geht zu weit.

„Was ist auf einmal mit dir los, Britta“, sagte er leise, „ist etwas passiert? Oder hast du einen anderen Mann?“

„Es ist alles in Ordnung, Ralf. Und so wie es ist, kann es bleiben“, antwortete sie hastig. „Aber Heirat und Kinder, nein, Ralf, nie im Leben.“

„Ich verstehe dich nicht, Britta. Versuch es mir zu erklären! Wir hatten doch eine tolle Zeit miteinander und alle in meiner Familie mögen dich. Wir sprachen sogar schon von einer gemeinsamen Wohnung, erinnerst du dich nicht mehr? Es muss doch etwas passiert sein, wenn du jetzt so merkwürdig reagierst.“

„Es ist nichts passiert!“, schnitt sie ihm das Wort ab. Ihre Stimme klang seltsam, als würde sie nicht selbst sprechen, sondern eine Fremde.

Dann stand sie auf und sagte: „Alles, Ralf, ich würde alles mit dir gemeinsam tun, nur nicht eine Familie gründen. Und nun geh bitte, ich denke, das ist im Augenblick besser.“

„Heißt das, es ist aus zwischen uns?“

„Aber nein, Ralf, wir lieben uns doch. Oder machst du deine Liebe zu mir davon abhängig, dass ich mit dir eine Familie gründe?“

Auch er stand nun auf. „Natürlich nicht!“, sagte er laut, „ich bitte dich! Aber wenn du mir wenigstens einen vernünftigen Grund nennen würdest.“

Nur mit Mühe konnte sie ihre Tränen zurückhalten und es endete damit, dass sich Ralf sehr förmlich und seltsam kühl von ihr verabschiedete.

Aus war es nicht seit jenem Tag, sie trafen sich weiterhin. Doch nun reduzierte sich ihr Verhältnis auf das, worüber sie mit Johann gesprochen hatte. Sex, Spaß, gemeinsame Unternehmungen, alles vor dem Hintergrund des schweigenden Einverständnisses, nie wieder von Heirat oder gar von Kindern zu reden.

Noch bevor Ralf sich entschied, für ein Jahr nach New York zu gehen, trennten sie sich. Britta empfand diese Trennung, die sich ganz still und fast liebevoll vollzog, als eine große Erleichterung, stand doch seit jenem Tag, als er ihr den Ring an den Finger streifte, etwas zwischen ihnen. Es war die Erinnerung an ihr totes Kind. Es wunderte sie, dass Ralf keine weiteren Fragen gestellt hatte und es letztendlich einfach hinnahm, dass sie ihn abwies. Hatte er Erkundungen über sie eingezogen? Oder ahnte er einfach nur etwas? Wollte er ihr Zeit lassen und wartete darauf, dass sie von allein reden würde?