Egon Schiele - Tod und Mädchen - Hilde Berger - E-Book

Egon Schiele - Tod und Mädchen E-Book

Hilde Berger

4,9

Beschreibung

Egon Schieles Aktdarstellungen von Frauen und Kindern provozieren auch heute noch. Im Wien des Jahres 1912 brachten sie ihn ins Gefängnis. Wer aber waren die Mädchen und die Frauen, die ihm Modell standen? Wie lebten sie und wie war ihre Beziehung zu dem exzentrischen jungen Künstler, der 1918, kaum achtundzwanzigjährig, an der Spanischen Grippe starb?

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EGON SCHIELE – TOD UND MÄDCHEN

HILDE BERGER

EGON SCHIELE –TOD UND MÄDCHEN

Roman

Mit einem Nachwort von Dieter Bernersowie Drehbuchseiten und Filmstillsaus dem gleichnamigen Film

Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

Satz: Daniela Seiler

Hergestellt in der EU

Hilde Berger: Egon Schiele – Tod und Mädchen

Roman

Mit einem Nachwort von Dieter Berner

sowie Drehbuchseiten und Filmstills

aus dem gleichnamigen Film

Titelbild: Egon Schiele. Selbstbildnis mit Lampionfrüchten (Ausschnitt), 1912, Leopold Museum, Wien, Inv. 454 | © Leopold Museum, Wien

Gefördert durch:

MA 7 – Kulturabteilung der Stadt Wien

Land Niederösterreich

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2018

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-457-4

Für Denker und Künstler sind die Frauen nichts anderes als zufällige Anregungsmittel, die er geschickt benützt, um durch sie seinen geistigen Stoffwechsel zu steigern, vorübergehender Zündstoff, den er verbrennt, um durch ihn sein eigenes Feuer zu wärmen. Sie sind für ihn dasselbe wie Alkohol, Nikotin, schwarzer Kaffee. Er braucht sie für den Moment, aber er verbraucht sie auch vollständig und restlos.

Egon Friedell

EDITH

E. hat mich in seiner Weise sicher lieb! Doch er will nicht die kleinsten Gedanken mit mir teilen, lässt mich abseits stehen und lässt mich nicht teilhaben an dem Entstehen und Werden des Gedankens. Wenn ich ein Kind hätte – ob es dann für mich besser wäre?

Edith Schiele, Tagebucheintrag, 16. April 19181

Im Oktober neunzehnhundertachtzehn, wenige Wochen bevor der Weltkrieg zu Ende geht, zählt man in Wien tausendsiebenhundertfünfzig Personen, die an einem gefährlichen und sehr ansteckenden Grippevirus erkrankt sind. Achthundertvierzehn Menschen finden innerhalb von sechs Tagen den Tod, am Morgen des achtundzwanzigsten Oktobers stirbt Edith, eine junge Frau, schwanger im sechsten Monat.

Ihr Bauch, obwohl noch nicht sonderlich gewölbt, zeichnet sich deutlich unter dem Leichentuch ab, weil ihr übriger Körper so mager ist. Die Füße der Frau, die unter dem Tuch hervorlugen, sind schwarz verfärbt, und auch ihr Gesicht ist voller dunkler Flecken, nicht schwarz wie die Füße, sondern mahagonifarben. Der Leichnam wird aus hygienischen Gründen nicht in die Leichenaufbewahrungshalle des zuständigen Friedhofs in Ober Sankt Veit gebracht, denn man befürchtet, die Leichenträger könnten sich an der Lungenpest, wie man die Krankheit auch nennt, anstecken. Seit Beginn des nasskalten Herbstwetters kommt man mit den Beerdigungen kaum nach. Holzsärge sind Mangelware geworden, und es geht das Gerücht, wenn der Krieg noch länger andauert, müsse man die Leichen wochenlang auf Eis legen, um sie schließlich in Papiersäcken zu bestatten.

Die junge Frau liegt bereits mehrere Tage dort aufgebahrt, wo sie gestorben ist, in einem Gartenhaus in der Wattmanngasse im dreizehnten Wiener Gemeindebezirk. Das Gebäude hat große Fenster in Richtung Westen, durch die Ritzen bläst der Schneewind und die Feuchtigkeit kriecht die Wände hoch. Ein junger Mann hat es erst vor einem halben Jahr gemietet, ein Maler, er wollte Fresken entwerfen, dafür schien ihm das Haus ideal, denn die Räume waren hoch und hell. Er war glücklich, weil er nun zum ersten Mal in seinem Leben ein wirklich großes Atelier besaß, als es aber Herbst wurde – und der Herbst setzte früh ein in diesem Jahr, mit Schneeregen und Sturm –, da stellte sich heraus, dass die hohen Räume in der kalten Jahreszeit nur schwer zu heizen waren. Der kleine Vorrat an Kohle war schnell aufgebraucht. Der Maler wartete vergeblich auf eine neue Kohlelieferung, er schrieb Briefe an seine Freunde und an seine Gönner, er bat inständig um einen Handwagen voll Brennmaterial, denn er fror und fürchtete, ebenfalls zu erkranken, wie seine Frau. Aber im Oktober neunzehnhundertachtzehn, zu Beginn des fünften Kriegsjahres, gab es in Wien kein Heizmaterial zu kaufen. Die Lagerhallen bei den Bahnhöfen waren leergeplündert bis auf das letzte Stück Kohle. Wer einen Garten hatte, machte sich daran, die Bäume umzusägen, und verheizte das feuchte Holz.

Der junge Künstler hatte sogar schon daran gedacht, den alten Magnolienbaum im Vorgarten zu fällen, aber er hatte noch nie in seinem Leben einen Baum gefällt, dafür waren seine Hände zu feingliedrig und sein Herz zu schwach. Ein Kinderherz hätte er, sagten die Ärzte, körperliche Anstrengungen sollte er meiden. Er hat auch nie in seinem Leben einen Baum gepflanzt, wie es von einem Mann erwartet wird. Er hat auch kein Haus gebaut. Aber er hat Bäume gezeichnet und Häuser gemalt wie sonst keiner, und Menschenkörper wie offene Wunden, und Gesichter, die einen bis in den Traum verfolgen. Das Gesicht seiner Frau hat er wenige Stunden vor ihrem Tod gezeichnet, mit schwarzer Kreide, zwei Skizzen auf Papier. Es waren seine letzten Zeichnungen von mehr als dreitausend.

