Namenlose Jahre - Marina Scheske - E-Book

Namenlose Jahre E-Book

Marina Scheske

0,0

Beschreibung

Erzählt wird die Geschichte eines jungen Mannes, der sich im Herbst 1989 wie so viele andere DDR-Bürger auf eine abenteuerliche Flucht begibt. In der Bundesrepublik angekommen, wird er in einen schweren Autounfall verwickelt. Er überlebt mit Verbrennungen und hat sein Gedächtnis verloren. Seine Papiere sind ebenfalls verbrannt. Niemand weiß, woher er kommt und wer er ist. Seine Verlobte, die bereits im Westen ist, wartet vergeblich auf ihn. Nach seiner körperlichen Genesung bringt man ihn in einer Einrichtung der Lebenshilfe unter. Noch immer kann er sich an nichts erinnern, nur schattenhaft tauchen Fragmente seines früheren Lebens auf. Doch es gibt Menschen in seinem Umfeld, die glauben, Spuren gefunden zu haben, die in sein früheres Leben führen. Da ist die Frau, in die er sich verliebt. Sie vermutet, er kommt aus derselben ostdeutschen Stadt wie sie. Und da ist sein Arbeitgeber, der entdeckt, wie sehr er einem Jugendfreund ähnlich sieht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 469

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marina Scheske

NAMENLOSE JAHRE

Die Geschichte einer Flucht

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Jede Ähnlichkeit mit existierenden Personen

wäre rein zufällig.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

Gerhard Erdmann verlässt den dunklen Torweg der Polizeiwache. Geblendet vom hellen Licht schließt er die Augen, hinter seiner rechten Schläfe pocht ein starker Schmerz.

Still ist es um diese Zeit in der Bahnhofsstraße. Der Morgenzug ist längst abgefahren, weit und breit sieht man keinen Menschen. Sein Blick fällt auf einen grauen Betonkübel.

Ein staubiges, gelb blühendes Kraut wuchert in trockener Erde, die so grau ist wie die Straße und so grau wie ihre Häuser, aus denen kein Laut dringt.

Noch steht er zögernd vor dem Tor und überlegt, wie es nun weitergeht mit ihm. Er fühlt sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen. Der Schmerz vernebelt seine Gedanken.

Als er den schrillen Ton einer Klingel hört, setzt er sich in Bewegung und er läuft wie ein Flüchtender. Hastig, fahrig und gehetzt läuft er, hält seinen Blick gesenkt und wird immer schneller.

Schon hat er die wenigen Hauptstraßen der kleinen Stadt hinter sich gelassen und biegt in eine schmale Gasse ein, die am Ufer der Oder endet. Aufatmend setzt er sich auf eine Bank.

Das sanfte Plätschern des Wassers beruhigt sein pochendes Herz, zugleich erinnert es ihn an den Morgen des gestrigen Tages. Mit seiner Angel saß er hier und ahnte nichts von seinem heutigen Ungemach.

Die wärmenden Strahlen der Sonne streicheln sanft sein Gesicht. Ich bin furchtbar müde, denkt er, ich werde jetzt endlich nach Hause gehen und mich hinlegen. Doch plötzlich steigt ein Gedanke in ihm auf wie eine Feuerlohe. Schnell steht er auf und schaut sich um.

Er kann nicht mehr hierbleiben. Wenn er bleibt, werden sie ihn niemals ausreisen lassen. Susanne wartet in Freiburg auf ihn. Er soll nachkommen, so war es verabredet.

Er denkt an seines Vaters Worte. Voller Verachtung sprach er von Susanne, die das Vertrauen des Staates schmählich missbraucht hatte, wie er sich ausdrückte. Republikflucht, was für eine Schande und ausgerechnet sein Sohn hatte sich mit diesem Mädchen verlobt.

Es folgte eine Litanei über sein verbummeltes Leben, das er nach Meinung seines Vaters führte. Darunter verstand er seine permanente Verweigerungshaltung gegenüber allem, was nur annähernd nach seinem Weltbild roch. Da war das Abitur, das er nicht gemacht hatte, um niemandem zum Munde reden zu müssen. Hinzu kam die Befreiung vom Wehrdienst wegen eines angeborenen Wirbelsäulenleidens, was sein Vater als Drückebergerei bezeichnete und letztendlich die Weigerung, in die SED einzutreten.

Er erreichte, was er wollte. Irgendwann strich sein Vater resignierend die Segel. Weit weg von Partei und Staat hatte er es sich gemütlich eingerichtet. Er wohnte in seiner Einzimmerwohnung, ohne sich um die Nachbarn zu scheren und arbeitete wochentags als Schlosser in einem Landbaubetrieb. An den Wochenenden saß er mit seiner Angel am Fluss oder fuhr mit der Bahn zu Rockkonzerten. Sein Leben fand in einer Nische statt. Es gab viele Nischen in diesem Land. Eine Mauer des Schweigens errichteten sie um ihre Enklaven und schufen so im eingemauerten Staat eine zweite, ganz private Mauer, hinter der sich das Miniaturland ihrer kleinen, persönlichen Freiheit verbarg. Am Sonntag saßen sie in ihren Schrebergärten, schimpften über die Obrigkeit und den Mangel an Konsumgütern und wähnten sich sicher zwischen Erdbeerstauden und Gartenzwergen. An den Gedanken, dass unter ihren Nachbarn jemand sein könnte, der sie an die Stasi verpfiff, hatte man sich längst gewöhnt.

Auch Susanne wünschte sich einen Schrebergarten, doch dann kam alles anders. Gemeinsam mit ihren Eltern beantragte sie eine Besuchsreise in die Bundesrepublik Deutschland.

Eine Silberhochzeit in der Verwandtschaft gab den Anlass und das Glück war ihnen hold, sie erhielten die Genehmigung. Stillschweigend vereinbarte man, drüben zu bleiben.

Er denkt an ihren letzten Abend. Sie saßen am Ufer des Flusses. Leise redeten sie, obwohl weit und breit kein Mensch zu sehen war. Vorsicht war angebracht, inzwischen hatte sich die Kunde von Familie Riedels Westreise wie ein Lauffeuer in der kleinen Stadt verbreitet.

Er schließt die Augen und sieht ihr liebliches Mädchengesicht, in dem das Leben noch keine Spuren hinterlassen hat. Es ist das Gesicht eines Kindes und kindlich naiv klingen auch ihre Worte. Sie spricht von einem Land, das sie nur aus dem Fernsehen kennt. Ein Land voller Freiheit und Buntheit, so schön wie ein verheißungsvolles Schaufenster.

Viele würden doch jetzt rübergehen, über Ungarn oder Prag. Aber er soll sich nicht in Gefahr begeben, sondern lieber einen Ausreiseantrag stellen. Auch ihre Eltern meinen, dass es so am Besten wäre. ...

Ihre Eltern sind froh, wenn ich nicht nachkomme, denkt er. Ich bin ihnen nicht recht als Schwiegersohn. Ich, der Sohn eines Offiziers, eines in der Nachbarschaft unbeliebten Mannes, sie nennen ihn den „Schlüssellochspion“. Einer, der am Wahlsonntag an der Tür klingelt, um an den Urnengang zu erinnern.

Er ballt seine Fäuste in den Jackentaschen, denn nun wird ihm bewusst, dass er den Ausreiseantrag gründlich vermasselt hat. … Bin selber schuld, habe mein Maul nicht halten können, was hat mich nur geritten. ... Dabei hatte ich einfach nur gute Laune, das Wetter war super und ich wollte endlich Nägel mit Köpfen machen. ...

Der Brief von ihr aus Freiburg, dieser blumig duftende Brief, er lag gestern Morgen im Kasten und knisterte verheißungsvoll. Alles ist wunderbar, so schrieb sie begeistert. Auch mussten sie nicht in ein Lager, Verwandte hatten sie vorerst aufgenommen und er soll so schnell wie möglich nachkommen.

Losmarschiert ist er, den Brief in der Tasche, ein törichtes Lächeln auf den Lippen.

Natürlich musste er ewig warten, dabei saß er allein im Flur. Er starrte Honeckers Bild an, der wie ein gütiger Vater auf ihn herabschaute und als er den Blick des Staatsratsvorsitzenden nicht mehr ertragen konnte, da zählte er die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Es waren acht, das weiß er noch.

Endlich öffnete sich eine Tür, ein Mann steckte seinen Kopf heraus und forderte ihn auf, einzutreten. Schon beim Klang seiner ersten Worte dachte er, diese Geschichte hier nimmt kein gutes Ende. Da stand etwas im Raum, eine Wolke aus Antipathie und Misstrauen. Dicke Luft. Er hat alles vermasselt und was unmittelbar danach passierte, erscheint ihm nun so irreal wie ein Albtraum.

… Nein, es ist wahr, es ist wirklich geschehen. Sie nahmen mich in Haft. So heißt es doch, oder? Sie nennen es Sicherungsverwahrung. Er zieht seine Hände aus den Taschen und betrachtet kopfschüttelnd seine Handgelenke. Noch immer sieht man die rot unterlaufenen Abdrücke der Handschellen.

„Getobt haben soll ich“, flüstert er heiser, „nie im Leben würde ich so etwas tun.“

Sein Blick schweift über den Fluss. Ein Schleppkahn schippert langsam vorbei, hoch beladen mit Kies. Auf dem Deck flattert Wäsche im Wind und ein kleiner Hund steht bellend an der Reling. Vorn am Ufer neben der Trauerweide sieht er den alten Kiosk, an dem er sich manchmal ein Bier holt, wenn er hier angelt. Alles sieht genau so aus, wie es an jedem anderen beliebigen Tag am Fluss aussieht. Er schaut hinüber zu den Schwänen, die ihre langen Hälse gemächlich ins Wasser tunken und er sieht, wie sich ganz weit hinten über der Auenlandschaft graue Wolken zu Haufen ballen. Sicher gibt es drüben in Polen bald ein Gewitter.

Angst steigt in ihm auf und er kann sie nicht abschütteln. Er fühlt sich ihr ausgeliefert und alles Wohlvertraute, was er sieht, wird ihm zur trügerischen Kulisse. Er denkt an die Nacht im Keller der Stasi. Die gleißende Helle eines Scheinwerfers, dann die Dunkelheit, der erste Schlag in den Magen. ...

Zitternd lehnt er sich zurück und ein Schwindel befällt ihn. Seine Hand betastet die rechte Schläfe, der pochende Schmerz breitet sich erneut aus.

„Nicht auf den Kopf!“, brüllte jemand. Eine Tür schlug zu, ein Schlüssel drehte sich im Schloss und es wurde still.

Er hat unterschrieben. Da lag das Formular vor ihm auf dem Schreibtisch und man reichte ihm einen Kugelschreiber. Hatte er mit seiner Unterschrift nur bestätigt, dass sie ihn nicht schlugen, so wie es üblich ist? Oder unterschrieb er eine Verpflichtungserklärung?

Sie werden ihn holen, gleich von der Arbeit weg. Er muss seine Kollegen bespitzeln und der Stasi Bericht erstatten. Er kann nicht bleiben, jetzt nicht mehr. Und wenn sie ihm schon auf den Fersen sind?

Hastig steht er auf und schaut sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen. Der kleine Kiosk öffnet erst am Nachmittag und auch dahinter scheint sich niemand zu verbergen. Nach Hause will er, ein paar Sachen holen. Nein, das ist riskant, bei diesem Wetter sind zu viele Leute in der Stadt unterwegs. Niemand darf ihn sehen.

Wieder flammt der verdammte Schmerz auf. Diesmal fühlt es sich an, als würde jemand mit einem Messer in seiner Schläfe bohren. Tief atmet er ein und stößt pustend die Luft aus, während er überlegt, wie er am unauffälligsten zum Bahnhof kommt. Er geht in Richtung Schlachthof, fernab von allen Geschäften fühlt er sich sicherer. Auf einmal hält er inne, bleibt stehen und seine Hand fährt in die Brusttasche des Parkas. Ein breites Grinsen zeigt sich auf seinem Gesicht. Ich habe Glück, denkt er und das verdanke ich meiner Liederlichkeit.

In seiner Tasche befindet sich eine größere Geldsumme, fast sein ganzes Monatsgehalt trägt er bei sich, es steckt noch in der Lohntüte. Auch den Brief von Susanne, ihr Bild und sein kleines Notizbuch findet er, doch das Wichtigste fehlt.

„Schöne Scheiße“, flüstert er, „damit haben sie dich. Du sitzt in der Falle.“

Sein Personalausweis liegt auf der Polizeiwache.

Wut steigt in ihm auf, er kickt einen Stein, kollernd fliegt er auf die Fahrbahn. Während er hinterher schaut, breitet sich plötzlich ein ungeheuerlicher Gedanke in ihm aus. Er ist ein Nichts, ein Niemand. Wie sollen sie ihn finden, wie ihn kriegen, wenn sie ihn jagen?

Er verschwindet für immer. Kein Ausweis, kein Name, keine Identität. Namenlos wird man zu nichts und Nebel. Man ist frei wie der Wind, vogelfrei.

Sein Blick streift über die Straße und tastet hastig die Fenster eines alten Mietshauses ab. Alles ist still, kein Mensch, kein Fahrzeug weit und breit. Schnell zerreißt er die Seiten seines Notizbuches und dann, nach anfänglichem Zögern, mit zitternder Hand auch Susannes Bild und ihren Brief.

Es ist ganz einfach, denkt er. Ich nehme den Zug nach Berlin. Von da aus fahre ich bis Dresden und dann gehe ich über die Grenze. Möglichst in der Nacht. Und dann ab nach Prag.

... Da ist ein Abfallkübel. Ich muss hineinlangen, es nützt ja nichts. Ich muss den Dreck beiseiteschieben und schnell die Schnipsel hineinwerfen ... Sie dürfen nicht oben liegen, der Kübel ist fast voll. Überall haben sie ihre Leute, sicher auch bei der Müllabfuhr.

Auf der Bahnhofstoilette trinkt er in gierigen Zügen kaltes Wasser aus dem Hahn.

Dann kämmt er sein schulterlanges Haar mit feuchtem Kamm und bindet es mit einem Gummi im Nacken zusammen. Nun noch die Sonnenbrille, gut, dass er sie bei sich hat. Zufrieden betrachtet er sich im Spiegel. Für einen kleinen Moment steigt Abenteuerlust in ihm auf, alles erscheint ihm nun als ein Spiel und er bedauert, keinen Hut zu besitzen. So einen schwarzen, breitkrempigen, dann wäre die Maskerade perfekt.

Eine knarrende Ansage aus dem Lautsprecher reißt ihn aus seiner selbstgefällig träumerischen Betrachtung.

Überall auf den Bahnhöfen treibt sich Bereitschaftspolizei herum. Gerade jetzt, wo so viele abhauen. Und auf Typen wie mich sind sie besonders scharf. ... Er nimmt die Brille wieder ab und schiebt den Haarschwanz unter den Kragen seines Parkas. Sein Blick durchstreift den Schalterraum. Er ist allein, dennoch fühlt er sich äußerst unbehaglich. Hinter den Säulen scheint niemand zu lauern, aber man weiß ja nie, die sind doch überall. Besser wäre es, er könnte in der Menge untertauchen. ... Noch besser, dies alles wäre nie geschehen.

Aber dieser blöde Bulle hat ihn provoziert, vom ersten Moment an. Er wartete doch nur darauf, ihn in die Pfanne zu hauen. Vom Arbeiter- und Bauernstaat faselte er, betrachtete dabei seine gefeilten Fingernägel, und dann dieses arrogante Lächeln.

Arbeiter- und Bauernstaat. Dieser Arsch hat nie gearbeitet und wir Malocher schaffen die Werte. Dafür treten sie uns in den Dreck, diese Schweine. ... Ich muss mich zusammenreißen, da vorn ist der Fahrkartenschalter.

Löse ich durch bis Dresden? Nein, das ist zu auffällig, lieber bis Alex. Die Frau hinterm Schalter, die kennt mich vielleicht. Wenn sie mich fragt, dann sage ich, ich will einkaufen fahren zum Alexanderplatz. Das machen ja viele. Ich werde ihr was von Jeans erzählen, die es dort im Warenhaus geben soll. ... Oder noch besser, ich will mir einen Farbfernseher holen. Nein, das geht nicht. Da fährt man schon mit dem ersten Zug um vier Uhr nachts, sonst sind die Guten ausverkauft.

Endlich steht er am Bahnsteig und schaut auf die Anzeigentafel. Eigentlich wollte er nur bis Berlin lösen, doch dann sagte er spontan: „Bitte einmal Dresden/Hauptbahnhof.“

Die Frau am Schalter fragte ihn neugierig, ob er in den Urlaub fährt, worauf er hastig antwortete, dass er Verwandte besuchen will. Es kam ihm so ein und er wundert sich nun über die merkwürdige Antwort, die sie ihm daraufhin gab.