Edith war die Ehefrau dieses jungen Malers gewesen. Im Mai des ersten Kriegsjahres hatte sie ihn geheiratet, aus einer romantischen Laune heraus. Im Mai des vierten Kriegsjahres, als Edith merkte, dass sie schwanger war, gab es die ersten geheimen Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Trotzdem dauerten die Kämpfe und die Belagerungen noch ein halbes Jahr an und somit auch der Hunger in den Städten. Edith hatte im Verlauf der Schwangerschaft an Gewicht verloren statt zugenommen. Der Viertelliter Milch, der ihr wie allen Schwangeren in Wien täglich zustand, war wohl nicht ausreichend gewesen. In ihren letzten Nächten träumte sie von saftigen, schwarzen Brotschnitten mit dicker, weißer Butter drauf. Aber Butter war nicht einmal mehr gegen viel Geld im Schleichhandel zu bekommen. Die Stadt war ausgehungert worden. Die Kinder hörten auf zu wachsen, und die Hundebesitzer ließen ihre Tiere nicht mehr auf die Straße, weil sie nicht wollten, dass sie irgendwo in einem Suppentopf landeten. Selbst Eichkätzchen wurden gejagt und ausgekocht. Das Brot, das man mit einigem Glück nach stundenlangem Anstellen beim Bäcker bekam, war grau und trocken wie Sägespäne. Was da in den Vorstadtmühlen als Mehl verkauft wurde, war nichts als Staub und Abfall. Sicher waren Käfer und Mäusedreck mit vermahlen, übel konnte einem werden, wenn man nur daran dachte. Nein, sagte Edith, da sterbe ich lieber, bevor ich dieses Zeug esse.

Als junges Mädchen hatte Edith gemeinsam mit ihrer Schwester Adele ein Lyzeum besucht, eine Schule für höhere Töchter. Sie war in Haushaltskunde unterrichtet worden, sie wusste viel über gesunde Ernährung, über Hygiene und Kindererziehung. Sie hatte auch Französisch, Englisch, Klavierspiel und Kunstgeschichte gelernt. Sie war dazu erzogen worden, einen Mann zu heiraten und mit sanfter Hand sein Geschick und das ihrer Kinder zu lenken. Sie hatte sich darauf gefreut, einmal einen eigenen Haushalt zu leiten, die Dienstboten auf den Markt zu schicken und abendliche Einladungen zu arrangieren. Doch als Edith endlich darangehen konnte, für sich und ihren Mann eine Wohnung nach ihren Vorstellungen einzurichten, hatten die Tischler kein Holz mehr für zivile Aufträge wie Esstische und Kleiderschränke. Es gab auch längst keine Kleider und Schuhe mehr zu kaufen, die man in die Schränke hätte geben können, und der Speisezettel der Wiener bestand bald nur mehr aus Brennnesselsuppe. Um Brennnesseln musste man niemanden auf den Markt schicken. Brennnesseln wuchsen unter der Hadikbrücke zwischen den Steinen im Wienflusstal. Wenn man die Dienstmagd früh genug losschickte, schaffte sie es noch vor dem Frühstück, einen Korb voll zu ergattern.

Wer nur irgendwie konnte, verließ die Stadt und versuchte die Sommerfrische bis in den späten Herbst auszudehnen. Der junge Maler hatte vor dem Krieg seine Sommerferien gerne am Wörthersee verbracht, auf einem Bauernhof bei Pörtschach. Dort wäre jetzt der richtige Platz für eine schwangere Frau, sagte er, dort sollte sie Kräfte sammeln für die Geburt des Kindes und das Ende des Krieges abwarten. Lange könnte es ja nicht mehr dauern. Zuerst hatte Edith protestiert. Sie wollte nicht aufs Land, nicht schon wieder! Sie sei ein Stadtmensch, ohne Kino und Kaffeehaus könne sie nicht leben! Dabei waren die Kinos seit Sommerbeginn ohnehin geschlossen und würden den Betrieb so bald nicht wiederaufnehmen, und die Kaffeehäuser hatten nur mehr bis zum Einbruch der Dunkelheit geöffnet, weil die Stadtverwaltung Strom sparen musste. Erst als ihre Schwester Adele dazu bereit war, sie nach Kärnten zu begleiten, sagte Edith zu.

Die Bäuerin, bei der die Schwestern Unterkunft fanden, hatte einen Hühnerstall beim Haus, außerdem zwei Ziegen und ein paar Schafe auf der Weide. Täglich gab es frische Eier zum Frühstück und Ziegenmilch, die, wenn es nach der Frau ging, das reinste Wundermittel für Schwangere war. Adele besorgte für sich und die Schwester Fahrräder, sie wollte die Gegend erkunden. Die Wiesen waren üppig, alles blühte, und beim Bootshaus am See lagen die Ruderboote bereit. Aber Edith ging nicht aus dem Haus, sie saß die meiste Zeit im Zimmer und las ein wenig. Ihre Beine waren angeschwollen und schmerzten. Besonders aber schmerzte sie die Trennung von ihrem Mann. Sie sehnte sich nach ihm, nach seinen Armen, sie wollte gehalten und liebkost werden. Seit sie schwanger war, war dieses Bedürfnis stärker als je zuvor. Sie schrieb ihm sehnsüchtige Briefe und wartete vergeblich auf eine Antwort.

Am Abend servierte die Bäuerin hin und wieder ausgekochten Hammelkopf. Wenn Edith sich dann erschöpft zu Bett legte, spürte sie, wie sich ihr ungeborenes Kind im Bauch bewegte. Das fette Essen verursachte ihr Sodbrennen, sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Sie horchte auf das Jaulen des Hofhundes und zählte die Sekunden, die es dauerte, bis von weither ein einsames Kläffen als Antwort kam. Sie dachte an ihren Mann, und es quälte sie die Vorstellung, dass er sie gerade in diesem Moment betrügen könnte – mit einer dieser Frauen, die jetzt wieder häufiger zu ihm ins Atelier kamen und die sich gegen einen Stundenlohn von drei Kronen vor ihm nackt auszogen. Mit seinen schmalen, feingliedrigen Händen, die Edith so vertraut waren, berührte er vielleicht in diesem Moment eine andere Frau, fasste ihr ins Haar, drehte ihren Kopf mit einem festen Griff zur Seite – und immer endeten diese qualvollen Phantasien damit, dass die fremde Frau plötzlich Adeles Gesicht hatte. Immer diese Ungewissheit, ob es nicht tatsächlich so war, dass ihr Mann und ihre Schwester die längste Zeit schon ein Liebespaar waren.