„Wie schön“, meinte sie lächelnd, „das freut mich aber! Da habt ihr also wieder Kontakt nach all den Jahren. Das freut mich besonders für deine Mutter.“

Sie wird mich verwechselt haben, denkt er, und das kann nur zu meinem Vorteil sein.

Der ankommende Zug ist fast leer, schnell steigt er ein. Er fühlt sich nun sicherer als auf dem Bahnhof, die Abteile sind klein und überschaubar. Wo man von einer Wand zur anderen greifen kann, da hat man Rückendeckung und sie können unmöglich in jedes Abteil einen Stasi-Mitarbeiter setzen. In Berlin muss er aufpassen und schnell umsteigen, Augen zu und durch. Da wird es nur so wimmeln von Transportpolizei, die sind noch einen Zahn schärfer als die gewöhnlichen Bullen. Das Gute ist, sie sind uniformiert. Man sieht sie. Die Stasi sieht man nicht. ... Obwohl, wenn man genau hinschaut. ...

Ihm gegenüber sitzt eine ältere Frau. Ihr geblümtes Kleid und ihre Art zu lächeln erinnern ihn an seine Mutter. Er meidet ihren Blick, schaut hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft und denkt daran, dass er seine Mutter vielleicht nie wiedersehen wird. Auch wenn sie irgendwann reisen darf, sein Vater würde sie nicht fahren lassen.

Mutter, denkt er, warum hast du ihm immer alles recht gemacht? Und warum standest du mir nie bei, wenn er mich niederbrüllte? Die Angst vor diesem Mann beherrscht dein Leben, beherrschte es immer, solange ich mich erinnern kann. Warum verhältst du dich ihm gegenüber so unterwürfig. ... Er verlässt das Abteil, niemand soll seine Tränen sehen. Wenn er drüben ist, wird er ihr schreiben. Alles wird er ihr schreiben, was ihm schon seit Jahren auf der Seele brennt.

Während Gerhard Erdmann im Zug nach Dresden sitzt, findet im Polizeipräsidium Schwedt eine kleine Dienstbesprechung statt.

Klaus Bäumert streicht verlegen seine Uniformjacke glatt. Er weiß nicht, wohin mit seinen schwitzenden Händen und ihm ist nicht wohl. Verstohlen beobachtet er den Mann in Zivil.

Er sitzt ihm gegenüber und liest aufmerksam ein Protokoll. Nur mühsam gelingt es Klaus Bäumert, seine Angst zu verbergen.

„Ich wusste nicht, dass er der Sohn vom alten Erdmann ist“, sagt er und seine Stimme klingt seltsam belegt.

„Das spielt auch keine Rolle, wo kämen wir denn dahin. ... Darum geht es hier nicht. Verdammt, Klaus, wie konntet ihr ihn laufen lassen. Das hier reicht, um ihn einzulochen! Aber sicher ist er schon über alle Berge, so wie all die anderen, jeden Tag werden es mehr. Was soll man dazu sagen, da fehlen mir die Worte! Das hat Konsequenzen, Genosse, das ist dir doch klar.“

Klaus Bäumert schluckt und nickt stumm, er meidet den Blick des Mannes.

„Aber wir ... Wir hatten doch keinen Haftbefehl“, stammelt er.

„Der ist gut! Der beste Witz, den ich seit Langem gehört habe! Ich kann dich beruhigen, seit einer Stunde läuft die Fahndung. Den kriegen wir, soweit kann er noch nicht sein. Ich schätze mal, er hat den Zug nach Dresden genommen.“

Laut seufzend lehnt sich der Mann in Zivil zurück.

„Und wenn wir ihn nicht kriegen, mal ganz unter uns, spielt das noch eine Rolle? Einer mehr oder weniger von diesem asozialen Pack. Sollen sie doch gehen, alle! Ich bin es leid, verstehst du, mir steht es bis zum Hals! Hast du was zu trinken da?“

Klaus greift in das Schreibtischfach und stellt eine Flasche Weinbrand auf den Tisch. Erleichtert atmet er auf, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Ich habe alles aufgenommen. Das ganze Gespräch ist im Kasten. Beweismaterial gibt es genug.“

„Dein Eifer in Ehren, Klaus, aber was soll das, seit wann brauchen wir Beweise? Hör es dir selbst an, wenn du mal Langeweile hast. Prost!“

Klaus nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Angenehm wärmend rinnt der Weinbrand durch seine Kehle und ein wohliges Gefühl der Ruhe breitet sich in ihm aus.

„Wir sehen uns.“

Der Mann in Zivil steht auf und verlässt den Raum.

Auch Klaus Bäumert steht auf und schließt die Tür, dann geht er zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Während das Wasser über seine Hände läuft, schaut er in den Spiegel.

Ich kann nicht mehr... Ich bin so blöd, warum habe ich ihn nicht gleich kassiert, dann wäre die Sache für mich vom Tisch. Dieser freche kleine Gammler. Sein Alter bläst ihm doch sicher Zucker in den Arsch, der hat doch alles, was will der denn drüben. ... Ich muss mir das noch mal anhören, die ganze Aufnahme. Gut, dass es eine gibt, da kann ich beweisen, dass ich mich korrekt verhalten habe. Wer weiß, was da noch hinterherkommt. ...

Er legt die Kassette ein. Ein Rauschen tönt aus dem Aufnahmegerät, schließlich hört er seine Stimme: „Warum wollen Sie in die BRD ausreisen, gibt es dafür einen konkreten Anlass? Zum Beispiel einen Verwandtenbesuch, da haben wir hier ein Formular, das füllen Sie aus und dann kommen Sie wieder.“

„Ich will nicht zu Besuch, ich will für immer raus.“

„Für immer. Das geht aber nicht mit diesem Antrag.“

„Womit dann? Mit meinem Personalausweis komme ich ja wohl nicht raus!“

„Werden Sie nicht frech. In diesem Fall gibt es ein anderes Formular. Wir hindern keinen daran, auszureisen. Die DDR ist ein Rechtsstaat, junger Mann.“

„Ein Rechtsstaat. Soll das ein Witz sein? Ein Rechtsstaat lässt seine Bürger reisen, wohin sie wollen. Na klar, ein Rechtsstaat, deshalb wird an der Grenze geschossen.“

„Woher haben Sie diese Information, das ist ja ungeheuerlich! Ich warne Sie.“

„Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte einen Antrag stellen, einen Antrag zur ständigen Ausreise. Ich denke, nun habe ich mich korrekt genug ausgedrückt.“

„Was korrekt ist, das überlassen Sie gefälligst mir. Name, Geburtsdatum?“

„Erdmann, Gerhard Erdmann, geboren am 10.04.1959.“

„Erdmann. Ach, jetzt verstehe ich. ... Susanne Riedel, so heißt doch ihre Verlobte, nicht wahr? Dann war das wohl ein abgekartetes Spiel und Sie wollen ihr folgen. Eine sogenannte Familienzusammenführung also. Das haben Sie sich ja fein ausgedacht.“

„Ich möchte ausreisen, das ist mein gutes Recht.“

„Da könnte ja jeder kommen, junger Mann.“

„Ich bin nicht Ihr junger Mann. Haben Sie schon mal was von der KSZE-Schlussakte gehört? Jeder hat das Recht, dieses Land zu verlassen!“

„Kommen Sie mir nicht so und nicht in diesem Ton! Bis jetzt bestimmen immer noch wir, wer ausreisen darf und wer nicht.“

„Ich denke, Sie bestimmen gar nichts, Sie sind doch nur ein mieser kleiner Handlanger.“

Klaus schaltet das Tonband aus, geht zum Fenster und öffnet es. Schweißperlen stehen auf seiner Stirn.

„Ein mieser kleiner Handlanger“, sagt er leise, „genau das bin ich.“

Im Zug fühlte er sich sicherer. Er konnte sehen, wie er vorwärts kam, weg von Schwedt, raus aus dem Dunstkreis der Stadt. Unschlüssig bleibt er stehen, schaut sich um und findet, was er sucht. Ein Zeitungskiosk, dort wird es Landkarten geben. Es ist zu gewagt, weiter mit dem Zug zu fahren, in den Grenzbezirken gibt es Kontrollen. Jeder weiß es, auch in Schwedt reden die Leute darüber.

Ein Mann steht am Kiosk. Er trägt eine schwarze Lederjacke und eine graue Hose. An seinem Handgelenk hängt ein kleines Täschchen, sein Haar ist korrekt geschnitten und ordentlich gescheitelt. Gerhard beschleunigt seinen Schritt und macht einen großen Bogen um den Kiosk. Auch ohne Karte werde ich ankommen, denkt er. Immer nach Süden, irgendwie.

Sein Magen knurrt. Ziellos läuft er in die nächste Gasse hinein. Erst muss er was essen, dann sich ein bisschen ausruhen, nur ein paar Minuten, vielleicht an der Elbe auf einer Bank sitzen. Nein, da ist er allein, das ist zu gefährlich. Dort vorn ist ein Wochenmarkt, farbenprächtige Astern werden zum Kauf angeboten und beim Anblick der Blumenpracht denkt er an Susanne. Er erinnert sich an jenen Tag vor einem Jahr. Es war Spätsommer und er kam zu ihr mit einem bunten Strauß Astern, um sie zu fragen, ob sie seine Frau werden möchte. In Ermangelung eines Ringes schenkte er ihr ein Kettchen aus Bernstein. Gold konnte er nicht auftreiben und Trauringe erhält man nur gegen Goldabgabe.

Er denkt an diesen Tag voller Glück und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell setzt er die dunkle Brille auf, geht zu einem Bratwurststand und stellt sich in die Schlange.

Am Rande des Marktes steht eine Bank. Müde setzt er sich hin und lehnt sich zurück.

Die Sonne streichelt sein Gesicht und er schließt die Augen. Nur ein bisschen ausruhen will er sich und dann laufen, immer weiterlaufen. Bald wird es dunkel, er hat keine Taschenlampe dabei, noch nicht mal ein Feuerzeug besitzt er, seit einem Jahr raucht er nicht mehr.

Egal, es wird schon klappen, Hauptsache erst mal raus aus der Stadt. Vielleicht dann irgendwo in einer Scheune übernachten, zur Not im Wald. Ich schaffe das, andere schaffen das auch.

Beim Aufstehen wird ihm schwindelig, schnell setzt er sich wieder hin. Erneut meldet sich der pochende Schmerz. Ihm wird übel und er denkt, das kommt sicher vom hastigen Essen.

Einen seltsamen, metallischen Geschmack hat er im Mund, es ist der Geschmack des Blutes. Hastig spuckt er seinen Speichel aus und schaut zu Boden. Offensichtlich hat er einen Backenzahn verloren.

„Den habe ich nicht einfach so verloren, meine Zähne sind in Ordnung. Den haben sie mir ausgeschlagen, diese Schweine“, murmelt er.

Schnell schaut er sich um, doch niemand nimmt Notiz von ihm. Die Wut mildert seinen Schmerz und er schließt erneut die Augen. Die Sonne tut ihm gut und er beschließt, noch eine Weile zu bleiben. Einfach nur dasitzen will er und an nichts denken.

Am Marktstand gegenüber steht eine ältere Dame. Während sie wartet, bis sie an der Reihe ist und ihr Korb mit Äpfeln gefüllt wird, lässt sie ihren Blick über den Platz schweifen. Sie sieht den jungen Mann auf der Bank. Ein seltsames Gefühl steigt in ihr auf. Übermächtig freudig und gleichzeitig schmerzvoll überfällt es sie. Sie denkt an Herfried, an ihren toten Sohn.

Die Verkäuferin reicht ihr den Korb und wieder schaut sie hinüber zur Bank. Sie sieht, wie der Mann die Augen aufschlägt, sich reckt und streckt und dann zusammenfährt. Mit beiden Händen hält er seinen Kopf fest, sein Gesicht ist schmerzverzerrt.

Unter einer Linde bleibt sie stehen. Sie hofft, dass er sie im Schatten des Baumes nicht bemerkt. Nachdem er die Augen geöffnet hat, ist sie sich ganz sicher, wer dieser junge Mann ist, der ihrem Sohn so sehr ähnelt.

„Gerhard Erdmann“, flüstert sie, „du bist Gerhard, Annelieses Sohn.“

Ihre Gedanken überstürzen sich. Es kann nur einen Grund geben, weshalb Gerhard Erdmann in Dresden ist und aussieht, als hätte er ein Problem. Er will raus, so wie all die anderen, die jede Nacht durch die Stadt ziehen. Und es ist etwas passiert mit ihm, es geht ihm nicht gut.

Er sieht nicht aus wie ein Tourist, der gemütlich durch die Stadt bummelt und den Zwinger besuchen will. ... Doch vielleicht irrt sie sich und es handelt sich um einen Fremden, der Herfried zufällig ähnlich sieht, so etwas gibt es ja. Aber wenn er es wirklich ist, was sagt sie zu ihm, wie soll sie ihn ansprechen nach all den Jahren? Er kennt sie ja gar nicht mehr, er war ein Kleinkind, als sie ihn das letzte Mal sah.

Kurz entschlossen geht sie zu ihm, fragt hastig, ob sie auch nicht stören würde und setzt sich lächelnd. Dabei hofft sie, dass er nicht bemerkt, wie aufgeregt sie ist.

Während sie ihren Blick über den Markt schweifen lässt und nach Worten sucht, mustert er sie verstohlen. Es scheint keine Gefahr von ihr auszugehen. Eine sympathische, gut gekleidete ältere Dame sitzt neben ihm und sicher wäre es absurd zu denken, man hätte sie geschickt, um ihn zu beobachten.

Inzwischen ist es weit nach Mittag, die Händler bauen ihre Stände ab und die Käufer haben den Platz verlassen. Seine rechte Wange pocht schmerzvoll, erneut füllt sich sein Mund mit Blut. Hastig schluckt er es hinunter.

„Geht es Ihnen nicht gut, haben Sie Schmerzen?“

Sie beugt sich zu ihm und berührt flüchtig seinen Arm.

„Ich glaube, ich habe gerade einen Backenzahn verloren“, nuschelt er verlegen.

Er schaut auf das, was vor ihm im Schmutz liegt und offensichtlich sein Zahn ist.

„Es sieht wohl so aus“, sagt sie hastig, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und bückt sich. Geschickt klaubt sie mit Hilfe des Tuches den vermeintlichen Zahn auf und betrachtet ihn.

„Mein Mann ist Zahnarzt, wissen Sie. Es macht mir nichts aus.“

Beide schauen sie nun auf das blutverschmierte Bröckchen.

„Die Wurzel muss noch drin sein. Sie haben sicher große Schmerzen, nicht wahr?“

Er nickt stumm. Sicher will sie wissen, wie das passiert ist, denkt er. Ich hätte lieber gleich gehen sollen, als sie kam.

„Ich bin nur auf der Durchreise“, sagt er hastig. Dabei legt er seine Hand auf die rechte Wange und fühlt eine deutliche Schwellung.

„So können Sie nicht reisen, junger Mann, vorher müssen Sie sich behandeln lassen. Kommen Sie mit mir, mein Mann ist ein guter Zahnarzt.“

Er schweigt und vermeidet es, sie anzuschauen.

„Vertrauen Sie mir“, flüstert sie, „ich bin mir sicher, Sie wollen nicht lange in Dresden bleiben, aber erst muss Ihr Zahn behandelt werden. Kommen Sie, wir wohnen nicht weit von hier. Sie sind nicht der Erste, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Damit meine ich Hilfe in einer besonderen Situation. Verstehen Sie?“

Auch er steht nun auf. „Ich weiß nicht, ob ich einfach so mitkommen kann. Heute ist doch Sonnabend, haben Sie da nicht geschlossen?“

Er mustert sie verstohlen und bemerkt, dass sie ganz anders aussieht als die älteren Frauen in seiner Heimatstadt. Ihr weißes, korrekt geschnittenes Haar schmiegt sich wie ein Helm um ihr feines Gesicht, ihre Lippen sind dezent geschminkt. Sie trägt einen marineblauen Blazer, einen grauen Kostümrock und feine Wildlederpumps. Sehr elegant erscheint sie ihm.

„Aber sie sind doch ein Notfall, machen sie sich keine Gedanken! Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Seewaldt. ... Und Sie, junger Mann, mit wem habe ich das Vergnügen?“

„Ich heiße Gerhard Erdmann.“

Sie versucht, ihre Erregung zu verbergen und beugt sich über den Apfelkorb, als würde sie die Qualität der Äpfel prüfen. Dann schaut sie ihn an, ein strahlendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Es geht ihm ins Herz und er fühlt sich wunderbar geborgen.

Er nimmt ihr den Korb ab und folgt ihr. Sie überqueren den Markt und biegen in eine schmale Seitenstraße ein. Vor einem Torweg hält sie inne. Er öffnet ihr die schwere Tür und sie gehen hinein. Eine weitere Tür führt zum Hof. Sie steht offen und lässt die Sonne in den düsteren Hausflur scheinen. Zwei kleine Jungen jagen einem Ball hinterher. Er hört das scheppernde Geräusch einer Mülltonne und schreckt nervös zusammen.