Edith schaute in das vertraute Gesicht der Schwester, die neben ihr schlief. Bei jedem Atemzug blähten sich Adeles Backen, dann ließ sie die Luft geräuschvoll zwischen den leicht geöffneten Lippen entweichen. Edith beneidete ihre Schwester um den Schlaf. Sie selber lag lange wach und dachte darüber nach, was für sie eher zu ertragen wäre: wenn ihr Mann sie mit Adele betrog oder mit einer fremden Frau.

Im Jahr bevor der Krieg begann war die Familie Harms, ein älteres Ehepaar mit ihren erwachsenen Töchtern Edith und Adele, vom zweiten Bezirk in den dreizehnten übersiedelt. Sie bezogen in der Hietzinger Hauptstraße ein stattliches weißes Haus mit schmiedeeisernen Amphoren neben dem Haustor und steinernen Girlanden über den gewölbten Fensterbögen der Beletage, wie man in Wien zum ersten Stockwerk sagte. Die Schwestern standen oft am Fenster und schauten hinüber zu dem efeuüberwachsenen Haus auf der anderen Straßenseite, in dem der junge Maler wohnte. Er war eher klein von Statur, doch sein schmales Gesicht und erst recht sein dichtes schwarzes Haar, das widerborstig in die Höhe stand, ließen ihn größer erscheinen. In seinen schwarzen Hosen und in seinem stets korrekt geknöpften Jackett sah er aufregend elegant aus, aber noch viel aufregender waren die vielen Damenbesuche, die er bekam.

– Schau, jetzt kommt wieder eine zu ihm!

Adele kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, wer diese Person war, die den schmalen Weg zum Hintereingang des Vis-à-vis-Hauses entlangging. Zwei Stunden, manchmal auch drei, dauerte es, bis die Besucherin wieder herauskam, und kurz danach folgte meistens die nächste.

– Was glaubst du, Edda, ob die sich nackt vor ihm auszieht?

Edith blickte ihre Schwester mit großen Augen erschrocken an und wusste keine Antwort. Wenn es so etwas wie eine Rollenaufteilung zwischen den Schwestern gab, dann war die zwanzigjährige Edith die Unerfahrene. Ihre Seele war rein und kindlich. Adele hingegen war die Abgebrühte, sie war vier Jahre älter, sie glaubte genau zu wissen, worauf es den Männern ankam. Die Frauen, die regelmäßig in das Haus auf der anderen Straßenseite kamen und wieder gingen, beschäftigten sie jedenfalls sehr. Es waren magere Geschöpfe, denen man die Armut ansah und ihre Herkunft aus den Vorstädten. Sie hatten knochige Gesichter mit dunklen Ringen unter den Augen. Adele vermutete, dass sie allesamt Huren waren. Edith hielt dagegen, es könnte sich bei den Frauen um bislang unbescholtene Töchter aus verarmten Familien handeln, die sich da drüben in dem efeuüberwachsenen Haus auf irgendeine Art und Weise erniedrigen müssten, um ein paar Kronen zu verdienen, weil sie einen alten kranken Vater zu ernähren hätten oder kleine mutterlose Geschwister: Schicksale, wie sie die Menschen in den Romanen erlebten, die Edith las. Adele aber blieb dabei: Dort drüben gingen höchst liederliche Frauenzimmer aus und ein.

Eine Zeit lang mussten die beiden sich mit solchen und ähnlichen Vermutungen über die Vorgänge im Haus gegenüber zufriedengeben, bald aber sollten sie es genauer wissen. Unterm Dach der weißen Villa gab es nämlich ein leerstehendes Mansardenzimmer, von da aus konnte man direkt in das Atelier des Malers schauen. Besonders günstig war die Sicht nach Einbruch der Dunkelheit, wenn elektrisches Licht im Atelier brannte, eine einfache Glühbirne, die von der Decke baumelte. Ach Gott, wie war dieser Mensch arm! Ein Stuhl, eine Vitrine und ein großer Spiegel, das war alles. Die Staffelei stand nahe am Fenster. Der Maler saß meistens auf dem Stuhl oder stand neben der Staffelei, einen Fuß hatte er auf einem Schemel abgestützt, am Knie den Zeichenblock, so zeichnete er die Frauen. Manchmal waren auch zwei Frauen gleichzeitig bei ihm, sie lagen beieinander oder übereinander –aus der Entfernung waren die Einzelheiten leider kaum zu erkennen. Wieder war es der Phantasie der Schwestern überlassen, die Szene zu deuten.

Eines Abends beobachteten die beiden, wie der Maler sich splitternackt auszog und vor dem großen Spiegel seltsame Verrenkungen vollführte, was Edith zu dem Schluss kommen ließ:

– Er onaniert.

– Seit wann kennst du dich da aus, Edda?

Ediths Wissen stammte aus einem Buch, das sie einmal im Wäscheschrank der Mutter gefunden hatte, versteckt hinter den mit zierlichen Schlingstichen bestickten Leibhemden, Mutters Ausstattung. Auch in Ediths Schrank würden einmal solche Hemdchen liegen. Egal, wen sie einmal heiraten würde und wessen Namen sie dann tragen sollte – auf ihren Batisthemdchen würden ihre jungfräulichen Initialen stehen: E. H., Edith Harms. In dem Buch in Mutters Wäscheschrank waren anatomische Abbildungen. Die Menschen auf den Bildern blickten alle sehr ernst, und die „nach der Natur“ gezeichneten Geschlechtsteile wirkten wie seltsame, gut aufeinander abgestimmte Teile einer Maschine. Am spannendsten waren die zwei Farbdruckseiten mit den aufklappbaren Menschen, einer Frau und einem Mann. Wenn Edith die linke Brust der Frau aufklappte, war da ein weiterer Lappen, das Herz, klein, dunkelrot und geheimnisvoll, und wenn sie das Herz aufklappte, lag vor ihr ein Lungenflügel. Hob sie die rosa Bauchdecke, fand sie ein gräuliches Gekröse, die Gedärme, und hinter den Gedärmen eine rote Birne, und wenn sie diese aufklappte, lag darin das ungeborene Kind, eingerollt wie ein nackter Igel. Der Bauch des Mannes war in seinem Inneren weniger interessant. Das Anhängsel zwischen seinen Beinen war unscheinbar und leicht zu übersehen, was Edith auch zu tun beschlossen hatte. In dem Buch war aber auch einiges über Geschlechtskrankheiten zu lesen und über widernatürliche Betätigungen wie Onanie und deren Folgen. Wenn der Maler da drüben vor dem Spiegel wirklich das tat, was Edith vermutete, dann riskierte er, blind zu werden. Sie machte sich Sorgen um ihn.

– Er macht was ganz andres. Ich denke, er zeichnet sich selbst.

So könne man sich nicht zeichnen, widersprach Adele. Edith sagte, doch, das könne man. Adele war verwundert über den Starrsinn ihrer Schwester.

– Du nimmst ihn in Schutz. Bist du verliebt in ihn?

Die Meinungsverschiedenheit führte so weit, dass Adele ihrer Schwester einen Stoß versetzte. Edith boxte zurück. Da musste der Maler die beiden Spioninnen wohl entdeckt haben, denn plötzlich ging er ans Fenster, nackt, wie er war, hielt die Hand über die Augenbrauen und starrte hinaus in die Dunkelheit.

– Er hat uns bemerkt, Adda! Was sich der jetzt von uns denkt!

Edith machte sich Sorgen um ihren guten Ruf. Adele dagegen befürchtete, dass das Spektakel nun zu Ende wäre, aber der Mann ging zum Spiegel zurück und machte mit seinen Verrenkungen weiter. Auch an den folgenden Abenden, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn das letzte Modell sein Atelier verlassen hatte, zog der Maler sich splitternackt aus und posierte vor dem Spiegel, aber nie, ohne sich zuvor mit einem prüfenden Blick aus dem Fenster vergewissert zu haben, dass seine beiden Bewunderinnen auf ihrem Posten waren.

Eines Tages im Jänner des Jahres neunzehnhundertvierzehn, zwei Wochen nach Dreikönig, wurde an der Tür der weißen Villa ein Brief abgegeben. „Ich weiß nicht, ob das Fräulein mit den blonden Haaren oder mit den dunklen Haaren Adda heißt. Beide sind schlimm wie ich! – Vielleicht werden wir nicht mehr lange uns vis-à-vis sein, denn ich habe die Absicht nach Paris zu gehen, weil mir die Anträge dazu gemacht wurden. – Warum besuchen Sie mich nicht? – Ich weiß, dass man im Allgemeinen glaubt, das würde nicht gut aussehen; schreiben Sie mir bitte einmal. Jetzt grüße ich Sie und ihr Fräulein Schwester herzlichst und küss die Hand. Egon Schiele.“2

Er geht nach Paris, schade, dachte Edith und strich sanft mit den Fingern die Zeilen entlang, während sie las. Der Brief war in regelmäßiger Kurrentschrift geschrieben, mit dicker schwarzer Tusche auf braunem Pergamentpapier. Eigentlich ein schöner Brief, was die künstlerische Ausgestaltung betraf, der Inhalt war aber so, dass man ihn besser vor der Mutter geheim hielt. Auch Adele war ein bisschen enttäuscht über die bevorstehende Abreise des Malers, aber sie gab sich weniger gefühlvoll. So sei das eben bei den Künstlern, meinte sie, die lebten einmal dort und einmal da, und mit einem mitleidigen Blick auf ihre Schwester fügte sie hinzu:

– Wenn eine Frau nicht unglücklich werden will, soll sie sich besser nicht in einen Künstler verlieben.

Edith spürte, wie ihr das Blut verräterisch in die Wangen schoss. Rasch drehte sie den Kopf zur Seite. Der Brief war an Adele gerichtet. Somit stand auch fest, wer von den beiden Anspruch auf ihn hatte. Abends, als sie in ihren Betten lagen, nach dem Abendgebet, das jede für sich lautlos, aber doch gleichzeitig mit der anderen sprach, sagte Edith zu Adele:

– Heiratest du ihn, wenn er dich darum bittet?

– Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Adele war im November dreiundzwanzig geworden, sie sollte eigentlich die Erste sein, die sich verheiratete.

Der junge Maler Egon Schiele fuhr nicht nach Paris. Im Frühling werkte er immer noch in seinem Atelier im letzten Stockwerk des alten Hauses auf der anderen Straßenseite. Kurz vor Ostern wurde wieder ein Brief in der Villa abgegeben. Er war diesmal an die „Sehr geehrten gnädigen Fräuleins“ gerichtet: „Wie wärs wenn wir einmal zusammen nach Laxenburg oder Mödling oder sonst wo hin fahren möchten, wenn ein schönes Frühlingswetter ist. – Ich glaube, es wär gesund. – Was meinen Sie?“3 Adele schrieb zurück, dass sie und Edith schon gerne wollen würden, aber sicher nicht dürften. In seinem Antwortbrief lud der Maler die Schwestern zu einer zweitägigen Landpartie ein.

Inzwischen war die Mutter der beiden jungen Damen auf den Briefverkehr aufmerksam geworden. Edith und Adele mussten Rede und Antwort stehen. Frau Harms schrieb daraufhin mit eigener Hand an den „werten Herrn Schiele“, dass sie zwar an seiner Ehrenhaftigkeit keine Zweifel hege, aber niemals erlauben könne, dass ihre Töchter mit einem fremden Herrn auswärts nächtigten. Im Übrigen bitte sie um Diskretion, fügte sie als Postskriptum hinzu. Frau Harms war eine kluge Frau. Sie wusste, auf die Dauer könnte sie ihren Töchtern nicht vorschreiben, mit wem sie Umgang hatten, also holte sie Erkundigungen über den jungen Mann ein. Wo anders sollte sie das tun als in dem Kaffeehaus, in welchem der junge Maler täglich verkehrte.