„Es ist alles in Ordnung.“ Frau Seewaldt legt ihre Hand sacht auf seinen Arm. „Das sind nur die Kinder.“

Eine steile Treppe führt hinauf in den zweiten Stock und endet vor einer weiß lackierten Wohnungstür. Sein Blick gleitet über ein kleines Bogenfenster im oberen Teil. Es zeigt ein elegantes Buntglasmotiv. Auf blauem Grund sieht man die schlanke Silhouette einer Frau. Ihr blondes, gewelltes Haar fällt herab bis zur Taille. Sie spielt auf einer Harfe und eine winzige Elfe schaut ihr dabei zu.

„Gefällt es Ihnen? Es ist original Jugendstil, mein Mann hat es aus einem Abbruchhaus gerettet.“

Er nickt wortlos, während er auf das Namensschild schaut.

So ein Zufall, sie heißen Seewaldt, denkt er. Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Sicher ist das ein gutes Omen, ich kann jetzt jede Menge Glück gebrauchen.

Frau Seewaldt führt ihn ins Wartezimmer.

„Machen Sie es sich bequem, setzen Sie sich! Ich sage nur schnell meinem Mann Bescheid.“

Er ist allein und schaut sich um. Auf einmal ist ihm zumute, als hätte er alle Angst und Hast draußen vor der Tür gelassen. Die dunkle Holzvertäfelung, das alte Parkett und die gemütlichen Korbsessel, all das hat einen liebenswert altmodischen Charme und gibt ihm das Gefühl einer Auszeit. Nun spürt er auch keinen Schmerz mehr, entspannt schließt er seine Augen und öffnet sie erst wieder, als er Schritte nahen hört. Ein älterer Herr im weißen Kittel steht vor ihm und reicht ihm die Hand.

„Sie sind also Herr Erdmann. ... Herzlich Willkommen, junger Mann. Meine Frau sagte mir, Sie hätten da ein kleines Zahnproblem. Eigentlich ist die Praxis am Sonnabend um diese Zeit schon geschlossen, aber für Sie machen wir mal eine Ausnahme. Kommen Sie gleich hier entlang, bitte sehr.“

„Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache, aber da ich auf der Durchreise bin, wäre es besser, wenn Sie mal nachschauen. Es blutet andauernd.“

„Entspannen Sie sich erst einmal. Lehnen Sie sich einfach zurück und machen Sie den Mund auf. ... In der Tat, da haben wir noch Arbeit. Ich werde Ihnen eine Spritze geben und dann entferne ich die Wurzel. Jetzt können Sie den Mund wieder schließen, ich muss Ihnen noch einige Fragen stellen.“

Der große alte Mann im weißen Kittel setzt sich auf einen Schemel und seufzt. Ihre Blicke treffen sich. Du tust mir nichts, denkt Gerhard, nein, du nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir, so wie ich auch deiner Frau vertraue.

„Haben Sie eine Allergie, ein Anfallsleiden oder sind Sie vielleicht Bluter?“

Gerhard schüttelt den Kopf. „Nein. Soviel ich weiß, ist mit mir alles in Ordnung!“

„Wirklich alles? Was haben Sie da für ein Hämatom an der rechten Schläfe, junger Mann? Das sieht aber nicht gut aus.“

Herr Seewaldt reicht ihm einen Spiegel und er sieht, dass sich die kleine rote Stelle, die er heute Morgen im Spiegel der Bahnhofstoilette sah, um das Dreifache vergrößert hat.

Im Schein der hellen Lampe leuchtet sie purpurrot.

„Ach das! Das ist nichts. Ich habe mich gestoßen, wissen Sie. ... Gestern, in der Werkstatt. Ich bin Schlosser in einem Landmaschinenbetrieb.“

Herr Seewaldt schmunzelt. „Ich weiß.“

Gerhard schickt sich an, den Stuhl zu verlassen. Schon setzt er seine Beine auf den Boden, doch Herr Seewaldt greift nach seiner Hand.

„Ich sehe es an deinen Händen, du bist Handwerker. Hände können viel. Sie reparieren Traktoren oder auch Zähne. Sie bauen Mauern, dem Menschen zum Wohl und manchmal auch zum Übel. Und sie können zuschlagen, um Menschen daran zu hindern, Mauern einzureißen. ... Du bekommst jetzt eine kleine Betäubung, dann ziehe ich den Zahn. Die Schläfe behandeln wir mit einer Heparin-Salbe. Danach musst du dich allerdings eine Weile ausruhen, bevor du weiterkannst. Nebenan steht eine Liege, Decken sind auch da. Schlaf ruhig, bei uns bist du sicher wie in Abrahams Schoß.“

„In Ordnung“, murmelt Gerhard verlegen und lehnt sich zurück. Er duzt mich, denkt er, er kennt mich doch gar nicht. Aber es stört mich nicht, es ist in Ordnung. Obwohl er ein Fremder ist, vertraue ich ihm. …

Noch betäubt von der Spritze macht er es sich nach der Behandlung auf der Liege bequem und schläft sogleich ein.

Als er erwacht, ist es bereits dunkel. Tastend bewegt er sich im Raum, findet endlich den Lichtschalter und schaut auf seine Armbanduhr. Noch in dieser Nacht will er über die Grenze. Leise öffnet er die Tür zum Flur. Er wird einfach gehen, ohne sich zu verabschieden. Eigentlich ist das nicht richtig, man stiehlt sich nicht einfach so davon. Aber länger kann er nicht warten, er muss die Dunkelheit nutzen, um unauffällig aus der Stadt zu kommen. Sie sind bestimmt noch wach, ältere Leute schlafen nicht mehr viel. Wenn sie hören, dass er aufgestanden ist, werden sie ihn sicher bitten, bis zum Morgen zu bleiben. Aber das ist zu gefährlich.

Er bückt sich, um seine Schnürsenkel zu binden. Als er sich wieder aufrichtet, stößt er gegen einen kupfernen Schirmständer. Gegenüber öffnet sich eine Tür, Frau Seewaldt steht vor ihm.

„Es tut mir leid“, stammelt er, „ich wollte Sie nicht aufwecken. Aber jetzt muss ich endlich los. Vielen Dank für alles und grüßen Sie ihren Mann.“

„Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir lassen Sie doch nicht mitten in der Nacht gehen. Außerdem müssen Sie etwas essen. Kommen Sie, sie sind unser Gast. Mein Mann wartet schon auf Sie.“

Gern nimmt er die Einladung an. Er hat Hunger, seit der Bratwurst am Mittag hat er nichts mehr gegessen.

„Na endlich, junger Mann“, begrüßt ihn Herr Seewaldt. „Ich dachte schon, Sie schlafen gleich durch bis Morgen. Haben Sie noch Schmerzen?“

„Nur noch ein bisschen, es geht.“

Frau Seewaldt kommt mit einem Tablett herein, stellt ihm einen Teller mit Schnitten hin und gießt Tee ein. Er bedankt sich verlegen.

Das glaubt mir keiner, denkt er. Wenn ich das jemandem erzähle. Fremde Menschen helfen mir. Einfach so, ganz uneigennützig.

Er schaut in das prasselnde Feuer des antiken Kamins und eine wohlige Wärme breitet sich in ihm aus. Es riecht würzig nach Holz. Auch das Ehepaar Seewaldt schaut still dem Spiel der Flammen zu, doch hin und wieder richten sie ihre Blicke zum Fenster und es sieht aus, als würden sie lauschend auf etwas warten. Helles Scheinwerferlicht fällt plötzlich in den Raum. Frau Seewaldt steht auf, schiebt den Vorhang beiseite und schaut hinaus. Man hört Motorengeräusch. Laute, brüllende Männerstimmen gellen durch die Nacht.

„Zieh die Vorhänge zu und setz dich um Gottes Willen hin, Eva.“

Herr Seewaldt steht auf und tut es selbst. Frau Seewaldt setzt sich wieder und Gerhard sieht, dass ihre Hände zittern.

„Sie kommen jede Nacht“, flüstert sie, „immer zur gleichen Zeit. Ich kann das nicht mehr ertragen.“

„Vielleicht sollte ich doch besser gehen.“

Auch er steht nun auf und lauscht. Man hört das Bellen einer Hundemeute, jemand brüllt etwas und das Gebell verstummt.