Das Café Eichberger in der Hietzinger Hauptstraße sah aus wie alle Wiener Kaffeehäuser. Die Tapeten waren vom Zigarettenrauch vergilbt, und durch die beschlagenen Scheiben drang nur wenig Tageslicht. Auf einem Extratisch gleich neben dem Eingang, der während der kalten Monate mit einem schweren Filzvorhang abgehängt war, lagen die aktuellen Zeitungen, daneben Schachbrett und Domino, und weiter hinten, wo es zu den Toiletten ging, trennte eine Paneelwand den Gastraum von einem fensterlosen Hinterzimmer, in dem die Billardtische standen. Hinter dem Buffet thronte die Kassierin Frau Robczok, die Herrscherin über die Gäste, die Küche und das Personal. Bei ihr konnte man Schulden machen, bei ihr konnte man Nachrichten und Briefchen hinterlegen, und gegen ein kleines Entgelt gab sie auch Informationen über ihre Gäste preis.

So erfuhr Frau Harms, dass der junge Maler jeden Vormittag zum Frühstück und jeden Abend zum Karambol-Spiel kam und dass sein Schuldenstand bei einem gleichbleibenden Pegel von etwa fünfzig Kronen hielt, das war etwa so viel, wie die Monatsmiete seines Ateliers ausmachte. Diese Miete aber – das erfuhr Frau Harms wiederum von Frau Kutschnig, der Besitzerin des Hauses vis-à-vis – sei der junge Mann nun schon seit einigen Monaten schuldig. Frau Kutschnig habe ihm bereits den Kündigungsbrief geschrieben. Es sei nicht der erste Brief dieser Art gewesen, klagte sie, denn ständig habe der Herr Schiele fadenscheinige Gründe, warum er nicht rechtzeitig zahlen könne. Einmal stünde er knapp vor einem großen Bilderverkauf, drei Tage bloß sollte ihm Frau Kutschnig die Miete noch stunden! Ein andermal hätte ein Käufer bei ihm Schulden, sagenhafte dreitausend Kronen wären ausständig. Frau Kutschnig glaubte kein Wort von dem, was der Mann sagte. Wer sollte diese Bilder denn kaufen, geschweige denn so viel dafür bezahlen? Das sei doch alles stümperhaft. Man achte doch einmal auf die Arme und Beine, da stimmten doch die Proportionen nicht! Frau Kutschnig wusste, wovon sie sprach, ihr Gatte war nämlich auch akademischer Maler, allerdings einer, der noch gelernt hatte, wie man malt.

Frau Harms nahm sich daraufhin ihre Töchter vor. Sie wolle wirklich kein Urteil über die künstlerischen Fähigkeiten eines Malers abgeben, sagte sie, davon verstünde sie nicht genug, aber über Finanzen wisse sie Bescheid, und auch darüber, wie viel heutzutage ein ordentlicher Haushalt an Geld verschlinge.

– Wenn eine von euch beiden daran denkt, einen Künstler zu heiraten, kann sie gleich einmal üben, den Gürtel enger zu schnallen!

Adele lachte hell auf und erwiderte frech, das Essen sei wohl nicht das Wichtigste, wenn man mit einem Mann zusammenlebe. Edith schoss die Röte ins Gesicht, wie immer, wenn Adele von diesen Dingen sprach. Frau Harms drohte ihren Töchtern mit Hausarrest, was allerdings nur für die jüngere Edith eine Bedrohung darstellte. Adele war mit ihren dreiundzwanzig Jahren schon großjährig und würde sich nicht mehr einsperren lassen. Die Schwestern versprachen, den Kontakt mit dem Nachbarn abzubrechen oder zumindest auf ein sehr diskretes Maß zu reduzieren. Sie bemühten sich wirklich, dieses Versprechen zu halten, aber hin und wieder ließ es sich nicht vermeiden, auf der Straße mit ihm zusammenzutreffen.

Die Hietzinger Hauptstraße, die vom Schönbrunner Schlosspark bis hinaus nach Ober Sankt Veit führte, war gesäumt von Kastanien. Einmal beobachtete Edith ihre Schwester, wie sie mit dem Maler unter einem dieser Bäume stand. Beide gestikulierten heftig und lachten. Der Maler lehnte lässig am Baumstamm, ein Bein hielt er abgewinkelt und wippte nervös mit dem Fuß, bevor er mit der Schuhspitze seine Zigarette austrat. Dann reichte er Adele den Arm und – Edith traute ihren Augen kaum – die beiden gingen den schmalen Weg zum Hintereingang des efeuüberwachsenen Hauses. Edith stürmte die Treppen hoch zum Ausguck. Sie sah zwei Schatten, die sich drüben durch das Atelier bewegten. Nach einiger Zeit konnte sie nichts mehr erkennen, die beiden waren wohl in einen anderen Raum gegangen. Edith wartete. Eine Stunde verging, bis Adele endlich zurückkam. Ein seltsamer Glanz lag in ihren Augen.

– Und? Erzähl! Wie ist es bei ihm?

– Schwarz.

– Was ist schwarz?

– Die Türen sind schwarz, die Möbel sind schwarz, viele hat er ja nicht, zwei Spiegel …

– Zwei Spiegel?

– Ja, zwei, jeder so groß wie ein Schrank, und eine Vitrine mit alten Scherben und Masken. Er sammelt Orientalisches, sagt er. Ich denke, er ist ein gebildeter Mensch.

– Was habt ihr so lange gemacht?

– Tee getrunken. Sie hat uns Tee gemacht.

– Wer „sie“?

– Eine Frau, die ihm Modell steht.

– Eine Hure?

Warum sollte eine Frau, die Modell steht, eine Hure sein? Adele war auffällig gereizt über die naiven Vorstellungen ihrer Schwester. Abends, als sie zu Bett gegangen waren, ließ Adele ganz nebenbei die Bemerkung fallen, sie werde sich von dem Maler fotografieren lassen. Edith konnte lange nicht einschlafen. Szenen aus Romanen verfestigten sich in ihrem Kopf: Bilder von leichtfertigen Frauen, die sich von einem fremden Mann über dunkle Hintertreppen in eine Dachkammer locken ließen. Was dort im Detail geschah, darüber schwiegen die Romane, aber die Konsequenzen des Besuchs waren stets Schmach und Schande.

Wenige Tage später ergab es sich, dass Herr und Frau Harms zu einem Begräbnis eines Verwandten in Niederösterreich fuhren. Sobald die Eltern aus dem Haus waren, schminkte Adele sich die Lippen rot, umarmte Edith und verschwand ins Nachbarhaus. Edith versuchte sich die Wartezeit mit Klavierspielen zu verkürzen. Zwei volle, nicht enden wollende Stunden litt sie. Als Adele endlich zurückkam, wollte Edith alles ganz genau geschildert bekommen. Adele musste sich auf den Boden setzen, so, wie sie es drüben im Atelier getan hatte. Sie musste die Beine anziehen und den Rock so weit über die Waden hochschieben, bis ihre schwarzen Strumpfbänder zum Vorschein kamen.

– Und wenn er dieses Foto an die Zeitung verkauft?

– Welches Foto? Adele tat erstaunt. Ach ja, da fiel es ihr wieder ein, es hätte ein Problem mit dem Fotoapparat gegeben, aber das habe nichts ausgemacht, denn Egon konnte sehr schnell zeichnen.

– Du sagst Egon zu ihm?

– Natürlich.

– Und hat sie wieder Tee gemacht?

Nein, diese Frau, die übrigens Wally hieß, war diesmal nicht dabei. Adele war ganz allein mit Egon gewesen.

Ach, seufzte Edith, weil sie wirklich gern an Adeles Stelle gewesen wäre. Sie fühlte einen ziehenden Schmerz tief in ihren Eingeweiden. Ob das Liebe war?

Im Sommer neunzehnhundertvierzehn hatte sich über Wien eine Wolke aus Straßenstaub und Qualm aus Fabrikschloten gelegt, eine stinkende Wolke, die auf Brust, Gesicht und Augen drückte. Müde und lustlos schleppten sich die Leute durch die Straßen. Der kaiserliche Hofstaat übersiedelte wie jedes Jahr nach Bad Ischl. Die Familie Harms fuhr in ein Gebirgstal am Semmering, ins Fröschnitztal. Vor dem Bahnhofsgebäude in Spital am Semmering wartete ein Kutscher mit dem Ochsenwagen, die Kisten und Koffer wurden auf den Wagen geworfen, dann ging’s weiter bis zum Ferienquartier. Das Fröschnitztal erstreckte sich auf der Südseite des Berges. Die noblen Kurorte, wo die Hautevolee abstieg, lagen auf der Nordseite, aber Frau Harms meinte, Luft und Sonne seien die gleichen, ob man nun im einfachen Landgasthaus logierte oder auf der Nordseite im Grand-Hotel Panhans. Für Edith und Adele gab es nichts Langweiligeres als diese Wochen mit Vater und Mutter in der Bergeinsamkeit. Sie hofften jedes Jahr inständig, dass irgendetwas geschähe, was eine vorzeitige Rückkehr verlangte, ein Todesfall in der Familie etwa oder sonst etwas Unvorhergesehenes.

Das Unvorhergesehene geschah am letzten Sonntag des Monats Juni. Am Tag darauf, es war der Feiertag der Heiligen Peter und Paul, schwirrten Telegramme und Telefongespräche quer durch die Monarchie: Der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin seien in Sarajevo, wo sie einem Manöver der k. u. k. Truppen als Ehrengäste beiwohnen sollten, von serbischen Meuchelmördern auf offener Straße erschossen worden. Die erlauchten Leichname würden zuerst nach Triest und von dort über die Südbahnstrecke nach Wien überführt werden. Als der Sonderzug die Bahnstation Spital am Semmering passierte, stand Vater Harms am Bahnhof stramm in Habtachtstellung. Er bedauerte, dass er seine Dienstuniform nicht dabeihatte. Seine Frau und die Töchter standen ein paar Schritte hinter ihm. Sie trugen dunkle englische Kostüme und kleine schwarze Strohhüte, dem ernsten Anlass entsprechend. Im Bahnhofsrestaurant, wo sich die Familie Harms anschließend zu einem verspäteten Mittagsmahl einfand, ging es hoch her. Unter den Gästen war man sich schnell einig, dass man es dem Serbengesindel da unten endlich zeigen müsste.

Bis zur offiziellen Kriegserklärung dauerte es aber noch ein paar Wochen, und der Urlaub im Fröschnitztal wurde fortgesetzt, da mochten Edith und Adele protestieren, soviel sie wollten. Mutter Harms war gegen eine vorzeitige Rückkehr nach Wien. Was sollte man jetzt mitten im Sommer in der Stadt? Den armen Erzherzog würde das auch nicht wieder lebendig machen. Erst gegen Ende Juli wurde auf der Anschlagtafel am Bahnhof in Spital am Semmering ein Plakat affichiert, auf dem zu lesen war, dass der Kaiser, dessen sehnlichster Wunsch es immer gewesen war, seine Völker vor den schweren Opfern und Lasten des Krieges zu bewahren, nun vom hasserfüllten Gegner gezwungen werde, einen Krieg zu führen. Endlich konnte der langweilige Urlaub abgebrochen werden!

Vater Harms fuhr als Erster zurück nach Wien, aus Pflichtbewusstsein, welches er als pensionierter Angestellter in der kaiserlich-königlichen Lokomotiv-Werkstatt Floridsdorf seinem vierundachtzigjährigen Monarchen gegenüber empfand. Jetzt musste jeder seinen Mann stehen, an ihm, dem alten Harms, sollte der Sieg über die Serben nicht scheitern. Seine Töchter und die Gattin kamen ein paar Tage später nach, aber das war gar nicht mehr so einfach, weil wegen der Militärtransporte die Zugfahrpläne ständig geändert wurden. Zu Hause in der Hietzinger Hauptstraße fanden sie gleich mehrere Ansichtskarten von Egon Schiele vor, die alle an Adele adressiert waren. Frau Harms las mit Sorgfalt jede einzelne Karte. Es waren Urlaubsgrüße aus Kärnten, knapp und äußerst höflich formuliert. Der junge Mann konnte also auch diskret sein, wenn man ihn nur darauf aufmerksam machte.