„Wenn du ihnen direkt in die Arme laufen willst“, sagt Herr Seewaldt, „dann musst du jetzt gehen. Aber gleich, sonst sind sie weg! Sie fahren jede Nacht durch die Neustadt, sie machen Razzia. Hier wohnen viele junge Leute und sie haben oft Gäste, die auf der Durchreise sind. ... Bleib nur ruhig, Junge, und setz dich schön wieder hin. Wir sind alt, zu uns kommt keiner. Eva, du bringst uns jetzt eine schöne Flasche Wein, nicht wahr, meine Liebe?“

Schweigend räumt Frau Seewaldt die Teetassen auf das Tablett. Gerhard steht auf, um ihr die Tür aufzuhalten und folgt ihr in die Küche.

„Du hast etwas unterschrieben, nicht wahr“, flüstert sie. „Ich habe gehört, wie du im Traum geredet hast. Mach dir keine Gedanken, ihre Zeit ist vorbei. Du gehst in die Botschaft, wir kennen da jemand in Prag, der dir helfen wird. Du wirst sehen, es ist ganz einfach.“

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

„Aber dafür doch nicht, das ist selbstverständlich“, antwortet sie hastig, während er zuschaut, wie sie die hauchdünnen Porzellantassen behutsam auf den Küchentisch stellt.

„Man muss sie wie rohe Eier behandeln, das Porzellan ist ganz fein und sie sind sehr alt. Sie stammen aus dem Haushalt meiner Schwiegermutter. ... Mein Mann sagt, sie sind kitschig. Aber das ist mir egal. Was zählt, ist einzig die Erinnerung.“

„Ja“, sagt er leise, „Erinnerungen sind wichtig.“

Früh erwacht er am nächsten Morgen und die Zeit zwischen Traum und Tag schenkt ihm eine Illusion. Er schlägt die Augen auf und schaut auf ein Regal. Mineralien sieht er, Steine verschiedener Art, Tannenzapfen und einen Strauß getrockneter Blumen, deren Namen er nicht kennt. Noch einmal schließt er seine Augen und sieht eine Gebirgslandschaft. Ein klarer Bach plätschert über Gestein, dunkle Tannen säumen einen Pfad. ...

Er setzt sich auf die Bettkante und seufzt. Nein, das hier ist kein Urlaub und er wird nicht gemütlich wandern, auch wenn Herr Seewaldt meint, nur so würde er unauffällig bis Prag gelangen. Schnell steigt er in seine Hose, um ins Bad zu gehen. Die fürsorgliche Frau Seewaldt hat ihn mit allem versehen, was er braucht, sogar ein elektrischer Rasierapparat liegt auf der Kommode. Kein Wunder, dass man denkt, man erwacht in einer Ferienpension.

Er kommt aus dem Bad, kämmt schnell sein Haar vor dem Schrankspiegel, doch dann hält er inne und dreht sich um. Über dem Bett hängt ein Bild. Es ist das Porträt eines jungen Mannes, eine Fotografie im Postkartenformat. Ein schwarzes Band, quer über die linke untere Ecke gespannt, gibt dem Betrachter darüber Auskunft, dass er einen Toten anschaut.

Sein Blick wandert zurück zum Spiegel und er fühlt, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichten, etwas Kaltes scheint durch ihn hindurchzugehen. Noch einmal geht sein Blick vom Spiegel zum Bild, der tote junge Mann sieht ihm sehr ähnlich, er könnte sein Bruder sein.

„Es wäre gut, wenn du dein Äußeres etwas verändern würdest, bevor du dich auf den Weg machst“, sagt Frau Seewaldt nach dem Frühstück zu ihm. „Deine Frisur ... Das lange Haar ist einfach zu auffällig, geradezu provozierend. Sicher verstehst du, was ich meine. Dein langes Haar reiht dich in die Kategorie derer ein, die ihnen verdächtig erscheinen und die sie argwöhnisch beobachten. Wenn du einverstanden bist, schneide ich es dir ab, meinem Mann schneide ich auch immer die Haare. Was meinst du?“

„Ich weiß nicht so recht. Sicher ist es auffällig. Wissen Sie, das lange Haar ist für mich so etwas wie ein Markenzeichen. Na ja, das klingt vielleicht blöd, schließlich bin ich ja keine siebzehn mehr. ... Aber irgendwie ist es auch ein Protest. Ich glaube, Sie verstehen das.“

„Natürlich. Du willst damit ausdrücken, dass du ein Individualist bist.“

„Ja“, sagt er hastig, „das bin ich vielleicht. Aber ich bin kein Einzelgänger.“

„Aber nein, so meine ich es nicht. Ich denke, du bist jemand, dem seine Freiheit viel wert ist und sicher hast du dich deshalb dafür entschieden, dieses Land zu verlassen.“

„Sie haben Recht, da ist was dran.“

Nein, denkt er, mehr werde ich ihr nicht sagen. Kein Wort von Susanne und dieser ganzen Geschichte mit dem Ausreiseantrag. Es ist besser, wenn sie es nicht wissen.

„Und? Was ist nun mit den Haaren?“

„Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer. Aber Sie haben mich überzeugt, es muss wohl sein.“

Er hört das Geklapper der Schere, spürt den leichten Druck des Kammes auf seiner Kopfhaut und sieht, wie die Strähnen zu Boden fallen. Ein eigentümliches Gefühl breitet sich in ihm aus. Ihm scheint, als würde sich mit den fallenden Haaren auch sein altes Leben von ihm verabschieden. Seltsam ist ihm zumute und schuld daran sind nicht die Haare, die vor ihm auf dem Boden liegen, sondern die Erinnerung an eine Zeit, als zwischen ihm und Susanne noch nicht die Rede davon war, dieses Land zu verlassen. Sein Leben war überschaubar und er hatte es sich ganz bequem darin eingerichtet. Doch jetzt ist alles anders und kein Weg führt mehr zurück. Ihm ist nun klar, dass er mehr verliert als nur ein paar Büschel Haare.

Sein altes Leben existiert nicht mehr und ein Neues ist noch nicht in Sicht.

Frau Seewaldt hält ihm einen Spiegel vor.

„Fertig! Na, was sagst du nun? Ich finde, es steht dir gut.“

Im ersten Moment glaubt er, das Gesicht eines Fremden zu sehen. Dieser Fremde sieht aus wie der junge Mann auf dem Foto.

Älter erscheint ihm nun sein Gesicht. Ein Gesicht mit herben Konturen sieht er, ein Gesicht, in dem das Leben erste Spuren hinterlassen hat. Er nahm sie bisher nicht wahr, wenn er sich im Spiegel anschaute, sein langes Haar verlieh seinem Äußeren eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit.

„Du musst dich erst daran gewöhnen, nicht wahr? Aber nun siehst du ganz anders aus und darum geht es ja! Wenn du jetzt noch was Anderes anziehst. ... Ich habe da eine Wetterjacke von meinem Sohn, die müsste dir passen.“

Er folgt ihr in das Zimmer, in dem er schlief und sie öffnet den Schrank. Eine kleine Weile steht sie still davor, dann nimmt sie eine Jacke heraus.

„Das ist eine gute Jacke“, sagt sie leise. „Ein englisches Fabrikat, die hält was aus. Mein Sohn hat sie in Prag gekauft.“

„Ist ihr Sohn tot?“

„Ja“, antwortet sie hastig, „das ist lange her, mehr als zwanzig Jahre. ... Aber so etwas trägt man immer, diese Jacke ist zeitlos. Es ist eine Barbourjacke. Gewachst, da geht nichts durch. Kein Regen, kein Wind, nicht einmal Feuer, wenn man dem Hersteller glauben darf.“

„Es tut mir leid, das mit ihrem Sohn“, sagt er leise. Er sieht die Trauer in ihren Augen und er denkt an seine Mutter, von der er sich nicht verabschieden konnte.

„Zieh sie an, sie müsste dir passen.“

Er schlüpft in die Jacke und sie schaut ihm lächelnd zu.

„Perfekt! Und vor allem nicht so auffällig wie der Parka. Damit meine ich, mit dem Parka ist es so wie mit den langen Haaren.“

„Ich weiß. ... Und Sie haben ja recht. Aber werden Sie die Jacke nicht vermissen? Ich meine, weil es doch die Jacke Ihres Sohnes war.“

„Ach ... Eine Jacke ist nur eine Jacke! Ich glaube, Herfried würde sich sehr darüber freuen, dass diese Jacke noch eine Verwendung findet.“

„Wenn Sie es so sehen, dann nehme ich sie gern. Sie haben recht, ich sehe mit den kurzen Haaren und dieser Jacke ganz anders aus. Ich möchte mich noch einmal für alles ganz herzlich bedanken.“

Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Herr Seewaldt kommt herein und bringt einen Schuhkarton mit.