Herr Harms war übrigens der Meinung, dass der Krieg im Zeitalter der Eisenbahn ganz schnell vorbei sein würde. Zu Weihnachten wären alle wieder zu Hause, sagte er. Es schien fast, als bedauerte er, dass er zu alt war, um militärischen Dienst zu tun. Trotz einer tiefen inneren Abneigung gegen Krieg spürte er nämlich genau wie all die anderen Menschen, wie Tausende, Hunderttausende, wie Millionen Bürger des Vielvölkerstaates: dass sie jetzt zusammengehörten. Er war übermannt von diesem wunderbaren Gefühl, das alle Unterschiede zwischen Nationen, Ständen und Klassen, zwischen Arm und Reich aufhob. Warum nicht auch die Schranken zwischen einer durch Erbschaft und Fleiß zu Wohlstand gelangten Familie und einem stets von Geldnöten geplagten jungen Maler? Und so sagte Herr Harms eines Tages zu seiner Frau: Wir sollten den jungen Mann von vis-à-vis einmal zum Tee einladen.

Egon kam pünktlich um vier Uhr. Das Dienstmädchen öffnete ihm die Haustür und begleitete den Gast hinauf in die Beletage. Dort sollte er warten, bis sie ihn den Herrschaften gemeldet hätte. Als Frau Harms aus der Salontür trat, um ihren Gast zu begrüßen, stand dieser völlig in seinen eigenen Anblick versunken vor dem großen Vorzimmerspiegel. Er war wie immer in Schwarz gekleidet, sein Anzug war etwas zu dünn für die Jahreszeit und bei näherer Betrachtung auch fadenscheinig. In der Hand hielt er eine langstielige bleiche Chrysantheme. Hätte Frau Harms einen Sinn für Poesie gehabt, so hätte sie in dieser Gestalt in ihrem Vorzimmer den Todesengel erkannt und ihn wieder fortgeschickt. Aber sie war eine von den Frauen, die stets der Wirklichkeit ins Auge blickten, und die sah im Moment so aus: Ihre älteste Tochter war längst im heiratsfähigen Alter, und noch immer hatte keiner um sie angehalten. Frau Harms wollte daher jedem Kandidaten eine Chance geben, auch Herrn Schiele. Vielleicht wird noch was aus ihm, dachte sie, wer weiß das schon. In Wien gab es genügend reiche Leute, die für moderne Kunst ihr Geld ausgaben, warum nicht auch für die Bilder dieses jungen Mannes, der im Moment so in sein Spiegelbild vertieft war, dass er Frau Harms gar nicht bemerkte.

– Ist die für mich, fragte sie lächelnd und wies auf die Chrysantheme. Es war eine von den Blumen, die sie in den Amphoren vorm Haustor gepflanzt hatte.

Der junge Mann verbeugte sich höflich, als er ihr die Blume überreichte. Sie verzieh ihm den Diebstahl augenblicklich und bat ihn in den Salon, wo Adele am Stutzflügel saß und versonnen in einem Notenalbum blätterte. Edith rückte die Tassen und Teller am hübsch gedeckten Tisch ein wenig zurecht. Ihre Handflächen waren feucht vom Schweiß, so aufgeregt war sie. Eben hatte sie noch zu ihrer Schwester gesagt: Wenn er heute um deine Hand anhält, Adda, werde ich sicher weinen. Bitte, denk dir nichts dabei, denn ich freu mich für dich. Als sie jetzt aber aufschaute und sich ihr Blick in den seltsamen dunklen Augen des Besuchers verfing, träumte sie für einen Moment lang, sie könnte die Auserwählte sein.

Endlich kam auch der Hausherr im mausgrauen Jackett, den Bart frisch gestutzt, die grauen Haare pomadisiert. Frau Harms bat zu Tisch. Die Tischdecke war frisch gestärkt. Die Servietten rochen nach Naphthalin. Das Dienstmädchen servierte Tee und Kuchen. Frau Harms hatte ein Biskuit gebacken, einen Mehlspeistraum mit reichlich Butter, Eiern, Rum und Marillenmarmelade, eine Spezialität aus ihrem Heimatdorf Weitersfeld im Waldviertel. Leider sei der Kuchen nicht so flaumig und hell geworden, wie sie es gewohnt war, klagte Frau Harms, es sei halt im Moment nicht so einfach, gutes weißes Mehl zu bekommen. Edith und Adele, die sonst bei Tisch immer plapperten, hielten heute die Köpfe gesenkt und sprachen nur wenig. Vater Harms brachte die Kriegslage ins Gespräch. Er war erstaunt, wie uninformiert der junge Gast war, fast schien es, als wüsste er nicht einmal, dass Österreich inzwischen mit Russland, Frankreich, Großbritannien und Japan im Krieg war.

– Japan, sagte Egon und seine Augen begannen zu leuchten. Ich sammle japanische Zeichnungen.

Ob er Blumenbilder sammle, fragte Frau Harms, die Japaner seien ja berühmt für ihre Blumenzeichnungen. Nein, keine Blumen, entgegnete Egon, er sammle erotische Zeichnungen aus Japan. Einige Leute, wie seine Vermieterin, die Frau Kutschnig, hielten diese Zeichnungen für pornografische Darstellungen, aber das sei natürlich Unsinn und zeuge nur von dem mangelnden Verstand dieser Frau, denn Kunst könne niemals Pornografie sein.

– Sie möchten sicher noch ein Stück Kuchen, unterbrach ihn Frau Harms. Da Egon nicht widersprach, schaufelte sie ein weiteres Kuchenstück auf seinen Teller und dachte angestrengt nach, wie sie der Unterhaltung eine andere Richtung geben könnte.

Im Grunde genommen interessierte Frau Harms nur eines: ob man heutzutage als Maler Geld verdienen konnte und wie viel. Aber sie wollte nicht unhöflich sein, an so eine Frage musste man sich langsam herantasten. Also fragte sie den Gast erst einmal, ob der Herr Vater und die Frau Mutter wohlauf seien und welchen Beruf der Herr Vater denn habe. Egon antwortete, sein Herr Vater sei Beamter bei der kaiserlich-königlichen Staatseisenbahn gewesen.

– Ah, auch bei der Eisenbahn! Herr Harms war erfreut. Ein Kollege demnach, wohl auch bereits im Ruhestand?

– Mein Vater ist tot.

– Mein herzliches Beileid. Und die Frau Mutter?

Die sei wohlauf, versicherte Egon. Zwei Schwestern hätte er noch, aber eine sei ihm vor kurzem verloren gegangen. Frau Harms erschrak. Das Fräulein Schwester würde doch nicht auch verstorben sein?

– Nein. Meine Schwester hat geheiratet.

Der junge Mann sagte diese Worte mit so tiefernster Miene, dass Frau Harms nicht anders konnte als weiter zu forschen, was denn daran so traurig sei, wenn die Schwester heirate. Edith und Adele warfen sich Blicke zu, sie fanden dieses Verhör peinlich.

Er sei für seine Schwester verantwortlich gewesen, solange sie unreif war, sagte Egon mit leicht gepresster Stimme. Nach dem Tod des Vaters hätte er sich als Einziger um sie gekümmert.

Das sei doch schön, so einen Bruder zu haben! Ihre Töchter hätten zwar auch einen Halbbruder, aber der sei schon lange verheiratet und kümmere sich gar nicht um seine Schwestern. Dabei wäre sie als Mutter für jede Unterstützung bei ihrer Aufsichtspflicht dankbar, denn zwei Mädchen in diesem Alter hüte man schwerer als einen Sack voller Flöhe. Edith und Adele verdrehten die Augen. Mit der Heirat der Frau Schwester, fuhr Frau Harms fort, sei Herr Schiele also nicht einverstanden gewesen?

– Meine Schwester ist großjährig geworden und macht jetzt, was ihr so passt. Ich hab da nichts mehr mitzureden.

– Ich werde nächsten März großjährig. Dann werde ich auch tun, was mir so passt, entschlüpfte es Edith vorlaut.

– Dann werde ich Sie im nächsten März fragen, ob Sie mich heiraten wollen, Fräulein Edith, und niemand wird es Ihnen verbieten können.

Plötzlich war es sehr still geworden am Tisch. Edith spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie schaute zu Adele, die blickte starr vor sich hin. Eine Ewigkeit fiel kein Wort. Das Einzige, was zu hören war, war das leise Klirren von Adeles Kaffeelöffel, der an die Porzellantasse schlug.

Adele arbeitete seit Beginn des Krieges als Modistin für einen Hutsalon in der Inneren Stadt. Sie hatte geschickte Hände. Sie konnte mit ein paar Kunstblumen, Tüllschleifen und bunten Federn aus alten Hüten neue Kreationen zaubern. Das Umarbeiten und Dehnen von getragenen Hüten war im Moment ohnehin das Hauptgeschäft. Neue Hüte wurden nicht in Auftrag genommen, weil es Schwierigkeiten bei den Filzlieferungen gab. Solange der Krieg noch andauerte, würde sich das auch nicht ändern, denn der Filz wurde jetzt für die Ausrüstung der Soldaten gebraucht, für Schuhlappen, die in Schnee und Morast Schutz vor der Kälte geben sollten. Wenn Adele sich abends auf den Heimweg machte, stieg sie bei der Station Unter Sankt Veit aus der Stadtbahn und ging dann gerne auf einen Sprung ins Café Eichberger, um noch einen Kaffee zu trinken und rasch die Zeitungen durchzublättern. Sie interessierte sich für die Kriegsberichte. „Die unsrigen trotzen der 11. russischen Armee in den Karpaten! Festung Przemysl wieder befreit!“ Wenn sie das las, hatte sie das Gefühl, in einer aufregenden Zeit zu leben.

Edith hatte von der Mutter die Erlaubnis bekommen, ihre Schwester einmal in der Woche vom Kaffeehaus abzuholen. Sie beeilte sich jedes Mal sehr. Sie wollte immer ein paar Minuten vor ihrer Schwester im Eichberger ankommen, um sich in Ruhe umzusehen und zu schauen, wer da war. Ihr erster Weg führte sie stets nach hinten zu den Billardtischen. Dort war die Luft meistens so verraucht, dass sie im ersten Moment gar nicht erkennen konnte, wer am Tisch stand. Wenn sie Egon unter den Spielern entdeckte, blieb sie ein paar Minuten stehen und schaute ihm zu.

Wie er am Spieltisch lehnte! Die Beine überkreuzt, mit der einen Hand hielt er das Ende des Queues umfasst, die andere Hand, die am Tisch ruhte, machte die Schiene für den Stab. Die Zigarette hing schräg im Mundwinkel, die Augen waren leicht zusammengekniffen. Das schwarze Haar stand zwar wie immer wild vom Kopf ab, aber das tat seiner Eleganz keinen Abbruch. Ein paar Schweißtropfen hatten sich auf seiner hohen Stirn gebildet. Der Blick ruhte voll konzentriert auf der Kugel. Sein magerer Körper war angespannt wie der einer Raubkatze vor dem Sprung. Dann stieß er den Stab blitzschnell gegen die weiße Kugel, lenkte sie über die Bande gegen die rote, die daraufhin in einen Tanz geriet und zielsicher auf die dritte Kugel aufschlug. Er musste es gespürt haben, dass Edith in der Nähe war, denn ohne sich nach ihr umzudrehen, fragte Egon, ob das Fräulein Edda sich vielleicht gar für Karambol interessiere.

– Nein, um Gottes willen, rief Edith, sie sei nur gekommen, um Adda nach Hause zu begleiten. Rasch flüchtete sie in Richtung Toilette. Als die schwere Tür hinter ihr zuschlug und sie allein in dem weißgekachelten engen Raum war, merkte sie erst, wie heftig ihr Herz pochte, und im Spiegel sah sie, wie verräterisch rot ihre Wangen waren.

Adele kam mit etwas Verspätung ins Kaffeehaus. Sie begrüßte ihre Schwester mit einem Küsschen.

– Hast du lange gewartet?

– Nein, ich bin eben erst bei der Tür reingekommen, log Edith.

Adele setzte sich mit einem zufriedenen Seufzer und bestellte wie immer ein Mousse au Chocolat. Der Oberkellner sagte, er bedaure, aber das führe man nicht mehr.

– Was denn, empörte sich Adele, seit wann denn?

Der Oberkellner reichte ihr die Speisekarte und sagte, seit gestern seien die französischen Speisen und Getränke aus dem Angebot gestrichen. Adele bestellte eine Portion Pannacotta. Oder gebe es die auch nicht mehr?

Pannacotta hätte er noch auf der Speisekarte, antwortete der Oberkellner, die Italiener verhielten sich ja noch neutral, aber wer weiß, wie lange.