„Na? Wird das hier eine Modenschau? Die Jacke sitzt ja wie angegossen. Aber mit deinen Turnschuhen wirst du nicht weit kommen! Hier, zieh die mal an, das sind Wanderschuhe und sie sind so gut wie neu. Ich denke, sie werden dir passen.“

„Ja, das ist genau meine Größe.“

„Na dann, worauf wartest du noch!“

Er schlüpft in die robusten Schuhe und schnürt die Senkel. Dann richtet er sich auf und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

„In neuen Schuhen in ein neues Leben“, sagt Herr Seewaldt und es klingt seltsam feierlich.

„Unser Sohn würde sich freuen, wenn er wüsste, dass du in seinen Schuhen in eine bessere Zukunft gehst. Und nun setz dich und hör gut zu.“

Herr Seewaldt reicht ihm einen Zettel.

„Wo du über die Grenze gehst, haben wir ja besprochen. Du meldest dich bei dieser Adresse und fragst nach Hans Rosenbaum. Sag ihm, dass dich Eva schickt und du möchtest einen Fiaker mieten. Der Fiaker ist das Kennwort. Natürlich könntest du auch auf eigene Faust über den Zaun der Botschaft steigen. Aber wieso solltest du dich unnötig in Gefahr begeben, das ganze Viertel wimmelt nur so von Stasi-Leuten. Hans Rosenbaum kennt sich gut aus. Du bist nicht der Erste, dem er hilft. Er wird dich unbemerkt in die Botschaft bringen. Hier hast du unsere Adresse und die Telefonnummer. Melde dich, wenn du drüben bist, wir würden uns freuen!“

Herr Seewaldt kramt eine Klarsichthülle aus seiner Westentasche und schiebt einen kleinen Zettel hinein. „Unsere Telefonnummer. Die legst du in den Schuh, unter die Einlegesohle. Man weiß ja nie ...“

Gerhard steht am Torweg und schaut unschlüssig die Straße hinauf.

Frau Seewaldt drückt seine Hand. „Und grüß mir das goldene Prag“, flüstert sie. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

An der Ecke wechselt er die Straßenseite und weicht den Menschen aus, die vor einem kleinen Geschäft in langer Schlange anstehen. Schnell hat er die kopfsteingepflasterte Straße hinter sich gelassen, passiert eine Elbbrücke und läuft den Weg hinauf in die Berge. Noch einmal schaut er hinab ins Tal, dort liegt die Stadt im warmen Licht des Spätsommertages.

„Du hast mir Glück gebracht, Elbflorenz“, flüstert er. „Es ist nur schade, dass ich keine Zeit habe, um dich richtig kennenzulernen.“

Am anderen Ufer sieht man all das, was er schon immer mal sehen wollte, den Zwinger, das Grüne Gewölbe, die Trümmer der Frauenkirche, die Semperoper. Nun war er in Dresden und hat nichts von all dem gesehen.

Während sein Blick über die Elbe schweift, denkt er daran, welche Konsequenzen diese Flucht für ihn hat. Wenn sich das Tor der Botschaft hinter ihm schließt, dann wird die Welt hinter diesem Tor für ihn in Zukunft unerreichbar sein. Für immer? Das kann nicht sein, denkt er. Es kann doch nicht sein, dass ich nie wieder zurückkommen kann. Er denkt an seine Heimatstadt, an all die Plätze, die er liebt. Hilflosigkeit paart sich mit Wut, er schließt die Augen und spürt wieder den pochenden Schmerz in der rechten Schläfe. Herrn Seewaldts Worte fallen ihm ein.

„Die Dinge sind in Fluss“, sagte er in der Nacht zu ihm. „Glaube mir, dieser Fluss wird zum reißenden Strom. Nichts kann ihn mehr aufhalten.“

Was meinte er mit seinen dunklen Andeutungen? Vom Strandgut sprach er, das der Fluss an die Ufer spülen wird und von einer neuen Zeit ohne Mauern und Stacheldraht. ...

Schnell wendet er sich ab und läuft hinauf in den Wald. Eintauchend ins dunkle Tannengrün läuft er höher und höher, bis hinauf zur Kuppe des Berges. Er orientiert sich am Stand der Sonne und sein Blick gleitet über das weite Tal. Dort drüben liegt der Berg, über dem er nach Einbruch der Dunkelheit gehen wird. Bis dahin wird er durch den Wald hinab ins Tal laufen.

„Ich habe keine Wahl“, flüstert er, „ich muss jetzt da rüber.“

Zur gleichen Zeit steht Frau Seewaldt am Fenster und lauscht. An diesem Abend ist es still in der Dresdener Neustadt. Herr Seewaldt steht auf und geht zu ihr.

„Nun komm und setz dich endlich hin, Eva. Heute passiert hier nichts mehr.“

Sie wendet sich zu ihm und er sieht die Angst in ihren Augen.

„Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie oben im Wald. Sie werden ihn dort finden!“

„Aber nein! Setz dich hin, du machst mich ganz nervös. Sie sind heute alle am Bahnhof.“

„Woher willst du denn das wissen?“

„Ich habe meine Quellen, Liebste. Möchtest du ein Glas Wein?“

„Ja gern, es wird mich beruhigen. Dann kann ich schlafen.“

„Mach dir keine Sorgen, er schafft es. Ich weiß, das hat dich alles sehr mitgenommen. Ich bekam ja auch einen tüchtigen Schreck, als ich ihn sah. Sie sind sich ähnlich wie Brüder. Na ja, schließlich sind sie Cousins, da hat man den gleichen Stammbaum.“

„Aber warum dieses ganze Versteckspiel, Adrian? Ich finde das irgendwie unwürdig, wir haben doch nichts vor ihm zu verbergen! Warum hast du darauf bestanden? Ich habe es akzeptiert, aber ich muss schon sagen, es verwirrt mich und ich verstehe dich absolut nicht.“

„Eva, er befindet sich in einer akuten Stresssituation. Was er mir erzählt hat, das will ich dir ersparen. ... Ich denke, du hast Fantasie genug, um dir vorstellen zu können, wie sie mit ihm umgegangen sind. Es ist ein Wunder, dass sie ihn gehen ließen, aber sicher stehen sie spätestens Montag früh mit einem Haftbefehl vor seiner Tür. Beten wir zu Gott oder zu wem auch immer, dass er dann schon einen Fiaker gemietet hat. ... Einen Fiaker. ... Originell, nicht wahr? Typisch Hans. Nun schau doch nicht so ängstlich, Eva, entspann dich mal. Ich konnte ihn doch in seiner Situation nicht mit unseren familiären Problemen belasten!“

„Ich habe keine Ruhe. Sollten wir nicht wenigstens seine Mutter benachrichtigen? Wenn ich mir vorstelle, was sie sich für Sorgen macht! Und sein Vater. ... Ach, jetzt muss ich lachen, der wird sich vor Scham winden! Sein Sohn, ein Republikflüchtling! Da bin ich richtig schadenfroh. Ist das schlimm? Es gehört sich jedenfalls nicht.“

„Sei nur ruhig schadenfroh, Eva, das erleichtert. Und was sich gehört oder nicht gehört, das lassen wir mal hübsch beiseite. Dieses Land befindet sich zurzeit im Ausnahmezustand und wenn die Obrigkeit Jagd auf das Volk macht, dann müssen wir uns auch nicht mehr an Anstandsregeln halten!“

„Du machst mir Angst, wovon sprichst du eigentlich? Meinst du, es gibt einen Bürgerkrieg?“

„Das wollen wir doch nicht hoffen.“

Schweigend schauen sie in die Flammen, Adrian greift sacht nach ihrer Hand.

„Versprich mir, vorläufig kein Wort zu Anneliese, ja? Weder telefonisch noch brieflich. Wir würden ihm nur schaden. Wenn er sich meldet, dann kannst du sie benachrichtigen. Oder besser erst, wenn wir wissen, dass er drüben gut angekommen ist.“

„Wieso? Meinst du etwa, sie sind auch in der Botschaft?“

„Was denkst du denn! Sie sind überall, das weißt du doch. Sie wissen genau, dass ihre Zeit bald zu Ende sein wird und das macht sie noch gefährlicher.“

„Du hast recht, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

„Außerdem hat er mir versprochen, dass er sich bei seinen Eltern meldet, wenn er drüben ist.“

„Ach! Sag bloß, ihr habt über Schwedt geredet?“

„Ja. Heute Nacht, nachdem du zu Bett gegangen warst. Nicht, dass du jetzt denkst, ich hätte ihn ausgefragt. Er erzählte von ganz allein. Er stand so unter Druck, er musste einfach reden. Sein Vater nannte ihn einen ehrlosen Vaterlandsverräter, als er erfuhr, dass er ausreisen will.“

„Das sieht ihm ähnlich, etwas anderes hätte ich auch nicht von ihm erwartet. Aber sag mal, hast du dir denn nicht die Zunge abgebissen, als er von Schwedt sprach?“

„Als er meinte, das wäre ja ein Zufall, seine Mutter sei eine geborene Seewaldt, da war ich nahe dran, es ihm zu sagen. Aber du kennst mich doch, ich spiele gern mit verdeckten Karten. Lass ihn erst einmal in Sicherheit sein, Eva. Dann werden wir ihm alles erzählen.“

„Du bist gut! Höchstwahrscheinlich sehen wir ihn nie wieder.“

„Glaubst du das wirklich Eva? Hör mir mal zu, bald ist der ganze Spuk vorbei und jeder kann reisen, wohin er will!“

„Mal sehen, vielleicht. ... Ob wir das noch erleben? Ich würde gern mal nach Italien, Adrian. Guck mich nicht so an, man muss auch ein bisschen träumen dürfen! Was hat er denn von Anneliese erzählt, hat er gar nichts über seine Mutter gesagt?“

„Nichts Persönliches. Sie lebt noch, Eva.“

„Das weiß ich ja wohl selbst, schließlich bin ich es ja, die den Kontakt hält! Sei doch nicht so herzlos, sie ist deine Schwester.“

„Er war mit sich selbst beschäftigt und mit dem, was er gerade erlebt hatte. Was hätte ich denn sagen sollen! Ich hielt es für klüger, vorerst zu schweigen.“

„Erinnerst du dich, wie wir uns damals mit Anneliese in Berlin trafen? Karl-Heinz war zu einem Lehrgang, er durfte ja nichts davon wissen. Da hatte sie Gerhard dabei. Es war das einzige Mal, dass wir ihn gesehen haben. Wir trafen uns in Friedrichsfelde und gingen in den Tierpark. Er war ja noch ein Knirps, höchstens drei Jahre alt. Aber er sprach schon sehr gut und Anneliese hatte Angst, dass er seinem Vater was erzählt. Es ist so lange her, wo ist nur die Zeit geblieben, Adrian. ... Als ich ihn auf dem Markt sah, das war so unwirklich, fast wie ein Traum. Diese Ähnlichkeit. ... Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ihn dort traf. Man könnte fast glauben, eine höhere Macht hatte ihre Hände im Spiel.“

„Zufälle gibt es nicht, meine Liebe. Je älter ich werde und je öfter ich rückschauend auf mein Leben blicke, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, es gibt einen großen Plan. ... Hast du eigentlich Annelieses Briefe aufbewahrt?“

„Ja, natürlich. Warte, sie sind hier im Sekretär.“

Sie reicht ihm ein Bündel vergilbter Briefe und spürt in diesem Augenblick, wie schnell ihr Herz schlägt. Alles längst Vergangene ist wieder gegenwärtig, befindet sich jetzt hier im Raum.

„Hier schrieb sie über ihn. ... Soll ich es dir vorlesen?“

„Ja, bitte.“

„Schwedt/Oder, den 12.12.1963. Meine Lieben, eure Post erhielt ich gestern auf dem üblichen Umweg. Ich habe mich sehr über die Fotos gefreut, aber schickt lieber keine mehr. Ihr wisst ja, wie er ist und wenn er sie sehen würde, dann ist hier die Hölle los. Euer Herfried ist ja tüchtig gewachsen und ich finde, dass Gerhard ihm nachkommt. Sie sehen sich ähnlich, als wären sie Brüder.“

Er lässt den Brief sinken und sucht ihren Blick. Sie hört das trockene Rascheln des Papiers, riecht den faden Staubgeruch, der dem alten Brief anhaftet und denkt an jene Zeit, als sie noch nicht ahnte, wie bald sie Herfried verlieren würde.

„Haben wir noch die alten Bilder, Eva?“

„Ja, ich hebe doch alles auf. Aber ich finde, für heute ist es genug. Lass uns schlafen gehen.“

In dieser Nacht steht sie wieder am Ufer der Moldau, der alte Traum sucht sie heim. Wenn sie ihn träumt, dann fühlt es sich an, als wäre sie selbst dabei gewesen. Doch was ihrem Sohn in Prag geschah, wurde ihr nur erzählt und sie weiß, es war heller Tag, als er tot am Ufer der Moldau lag. In ihrem Traum aber ist es Nacht und sie schaut hinüber zur Karlsbrücke.

Im Licht der alten Laternen erscheinen ihr die vertrauten, imposanten Skulpturen kalt und fremd. Bedrohlich wie mahnende Zeigefinger ragen sie in den Nachthimmel.

Ihr Blick tastet sich am Ufer entlang, sie sucht ihren Mann und erkennt ihn inmitten einer kleinen Gruppe Menschen. Auch sie schaut nun auf das, worauf alle schauen. Neben einer Trauerweide liegt ein Körper, liegt dort ganz still unter einer Wolldecke, auf deren Mitte ein rotes Kreuz leuchtet. Ja, es leuchtet in der Dunkelheit grell und schrill im Licht eines Scheinwerfers. Das laute Geheul einer Sirene fällt ein in die Stille. Sie schaut hinauf zum Himmel und dann dreht sich plötzlich die Erde unter ihr. Sie dreht sich schnell, immer schneller, bis eine mächtige Kraft sie zu Boden schleudert. ...

Als sie erwacht, ist weit nach Mitternacht. Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Lauschend steht sie am Fenster. Nein, denkt sie, sie sind nicht da, heute nicht. Aber wo sind sie? Sind sie wirklich alle am Bahnhof oder durchkämmen sie mit ihren Hunden den Wald. ... Herrgott im Himmel, bitte hilf, dass sie ihn nicht finden.

Sie geht zum Sekretär. Mit fliegenden Fingern öffnet sie ihn hastig und findet das kleine Kästchen, in dem sie die Briefe aufbewahrt, deren Botschaft ihr bis zum heutigen Tag absurd erscheint. Obwohl sie weiß, dass Herfried tot ist, lässt sie es nur selten zu, dass die Wahrheit sich wie ein Dolch in ihr Herz bohrt.

„Euer Schmerz ist auch unser Schmerz. Wir haben Herfried geliebt wie unseren eigenen Sohn. Seid stolz auf ihn, er war ein wunderbarer Mensch, ein Held des Prager Frühlings und alle, die ihn kannten, liebten ihn. Hans und Martha.“

Sie lässt den Briefbogen sinken und schließt die Augen.

„Keiner wird mehr sterben, weil er ein freier Mensch sein will“, sagt sie leise, „Adrian hat recht, ihre Zeit ist abgelaufen.“

Er läuft über die Karlsbrücke und vergisst dabei den Grund seiner Reise nach Prag. Die Angst der letzten Nacht, die gefahrvolle Fahrt im überfülltem Zug, all das ist ausgelöscht in dieser Stunde, verdrängt vom staunenden Bewusstsein hier auf dieser Brücke zu sein. Er folgt dem Strom der Fußgänger, doch ab und an hält er inne, um den Straßenmalern über die Schulter zu schauen. Schnell skizzierte, elegante Porträts sieht er auf ihren Staffeleien, duftige Aquarelle und großformatige Acrylbilder, auf denen man die Prager Burg vielfarbig leuchten sieht.

Verlockend der Gedanke, selbst hier zu sitzen und zu malen. Ihm scheint, als würde es am Ufer der Moldau ewig Sommer sein und jeder Tag ein Ferientag, wenn man sich hinsetzt, malt und alles andere vergisst. Und abends geht man angeln, weiter stromaufwärts ... Und dann ein Feuerchen machen, um den Fisch zu braten.

Ich kann auch malen, denkt er, und sogar ganz gut. Wenn ich mich nur trauen würde, wie als Kind mit dem Tuschkasten. Zeichnen war mein Lieblingsfach in der Schule und Mutter hat meine Bilder einrahmen lassen, auch wenn Vater sich darüber mokierte. Weshalb war er eigentlich immer so sauer, wenn ich lieber malen oder lesen wollte, statt mit ihm auf den Sportplatz zu gehen? ... Weil ich Offizier werden sollte, so wie er.